Unmögliches (fast) möglich gemacht

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Dass die Nachwelt dem Mimen keine Kränze flicht, war zumindest bis zur Erfindung von Fotographie und Film nachvollziehbar, dass einer Sängerin, eben Caroline Unger, die von 1803 bis 1877 lebte, als von einer Tonaufzeichnung noch nicht die Rede sein konnte, ein Buch von 575 Seiten bei Königshausen & Neumann gewidmet werden kann, scheint unvorstellbar, ist aber von der Musikologin Eva Nesselrath erfolgreich in die Tat umgesetzt worden. Es geht in ihrem Werk allerdings nicht nur, wie der Untertitel verrät,  um die Stimme, sondern auch um die Karriere und die Kompositionen von Caroline Unger, und es hätte durchaus auch noch die Gesangspädagogin in die Aufzählung ihrer Meriten aufgenommen werden können.

Zunächst befällt den Leser (vielleicht) ein Schreck, wenn er erfährt, dass erst die Genderforschung (und das Internet) das Buch ermöglichten, ihm auch (selten!) ein Gendersternchen zugemutet werden muss, aber dann liest er sich mit wachsendem Vergnügen in ein Buch ein, dass zugleich hoch wissenschaftlichen Ansprüchen nicht zuletzt durch einen umfangreichen kritischen Apparat gerecht wird, sondern zugleich auch höchst flüssig und unterhaltsam geschrieben worden ist. Von der Wichtigkeit der portraitierten Person ist er auch spätestens von der Seite an überzeugt, auf der davon berichtet wird, dass Gaetano Donizetti mehrere Opern auf ihre Stimme zugeschnitten komponierte und sie als aus dem deutschen Sprachraum stammende Sängerin von den Italienern auf eine Stufe mit einer Giuditta Pasta gestellt wurde.

Es geht zunächst um den Forschungsstand im 20. und 21. und dann zurückblickend im 19. Jahrhundert, und bereits hier wird, wie dann auch noch einmal in der abschließenden Würdigung einige hundert Seiten später darum, dass selbst eine so berühmte Frau wie die Unger oder, in Italien, Ungher, erwähnenswert vor allem deswegen erschien, weil sie in eine lockere oder innigere Beziehung zu einem berühmten Mann trat, so als sie als die Altistin bei der Uraufführung von Beethovens 9. Sinfonie dem Komponisten, indem sie ihn zum jubelnden Publikum umdrehte, seinen Riesenerfolg verdeutlichte, oder indem sie Nikolaus Lenau für einige Zeit vom völligen Versumpfen abhielt.

Das Buch geht eine glückliche Verbindung zwischen soziologischen Betrachtungen über den Standort der Primadonna nach dem Abtreten der Kastraten als Stars der Opernbühne  und dem persönlichen Schicksal der Unger ein, macht den Leser damit bekannt, dass eine Sängerin mit dem Eintritt in eine Ehe normalerweise ihren Beruf aufgeben musste, dass sie zwischen angebeteter Göttin und verachtenswerter Hure ihren Platz finden musste, und weist ihn auf die hauptsächlichen Quellen, Briefe, Kritiken, Huldigungstexte und das verwendete Notenmaterial, hin. Der Erschließung des Wesens der Stimme dient insbesondere das Notenmaterial, so das der Donizetti-Opern, das ihrer eignen Kompositionen und das der musikalischen Widmungen einzelner Komponisten oder sonstiger Verehrer. Dabei istzu berücksichtigen, dass mit zunehmendem Ruhm auch eine zunehmende Verschleierung und Mystifizierung stattfand und nicht zuletzt, dass immer die intensive Darstellung, weniger die Stimme des Ruhmes der Zeitgenossen teilhaftig wurde.

Caroline Unger/Kostümbild für ihre Elvira im Don Giovanni“ in Paris/BNF Gallica

Nach den einleitenden Betrachtungen zeichnet Nesselrath die einzelnen Karriereschritte der Unger nach, vom Alt zum Sopran und damit von der seconda donna zur Primadonna, von der Wiener Konzertsängerin zum Opernstar in Neapel und danach in allen großen italienischen Häusern, von der von Beethoven vorgesehenen Melusine in einer nie vollendeten Oper zu Tourneen nach Paris, London und auch Deutschland, wo man nicht müde wird, zwar den italienischen Gesangsstil zu bewundern, aber auch die deutsche Tiefe, derer man sich rühmt, hervorzuheben. Natürlich gibt es eine Unmenge von Zitaten in allen möglichen Sprachen, und mancher Leser wird dankbar sein, dass alle Texte im Anhang ins Deutsche übersetzt werden. Bemerkenswert ist auch der überschwängliche Stil, in dem  sich Kritiker in Italien wie in Deutschland äußern, geradezu sich in eine hochpoetische Sprache hineinsteigern, um die Qualitäten der Künstlerin angemessen zu würdigen. Man erfährt also nicht nur viel über Caroline Unger, über das Musikleben ihrer Zeit, sondern auch der Soziologe oder der Sprachwissenschaftler kann aus diesen reichen Quellen Wissen schöpfen.

Die Entwicklung der Stimme kann der Leser aus der Wahl der Rollen erschließen, die Donizetti für die Sängerin komponierte.  Es beginnt auch mit Hosenrollen für den Alt, ehe sich die dunkel bleibende Stimme mit erkämpfter Höhe zu der einer Tragédieuse entwickelt, deren Tonumfang, Tessitura, dramatisches Vermögen aus den vielen Notenbeispielen abzulesen sind. Nachvollziehbar wird auch, dass sie stets dem romantischen Belcanto verpflichtet blieb, Verdi zum Beispiel ablehnte. Die Kunst von Caroline Unger spiegelt sich auch in den Widmungen u.a. von Heine, Hensel, Meyerbeer, der sie für die Hugenotten wollte, Pauline Viardot oder Johann Strauss mit seinen Rosenblättern wider.

„Karoline (!) Unger“ um 1870/Foto Leopold Bude Graz/Wiener Theatermuseum

Bei so vielen mitteilenswerten Tatsachen kann auch ab und zu ein Irrtum auftauchen, wie ein angeblicher Carlo im Trovatore oder die Verwechslung von Udine mit Undine.

Mit 38 Jahren verlässt Caroline Unger die Opernbühne, heiratet nach langem Zögern einen fünfzehn Jahre jüngeren Mann, versammelt in Florenz in ihrem Salon die kulturelle Elite Europas um sich und bildet zahlreiche Sängerinnen und einen Tenor aus, der ausgerechnet mit Verdi berühmt wird.

In ihren Liedern wird der Einfluss Schuberts, dessen Werk sie studiert, hörbar, sie dienten vielleicht der Gesangslehrerin als Unterrichtsmaterial.  Ob ihre Ausstrahlung als Sängerin und als begehrenswerte Frau andere Künstler inspirierte, so Dumas zu einem Roman, kann auch die Verfasserin nicht klären, so wenig wie, welcher Art das Verhältnis zu Liszt war. Auf jeden Fall wird der Leser mit der Meinung der Autorin, dass ihre „Karriere von Polarität geprägt“ war, zustimmen können. 

Umfangreich ist der Anhang mit einer tabellarischen Übersicht der Opernproduktionen, der Übersicht über die Lieder, dem Literaturverzeichnis, der Zeitungsartikel, des Archivmaterials, der Internet-Quellen, der Libretti und Notenausgaben, der Notenbeispiele im Sopranschlüssel, der Huldigungsgedichte und eines Fotos vom Elterngrab. Es bleibt der unerfüllbare Wunsch, die Stimme von Caroline Unger zu vernehmen (Königshausen & Neumann 2024, 575 Seiten; ISBN 978 3 8260 8746 2.) Ingrid Wanja