Gegensätze

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Großer können Gegensätze nicht sein. Auf seiner neuen CD stellt der Bass-Bariton Thilo Dahlmann Deutsche Volkslieder von Johannes Brahms den Holocaust-Liedern von Norbert Glanzberg gegenüber. Sie sind bei Challenge Records herausgekommen (CC72934). Am Klavier wird Dahlmann von Hedayet Jonas Djeddikar begleitet. Der in Basel geborene Pianist wirkt an der Frankfurter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst als Lehrkraft für besondere Aufgaben, Liedgestaltung und Korrepetition. Neben der Repertoirepflege widmet er sich selten gespielter Werke. Zu diesem Zweck gründete er in Frankfurt die Konzertreihe „RARE WARE Lied“. Beim internationalen Johannes-Brahms-Wettbewerb in Pörtschach am Wörther See in Österreich ist er als offizieller Begleiter tätig. Dahlmann gehörte nach seinem Gesangsstudium an der Essener Folkwang-Hochschule 2007 zunächst dem Opernstudio des Zürcher Opernhauses an. Ein Ratgeber war ihm der Bariton Roland Hermann. Wenngleich auch in der Oper erfahren, hat sich Dahlmann vornehmlich als Konzert- und Liedsänger etabliert. Er lehrt als Professor für Gesang an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart.

Brahms hatte lebenslang eine starke Bindung an Volkslieder, die er auch als Inspirationsquelle empfand. Entsprechende Spuren finden sich in fast allen seinen Werken. In seinen feinsinnigen Bearbeitungen solcher Lieder für Solostimmen und Chöre versuchte er stets, den schlichten Tonfall der musikalischen Überlieferungen zu bewahren, sie gleichzeitig aber zu großer Kunst zu erheben. Interpreten sehen sich dadurch vor große Herausforderungen gestellt, mit denen in diversen Einspielungen sehr unterschiedlich umgegangen wird.

Die bekannteste von mehreren einschlägigen Werkgruppen sind die Deutschen Volkslieder WoO 33 mit 49 Titeln, für die sich Dahlmann entschieden hat. Er singt allerdings nur 16 Lieder in einer eigenen Reihenfolge. Mit „In stiller Nacht“, „Sagt mir, o schönste Schäf’rin mein“ oder „Da unten im Tale“ sind die wohl populärsten Lieder dabei. Dahlmann singt sie ohne jede Übertreibung sehr deutlich und klar, versehen mit einem Hauch Melancholie.

Auch dadurch wird der Zusammenhang mit dem anderen Teil des Programms, den Holocaust-Liedern von Glanzberg, deutlich. „Gerade dieser Gegensatz verdeutlicht in unseren Augen das Zerbrechen der menschlichen und zivilisatorischen Kultur durch die Schrecken des Holocaust“, schreiben beide Interpreten im Booklet. Ein Zerbrechen, das Glanzberg in seinem Zyklus meisterlich in Töne gesetzt habe.

Im Booklet wird auch die dramatische Lebensgeschichte dieses jüdischen Komponisten durch den Musikwissenschaftler Lutz-Werner Hesse erzählt. Glanzberg wurde 1910 in der Nähe von Lemberg geboren. Nach dem Umzug seiner Familie nach Würzburg begann dort seine musikalische Ausbildung. Einer seiner Förderer war Emmerich Kálmán, der auch sein kompositorisches Talent entdeckte. In der Folge schrieb Glanzberg Musik für UFA-Filme und die Comedian Harmonists. Vor den Nationalsozialisten floh er nach Paris, wo ihn die Chansonsängerin Edith Piaf versteckt hielt. Erst nach dem Krieg konnte er öffentlich auftreten, komponierte für die Piaf und Yves Montand und nahm auch seine Arbeit für den Film wieder auf. Hesse: „1980 brach er mit seiner musikalischen Vergangenheit und wandte sich der so genannten ,ernsten‘ Musik zu.“ „Ernst“ treffe es insofern in idealer Weise, als die Themen seiner wenigen Werke samt und sonders seiner jüdischen Identität und dem Schicksal jüdischer und verfolgter Künstler in  den Jahren zwischen 1933 und 1945 gegolten hätten. Dazu gehören auch die bewegenden Holocaust-Lieder. Rüdiger Winter