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Drei Neuerscheinungen auf dem CD-Markt haben eines gemeinsam. Die Sänger sind jung, so um die dreißig. Und damit etwa in jenem Alters, in denen die Komponisten waren, als sie die Werke, um die es geht, schufen – Die schöne Müllerin und Winterreise von Schubert, Dichterliebe von Schumann. Sagt das Rechenspiel mit den Lebensdaten etwas über die Interpretation aus? Für mich schon. Die Jungen bringen gewöhnlich mehr eigene Gefühle und Leidenschaften ein als ein sehr viel erfahrenerer Sänger, der die Lieder nach meiner Beobachtung stärker sublimiert und damit auf eine andere Ebene hebt. An dieser Stelle kommt mit Dietrich Fischer Dieskau ein sehr prominentes Beispiel zur Sprache. Er war dreiundzwanzig, als er seine erste Winterreise für den WDR aufnahm. Der Zyklus begleitete ihn sein Leben lang. Alles in allem hinterließ er an die dreißig Aufnahmen – Studio und live, bei diversen Firmen und im Rundfunk. Er klang immer etwas anders. Seine Deutungen wurden von Mal zu Mal ausgeklügelter und feinsinniger, was nicht jedem gefiel. Die drei Zyklen sind nur ihrer Entstehungszeit nach Jugendwerke. Im Kern handelt es sich um Gipfel der Tonkunst. Es ist also auch ein Wagnis, sich gleich zu Beginn der Karriere an deren Ersteigung zu machen. Denn nicht jedem Sänger dürfte sich wie einst Fischer-Dieskau die Möglichkeit eröffnen, eine Interpretation durch die nächste zu ergänzen oder auch zu korrigieren. Vielleicht wäre das auch nicht mehr zeitgemäß. Der Markt unterliegt keinen diskographischen Regeln mehr. Insofern ist es nur natürlich, wenn sich junge Sänger unerschrocken an die Arbeit machen.
Erik Rousi hat sich Die schöne Müllerin vorgenommen. Die Aufnahme ist beim finnischen Label Alba herausgekommen (ABCD 525). Die Begleitung am Klavier besorgte Justus Stasevskij aus Finnland, wo er auch studierte. Auch Rousi ist Finne. Für den Herbst 2023 ist er in Wuppertal als König Marke im Tristan angekündigt. In seiner Heimat singt er auch Bach, den er nicht aus den Augen lassen sollte. Wie dem Booklet zu entnehmen ist, treten beide Künstler schon seit 2015 gemeinsam auf und „haben sich besonders auf Schuberts Liederzyklen fokussiert“. Fraglos bringt Rousi einen sehr gut sitzenden Bass-Bariton mit. Er singt betont flexibel und nicht angestrengt. Man würde ihn auch wiedererkennen. Das teils riskante rasche Tempo im Vortrag wird nicht immer ganz sicher beherrscht und vor allem im Jäger auf eine harte Probe gestellt. Es ist Teil seiner ungestümen Sicht auf das Werk. Er geht sehenden Auges in sein Unglück, nimmt die Abgründe rechts und links der Wanderschaft nicht wahr. Trotz vieler positiver Eindrücke finde ich, dass die Aufnahme zu früh kommt. Warum? Sie ist sprachlich nicht wirklich ausgereift und offenbart zu viele Ungenauigkeiten. Wenn aus wandern „wondern“ wird, und aus Wasser „Wosser“, wirkt gleich das erste Lied unfreiwillig komisch. Die Aussprache müsste besser werden. Das hat auch der Textdichter Wilhelm Müller verdient. Rousi sollte weiter an sich arbeiten.
Bei der Winterreise lässt sich der deutsche Bariton Florian Götz vom Grundmann-Quartett begleiten. Die ebenfalls im Studio entstandene Einspielung ist bei dem in Leipzig ansässigen Label Genuin erschienen (GEN 23819). Die äußerst stimmungsvolle Fassung mit den gelegentlich eisigen Figuren der Streicher stammt von Eduard Wesly, der den Pianoforte-Part für Englischhorn, das er selbst spielt, und Streichertrio mit Ulrike Titze (Violine), Bettina Ihrig (Viola) und Ulrike Becker (Violoncello) bearbeitete. Zwischen den Liedern Einsamkeit und Die Post legt das Quartett auf der Hälfte das ebenso neu gesetzte Andantino von Schuberts Klaviersonate D 959 aus dessen Sterbejahr 1828 ein. Welcher Zweck damit verfolgt wird, bleibt zumindest im Booklet unbeantwortet. Darin findet sich lediglich ein längerer Text der Münchner Musikschriftstellerin Erika von Borries über den Dichter Wilhelm Müller, dem sie zu mehr Anerkennung verhelfen will, und Schuberts Opus. Er ist bereits vor fünfzehn Jahre erstmals veröffentlicht worden und kann schon deshalb keinen Bezug zu aktuellen Absichten der Interpreten nehmen. Die Bearbeitung macht Eindruck, verlangt aber den Hörern doppelte Aufmerksamkeit ab. Ich fühlte mich mitunter wie vor eine Wahl gestellt. Solle ich meine Aufmerksamkeit nun mehr dem Sänger oder seiner anspruchsvollen Begleitung zuwenden? Es wirken viel mehr Stimmen auf einen ein als gewohnt, zumal auch der Sänger nicht spart mit wechselnder Dynamik. Götz beginnt sehr sanft. Dadurch bleibt ihm Luft nach oben. Er weiß von Anbeginn für sich einzunehmen, was eine gute Voraussetzung für ein Werk ist, das einschließlich Pausenmusik mehr als siebzig Minuten dauert. Aber er will nicht um jeden Preis gefallen. Davon zeugen jene Momente in denen er seinen grundsätzlich wohlklingenden Bariton grell verzerrt. Manchmal hätte ich mit etwas weniger Gestaltung und dafür mehr sängerische Schlichtheit gewünscht. Der häufige Wechsel zwischen Flüsterton und Forte – im Lied Auf dem Flusse etwas auf die Spitze getrieben – verbraucht sich als künstlerisches Mittel schneller als beabsichtigt. Zumindest habe ich es so empfunden. Diese Winterreise will eben um jeden Preis ganz anders sein.
Versehen mit dem Logo Neustart Kultur ist die von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien – das Amt hat derzeit die Grünen-Politikerin Claudia Roth inne – gefördert worden. Das ist den Künstlern zu gönnen. Es stellt sich aber die Frage, nach welchen Gesichtspunkten diese Unterstützung gegeben wird – wer sie erhält und wer nicht. Hinzu kommt, dass diese Produktion nicht ohne zusätzliche Sponsoren möglich gewesen ist. Im Booklet werden sie namentlich genannt und mit einer Danksagung versehen. Florian Götz wurde an der Franz-Liszt-Hochschule in Weimar ausgebildet und war danach von 2010 bis 2014 am Erfurter Theater engagiert. Wie dem Booklet unter Hinweis auf seine Homepage zu entnehmen ist, debütierte er schon bald an den großen Pariser Opernhäusern. Stationen waren Leipzig, Karlsruhe, Düsseldorf, Amsterdam und Berlin. Auch bei diversen Festivals trat er diesen Angaben zufolge in Erscheinung.
Der aus Niederösterreich stammende Bariton Daniel Gutmann ist vielseitig unterwegs. Als Sänger gehört er zum Ensemble des Gärtnerplatztheaters in München, wo er den Papageno und Guglielmo sang. Nebenher ist er Manager, Frontman, Songwriter und Manger in einem bei seiner Countryband The Groovecake Factory, mit der er – wie auf seiner Homepage zu erfahren ist – im „In- und Ausland zahlreiche Preise gewann“. Nicht genug. An der Universität Wien brachte Gutmann, Jahrgang 1991, ein Studium als Sportwissenschaftler zum Abschluss. Man sieht es ihm an, dass er auch Wert auf Körperkultur legt. Nun hat er gemeinsam mit dem 1996 in Wien geborenen Pianisten Maximilian Kromer, bei Gramola seine erste Solo-CD veröffentlicht (99297). Auf dem Programm Lieder von Robert Schumann. Stünde der Name des Autors der literarischen Vorlagen nicht auch auf dem Cover, der Titel der Neuerscheinung „Tränenflut“ wäre Hinweis auf Heinrich Heine genug. Der hat „im Traum geweinet“, und seine „Tränenflut“ strömt noch beim Erwachen. Das Zitat führt zum letzten Lied der Dichterliebe, dem Höhepunkt der neuen CD. Vorangestellt ist dem berühmten Zyklus der Liederkreis Op. 24. Im Booklet analysiert der österreichische Musikwissenschaftler Christian Heindl die Werke und stellt auch deren zeitliche Nähe im Schaffen des Komponisten heraus. Sie sind in der ersten Hälfte des Jahres 1840 entstanden. Mit rund 140 Liedschöpfungen war es für Schumann künstlerisch eines der einträglichsten Jahre. Die Musikliteratur spricht von seinem Liederjahr. Zudem konnte Schumann im September endlich Clara heiraten. Ein Gericht hatte die Ehe gegen den heftigen Widerstand von Claras Vater Friedrich Wieck erlaubt.
Gutmann singt die Lieder nach meinem Eindruck so, als ginge das, was sich darin poetisch ereignet, vor allem ihn selbst an. Er wirkt dadurch authentisch und glaubhaft und wird damit – daran ist nicht zu zweifeln – beim Publikum ankommen. Der Vortrag geht ihm leicht über die Lippen. Manchmal zu leicht. Dafür ist er sehr gut zu verstehen, was für den Sänger in diesem Genre eine der wichtigsten Voraussetzung ist. Nicht ein Wort, nicht ein Apostroph geht unter. Ausbaufähig ist sein Legato. In dramatischen Momenten wirken manche Töne noch wie Koloraturen aneinandergereiht. Am sichersten bewegt er sich in der Mittellage. Obwohl vorhanden, kommt mir die Tiefe etwas zu künstlich erzeugt vor. Im Ausdruck wirkt nicht alles überzeugend. „Ich grolle nicht, und wenn das Herz auch bricht“ ist ein Lied, das es in sich hat, musikalisch und inhaltlich. Durch opernhafte Anleihen ist es kaum zu bewältigen. Ein Mangel an Poesie fällt vor allem bei dem Lied „Das ist ein Flöten und Geigen“ auf. Zwischen beide Zyklen platziert sind als Kontrastprogramm die dramatischen Heine-Balladen Die beiden Grenadiere und Belsazar, die auch für den Pianisten Herausforderungen darstellen, die eindrucksvoll bewältigt werden.
Auf der letzten Seite des Booklet möchten Sänger und Pianist „einigen besonderen Menschen“ danke sagen. Die Liste ist lang und schließt auch „unsere Familien, Freundinnen und Freunde“ mit ein. Die guten Söhne wissen, was sich gehört. Es wird aber auch deutlich, dass eine CD-Produktion oft viele Helfer braucht – und kein Selbstläufer mehr ist. Rüdiger Winter