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Vor achtzig Jahren wurde Sir Michael Tippetts Oratorium Andrew Davis dirigiert Tippetts A Child of Our Time im Londoner Adelphi Theatre unter Leitung des deutschen Emigranten Walter Goehr uraufgeführt. Zu den vier Solisten gehörten die Sopranistin Joan Cross und der Tenor Peter Pears, der sich zusammen mit Benjamin Britten maßgeblich für eine Aufführung des Freundes eingesetzt hatte. Brittens Gegenstück folgte übrigens erst 1962. Es scheint eine „zusammengestückelte und recht amateurhafte Angelegenheit“ gewesen zu sein, wie Marvyn Cooke im Beiheft der Chandos–Aufnahme vermerkt (Chandos CHSA 5341, inzwischen im Naxos Vertrieb), die das Werk, von dem nur wenige Einspielungen vorliegen, 80 Jahre nach diesem Ereignis mit Andrew Davis, dem „anderen Davis“ als den ihn schon der Komponist bezeichnete, und dem BBC Symphony Orchestra jetzt vorlegt. Colin Davis hat das Werk u.a. 1975 in London ebenfalls mit dem BBC Symphony Orchestra aufgenommen, Tippett (1905-98) nahm es wenige Jahre vor seinem Tod 1991 in Birmingham auf. Der kürzlich verstorbene Andrew Davis ist bei einer seiner vermutlich letzten Aufnahmen ein eloquenter Anwalt Tippetts und kann sich vor allem auf die geradezu fesselnde Imagination des BBC Symphony Chorus verlassen.
A Child of Our Time. Oratorio for Soli, Chorus and Orchestra with Text and Music by Michael Tippett mahnt zu Humanismus, Toleranz und Gerechtigkeit, Ideale für die der überzeugte Kriegsdienstverweigerer Tippett auch ins Gefängnis ging. A Child of Our Time ist ein schweres Stück. Als ich es vor Jahrzehnten zum ersten Mal hört, hat es mich allerdings mehr beeindruckt. Tippett hat ungemein viel in dieses gerade mal einstündige Werk gepackt, angefangen vom Titel, der Ödön von Horvaths 1938 erschienenem Roman entnommen ist, über die im Mittelteil angedeutete Geschichte des 17jährigen Herschel Grynszpan, der im November 1938 in Paris den deutschen Botschaftssekretär Ernst vom Rath erschossen hat, was die bereits geplanten Novemberpogrome rechtfertigen sollte und für Tippett Anlass für die Komposition war – Herschel Grynszpans Vater konnte übrigens 1952 und 1962 bedeutende Aufführungen in Haifa und Tel Aviv erleben – über das Vorbild der Oratorien Bachs und Händels bis zu der Jungschen Psychologie oder seinen Archetypen, die sich im vorangestellten Motto manifestiert (…the darkness declares the glory of light/ Die Dunkelheit kündet von der Herrlichkeit des Lichts) und den fünf traditionellen Spirituals. Den Text hat Tippett, wie später bei all seinen Opern, selbst geschrieben.
Dirigent Andrew Davis ist spürbar bestens vertraut mit dem Werk, steuert behutsam zwischen den dramatischen Blöcken und betrachtenden Sequenzen und hat den Chor sicher im Griff, ohne dass er dem Werk ein spezifisches Gesicht oder innere Kohärenz verleiht. Von den Solisten ist Sarah Connolly, die bei den Aufnahmen im Mai vorigen Jahres kurz vor ihrem 60 Geburtstag stand, nicht immer sehr tonschön, aber eindringlich und anrührend. Anrührend ist auch der schmale, nasale Ton des Tenors Joshua Stewart. Der Bassbariton Ashley Riches singt mit Autorität, der wolkig verhangene unstete Ton von Pumeza Matshikize macht weniger Freude. Rolf Fath