Griechisches Oratorium

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Auf seiner zweiten Missionsreise, die ihn durch weite Teile des heutigen Griechenlands führte, kam der Apostel Paulus im Jahr 51 nach Athen. Um an dieses Ereignis vor 1900 Jahren zu erinnern, formierte sich im Januar 1950 in Athen ein Komitee zur Beauftragung einer Komposition. Nicht weniger als ein Oratorium sollte es ein, das von Leben und Wirken des Apostels erzählt, das Tradition und Moderne, östliche und westliche Modelle verbindet und das nach Griechenlands traumatischen Kriegs- und Nachkriegsjahren einheimische wie ausländische Besucher anzuziehen vermochte. Die Wahl fiel auf Petros Petridis (1892-1977), der innerhalb von drei Monaten den Text verfasste und in weiteren drei Monaten die Komposition fertigstellte, die am 29. Juni 1951 im Odeon des Herodes Atticus unter seiner Leitung erstmals aufgeführt wurde.

Dirigent und Pionier der griechischen Musik, Byron Fidetzis/Lyra

Der in der Türkei geborene Petridis studierte in Konstantinopel und ab 1911 in Paris zunächst Jura, dann Klavier und Komposition bei Albert Wolff und Albert Roussel und lebte ab 1919 abwechselnd in Athen und Paris als Komponist, Dirigent und Kritiker für griechische und englisch-amerikanische Publikationen. Der gelegentlich als erstes griechisches Oratorium bezeichnete Aglos Pavlos oder Saint Paul, dem ähnliche weltliche wie geistliche Werke von Mantzaros, Lialios, Levidis, Lavragas, Poniridis oder Nezeritis vorausgegangen waren, ist nun in einer bereits 2004 in Sofia entstandenen Aufnahme zu erleben. Byron Fidetzis dirigiert das Bulgarische National Radio Symphony Orchestra, das auf der zweiten CD auch mit einer rund 20 Jahre zuvor entstandenen Aufnahme der erste Sinfonie G-moll Hellenic und den Kleft Dances von Petridis zu erleben ist. Fidetzis, der innerhalb der Griechenland-Initiative von Naxos auch Werke von Kalomiris, Kalafati und das Requiem von Petridis dirigierte (und auf dem inzwischen verschwundenen Label Lyra eine ganze Reihe von griechischen Opern vorlegte und sich über viele Jahre um die Klassische Musik seines Heimatlandes kümmerte, wie oft hier bei operalounge.de angemerkt), besorgte verdienstvollerweise auch die Editionen der Werke (2 CD Naxos 8.574356-57).

Das rund zweistündige Oratorium schildert von der Steinigung des Stephanus und dem Damaskus-Erlebnis des Paulus über Prozessionen und Erlebnisse in Korinth, Ephesus und Jerusalem die Geschichte des Apostels bis zu seiner Enthauptung in Rom nach Texten aus dem Neuen Testament und verbindenden Erzählungen, die der Komponist selbst verfasste und einem Erzähler überträgt. Der Erzähler, in diesem Fall der Bariton Dimitris Tiliakos, der 1997 am Prinzregententheater als Graf Almaviva sein Debüt gegeben hatte und den man zuletzt in Essen als Simon Boccanegra oder in Zürich als Don Pasquale hören konnte, gestaltet die Erzählergestalt mit fabelhafter Lebendigkeit, sein charaktervoll biegsamer und dunkler Bariton hält das lange, zweistündige Werk zusammen. 14 große Choräle, vom Bulgarischen National Radio Chorus mit gewaltigem Impetus gestaltet, gliedern die beiden Akte, in dem acht weitere Solisten jeweils mehrere Figuren übernehmen, darunter als vermutlich bekanntester Name der Bassist Christophoros Stamboglis. Das „Byzantinische Oratorium“, so der Untertitel, überrascht durch eine geradezu farbige, vielgliedrige Erzählweise, die einen großen Bilderbogen im Stil von Hollywoods damals aufkommenden Visualisierungen der Antike entrollt. Als Beispiel sei die Reise nach Damaskus genannt, eine wild und opernhaft zerklüftete, sehr leidenschaftliche Szene mit Chor, Erzähler, dem Jünger Ananias sowie der Stimme von Jesus, dem der leichte Tenor Yannis Christopoulos seine Stimme leiht. Es gibt viele von solchen szenisch illuminierten und von Fidetzis mit einer gewissen Grandeur dirigierten Abschnitte, doch auch steife Momente, in denen die Arien, Duette, Terzett und Quartett und die Verbindung eines byzantinischen Stils mit Bachschen Modellen auf der Stelle tritt.

Interessant sind als Ergänzung die Ende der 1920er Jahre entstandene und 1933 von Dimitris Mitropoulos uraufgeführte erste „hellenische“ Sinfonie zu hören sowie die rhythmisch obsessiven Kleft Dances von 1922, das erste Werk für großes Orchester von Petridis. Rolf Fath