Aufregend, tiefgründig, exemplarisch

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Kent Nagano dürfte der Dirigent sein, der mit der Musik wie mit der Persönlichkeit des Komponisten Olivier Messiaen (1908-1992) am besten vertraut ist. Früh entdeckte er dessen Musik für sich. 1982 lebte er ein Jahr im Haushalt des Komponisten in Paris, an der Einstudierung der Oper Saint François d‘Assise in der Pariser Opéra Garnier 1983 hatte er einen wichtigen Anteil. Nagano hat sämtliche Orchesterwerke des Franzosen dirigiert und die Franziskus-Oper in Lyon und München zur Aufführung gebracht. Messiaen, so äußerte er selbst einmal, habe ihm „die Tür zu seiner Musik geöffnet“. So ist Nagano gleichsam prädestiniert, uns die Tür zur Musik Messiaens zu öffnen. Was hier mit der Aufführung dreier zentraler Werke geschieht.

In seinem sehr lesenswerten Beitrag „weist Kent Nagno auf die enge Verbindung von Religion und Musik bei Messiaen hin: „Fast alle von Messiaens Werken haben biblische Inhalte oder nehmen theologische Gedanken auf: die Bedeutung der Dreifaltigkeit, die Geburt und die Verklärung Jesu Christi, seine Unsterblichkeit. Aus dem Glauben nahm er die Energie und Kraft, eine schier unerschöpfliche Vielfalt von Werken zu komponieren. Während er komponierte oder improvisierte, reflektierte er nicht nur über die Schöpfung. Es war sein Weg, mit Gott in Verbindung zu treten. In der Musik kann man Gott erfahren. Musik hat eine unvergleichlich spirituelle Kraft, vielleicht die größte unter den Künsten. Sie baut die Brücke in die Transzendenz.“

Den Liederzyklus  Poèmes pour Mi komponierte Messiaen 1936 auf eigene Texte und zunächst in einer Fassung für Sopran und Klavier. 1937 kam er mit Marcelle Bunlet und dem Komponisten am Klavier zur Uraufführung. Im selben Jahr instrumentierte Messiaen den Klavierpart. Die Erstaufführung dieser Fassung fand ebenfalls mit Marcelle Bunlet und dem Conservatoire-Orchester unter Leitung von Roger Désormière in der Pariser Salle Gaveau statt. Gewidmet ist das Werk der ersten Frau des Komponisten, der Geigerin und Komponistin Claire Delbos (1906-1959), deren Kosename „Mi“ (auch die Bezeichnung für den Ton D) war.

Die neun Lieder haben beachtliche literarische Qualitäten. Außerdem beweist Messiaen hier sein Geschick, das individuelle Erleben der Liebe und irdischen Glücks mit einer Transzendierung und dem Jenseits in Verbindung zu bringen. Danksagung, Landschaft, Das Haus, Entsetzen, Die Gattin, Deine Stimme, Die beiden Krieger, Das Halsband, Erhörtes Gebet – diese Titel machen schon deutlich, dass Messiaen ganz unterschiedliche Themen behandelt und dafür den jeweils passenden Ausdruck findet. Und mal wird die Liebe, mal die Geliebte beschworen, mal ein Ort, mal ein Zustand. Immer freilich ist das religiöse Moment anwesend, explizit oder implizit.

Kent Nagano/ Foto Peter Meisel/BRSO

Die Poèmes pour Mi erfordern einen dramatischen Sopran, eine große, flexible Stimme, die freilich auch zu größter Zurückhaltung fähig sein muss. Und sie muss sich immer im Orchester behaupten können, selbst in den besonders leisen Passagen. Jenny Daviet bewältigt ihren Part sehr gut, sing immer nuanciert, ausdrucksvoll, interessant. Nur manchmal klingt ihre Stimme etwas forciert, ja scharf. Das Orchester begleitet und stützt sie hervorragend ein.

Die Chronochromie komponierte Olivier Messiaen 1959/60 für eine sehr große Orchesterbesetzung: Piccoloflöte, 3 Flöten, 2 Oboen, Englischhorn, Kleine Klarinette, 2 Klarinetten, Bassklarinette, 3 Fagotte, 4 Hörner, Piccolotrompete, 3 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba, Schlagwerk mit Glockenspiel, Xylophon, Marimba, Glocken, 3 Gongs, Hängendem Becken, Chinesisches Becken, Tamtam sowie Streicher. Der Titel leitet sich aus dem Griechischen her: Chronos (= Zeit) und Chroma (= Farbe) gehen eine Beziehung oder Verbindung ein. Die Farbe verändert sich im Lauf der Zeit. Messiaen führte den Begriff „Chronochromie“ in die Musik ein. In seinem gleichnamigen Werk ist das eine spezielle Form der Harmonie in Strophen, Antistrophen und Epoden, die aus dem griechischen Drama abgeleitet ist. In den sieben Teilen der Komposition, die mehr oder minder ineinander übergehen, findet sich ein wahres Hör-Kaleidoskop, vor greift Messiaen auf ungewöhnliches Material zurück, das er nach Art eines „objet trouvé“ außerhalb der Kunst, in der Alltagswelt gefunden hat. Das sind die Stimmen von verschiedenen Vogelarten, der Klang von Wasserfällen in den Alpen, windstoßartige Figuren, Gesten oder felsiges Gebirge in Form von grandiosen. Das 1960 bei den Donaueschinger Musiktagen uraufgeführte Werk hat dank Kent Naganos Interpretation nichts von seiner vielleicht auch irritierenden Faszination verloren. Das BRSO stürzt sich gleichsam mit voller Verve auf diesen Klassiker, der viel zu selten im Konzertsaal zu hören ist. Der Hörgenuss läßt sich vielleicht noch steigern, wenn man (allerdings nach dem ersten Hören!) gute Erläuterungen liest und so erfährt, was es mit diesem komplexen Werk eigentlich auf sich hat.

Das Hauptwerk der Box bildet La Transfiguration de notre Seigneur Jésus-Christ, ein Auftrag der Gulbenkian-Stiftung in Lissabon aus dem Jahre 1965. Die bat Messiaen um ein großes Werk für Chor und Orchester. Der Komponist entschied sich für ein Oratorium über die „Verklärung unseres Herrn Jesus Christus“, an dem er dann länger als geplant arbeitete. In seiner endgültigen Form kam das Werk am 7. Juni 1969 in Paris zur Uraufführung – mit dem Orchestre de Paris unter Leitung von Serge Baudo. Solistisch prominente Rollen spielten die Pianistin Yvonne Loriod (die zweite Frau des Komponisten) und der Cellist Mstislaw Rostropowitsch. Die Komposition ist streng symmetrisch gebaut. Sie besteht aus zwei Teilen zu je sieben Sätzen. Zwischen Rezitationen aus den biblischen Evangelien (Teile I, IV, VIII, XI) finden sich meditierende Sätze (II, III, V, VI, IX, X, XII, XIII). Die Teile werden abgeschlossen durch Choräle (VII, XIV).

In der vorliegenden Aufnahme, einem Konzertmitschnitt vom Juni 2017, sind Pierre-Laurent Aimard (Klavier) und Lionel Cottet (Violoncello), weitere fünf Orchestersolisten, Moon Yung Oh (Tenor), Matthias Ettmayr (Bass) sowie Chor und Symphonieorchester Orchester des Bayerischen Rundfunks in Bestform zu erleben. Der Chor singt immer ausdrucksvoll, subtil, bewährt sich in den zum Teil gregorianischen Gesängen nachempfundenen Passagen. Alle Solisten sind sehr präsent, das Orchester bringt die klanglichen Facetten, die Eigenwilligkeiten und Valeurs dieses meditativen Werkes suggestiv zur Geltung. Das Oratorium ist zwar sehr groß besetzt, doch werden die instrumentalen und vokalen Kräfte sehr ökonomisch und oft sehr subtil eingesetzt. Man wird als Hörer nie überfahren, sondern staunt über den differenzierten Klang, die Farben und die Schönheit dieser Musik. Hier erfüllt sich, was Kent Nagano äußerte: dass die Musik eine Brücke zur Transzendenz bauen kann. Das tut sie oft mit Klängen wie aus dem Jenseits (Olivier Messiaen: La Transfiguration de Notre Seigneur; Pierre-Laurent Aimard, Jenny Daviet, Chor des Bayerischen Rundfunks, Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Kent Nagano; BR-KLASSIK 900203)! Helge Grünewald