Archiv für den Monat: Januar 2022

Erstfassung

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Für Polen mag es ein denkwürdiges Ereignis sein, die ursprüngliche, die Vilnius-Fassung von Moniuszkos Meisterwerk Halka aus dem Jahre 1848, der konkurrenzlosen polnischen Nationaloper, zu erleben, der Mittel- oder West-, gar Südeuropäer dürfte recht unbeeindruckt davon bleiben. Zwar gab es nach dem Zweiten Weltkrieg geradezu eine Schwemme von Halka-Aufführungen in den „sozialistischen Bruderländern“, begünstigt auch durch die sozialkritische Handlung, inzwischen ist Halka zwischen Frankfurt Oder und Lissabon eine eher selten anzutreffende Oper. Wer aber die gängige spätere Warschauer Fassung von 1858 kennt, dem wird auffallen, wie viel kürzer (allein anstelle der vier nur zwei Akte), straffer und die Handlung konsequent vorantreibender die Urfassung ist, dass Folkloristisches, gar Tänze der Landbevölkerung, oder die Bravourarie des Tenors und sonstige lyrische Momente fehlen, und der Verfasser des sehr informationsreichen Booklets meint, es würden einfach alle den Polen so teuren Hits aus dem Werk nicht anzutreffen sein. Diese trugen natürlich dazu bei, dass die traurige Geschichte vom verführten Bauernmädchen, das von seinem adligen Liebhaber verlassen wird und den Tod in den Fluten sucht, nachdem sein Kind bereits verhungert ist, an tragischer Konsequenz durch visuelle und akustische Opulenz etwas verlor, während die stringente Urfassung im Revolutionsjahr  1848 von besonderer Brisanz war, das Stück auch nur in privatem Kreis im Hause Müller, der Schwiegereltern des Komponisten, konzertant aufgeführt werden konnte. Erst 1854 fand die erste szenische Aufführung der zweiaktigen Fassung im Wilnaer Theater statt. Dem polnischen Publikum, das seine opulente Warschauer Fassung liebt, wird man die karge Vilnius Version kaum schmackhaft machen können, aber der unvoreingenommene Neuhörer könnte durchaus Geschmack finden an der ohne Schnörkel und musikalischen Putz auskommenden tragischen Geschichte in ihr angemessener Vertonung, dazu noch mit einem vorzüglichen Orchester, der Capella Cracoviensis unter Jan Tomasz  Adamus, auf historischen Instrumenten.

Diese beginnen rasant und feurig, unterstreichen den harten, frischen Charakter der Urfassung voll musikalischen Elans und finden zu fast kammermusikalischem Klang in der Begleitung der Solisten. Ein Glücksfall ist auch die Halka von Natalia Rubiś, die einen klaren, reinen Sopran mit feinem Vibrato für die Titelpartie einsetzen kann. Der Sopran zeigt manchmal Anklänge an eine Naturstimme, klingt im 2. Akt wie entrückt und voller Melancholie, ehe in der Schlussszene Schärfe als Gestaltungsmittel eingesetzt , Wahnsinn hörbar gemacht wird. Auch der zweite Sopran, Michalina Bienkiewicz, mit dem sich die standesgemäße Braut des ungetreuen Liebhabers, Zofia, zu Wort meldet, besticht durch filigrane Zartheit, feine Koloraturen und Wärme. Recht dumpf und verhangen und im Duett weniger präsent als der Sopran zeigt sich der Bariton von Sebastian Szumski, der den Adelsspross Janusz singt. Den treuen Jontek, der Halka nicht vom Selbstmord zurückhalten kann, gibt Przemyslaw Borys mit dunkel getöntem, recht metallisch klingendem Tenor. Angemessen füllen die beiden Bässe PrzemysƗaw Józef BaƗka und Marek Opaska die Väterrollen aus. Der Chor weiß Mitleid und erzwungenen Jubel gleich ausdrucksstark zu Gehör zu bringen. Zum Nachdenken regt die Frage an, warum Halka, die nicht wie ledige Mütter der damaligen Zeit aus der Gesellschaft verstoßen, sondern von ihr bemitleidet wird, keinen Ausweg als den des Freitods sieht. Da dürfte eine der vermuteten Quellen für das Libretto, in dem Halka von Visionen heimgesucht wird, von vornherein als gefährdet erscheint, sich manifestieren (2CD DHM 19439900842). Ingrid Wanja   

 

      

Barockes aus Paris

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Zwei französische Barockopern, beide aufgenommen in der Pariser Opéra Comique, bringt NAXOS auf DVD heraus. In beiden Live-Aufführungen musiziert das renommierte Ensemble Les Arts Florissants unter Leitung von William Christie. Erstere Produktion – Jean-Baptiste Lullys fünfaktiger Atys – stammt bereits aus dem Jahre 2011 und markiert die Wiederaufnahme der Kreation von 1987 (2.110694-95, 2 DVDs).

Das Libretto von Philippe Quinault führt nach Phrygien in mythischer Zeit. Atys, Günstling des Königs Célénus, wird von dessen Verlobter Sangaride geliebt. Auch die Göttin Cybèle begehrt und ernennt ihn zum Oberpriester. Als sie von seiner Verbindung mit Sangaride erfährt, verwirrt sie ihm die Sinne, so dass er Sangaride für ein Monster hält und sie ersticht. Als er seinen Irrtum bemerkt, tötet er sich selbst.

Regisseur Jean-Marie Villégier hat die Tragédie en musique als barockes Spektakel inszeniert. Françine Lancelot und Béatrice Massin steuerten die Choreografie im höfischen Stil bei, welche die Compagnie Fêtes Galantes mit stilistischer Sachkenntnis umsetzt. Alles wird geadelt von der opulenten Ausstattung – Jean-Marie Villégiers Bühne mit ihren Prospektmalereien und prunkvollen Interieurs sowie Patrice Cauchetiers historischen Kostümen mit ihren kostbaren Stoffen und Dekors.

William Christie breitet mit dem Orchester die Ouverture in ihrem gravitätischen Duktus in aller Pracht aus, später differenziert er angemessen zwischen rhythmischer Verve, majestätischem Pomp und getragenen Passagen. Der Tenor Bernard Richter ist als Titelheld ein barocker Beau. Und schon in seinem Auftritt,  „Allons, allons“, lässt er eine wohllautende Stimme und idiomatische Diktion hören. Im 3. Akt hat er einige Soli („Nous pouvons nous flatter“), in denen er mit besonders schmeichelnden Tönen aufwartet. Die Sopranistin Emmanuelle de Negri verleiht der Sangardide stimmlichen und optischen Liebreiz. Mit „Venez tous dans mon Temple“ hat Stéphanie d’Oustrac am Ende des 1. Aktes einen autoritären Auftritt als Göttin Cybèle in schwarzer Robe und silbernem Strahlenkranz als Kopfputz. Der Mezzo der Sängerin tönt streng und herrscherlich, bewegt sich aber kompetent in barocken Bahnen. Nach Atys’ Selbstmord hat sie eine tragische Schluss-Szene („Venez, furieux Corybantes“) im deklamatorischen Stil, in der sie Atys in einen heiligen, immergrünen Pinienzweig verwandelt. Eine ausgedehnte Szene im 3. Akt hat der im barocken Repertoire erfahrene Tenor Paul Agnew als Dieu de Sommeil. Von Musikanten auf der Bühne begleitet, singt er sein „Dormons, dormons tous“ mit schwebenden Tönen und zärtlicher Empfindung. Der Solotänzer Gil Isoart von der Opéra national de Paris krönt die Szene mit seinem aristokratischen Tanz. Auch das Finale, die Première entrée des Corybantes, wird neben dem Chor dominiert von den Tänzern zu stürmischen Klängen der Musik.

Die zweite Veröffentlichung – von Jean-Joseph Cassanéa de Mondonville – entstand im Januar 2021 während der Pandemie in der Pariser Opéra Comique und wurde daher ohne Zuschauer gefilmt (2.110693). Diese Pastorale héroïque ist eine veritable Rarität auf dem Plattenmarkt. Basil Twist hat sie inszeniert und ausgestattet, darüber hinaus noch die Puppen gestaltet. Nach der opulenten Pracht des Atys nimmt sich das Bühnenbild hier aus wie aus dem Legobaustein-Setzkasten, garniert mit kunstgewerblichen Schleiern vom Schnürboden. Die Kostüme aber sind im historischen Stil, üppig verziert und aus glänzenden Stoffen.

Gezeigt wird die stürmische und unzerbrechliche Liaison zwischen der Göttin Aurora und ihrem Geliebten, dem Schäfer Titon. Eifersüchtige Götter und Göttinnen versuchen mit mörderischen Absichten und dramatischer Entführung die Verbindung zu stören – doch die wahre Liebe siegt. Traditionell beginnt die Aufführung mit einem Prologue, in welchem Prométhéé (der Bassbariton Renato Dolcini) mittels des Feuers leblose Statuen zum Leben erweckt. Er singt das AirEsprits soumis à mon empire“ mit vehementem Nachdruck und das Orchester untermalt den Vorgang mit dem wilden Air pour les Esprits du feu. Amour, personifiziert durch Julie Roset, die wie ein Octavian erscheint, gratuliert ihm zu seiner Tat. Ihr Sopran klingt im Ton etwas steif, die Ariette „Jeunes mortels“ jedoch munter.

Zu Beginn des 1. Aktes treten die beiden Titelrollenträger auf. Der Tenor Reinoud van Mechelen als Titon stellt sich mit dem Air „Que l’Aurore tarde à paraître“ vor, lässt neben lyrischem Wohllaut auch angespannte Töne hören. Die Sopranistin Gwendoline Blondeel als Aurore im golden glitzernden Kleid beginnt mit dem Air „Je n’aime, je ne vois“, in welchem sie auch keifenden Klang nicht scheut. Lieblicher ertönt ihre Ariette „Venez sous ce riant feuillage“. Putzig illustrieren kleine Wollschäfchen den Hymnus des Chores „Célébrons l’Amour et l’Aurore“. Von stampfender, lustvoller Freude erfüllt ist die Contredanse, die den Auftritt von Éole, dem Gott der Winde, der Aurore begehrt, einleitet. Der Bassbariton Marc Mauillon in einem spektakulären Gewand aus wehenden Flügeln singt ihn mit rabiater Tongebung und vehementem Einsatz. Furios ist sein rasendes Air mit Chor im 2. Akt („Vents furieux“), dem das Orchester das tobende Air pour les vents nachschickt. Palès, die Göttin der Hirten, erscheint mit einem Widdergespann wie Fricka und verweigert Éole ihre Mithilfe, seinen Rivalen Titon zu töten, will ihn aus Eigennutz stattdessen entführen. Mit Emmanuelle de Negri begegnet man der Sangaride aus dem Atys wieder, stimmlich nun strenger und deutlich gereift. In ihrem Air des 2. Aktes, „Berger, je connais vos malheurs“, kann sie aber noch immer mit zarten Klängen aufwarten. Schließlich verfällt sie wieder in rasende Wut, wenn Titon ihre Liebe zurückweist. Das Air „Tu vas sentir les effets de ma rage!“ ist ein großer tragischer Auftritt. Naiven Märchenzauber bietet optisch die Szene von Palès’ drei Nymphen (die Sopranistinnen Virginie Thomas, Maud Gnidzaz und Juliette Perret mit munterem Gesang), welche das Orchester mit graziösen Klängen ausmalt. Und zur Contredanse schweben und wirbeln die Schafe sogar in der Luft. Am Ende jubilieren Titan und Aurore in ihrem Duo „De deux parfaits amants“ über den glücklichen Ausgang. Und der Chor stimmt machtvoll ein mit „Chantons la gloire“.

Christie gelingt musikalisch ein wahres Fest für die Sinne. Der Dirigent kehrte nach sechsjähriger Abwesenheit an das Pariser Opernhaus zurück und bietet mit seinem Ensemble eine vitale Interpretation voller Energie und Esprit. So unterschiedlich die beiden Ausgaben sein mögen – William Christie ist in beiden der wahre maître. Bernd Hoppe

Havergal Brian: „Faust“

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Die Gretchenfrage für einen Komponisten, zumindest im 19. und frühen 20. Jahrhundert, könnte lauten: Wie hältst du’s denn mit Faust? Gemeint ist natürlich Goethes Tragödie, und vor allem deren 1808 in heutiger Form erschienener erster Teil. Vertonungen gibt es bereits seit Ignaz Walters Oper Doktor Faustus Anno 1797, noch auf dem 1790 veröffentlichten Faust-Fragment basierend. Die heute bekanntesten musikalischen Abhandlungen des Goethe’schen Faust-Stoffes sind gewiss die „dramatische Legende“ La Damnation de Faust von Hector Berlioz (1846), die Szenen aus Goethes Faust von Robert Schumann (1853), die Faust-Symphonie von Franz Liszt sowie die Opern Faust (1859; in Deutschland lange Margarete genannt) von Charles Gounod und Mefistofele von Arrigo Boito (1868). Hinzu treten u. a. Wagners selten aufgeführte Faust-Ouvertüre (1840) und Mahlers kantatenartige Sinfonie Nr. 8 (1910), die sogenannte Sinfonie der Tausend, deren zweiter Teil die Schlussszene von Faust II vertont. Und manche weitere Komponisten (wie Ludwig Spohr 1813/1852) mehr. Erstaunlich erscheint, dass eine genuine deutsche Oper, auf diesem Stoff basierend, fehlt (Faust von Spohr, uraufgeführt 1816, beruht auf Vorlagen von Friedrich Maximilian von Klinger und Heinrich von Kleist). Die bekanntesten Bühnenadaptionen kommen von „Ausländern“. In diesem Zusammenhang sollte es einen also gar nicht so wundernehmen, dass sich auch ein Engländer an den bedeutungsschweren Stoff herangewagt hat.

Havergal Brian (1876-1972) war ein reichlich kurioser Zeitgenosse und wurde die meiste Zeit seines langen Lebens nicht seinem Genie entsprechend gewürdigt. In Dresden (sic), einem Vorort des englischen Longton in Staffordshire geboren, erregte besonders seine gewaltige erste Sinfonie The Gothic, 1927 vollendet, Aufsehen, erfuhr aber bezeichnenderweise ihre eigentliche Uraufführung erst 1961. Es folgten nicht weniger als 31 weitere Sinfonien, aber Brian tummelte sich in praktisch jedem musikalischen Genre. Die meisten seiner fünf Opern entstanden in den 1950er Jahren, darunter auch Faust (1955/56), um den es hier gehen soll. Der damals bereits achtzigjährige Komponist bezeichnete das Werk als A Tragedy in a Prologue and Four Acts. Entsprechend ambitioniert ist es angelegt. Interessanterweise wird auf Deutsch gesungen und bedient sich Brian der Worte Goethes. Das auf solch exklusives Repertoire spezialisierte britische Label Dutton bringt nun in Zusammenarbeit mit der Havergal Brian Society die Weltersteinspielung auf den Markt.

Essentiell ist bei einer solchen Wiederentdeckung das Beiheft, welches labeltypisch exzellent ausfällt. In einer informativen Einführung beschreibt John Pickard die Hintergründe (bedauerlicherweise ohne deutsche Übersetzung). So zitiert er gleich eingangs Havergal Brian, der sich bei seiner Oper vom „Mischmasch“ von Gounod und Berlioz distanziert und betont, dass seine Goethe-Vertonung auch den Prolog im Himmel sowie den Dialog zwischen Schüler und Mephistopheles beinhalte. Überhaupt fällt die Komposition in die Phase des späten „Indian Summer“ Brians, der zwischen 1950 und 1957 vier seiner fünf Opern schrieb. 1954 wurde er auf Betreiben des Dirigenten Sir Adrian Boult endlich von der BBC gewürdigt, die eine Aufführung der achten Sinfonie im Rundfunk übertrug. Boult war es dann auch, der 1966 in Kooperation mit der BBC die professionelle Erstaufführung der Gotischen Sinfonie auf die Beine stellte (erschienen beim Label Testament). Brians gut zweistündige Faust-Oper kehrt zum menschlichen Drama der Originalvorlage von Goethe zurück und befleißigt sich einer Wiedergabetreue und Genauigkeit, die sämtliche anderen Vertonungen weit hinter sich lässt (welche freilich gar nicht erst diesen fast pedantischen Anspruch erhoben haben). Der Respekt des Komponisten vor dem Dichterfürsten geht soweit, dass der Text unverfälscht daherkommt. Gewiss gibt es unvermeidliche Kürzungen, jedoch keine eigenen Hinzufügungen. Was fehlt, sind Auerbachs Keller und die Walpurgisnacht, doch wird der von Brian gewollte Fokus auf die drei Hauptcharaktere Faust, Gretchen und Mephisto dadurch noch verstärkt. Faust und Gretchen erscheinen gleichsam als Kollateralschaden in einem Spiel unsichtbarer Mächte. Der so essentielle himmlische Prolog (17 Minuten), der die eigentlichen Handlungstreiber entlarvt, erhält beinahe die Dimensionen eines eigenen Aktes. Im ersten eigentlichen Aufzug (35 Minuten) geht es um die Beziehung Faustens zu Mephisto, im zweiten Akt (28 Minuten) sodann um Faust und Gretchen und den Verlust von deren Unschuld. Der dritte Aufzug (25 Minuten) setzt sich mit Gretchens Verderben auseinander, der vierte Akt (27 Minuten) behandelt schließlich ihre drohende Hinrichtung, Fausts Versuch, sie zu retten, Mephistos versuchte Vereitelung dessen und die unverhoffte plötzliche Deus ex machina-Erlösung Gretchens. Der hohe intellektuelle Anspruch, den der Autodidakt Brian an seine Oper stellt, wird auch durch die Inklusion der auf den ersten Blick aus dem Rahmen fallenden Szene zwischen Mephistopheles und dem Schüler deutlich, deren komischer Beigeschmack dem Komponisten wichtig war. Indem er die Hexenküche samt der Verabreichung des Zaubertrankes streicht, erhöht Brian auf der anderen Seite die moralische Verantwortung Dr. Faustens an Gretchens Schicksal.

Zur Hebung der Textverständlichkeit bedient sich Brian insgesamt einer recht deklamatorischen Gesangsführung. Sein Faust ist ein Musikdrama im wagnerischen Sinne, trotz des Fehlens eigentlicher Leitmotive, und insgesamt sinfonisch konnotiert. Die Dominanz der drei genannten Hauptfiguren sollte indes nicht verbergen, dass es nicht weniger als ein Dutzend Rollen im Werk gibt, nämlich den Herrgott, den Bösen Geist, den Erdgeist, die drei Erzengel Raphael, Gabriel und Michael, den schon genannten Schüler, Valentin sowie Marthe. Die gesanglichen Anforderungen gerade der Hauptcharaktere sind hoch, fordert Brian doch einen dramatischen Tenor für die Titelfigur und einen ebenso dramatischen Sopran für Gretchen. An Komplexität übertrifft diese allerdings noch Mephisto, der die volle Bandbreite vom aalglatten Charmeur bis zum teuflischen Ränkeschmied abdecken muss. Der Chor schließlich tritt einzig im dritten Akt, dafür aber ganz markerschütternd in Erscheinung, zunächst als Zeugen der Ermordung Valentins durch Faust und sodann in der Dom-Szene mit dem Dies irae bei der Heimsuchung Gretchens durch den Bösen Geist, unterstützt von der Orgel (Organist: Iain Farrington).

Die künstlerische Qualität dieser nunmehrigen Weltpremiere ist hoch zu würdigen und stellt eine überzeugende Wiedergabe des Brian’schen Opus dar. Der Tenor Peter Hoare in der Titelrolle gibt einen sehr jugendlich-stürmischen, geradezu heldischen, vielleicht etwas einfältigen Faust. Rein stimmlich ist er den erheblichen Anforderungen der Partei sehr wohl gewachsen. Darüber verschmerzt man auch den hie und da durchklingenden dezenten Akzent. Die Sopranistin Allison Cook ist mehr Margarete als Gretchen, stimmlich sehr reif, aber eben auch mit der erforderlichen Dramatik ausgestattet, bald himmelhoch jauchzend, bald zu Tode betrübt. David Soar, Bassbariton, drückt dem Erzbösewicht Mephistopheles nachhaltig seinen Stempel auf, verfällt dabei nicht in die Gefahr der Einseitigkeit und vermittelt alle Facetten dieses gewiss vielseitigsten Charakters. Der Mezzosopran von Katie Coventry in der Hosenrolle des Schülers interagiert mit ihm hervorragend. Auch die restliche Besetzung ist mehr als gediegen und unterstreicht den sehr guten Eindruck. Die drei Erzengel, besetzt mit den Tenören William Morgan (Raphael) und Elgan Llyr Thomas (Michael) sowie dem Bassisten Robert Hayward (Gabriel), absolvieren ihren kurzen Auftritt zu Beginn rollendeckend. Der Bassist Simon Bailey übernimmt nicht nur den Herrn im Prolog, sondern tritt später auch als Böser Geist in Erscheinung und ist dabei in der Lage, die Unterschiede herauszuarbeiten. Als imposanter Erdgeist tritt mit David Ireland ein weiterer Bass hinzu. Eine profunde Charakterstudie liefert vor allem der Bariton Nicholas Lester als nicht eben zimperlicher oder feinfühliger Soldat Valentin, Gretchens Bruder, im effektvollen dritten Aufzug. In der kleinen Rolle der Marthe schließlich Clare Presland mit adäquatem Mezzo. Ganz am Schluss in der Minirolle als Stimme von oben die Sopranistin Claire Mitcher. Überhaupt ist das Deutsch der Beteiligten, auch des Chores – der zudem auf Latein agiert –, zu würdigen. Es zeichnet verantwortlich der Chorus of English National Opera (Chorleiter: James Henshaw) sowie das Orchestra of English National Opera unter der mitreißenden Leitung des in Kennerkreisen zurecht hochgeschätzten Martyn Brabbins.

Das Orchester ist von zentraler Bedeutung, somit ganz in der Wagner-Nachfolge stehend. Hie und da ist eine gewisse Nähe zum von Brian geschätzten Mathis der Maler von Paul Hindemith nicht ganz abzustreiten, wie Pickard herausarbeitet, auch wenn Brians Musik ihre unverkennbaren Eigenheiten behält. Der Ritt Faustens und Mephistos auf den schwarzen Zauberpferden gerät zu einem orchestralen Höhepunkt im gesamten Schaffen Havergal Brians, der seinen Faust zudem für sein bestes Werk überhaupt hielt, auch wenn er seine Uraufführung nicht mehr erleben durfte. Klanglich darf die Dutton-Produktion zudem als Offenbarung gelten (Aufnahme: Abbey Road Studio I, London, August 2019; die Orgel und die Windmaschine wurden im April 2021 in St George’s Headstone, Harrow, aufgenommen). Bereits die reine CD-Spur stellt vollauf zufrieden. Zudem handelt es sich um eine hybride SACD, die neben der Stereo-Tonspur auch im Mehrkanal-Verfahren abgespielt werden kann.

Das komplette Libretto im deutschen Original und nebst englischer Übersetzung sowie Kurzbiographien aller beteiligten Solisten und des Dirigenten, alles auf wertigem Papier gedruckt, runden diesen neuen Gipfel in der an Höhepunkten reichen Diskographie von Dutton Epoch ab. Eine nachhaltige Empfehlung ist unabdingbar (Dutton Epoch 2CDLX 7385). Daniel Hauser

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Spätromantisches

 

Die britische Sopranistin Lucy Crowe ist vor allem auf dem Gebiet der Alten Musik eine international renommierte Interpretin. Jetzt legt sie beim Label LINN mit ihrer langjährigen Klavierpartnerin Anna Tilbrook beider erstes Solorecital vor (CKD 656). Es trägt den Titel Longing und präsentiert Lieder von Strauss, Berg und Schoenberg. Kompositionen von Strauss bilden den Schwerpunkt der Anthologie. Aus seinen Acht Gedichten aus Letzte Blätter sind fünf Titel zu hören, darunter so bekannte wie „Zueignung“, „Die Nacht“ und „Allerseelen“. Lucy Crowe führt ihre helle, klare Stimme sehr instrumental, was zu einer gewissen Einfarbigkeit führt. Doch der Klang ist stets gerundet und angenehm, auch in der exponierten Höhe leuchtend und nie grell.

Es folgen Sieben frühe Lieder von Alban Berg. Hier findet die  Interpretin zu flirrenden Tönen und träumerischem Ausdruck. Danach noch einmal Strauss mit vier Liedern unterschiedlicher Opus-Zahlen. Die bekanntesten sind „Ständchen“ op. 17, Nr. 2 und  „Morgen“ op. 27, Nr. 4. Hier kann sich auch die Pianistin mit feinsinnigem Spiel bewähren und Crowe mit schwebendem Klang betören. Weniger populär sind „Ich schwebe“ op. 48, Nr. 2 und „Nachtgang“ op. 29, Nr. 3. Hier wartet die Sopranistin mit besonders delikaten Nuancen auf.

Selten zu hören sind die Vier Lieder op. 2 von Schönberg, der Gedichte von Richard Dehmel und Johannes Schlaf vertonte. Sie wurden nicht als Zyklus uraufgeführt, sondern zwischen 1904 und 1910 in einzelnen Abteilungen. Zwischen sprödem Duktus und aufrauschendem Melos sind sie für die Sängerin eine große Herausforderung, welche sie beachtlich meistert.

Am Schluss kehrt die Sopranistin nochmals zu Strauss zurück und widmet sich seinen bekannten Vier letzten Liedern, womit sie sich einer großen Herausforderung stellt, sind diese doch auf dem Markt in unzähligen und singulären Interpretationen vertreten. Im „Frühling“ lässt sie gleißende, im „September“ melancholisch verschattete Töne hören. Von Schwermut erfüllt ist auch „Beim Schlafengehen“, wobei ihr die Melismen bei „Und die Seele unbewacht“ wunderbar gelingen. Das finale „Im Abendrot“ ist ein berührender Abgesang, mit dem Lucy Crowe ihre kompetente Interpretation bestätigt. Bernd Hoppe

Schwäbische Entdeckung

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Langer weißer Bart, Anzug mit Weste, Hemd, Schleife, Drahtbrille, eine Ordensspange am Revers. Der Schein trügt. Der würdige Herr mit der eindrucksvollen Denkerstirn ist kein Gelehrter und kein hoher Staatsbeamter. Wir haben den Komponisten Christian Fink vor uns, geboren 1831 in Dettingen bei Heidenheim, gestorben 1911 in Esslingen am Neckar. Hänssler Classics, als Firma in der Gegend ansässig, hat dem Landsmann ein Doppelalbum mit Liedern und Klavierwerke gewidmet (HC21037). Es kommen fast zweieinhalb Stunden zusammen. Hintereinander gehört, ist das viel ziemlich viel. Doch nicht zu viel. Fink erscheint ungemein vielseitig und durchaus auch unterhaltsam. Für einen, der gelehrt hat, der Musikdirektor an der Stadtkirche St. Dionys in Esslingen war und als Chorleiter des Liederkranzes der Stadt wirkte, das Lehrerseminar mit einem musikalischen Festgruß zum fünfzigsten Gründungstag und auch das Stadtmuseum aus gleichem Anlass kompostirisch bedachte, dem die Ehrenmitgliedschaft des evangelischen Gesangsvereins verliehen wurde, klingt er weniger akademisch als zu erwarten gewesen wäre. Fink lässt durch manche Texte, die er vertonte, tief in sein Innerstes blicken. Er ist der Einsiedler von Eichendorff, den die Welt vergessen hat, der die „stille Nacht“ als „Trost der Welt“ heraufbeschwört. Und er ist auch der junge Mann, dem die Brust zerspringen will, wenn er das Liedchen klingen hört, das „einst die Liebste sang, den es mit „wildem Schmerzendrang“ „zur Waldeshöh‘“ treibt, wo sich sein „übergroßes Weh‘“ in Tränen auflöst. Heine, Buch der Lieder. Ein Gedicht, das Schumann – als Künstler Heine ebenbürtig – in seine Dichterliebe aufgenommen hat. Daran sollte besser nicht denken, wer sich die Version von Fink anhört. Durch Schumann wird er dann doch auf die hintersten Plätze verwiesen und ist nur einer von mehr als achtzig Komponisten, die sich der Verse von Heine angenommen haben. Aus der entsprechenden Liste des LiederNet – dem für die Beschäftigung mit Liedern unverzichtbaren Onlinearchiv – stechen bis auf Frederik Delius, Zdenek Fibich und Giacomo Meyerbeer keine prominenten Namen heraus.

Im Booklet gibt es einen kurzen und Präzisen Überblick zu Biographie und Werk von Fink. Autor ist Joachim Kremer, der seit 2001 als Professor für Musikwissenschaft an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellenden Kunst Stuttgart wirkt und ein Buch über den Komponisten vorgelegt hat, das erst vergangenes Jahr im Rockel-Verlag erschien (ISBN 978-3-95675-032-8). Gewiss ist das CD-Album – und so dürfte es auch beabsichtigt sein – die ideale musikalische Begleitung für die Lektüre. Wie sollte sich der musikalische Laie sonst vorstellen können, wie Fink komponierte. Orgelwerken bei Gallus Sonorus von 2001 dürfte die bislang einzige CD mit seiner Musik gewesen sein. Fink könne aber nicht auf einen „schwäbischen Orgelmeister“ reduziert werden, so Kremer. Vielmehr präge eine Fülle von Liedkompositionen für Sologesang, Männerchor und gemischten Chor sein Werk“. Schon dem jungen Fink habe der Stuttgarter Kapellmeister Peter von Lindpainter attestiert, dass seine Lieder auf „Einfachheit basiert, gesangvoll und nicht ohne Gemüth“ seien. Eindrücke, die sich bei der Beschäftigung mit den Stücken auf CD – neben Liedern zwei Klaviersonaten – auch heute noch mitteilen. Ein im Booklet nicht namentlich genannter Zeitgenosse gelangte zu dem Schluss, bei Fink komme alles „wie aus der Pistole geschossen“. Nicht also „romantische Entgrenzung, sondern ein „von romantischem Geist erfülltes impulsives Gefühlsleben“ zeichne seine Musik aus, auf der Basis einer klaren formalen Diskposition. Kremer: „Am Text entlang entwickelt sich die Musik, und stets unterstützt das Klavier den Sänger.“ Dies gewährleiste die Direktheit seiner Musik.

Der Pianist Robert Bärwald, der auch für die Konzeption der Neuerscheinung verantwortlich zeichnet, begleitet die Solisten Christine Reber (Sopran), die am meisten zu tun hat, Carmen Mammoser (Alt) und den Bariton Teru Yoshiba. Sie entledigen sich nicht nur einer Aufgabe, für die sie engagiert worden sind. Vielmehr scheinen sie hörbar entschlossen, durch ihr Können und ihren professionellen Einsatz diesen Komponisten dem Vergessen zu entreißen. Gemeinsam setzen Sopran und Alt in zwei Duetten op. 49 – Maibrünnelein und Tanzlied der Mücken – einen aparten Höhepunkt. Mit drei Liedern für Männerstimmen op. 15, darunter Wandrers Nachtlied von Goethe, weiß das Ensemble Perplex zu gefallen. Es setzt sich aus den vier Stuttgarter Musikstudenten Daniel und Georg Schmid, Martin Höhler sowie Frederic Mattes zusammen. Rüdiger Winter

Irma Kolassi

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Meine langlebige Liebe zu Irma Kolassi kam auf Umwegen über mich. Mein amerikanischer Freund Roy schenkte mir – noch zu Zeiten der schwer zu beschaffenden US-Aufnahmen in den späten Sechzigern – ein Spulenband mit französischen Liedern von Bidy Sayao, Si mes vers…, Printemps und jene Goodies, die sich später noch einmal auf einer wunderbaren LP von Odyssee aus ihren Einzel-LPs bei Columbia/CBS vereinten: Hahn, Ravel, Fauré vor allem, und auch Lässliches (Koechlin zum Beispiel, aber très charmant). Das öffnete mir Herz und Hirn Für die französische mélodie, für Janet Baker, Gérard Souzay, die herrlichen LP-Einspielungen bei Caliope mit Bruno Laplante und anderen. Chaussons Chanson de l´amour et de la mer wurde ein Dauerbrenner auf meinem Player, Régine Crespin mit Ravels Shéhérazade und natürlich Sayaos Hahn-„Flügel der Verse“

Dann schrieb mir mein Freund Claude, der in Paris einen Stand auf dem Trödelmarkt von Clignancourt betrieb, er habe ein LP-Konvolut aus einem Nachlass übernommen und darin seien auch viele Vokal-LPs, was Grund für eine erneute Reise nach Paris war. Und da entdeckte ich die Graeco-Französin Irma Kolassi mit ihren Decca-LPs! Im angebrochen Zeitalter der CDs prangten die blau- oder gelb-schwarzen, seitlich genähten (!) Covers in meiner Hand – quelles richesses! Natürlich Chaussons Poème, natürlich Ravels Chansons madecasses und Cinq mélodies populaires Grecques und vieles mehr. Ach, ich war selig und schleppte meine 5 LPs mit nach Berlin. Die Sterne funkelten und eine neue Welt tat sich auf. Die Liebe zu dieser unglaublich intensiven Stimme hat mich seitdem stets begleitet – so wortintensiv, so ungemein packend gestaltet habe ich keine französischen Lieder wieder gehört – diese Ausdeutung, diese valeurs der Vokale, diese fast altmodisch gehaltenen, klingenden Vokale (und das Französische ist nicht eben leicht zu singen), dieses dunkel-schöne Timbre (das sich durch die griechische Herkunft erklären lässt, aber eben der Kolassi ganz eigen ist, die mich auf ihren Jugend-Fotos an Irene Papas erinnert), dies alles fesselte und bindet mich noch heute an diese bedeutende Sängerin, die erst 2012 im Alter von 89 Jahren in Paris starb. Ich hätte sie noch kennen lernen können.

Irma Kolassi: Widmung von John Barbirolli/Kolassi/INA

Irma Kolassi: Widmung von John Barbirolli/Kolassi/INA

Ihre LP-Dokumente wurden nur sehr vereinzelt auf CD umgeschnitten. Eine Decca-CD in der Reihe Grandi Voci (daraus das Bild oben/Decca) bietet Débussy und Chausson (mit Orchesterbegleitung durch Louis de Froment). Testament hat verdienstvoller Weise wirklich Rares von ihr herausgebracht (Faurés Chanson d´Éve und Milhauds Poèmes juifs und dazu Ravels Melodiés Grecques). Und vor nicht langer Zeit gab es bei INA Mémore Vive Live-Aufnahmen vom französischen Radio: Fauré, Débussy, Ravel und Honneger mit Klavierbegleitung aus unterschiedlichen Orten. Ganz sicher gibt es hier und da noch anderes. Auf Lumen zum Beispiel, oder in Prokoffieffs Feurigem Engel bei Adés (jetzt Accord, mit der unglaublichen Jane Rhodes unter Charles Bruck). Oder bei Fanfare die historischen Ausschnitte aus Charpentiers Médée unter Nadia Boulanger von 1952, ehemals Decca.

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kolassi 1 hfgDas unerhört verdienstvolle Hamburger Archiv für Gesangskunst (Hfg) hat eine griechische Serie gestartet, das heißt, Aufnahmen mit historischen griechischen Sängern u. a. aus der Sammlung des Atheners Arfanis herausgebracht. Davon in operalounge.de später mehr. Im Rahmen dieser Edition gibt es nun 5 CDs mit Dokumenten von Irma Kolassi – leider nicht nach ihren Quellen/Aufnahmefirmen bezeichnet. Das meiste kommt aus dem Katalog der Decca (die Schutzfristen sind abgelaufen), einiges auch von Radiostationen wie der BBC. Klanglich sind die Übernahmen unterschiedlich, ihrem Alter und dem Zustand der Vorlagen entsprechend (das wenigste wurde von der Decca digitalisiert ), gelegentlich wünscht man sich Aufnahmedaten.

kolassi 4 hfgNatürlich überwiegt bei Irma Kolassi das Liedgut – sie hat ja so gut wie nicht auf der Bühne gestanden (wenngleich das Butterfly-Foto dies belegt). Aber sie hat einiges an Opernhaftem aufgenommen – so den Prologue aus Berlioz Roméo et Juliette und die Marguérite-Szenen mit Raoul Jobin (ich wünschte, die Vornamen wären hier ausgeschrieben, wir sind ja nicht in Russland!) aus der Damnation (Decca), die Charlotte Massenets (dto. Raoul Jobin und dto. Decca). Von Stravinsky gibt es die Jocaste aus dem Oedipus Rex unter dem Komponisten selbst von 1956. Die hinreißende, charaktervolle Dido von Purcell (Decca) fehlt leider (die gibt´s aber bei Cascavelle). Ansonsten gibt es das weitgehend bekannte Lieder-Programm. Chaussons Poème, Duparcs Vie anterieure bis hin zur „Invitation au voyage“, viel von Fauré, Debussy, natürlich Ravel mit Madecasses und Grecques, die Shéhérazade und die Poèmes Mallarmé, Capdevielle mit den Oscar-Wilde-Liedern ebenfalls. Interessant ist eine Sammlung, die ich nicht kannte: von Bizets Hôtesse bis zu Koechlin, Messagers Fortunio und natürlich Hahns „Si mes vers avaient des ailes“ (ach Bidu Sayao, sie singt dies doch absolut unerreicht bis heute. schwebend, poetisch, himmlisch) sammelt sich hier Bekanntes und Wunderbares.

Irma Kolassi: als Suzuki/Kolassi/INA/HfG

Irma Kolassi: als Suzuki/Kolassi/INA/HfG

Interessant sind die nicht-französischen Titel, was die weitgespannte Kunst der Kolassi zeigt. Schumann etwa (mit „Widmung“, „Lotusblume“ und „In der Fremde“), Schubert („Musensohn“, „Du bist die Ruh“, „Erlkönig“), aber auch Brahms`Altrhapsodie und die Orchesterlieder von Berg (alle Decca). Arie antiche umfassen Monteverdi, Caccini, Scarlatti und andere mehr (wieder keine Jahresangabe/dto.), spanische Lieder in unterschiedlichen Bearbeitungen (ohne Jahreszahl) gibt es auch. Etwas verwaschen ist die Angabe zu World Folk Songs aus Rumänien, Katalanien und Griechenland (Aufnahme?). Und schließlich gibt´s da noch fünf Lieder von Henrik Andriessen unter Eduard van Beinum 1952, wie denn die Kolassi überhaupt mit den Großen ihrer Zeit zusammengearbeitet hat: De Froment, Van Beinum, Stravinsky, Bigot, Horenstein, Barbirolli und viele mehr; am Klavier sitzen in den meisten Liedaufnahmen die unersetzliche Jaqueline Bonneau (die auch die Anfänge von Gérad Souzay begleitet hat) und André Collard (woran man die Decca-Aufnahmen erkennt).

Alles in allem eine absolut begrüßenswerte Edition bei HfG, die jedem ans Herz gelegt ist, der sich um interessante, ausdrucksvolle und unverwechselbare Stimmen kümmert und der großen Gesang erleben will. Beigelegt ist den fünf CDs das interessante Interview der Kolass von 1985 mit dem bezaubernden Pierre Léon, den ich (bei einem Besuch in Hildesheim,, wo er Dramaturg damals wwar) noch die Ehre hatte zu kennen – was für ein eleganter, gebildeter Mann voller Charme und Präsenz (und dazu ein Belgier wie Hercule Poirrot, kein Franzose). Ihm ist mit dieser Edition ebenfalls ein kleines Denkmal errichtet worden. Danke dafür. G. H.

Edition Irma Kolassi: CD1 10329 (Ravel, Andriessen, Chausson); CD2 10335 (Schumann, Schubert, Arie antiche, Spanish Songs, Wold Folk Songs); CD3 10336 (Berlioz, Massenet, Ravel, Greek Folksongs); CD4 10337 (Duparc, Fauré, Debussy); CD5 10373 (Brahms, Berg, Stravinsky, Capdevielle, Ravel)

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Zur Person: Irma Kolassi – griechische Mezzosopranistin (28.5.1918 Athen –  27.3.2012 Paris). Die griechische Mezzo-Sopranistin Irma Koiassi wur­de am 28. Mai 1918 in Athen geboren. Sie studierte zunächst Klavierspiel am Königlichen Konservatori­um von Athen und erwarb schon mit 16 Jahren das Diplom als Klavierlehrerin. Dann konzentrierte sie sich auf ihr Gesangstudium und ließ ihre Stimme bei Maggie Karadja in Athen und später an der Accademia di Santa Cecilia in Rom ausbilden. 1940-49 lehrte sie als Pädagogin am Hellenischen Konservatorium in Athen. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann sie eine glanzvolle Karriere als Konzertsängerin, die ihr in den europäischen Musikmetropolen große Erfolge brach­te.

Irma Kolassi: mit Igor Stravinsky am Klavier/Kolassi/INA

Irma Kolassi: mit Igor Stravinsky am Klavier/Kolassi/INA

Seit 1949 lebte sie in Paris und ging von dort einer weltweiten Konzerttätigkeit nach. Sie sang in Frank­reich, England, Deutschland, Holland, Belgien, Itali­en und Nordamerika. Auf der Opern-Bühne trat sie nicht in Erscheinung, sie hat jedoch Opern-Partien auf der Schallplatte und am Rundfunk gesungen. In erster Linie wurde sie jedoch als Oratorien- und Lie­dersängerin bekannt, wobei sie sich vornehmlich auch  der zeitgenösssischen Musik widmete. In Frankreich wur­de sie besonders für ihre einfühlsamen Interpretatio­nen der Lieder von Maurice Ravel bekannt. Am 25.11.1954 sang sie in Paris in der Konzert-Urauffüh­rung von Prokofieffs Ange de Feu zwei Partien; sie wirkte auch in der (konzertanten) Premiere von Alban Bergs Wozzeck in Frankreich mit. HfG

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Und nun Irma Kolassi im Gespräch mit Pierre Léon (1985 für die Zeitschrift Liberation im originalen Englisch): You are Greek, but your links with France have been very close since childhood. I was born in Athens, but my parents brought me here to Paris when I was two or three months old, and I stayed here until I was eight. In fact, French was the first language I spoke. When we went back to Greece my mother continued living the French way of life and I went to a French school. I loved that culture, that music. One day, as I was going down the street, heard this [she sings the opening of Prélude d l’Aprés-mide d’un Faune. I ran home in a frenzy and sang it to my uncle who was a violinist: „Do you know what that is?“ He laughed and replied, „Do you know what that is? I have fought for it!“ And to please me, he bought the record. From that moment on I played on the piano all the French music I could find. I took my diploma with Gaspard de la Nuit (I was very good at that time).

dido-and-aeneas-ga-073348484How did your studies go? I started the piano with my grandmother, who, while not a professional, was an excellent pianist. When I entered the Athens Conservatory, I had to start all over again. I won a first prize for piano at the of 14. As I did not have much money and I had to pay for my studies, I began to work as an accompanist for singing classes. I worked in the class of my future singing teacher Maggie Karadja whom I regularly accompanied in her recitals. I owe that to Dimitri Mitropoulos, who often played with her. When he decided to leave Greece, Maggie Karadja said to him „What will become of me?“ to which he replied „take Kolassi“.

I used to sing from morning to night everything I heard. My uncle had records and I sang all the parts, the basses, the tenors, the Galli-Curcis, I didn’t know whether I had a voice!. At any rate, Maggie Karadja had told me. „If you are a good pianist, as you are, you always will be !Yet even so I wanted to show her what I could do. One day I arrived with a song by Tosti, which I sung almost in tears as I had just had heartbreak in love. She looked at me then said „You idiot, couldn’t you have told me you had a pretty voice!“ The following September I Joined her class … and left it three years later with a first prize and a special mention from the jury.

Kolassi cover deccaAfter that I left for Rome, without a bursary. I had a small job consisting of making programmes for Greece which were broadcast from Rome. As I had not at the time definitely opted for singing, I presented myself both for the song competition and the piano competition at Rome Conservatory. Casella, who was in charge of the piano class, wanted to have me, but as I had also been successful in the singing competitions, I was told I could not be given two places. Since I wanted to stay in the singing class, I had to abandon the piano. When I told this to Casella, he was furious and never wanted to hear me sing. He would say „When one is gifted, as you are, for the piano, one does not amuse oneself with cooing!“ All the same he gave me free lessons for a year.

41O67uDxoPL._SS500_How were things at the Conservatory? I must say I was not particularly appreciated, because I didn’t have one of those big Italian voices ! People said „Of course, Kolassi is a musician, but…“ So, when I obtained my prize at the end of the year, my teacher announced to me with some stupefaction, „Well, piccina, you got it!“ She hadn’t expected it! In the jury there were quite a few composers, and I think that counted, as I sang with a musicality that others did not have, even though they had more interesting voices than mine.

At that moment, war broke out. It was panic! After innumerable vicissitudes, I managed to enter Greece where I spent the occupation years. I was hired by Athens Opera where I was profoundly disappointed by all those people who were shouting instead of singing. I sang Suzuki in Madame Butterfly and after the second performance, I realized I was singing my head off to no purpose. So I stopped singing and merely mouthed my part. Everyone else was shouting so much that nobody noticed a thing. After that I asked to become choral director, in that way I was able to learn a quantity of operas I could never have sung.

And after the Occupation? For quite sordid reasons (a place had to be found for a minister’s niece) I was sacked from the opera on some pretext or other and suddenly found myself without work. I went to the radio explaining everything to the director. I only managed to get a place as accompanist; on the other hand, he suggested I enter the music service deal with programming. I kept the job for four years… and I started to have a depression: I ended up by losing fait in myself … And then, on 14 July, I sang in the French Embassy and that was the real start of my career in France!

The ambassador’s wife said to me, „You should go to France“ to which I replied „But madam, there must be hundreds of singers like myself in Paris!“„I think I can say you are wrong.“ Then she gave me a letter for Jean Fournier. I left for Paris, but | I completely forgot about the letter, So when I telephoned the man, he said „I have j been waiting for you for a month!“ I went  to see him and he gave me the addresses of people I wanted to see.

7762297That is how you met Louis Aubert? I arrived late at his home as I didn’t know the distances in Paris very well. He looked at me through the glasses and said „Miss, I can give you five minutes.“ Then he asked me if I knew his Poémes arabes. I said no, so he got the score out of a cupboard and i I sang them straight off. As he was very mistrustful, he didn’t want to accept that I had never studied them. I had to sightread a manuscript he had on his piano in order to convince him! After that we at once recorded his Poémes arabes.

After Aubert, Capdeville? You met Pierre? He was very sceptical. He asked me what I was singing. I said „Fauré“. – „And…“ – „Ravel“ – „And..“ – Debussy.“ – „Ah, if understand correctly you are a specialist in French music?” He sat down to the piano and we spent two hours together.

kolassi arie anticheWhat about your meeting with Hans Rosbaud? It was pure luck that I took part in the 20th Century Festival. Rosbaud was supposed to conduct Schönberg’s Erwartung. Birgit Nilsson cancelled seventeen days before the concert. General panic broke out, a replacement was sought, but in vain. So Henry Barraud, whom I knew, telephoned Rosbaud saying „There is only one woman in Paris who is capable of learning this part quickly, and that is Kolassi”. I told Barraud I wanted to see the score first. It seemed to suite my voice, until I saw there was a high B natural held for three or four bars. I had a good B flat but a bad B natural. I was itching to do it, all the same, as I thought it such a beautiful work… So I had another look at the score, and what did I see just above the B natural?  Sie schreit, she shouts. Well that changed everything and I agreed to do it. Rosbaud was very mistrustful but Barraud convinced him to audition me. I think he was happy with the result as he later asked me to sing Erwartung again with him at the Südwestfunk in Baden Baden.

Was that your first concert in France? No, I had given a concert with Capdevielle in the Salle Èrard. It was rebroadcast by the BBC (I don’t know why), and I had some offers. I went back to Athens, then returned to France where I gave another concert with Capdevielle. I was then asked to do Oedipus Rex in London, I told myself it was a sign and I did not go back to Greece. I had five hundred francs in my pocket and was wondering where I could buy a steak or a book of metro tickets!

How was your meeting with Stravinsky? Oedipus Rex was given in the same concert in which I sang Erwartung, and Stravinsky was in the hall. After the concert he asked Barraud „but why didn’t you propose me this women to sing Jocaste?“ […] So when, in 1959, Stravinsky conducted Oedipus Rex in London with Cocteau as reciter, he naturally asked me to do Jocaste. But I don’t like the record which was made from the concert, especially my part.

Decca kolassi2From that time, your career snowballed? Yes, I went all over the world: I sang Mahler with Krips, with Barbirolli – several times. I have sung under Monteux and Walter Goehr with whom I sang Orfeo for the BBC with Bernac as my partner. Even at the time it was the original version with old instruments. And then, every time a first performance came up, people would say „Kolassi is a good sightreader – ask her.“

That is how you came to take part in the French première of Wozzeck? That was with Horenstein, but I had the second role. He was a great conductor. I also sang Shéhérazade with him and Berg’s Altenberglieder. In this connection he told me (I don’t know if it is true or not) that in fact, it was the world premiere of the Altenberglieder, because when it had been given in Vienna, there had been such an uproar that they didn’t get beyond the second song. Berg’s wife, who knew Horenstein, gave him the manuscript. So, according to him, we were the first performers of the work.

Irma Kolassi: mit Pierre Monteux/kolassi/INA

You currently (1985) teaching in Troyes and Paris. What are the problems you come up against? One thing very much astonishes me. When I came to France in 1949 I was able to hear a whole host of excellent singers: Janine Micheau, Gerard Souzay, HéléneBouvier etc. I didn’t have the feeling of a void that I have now. I think it is for a very simple reason: there are no good singing teachers around! When I hear certain pupils that have been sent to me, I am stupefied by their lack of technique, by errors in tessitura. Some sopranos think they are altos, and there are tenors who in fact are little baritones who have a job to get up to G.  I won’t speak of their musicality or total lack of legato. To be sure there is this singing school at Paris Opera, but I don’t see anything coming from it! I myself teach at the European conservatory which has achieved recognition, but young people who want to follow a career don’t come to it. Hans Hotter should be invited to come to the Conservatory to teach the at the European conservatory which has achieved recognition, but young people who want to follow a career don’t come to it. Hans Hotter should be invited to come to the Conservatory to teach the Lied and some Italians to teach technique. I think that singing teachers are not always where they should be. (compiled by Pierre Léon – 1985 for Libération, Frankreich); Interview appears by courtesy of Irma Kolassi/HfG/Redaktion GH. Die mit INA gekennzeichneten Fotos sind der CD Irma Kolassi bei INA Memoire Vive entnommen (IMV012)

Orphisches

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Es mutet ein wenig prätentiös an, wenn ein Komponist von seinen Werken spricht, die er in seinen „early- and mid-twenties“ schrieb. Vor allem, wenn er gerade erst 31 wurde. Doch immerhin legte der 1990 in Boston geborene Matthew Aucoin mit seiner im November an der Metropolitan Opera unter der Leitung von Yannick Nézet-Séguin uraufgeführten Eurydice bereits seine fünfte Oper vor. Aucoin galt als Wunderkind, studierte Literatur in Harvard und Komposition an der Juilliard School, begann nach seinem Diplom als Assistant conductor an der Met, sprang 2014 beim Chicago Symphony Orchestra für Pierre Boulez ein, brachte 2015 in Chicago seine Kinderoper Second Nature und in Boston seine Walt-Whitman-Oper Crossing heraus. Daneben fand er noch Zeit, als Mitbegründer der American Modern Opera Company zu fungieren. Für einzelne Mitglieder dieses Ensembles, vielfach für den Geiger und Studienkollegen Keir GoGwilt, entstanden auch die sieben „frühen“ Stücke auf den beiden CDs Orphic Moments (BMOP sound 1084) mit dem Boston Modern Opera Projekt und der American Modern Opera Company. Bereits 2014 beschäftigte sich Aucoin mit dem Orpheus-Mythos, dem er in seiner Met-Oper Eurydice weitere Facetten hinzufügte: In der 16minütigen Kantate The Orphic Moment für Countertenor und Kammerorchester hält Aucoin den Augenblick fest, bevor Orpheus zur Geliebten zurückblickt und sie dadurch für immer an die Unterwelt verliert. Aucoin selbst hat den Text zu diesem Quasi-Dialog geschrieben, in dem Eurydices Klagen und Antworten der Geige zufallen.

Matthew Aucoin/Foto JJ Geiger/guildhall.org

Anthony Roth Costanzo, der The Orphic Moment 2014 kreierte und später in einer Bühnenproduktion mit Glucks Version des Orpheus-Mythos von 1762 kombinierte, singt den Orpheus mit fluidem sinnlichem Ausdruck, fast erotisch in den Duetten mit der Geige, so klar und präzise, dass jedes Wort zu verstehen ist, dramatisch und leidenschaftlich zugleich in seiner Selbstbehauptung als Künstler, was Aucoin als „ the artist’s amoral attitude that art matters more than other human beings“ beschreibt. Ebenfalls am Peabody Essex Museum in Salem, wo Aucoin seinerzeit Composer in residence war, sang Costanzo 2015 die Uraufführung von This Earth für Countertenor und Klavier; der vielseitige Aucoin hatte den Klavierpart übernommen und selbstverständlich selbst die Zeilen („inexplicably erotic“) aus dem Purgatorio von Dantes Divina Commedia übersetzt. Costanzo singt diese Meditation, die den Pilger auf seinem Weg auf den Berg und näher zu Gott zeigen, mit irisierender Schönheit und Zärtlichkeit, und er ist neben dem Bassbariton Davone Tines auch der hingebungsvolle Interpret in Gallup für Countertenor, Bassbariton und Kammerorchester nach zwei Gedichten von Jake Skeets. Auch in diesem jüngsten Stück zeigt sich Aucoin als Komponist von stupender Souveränität. Die Musik ist farbig und reich, überraschend und vibrierend und die dramatische Orchestrierung bzw. der Klavierpart dient der spannenden Interaktion von Musik und Text. Vergleichsweise schmächtig bleibt Exodus for Tony für Tenor und Kammerorchester, so sehr sich der feinsinnige Tenor Paul Appleby auch um die Verse aus Tony: Ending the life bemüht, in dem James Merrill den Schmerz über den AIDS-Tod seines Freundes zum Ausdruck bringt.  Rolf Fath

Zum Geburtstag

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Wolfgang Rihm: Er sieht fast aus wie Beethoven, heroisch, pessimistisch nach unten schauend auf dem Cover des neusten Buches von Frieder Reininghaus. Der Untertitel: „Der Repräsentative.“ Erst auf der Titelseite liest man dann „Neue Musik in der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland.“ Aha, es geht also um mehr als nur den Komponisten Wolfgang Rihm, der am 13. März 2022 seinen 70. Geburtstag feiert.

Geboren wurde Rihm am 13. März 1952 in Karlsruhe, wo er bis heute seinen Wohnsitz hat.  Er hat Komposition und Musiktheorie an der Musikhochschule in Karlsruhe studiert. Es folgten Studien bei Karlheinz Stockhausen, 1972/73 in Köln sowie von 1973 bis 1976 an der Hochschule für Musik Freiburg bei Klaus Huber (Komposition) und Hans Heinrich Eggebrecht (Musikwissenschaft). Erste eigene Erfahrung als Dozent sammelte Rihm 1973 bis 1978 in Karlsruhe, ab 1978 bei den Darmstädter Ferienkursen (die er seit 1970 besucht hatte) und 1981 an der Musikhochschule München. 1985 übernahm er als Nachfolger seines Lehrers Eugen Werner Velte den Lehrstuhl für Komposition an der Musikhoch­schule Karlsruhe. Er ist längst hoch geachteter Komponist, Professor für Komposition und Autor vieler Bücher, Mitglied zahlreicher Gremien in Deutschland, wo immer es gilt, die Interessen der Musikschaffenden zu vertreten.

„Keine Zweifel: Wolfgang Rihm ist ein Phänomen, eine überlebensgroße Figur. Sein Wissen auf seinem eigentlichen Betätigungsfeld, der Musik, ist allum­fassend, aber das gleiche gilt auch für die Künste, die Literatur, die Philosophie – die alle für sein Komponieren als Inspirationsquelle dienen. Die Welt, die er mit seinen über 400 Kompositionen geschaffen hat, ist ein Universum.“ Wie die Universaledition, die seine Werke verlegt, ihn nicht zu Unrecht bewirbt.

Wolfgang Rihm ist einer der repräsentativsten wie erfolgreichsten, auch geschäftstüchtigsten Komponisten der Bundesrepublik Deutschland, eine Institution und bestens vernetzt im Musikbetrieb des Landes. Er ist fast so etwas, wie in der Umschlagklappe des Buches die Abendzeitung zitiert wird, „der Hofkomponist der Bundesrepublik“.

Der Riese (er ist 192 cm groß) und Zweizentnermann, Gotteskind mit huma­nistischer Bildung und Störenfried trotz Traditionsbindung ist ein sympathi­scher, ein eloquenter Gesprächspartner und feiner Mensch. Der von Reininghaus zitierte Urs Ringer hat es in der Neuen Zürcher Zeitung auf den Punkt gebracht: „Wer zu seiner Musik keinen Zugang finden sollte – die Person muss man mögen.“ Es findet wirklich nicht jeder einen Zugang zur allzu klugen Musik Rihms, von der der Komponist bekennt: „Ich brauche meine Musik zur Ich-Entfaltung. Dort verarbeite ich meine Probleme“. Immerhin. Vielen Komponisten reicht das. Das Publikum interessiert oft nicht. Man möchte es dem fleißigen und kommunikativen Wolfgang Rihm nicht unterstellen.

Worum es Frieder Reininghaus geht: „Angefangen von der in den 60erJahren entstandenen tonalen katholischen Kirchenmusik bis zum Cellokonzert für Sol Gabetta werden die verschiedenen Aspekte des Schaffens vorgestellt:  die Orchester- und Kammermusik mit ihrem seit den 70er Jahren von expressio­nistischen Grundauffassungen genährten Ausdruckswollen (‚Musik ist Pathos‘) und das ‚work in progres“ mit seinen vielfältigen Fort- und Überschreibungen. Das lebenslange ‘Ringen‘  mit den Stimmen auf der Grundlage freier Atonalität schlug sich insbesondere auch in den medial breit rezipierten musikdrama­tischen Hauptwerken nieder: Jakob  Lenz, Hamletmaschine, Oedipus, Die Erobeerung von Mexico und Dionysos. Im großen Ganzen geht es um den Typus des bis heute ganz und gar auf dem Papier schaffenden und zugleich prall lebenden Tonkünstlers – vorm Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklung in der alten Bundesrepublik und in den seit deren Ende vergangenen drei Jahrzehnten.“

Reininghaus hat mit seiner kenntnisreichen Studie eine brilliante Rihm-Monographie vorgelegt, die auf Selbstauskünften Rihms, seinen Anmerkungen zu den eigenen Musikanschau­ungen und Werken sowie „seinen gelegentlichen Polemiken“ basiert.

Als Quellen dienten Reininghaus (einer der renommiertesten Musik-Journalisten Deutschlands) zahlreiche eigene Rundfunkbeiträge sowie Zeitungs- und Zeitschriften-Texte, die der Autor zu einzelnen Arbeiten und Aspekten des Schaffens von Rihm in vier Jahrzehnten veröffentlichte. Eigene Begegnungen und Erfahrungen mit Person und Werk werden in Erinnerung gerufen, auch aus den Briefen Rihms wird zitiert. In erster Linie geht es Reininghaus darum, „sich dem Repräsentativen anzunähern, Polyphonie er Wahrnehmungen, Beschrei­bungen, und Einschätzungen der Kolleginnen und Kollegen aus Journalismus und Wissenschaft zu sichten, zu bündeln, zu gewichten und zu portionieren. Die Würdigungen und Lobreden, an denen fürwahr kein Mangel ist, ebenso wie ästhetische Bedenken und Einwände.“

Zwar ist unendlich viel über Wolfgang Rihm geschrieben worden, doch die Arbeit von Reininghaus hat ihre Meriten und lohnt die Anschaffung:

Der „Parcours durch Werk und Leben Wolfgang Rihms“ (den mancher Leser möglicherweise als anstrengende Tour de force empfinden wird) ist in sieben chrono­logische „Zeitfenster“ gegliedert, von 1979 bis zur Gegenwart. Über­schrieben sind die Kapitel „Der Volltreffer des Jahrs 1979“, „Rückblende“, „Home de lettre und Mann des Musikbetriebs“, „Gourman, Gourmet und Revoluzzer“, „Aufbruch zum Innersten, allemal entäußert“, „Partielle Grenzüberschreitungen“ und „Dionysisch, höllisch, himmlisch“. Ein aufs Inhaltliche und Wesentliche zielendes Rihm-Panorama, das wichtige Werke erklärt und über den Komponisten und seinen Lebenslauf nicht nur informiert, sondern ihn auch einordnet in seine Zeit und Kultur.

Zahlreiche (rare) Fotos und Abbildungen, Literatur- und Quellenverzeichnis. Personen- aber auch Sachregister machen den nützlichen Wert der mit spitzer Feder und aus aufgeklärt kritischem Geist verfassten Monographie aus. Wer sich mit Wolfgang Rihm befasst, kommt an diesem Buch nicht vorbei. Dieter David Scholz

Rihm: Der Repräsentative; Von Frieder Reininghaus; Königshausen & Neumann; 307 S., ISBN 978-3-8260-7445-5

Schön auch ohne Mond

Buchstabengerechte Werktreue ist nicht die Zielsetzung von Christof Loys Inszenierungen und doch atmen sie oft im völlig werkfremden Ambiente den Geist von Musik und Libretto, so auch die Rusalka aus dem Madrider Teatro Real, in der es weder Mondlicht noch geheimnisvolle Gewässer gibt, sondern als Bühne von Johannes Leiacker den Eingangsbereich eines Theaters, in das inzwischen erstarrte Lava eingedrungen ist, an deren Kasse die Ježibaba sitzt und dessen Direktor der Wassermann sein könnte. Eine Ballettaufführung scheint die letzte Vorführung in diesem Haus gewesen zu sein, Tänzerinnen im entsprechenden Schuhwerk tummeln sich noch im verlassenen Gebäude, nur Rusalka kann sich nicht dazu gesellen, weil sie einen verletzten Fuß hat. In die Irre geführt allerdings wird der Zuschauer, wenn er in dem auf Krücken herum humpelnden Prinzen eine weitere Inszenierungsidee vermutet, denn die sind einem Unfall des Tenors Eric Cutler zu verdanken. Rusalka aber tauscht gesunde Beine gegen die Fähigkeit zu sprechen ein, und nach diesem Zauberakt zeigt die Sängerin Asmik Grigorian beeindruckende Fähigkeiten im Spitzentanz, der auch im zweiten Akt von der Hochzeitsgesellschaft praktiziert wird, allerdings nicht in kühl klassischem Stil, sondern als wilde Sexorgie, die die zarte Wassernymphe verstört. Verfremdet erscheinen die Figuren aus der realen Welt wie Jäger und Förster, realitätsnah die aus der Märchenwelt wie Wassermann und Hexe. Damit scheint die Oper, was ihr Personal betrifft, auf den Kopf gestellt zu sein, aber es bleibt die Spannung zwischen beiden Ambienti  erhalten. Die Natur ist bis auf ein totes Reh im letzten Akt ausgespart.

Höchstkarätig sind die Frauenrollen besetzt. Asmik Grigorian erfüllt schon einmal alle Anforderungen, was die optische Attraktivität betrifft, eine schöne, schlanke, überaus ausdrucksvolle Rusalka, die auch die andauernde Großaufnahme ihres Gesichts gut verträgt. Der kühle, keusch klingende Sopran ist von schönem Ebenmaß, die dramatischen Ausbrüche erscheinen fein kontrolliert, die Piani gut gestützt, deliziös klingt das berühmte Lied  an den Mond, und am Ende fließen sogar echte Tränen um den toten Prinzen. Was der Stimme an Frische fehlen mag, das gleicht Karita Dalayman als Hexe Ježibaba durch Intensität optischer wie vokaler Natur aus, trotz der modernen Gewandung, im dritten Akt sogar mit Pelz, was nun wieder gar nicht modern ist, vermag sie sich mit Geheimnisvollem zu umgeben. Karita Mattila, einst selbst eine gute Rusalka, ist die Fremde Fürstin und hat sich die tief liegende Partie vollkommen zu eigen gemacht. Natürlich mit zwei Krücken darstellerisch sehr gehemmt ist der Prinz von Eric Cutler, der Probleme in der Höhe hat und insgesamt wegen seines anonymen Timbres mit den Damen nicht mithalten kann. Ganz anders der Wassermann von Maxim Kuzmin-Karavaev, dessen sonore, weich und zärtlich klingende Stimme eine Wohltat ist. Charaktervoll klingt der Förster von Manel Esteve, einen schönen lyrischen Bariton hat der Jäger von Sebastià  Peris, frisch klingt der Küchenjunge von Juliette Mars. Wunderschön sind die drei Nymphen  Julietta  Aleksanyan, Rachel Kelly und Alyona Abramova  und singen dazu noch quellfrisch und kristallklar. Dieses Trio ist dazu angetan, weniger glamouröse Debütantinnen zu entmutigen. Ivor Bolton am Dirigentenpult wird sowohl dem naturnahen Märchenzauber der Musik wie der Dekadenz der Optik mit einfühlsamem Dirigat gerecht (C Major 2 DVD 759508). Ingrid Wanja      

Weltpremieren und andere Köstlichkeiten

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Auber und kein Ende. Naxos macht wirklich Ernst. Jetzt also Vol. 5 (Naxos 8.574335) der Gesamteinspielung sämtlicher Ouvertüren des französischen Komponisten Daniel-François-Esprit Auber. Es zeichnet abermals verantwortlich der in diesem Repertoire heutzutage fast konkurrenzlose Dario Salvi, unterstützt von der mährischen Janáček-Philharmonie Ostrava.

Und wieder sind es vor allen Dingen Weltersteinspielungen, die den geneigten Hörer erwarten. Nur ein einziges Stück der mit fast 78 Minuten randvollen Compact Disc, die Ouvertüre zu Zanetta von 1840, gab es bis dato bereits in einer Aufnahme (weiland unter Albert Wolff). Alles andere stellt insofern einen völlig unbekannten Höreindruck dar. Dies wären zunächst die beiden kurzen Entr’actes zur besagten Opéra comique Zanetta, aber auch die sogenannte Quadrille Nr. 2 auf Themen eben dieses Bühnenwerkes, komponiert von Philippe Musard, welche für die zeitgenössische Popularität Aubers gleichsam Pate steht. Das Gros der CD dominiert indes Instrumentalmusik aus Aubers Oper Zerline aus dem Jahre 1851, in einer Zeit, als die französische Staatsführung die politisch aufgeladene Grand opéra allmählich hinter sich lassen wollte. Entsprechend leichtgewichtiger klingt das Werk. Satte 56 Minuten veranschlagen die Ouvertüre, der Entr’acte zum zweiten Aufzug, die Einleitung zum dritten Aufzug und vor allem die Ballettmusik aus diesem dritten Akt, bestehend aus sieben Nummern, deren Dauer zwischen knapp drei und zehn Minuten liegt.

So viele Weltpremieren, das ist selbst für Naxos außergewöhnlich. Beide Opern sind durch das ihnen gemeine sizilianische Thema verknüpft, so dass die Auswahl wohldurchdacht erscheint. Zur Musik selbst sei gesagt, dass sie keine Vergleiche zu scheuen braucht. Typischer Auber, will heißen: keine wirkliche Sensation, doch neuerlicher Beleg für den hohen Stellenwert, den dieser Tonschöpfer im Paris der Julimonarchie und des zweiten Kaiserreiches einnahm. Für Auber-Anhänger sowieso unabdingbar, für alle anderen durchaus ebenfalls lohnenswert. Künstlerisch und klanglich auf dem gewohnt hohen Niveau der Serie (Aufnahme: November/Dezember 2020 in Ostrava), kann bedenkenlos eine Empfehlung ausgesprochen werden. Daniel Hauser

Daniel Auber/ Boston Public Library

Das großangelegte und ambitionierte Naxos-Projekt, erstmals sämtliche Ouvertüren des unermüdlichen französischen Komponisten Daniel-François-Esprit Auber einzuspielen, schreitet voran. Mittlerweile ist man bei Vol. 4 angelangt (Naxos 8.574143). Erfreulicherweise wird abermals auf den genialen schottisch-italienischen Dirigenten Dario Salvi gesetzt, der bereits die drei vorhergehenden CDs eingespielt hat. Wie schon in Vol. 3, kommt auch diesmal das Mährische Philharmonische Orchester zum Einsatz.

Die bekannteste Beigabe der mit gut 78 Minuten voll ausgereizten Compact Disc ist ohne Frage die auch künstlerisch herausragende Ouvertüre zu Fra Diavolo von 1830, neben La Muette de Portici die bis heute meistgespielte (auch wenn das leider nicht mehr viel heißt) Auber-Oper (und wie alle anderen enthaltenen mit Libretto von Eugène Scribe). Hier muss sich die Neueinspielung folglich auch der prominentesten Konkurrenz stellen. Es darf gleichwohl konstatiert werden, dass Salvi eine feurige Lesart abliefert, die keine Vergleiche zu scheuen braucht und ähnlich überzeugt wie die klassischen Schallplatteneinspielungen von Albert Wolff (Decca, 1954), George Szell (CBS, 1957) und Paul Paray (Mercury, 1959). Wirklich gelungen auch die im Folgejahr komponierte Ouvertüre zu Le Philtre. Aus der Ära der Julimonarchie stammen ebenso die Ouvertüren zu Actéon (1836) und Le Duc d’Olonne (1842), letzteres um teils sehr knappe Entr’actes bereichert, wie bereits bei Fra Diavolo und Le Philtre der Fall. Es tut sich der Eindruck einer gewissen Austauschbarkeit auf, doch zumindest die Introduction zum zweiten Akt von Le Duc d’Olonne mit ihrem militärisch-marschartigen Charakter hat hohen Wiedererkennungswert.

Die Weltersteinspielungen umfassen (abgesehen von zwei Entr’actes) vor allem die Orchesterstücke aus dem Spätwerk La Fiancée du Roi de Garbe von 1864. Es ist erstaunlich, aber der Stil Aubers hat sich auch mit über 80 Jahren nicht grundlegend verändert. Neben der fast neunminütigen Ouvertüre sind der Schlusstanz des ersten Aufzuges, der Beginn des zweiten Aktes sowie das Mélodrame des dritten enthalten. Dass Auber in den 1860er Jahren, obschon als kaiserlicher Hofkapellmeister Napoleons III. und Direktor des Pariser Konservatoriums der formal erste Komponist Frankreichs, nicht mehr den neuesten musikalischen Stil wiedergab, liegt auf der Hand. Es schwingt eben bis zuletzt der Geist der Zeit vor 1848 unverkennbar mit.

Die eigentliche Überraschung der Neuproduktion stellt mit La Fête de Versailles gar keine Ouvertüre dar, sondern eine Festmusik anlässlich der Einweihung des Museums im Schloss Versailles Anno 1837 unter dem Bürgerkönig Louis-Philippe I. Es handelt sich um einen musikalischen Streifzug durch die französische Geschichte vom Sonnenkönig Ludwig XIV. über das Rokoko, die Französische Revolution, das darauffolgende napoleonische Zeitalter, die Restauration und eben schließlich die als friedlich charakterisierte (und insofern etwas verklärte) Julimonarchie. Zahlreiche musikalische Zitate lassen sich finden, darunter die Marseillaise und seinerzeit populäre Werke von Auber selbst (La Muette de Portici, Fra Diavolo, Gustave III). Auch dieses sehr hörenswerte Stück erfährt hier seine allererste Einspielung überhaupt. Ein weiteres Mal also eine Bereicherung der Diskographie und für jeden Freund von Opera-comique und Grand opéra eigentlich ein Pflichtkauf. Klanglich ausgezeichnet, das Beiheft knapp aber gediegen (Englisch und Französisch). Daniel Hauser

Daniel-François-Esprit Auber war einer der wichtigen französischen Opernkomponisten des 19. Jahrhunderts. Heute ist sein Ruhm allerdings etwas verblasst, aufgeführt werden seine Opern nur selten. Und doch erscheint eine großangelegte Ouvertüren-Edition beim Label Naxos. Auber als „Influencer“ der Oper Neudeutsch formuliert: man entdeckt Auber heute als wichtigen Influencer wieder. Man kann eigentlich sagen, er ist ein bisschen der Carl Philipp Emanuel Bach der Oper: Auber hat fast alle beeinflusst – Lortzing, Wagner und Rossini und er hat mit seiner Manon Lescaut eine Steilvorlage für Massenet und Puccini geschaffen. Aubers Musik klingt in der Instrumentierung eher schlank und auch immer ein bisschen wie Offenbach nach Orchestergraben; die Ouvertüren riechen noch nach Theaterluft und wirken nicht wie verhinderte Konzertpiecen.

Dirigent Dario Salvi bildet die Musik mit ihren Stärken und Schwächen so ab, wie sie ist, er versucht nichts zu flicken – auch hier erleben wir Auber mal als Routinier mit mageren Einfällen, als mittelmäßigen Orchestrierer, dann wieder als Genie, sprühend vor Esprit. Anders als die vorige CD mit Auber-Ouvertüren, vol. 2, , wo vor allem Frühwerke zu hören waren, findet man hier Opern der mittleren und späten Jahre, viele davon völlig unbekannt – insgesamt eine sehr schöne und abwechslungsreiche Mischung (8574007, mit Auber Ouvertrüren, vol. 3,  zu La Bacarolle, Lestocq, Les Chaperons blancs, La Muette de Portici, Le Serment, Rêve d´amour; Moravian Philharmonic Orchestra, Dirigent Dario Salvi). Matthias Käther

Die sehr durchwachsene Kritiken zu ersten Auber-Ouvertüren-CD mag Naxos veranlasst haben, nun doch auf andere Interpreten zu setzen. Mit dem Tschechischen Philharmonischen Kammerorchester Pardubice unter dem schottisch-italienischen Dirigenten Dario Salvi konnten bei dieser Neuerscheinung (Naxos 8.574005) nun andere Künstler gefunden werden, mit denen das Mammutvorhaben offenbar bestritten werden soll. Und soviel darf bereits vorausgeschickt werden: Es hat sich wirklich gelohnt. Wie im knappen, aber informativen Begleittext von Robert Ignatius Letellier betont wird, wurde diesmal besonderer Wert auf den richtigen französischen Spielstil gelegt und sich zudem akribisch an die originalen Metronomvorgaben Aubers gehalten. Letellier bietet eine kurze Einführung zu den insgesamt 16 eingespielten Stücken aus acht Opern. Von allen liegen nunmehr die Ouvertüren vor; teilweise wurde zudem Aktvorspiele berücksichtigt. Abgesehen von einem einzigen Fall handelt es sich sämtlich um Weltersteinspielungen, was diese Neuerscheinung umso kostbarer macht. Man verzichtete (vielleicht bewusst) auf die landläufig bekanntesten Auber’schen Ouvertüren und setzte gewissermaßen auf volles Risiko. Das Ergebnis gibt dem Unterfangen Recht. Im Mittelpunkt steht der frühe Auber vor seinem endgültigen Durchbruch mit La Muette de Portici (1828) und Fra Diavolo (1830). Bis auf die 1813 noch unter Napoleon entstandene Ouvertüre zur Oper Le Séjour militaire erhält man ein reizvolles musikalisches Portrait der Ära der Restauration (1815-1830), die mit den Opern Le Testament et les Billets doux (1819), Le Bergère châtelaine (1820), Emma, ou La Promesse imprudente (1821), Leicester, ou Le Château de Kenilworth (1823), La Neige, ou Le Nouvel Éginard (1823), Le Maçon (1825) sowie Le Timide, ou Le Nouveau Séducteur (1826) ausgezeichnet abgebildet wird. Spritzigkeit und Esprit – nomen est omen – sind all diesen Werken gemein. Die Ouvertüren dauern zwischen knapp sechs und knapp neun Minuten und zeigen einen gewissen italienischen Einfluss á la Rossini, ohne jedoch dafür ihr urfranzösisches Idiom zu opfern. Auber darf mit Fug und Recht zu den französischsten Compositeuren überhaupt gerechnet werden, das wird noch einmal ganz klar deutlich. Kein Wunder, dass sein wohlklingender, aber nie oberflächlicher Stil gerade in der Restaurationsära Ludwigs XVIII. und Karls X. sowie später in der Juli-Monarchie Louis-Philippes ankam. Wie das Booklet kundig weiß, entwickelte sich besonders Le Maçon zu einem Dauerbrenner, der bis 1896 nicht weniger als 525 Aufführungen in Paris erlebte und sich in Deutschland unter dem Titel Maurer und Schlosser bis in die 1930er Jahre im Repertoire halten konnte. Künstlerisch von besonderem Rang ist aber gerade auch Leicester, nicht nur die erste so folgenreiche Zusammenarbeit mit Eugène Scribe, sondern auch aufgrund des royalen Sujets bereits auf den gewichtigeren späteren Stil Aubers hinweisend, der sich in den fünfaktigen Grand opéras – eine Gattung, die Auber gewissermaßen „erfand“ – La Muette de Portici und Gustave III, ou Le Bal masqué (1833) voll entwickelt hatte. Es nimmt nicht wunder, dass die Leicester-Ouvertüre am ausgedehntesten gerät. Die orchestrale Darbietung ist sehr adäquat, schön detailliert, nie dick oder zähflüssig, auf der anderen Seite aber auch nicht Gefahr laufend, allzu kammermusikalisch zu erklingen. Salvis Dirigat lässt den Werken hörbar Gerechtigkeit widerfahren. Die sehr gute Klangqualität dieser zwischen 28. und 31. Oktober 2018 im Kulturhaus Dukla in Pardubice in Tschechien eingespielten Aufnahmen unterstreicht dies noch. Volle Punktzahl in allen Belangen (weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)Daniel Hauser

Charles Gounod: „La Reine de Saba“

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Kaum eine andere Oper verfügt im Titel über diesen mythischen Zauber wie Gounods Orient-„Schinken“ La Reine de Saba (1862).  Allein schon die Erwähnung evoziert wie die „Nuit d’ivresse“ der Berlioz’schen Troyens (1856, nicht soviel früher) den Duft von Mimosen in schwüler Nacht unter Palmen und Zedern, wie sie auch Goldmarks gleichnamige Oper (1875) mit ihrem deutschen Namen ungleich viel sinnlicher beschwört. Die alte BJR-LP-Aufnahme des Mitschnitts aus Toulouse 1970 bot jahrzehntelang einen (akustisch recht eingeschränkten) Eindruck von eben dieser schwülen, wabernden Musik neben dem tumultösen Massenszenen und der kanonengleichen Explosion am Schluss (wie sie eben auch Berlioz in seiner ersten Oper verwendet wie Saint-Saens dazu den Baal-Tempel einstürzen lässt). Man hat Victor Mature im  Hollywood-Film oder auch Yul Brunner neben der „Lollo“ vor Augen … Bauchtanz in Technicolor.

Die pieces de resistence wie Balkis‘ Arie („Me voilà seule enfin…“) und die Hymne des Adoniram (nicht unähnlich der Benvenuto Cellinis) gehörten zum eisernen Bestand jeder französischen Mezzosopranistin und ihres tenoralen Gegenparts und sind von Félia Litvinne  bis zu Roberto Alagna bis in unsere Tage gerettet worden. Die besten Balkis-Dokumente, ausgelöst im Recital, sind zweifellos die von der wunderbaren Francoise Pollet auf ihrer unersetzlichen Erato-CD mit Französischen Arien und natürlich auch die der Régine (Crespin) la Grande auf dem alten Accord/Vega-Album: Beide Damen haben die Üppigkeit der Stimme, das unerklärliche Know.How der Sinnlichkeit und eben jenes unverwechselbare französische Idiom, ohne das diese Opern nicht zu beleben sind. Das ist eine Prämisse, an der sich die Neufnahme bei Odyssey messen lassen muss, aber das gilt auch für  die andere CD-Dokumention aus Martina Franca bei Dynamic (mit Italienern) wie auch das Video aus St. Etienne (gleich mit zwei Chinesen) bei operapassion.

Oper als ganz großes Entertainment noch vor Aida, Palmen, Elefanten oder Pferde (wie im Fernand Cortez Spontinis), Treppen, jede Menge gutgebaute Statisten, Ballett, Eisläufer und eben alles, was die Grand Opéra Frankreichs spätestens seit Meyerbeer aufweisen konnte – Hollywood auf der Opernbühne, Startheater á la MGM (wie der gleichnamige Film mit der Lollo und Yul Brunner). Heute undenklich, als Kitsch belächelt, verkommen zu fragwürdigem Regietheater (wenn denn diese Stücke je aufgeführt werden wie jüngst der Don Carlos Verdis oder die Troyens an der Pariser Oper mit ihrer hässlichen Optik). Opulence passée eben.

Gounod: „La Reine de Saba“/ décor de MM. Nolau et Rubé Caillot/ BNF Gallica

So scheint es den Liebhabern der Großen französischen Oper unverständlich, dass es die renommierte Opéra de Marseille nicht schaffte, ihre viel beachtete und überregional bejubelte konzertante Reine de Saba von Charles Gounod im Oktober 2019 ins Radio zu bekommen und/oder für einen CD-Mitschnitt zu dokumentieren. Wo war der Palazetto in seinem Engagement für die romantische Oper Frankreichs? Wo die Sponsoren für eine Aufnahme? Immerhin sangen jubelumrauscht die Franco-Kanadierin Karine Deshayes in der Titelpartie, der erfahrene französische Tenor Jean-Pierre Furlane den Andoniram, die reizende Marie-Ange Todorovitch als Bénoni und Nicolas Courjal als machtvoller Soliman, alles unter der Leitung von Victorien Vanoosten – nachzuhören auf youtube in einem privaten Video-Mitschnitt. Superb, einfach superb!

Gounod: „La Reine de Saba“ Marseille 2019/ Foto Christian Dresse

Ein so seltener Operntitel des großen französischen Repertoires, zum davot in la douce France im mutigen St. Etienne 2003 unter der Ägide  des damaligen Intendanten Jean-Louis Pichon aufgeführt (ach, was denkt man doch mit Nostalgie an die wunderbaren Massenet-Abenden ebendort, mit den interessantesten Sängern des Landes, lors de Paris) mit zumindest einem Francophonen in der Besetzung (Marcel Vanaud/ als Video bei operapassion und auf anderen rabenschwarzen Kanäle). Die beiden anderen Tondokumentationen der Oper sind sehr unterschiedlich. Während um den Mitschnitt aus Martina Franca bei Dynamic von 2001 mit der tapferen Federica Scaini ein weiter Bogen zu machen ist (da bleibt vom originalen Idiom wirklich wenig übrig) erscheint der Mitschnitt aus Toulouse 1970 (zuletzt bei Gala, ehemals BJR-LP) immer noch als die einzige und magisteriale Wiedergabe mit der wunderbaren Suzanne Sarrocca neben dem stentoralen Guy Chauvet und einem hochidiomatischen Gérard Serkoyan unter Michel Plasson – trotz eines etwas dumpfen Mono absolut hörenswert (auf youtube zu erleben). Insofern hatte man sich auf eine Radio-Übernahme aus Marseille gefreut und muss sich nun mit eingeschränkten, aber hochverdienstvollen Hosentaschen-Mitschnitten zu Frieden geben. Pauvre Gounod und pauvre France.

Pauvre France und pauvres nous  einmal mehr, weil nun eine neue und im orchestralen Bereich wirklich gloriose Aufnahme aus New York bei der jungen Firma Odyssey erschienen ist (1004, 2 CDs, üppiges, nur englischsprachiges Booklet mit Libretto in Französisch/Englisch), das von Gil Rosen am Pult des Odyssey Opera Orchestra and Chorus zu Höchstleistungen angetrieben wird. Da donnern die Fanfaren, rauschen die Streicher, betören die Soloistrumente im orientalen Stil. Edelsteine im Bauchnabel glitzern verführerisch. Und es wäre das Opernparadies auf Erden, wenn nicht … Ja wenn diese Sänger der Oper eben nicht den nötigen Glanz verliehen. Es fängt nach einer stürmischen und evozierenden Ouvertüre mit einem zu kleinem, sehr ordentlichen Tenor an, Dominick Chenes, dem man einen Alfredo oder einen Rodolfo gewünscht hätte und nicht den herpoischen Andoniram. Die Stimme zerfasert unter Druck und klingt zu hell, zu leicht. Dies ist eine französische Heldenpartie eines Georges Thill oder zumindest Guy Chauvet (oder – Dieu puissant – Michael Spyres). Chenes schlägt sich tapferer als seine Mitstreiter(innen). Die Mezzosopranistin Michelle Trainor „quallt“ als Bénoni unangenehm und lässt Konturen ihrer zu dunkel-femininen Stimme vermissen. Madame la Reine selbst, Kara Shay Thomson, eifert ihrer Kollegin darin nach. Diese Art von unruhigen, zu heftig vibrotoschlagenden Stimmen sprechen meist für eine Überforderung des Fachs und sind nicht nur für die französische Oper ungeeignet, zumal man bei beiden Damen nicht sonderlich viel vom Text versteht (im Gegensatz zu hervorragenden Diktion des Tenors!). Der Rest bleibt Mittelschiene. Ein solider Soliman ohne Nachdruck ist Kevin Thompson als Soliman. Matthew DiBattista, David Kravitz, David Salsbery Fray und Katherine Maysek ergänzen mehr oder weniger kompetent die Besetzung, während sich der Chor mit Glanz schlägt. Der Star der Aufnahme ist also zweifellos das Orchester in Super-Akustik unter Gil Rosen, und das ist ja auch etwas. Auch die Edition ist nun sorgfältig und stellt manche Teile um an die richtige Stelle und liest die Noten neu. Das ist lobenswert. Aber nicht genug für eine gelungene Wierdergabe dieser Oper. Bemerkenswerter Weise wird diese Aufnahme (nur) als Streaming bei Amazon und Quobuz angeboten und steht bei z. B. jpc nicht im Katalog, aber Odyssey  selbst vertreibt sie natürlich (Achtung, horrende Portokosten und Zoll im Verkehr mit den USA)..G. H.

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Gounod: „La Reine de Saba“/ Szenenbild für die Uraufführtung/ Gallica BNF

Und nun der Artikel zum Werk von Sébastien Herbeq aus dem recht popeligen Programmheft der Aufführung in Marseille: „Die Rückkehr der Königin von Saba“.

Am 28. Februar 1862 empfängt die Pariser Oper (damals noch im Saal Le Peletier) eine neue Komposition von Charles Gounod mit dem Titel La Reine de Saba. Gounod hatte lange von seiner Rückkehr zur Opéra geträumt, nachdem er dort ohne Erfolg Sapho (1851) und La Nonne sanglante (1854) aufgeführt hatte. Vor allem nach diesen beiden Versuchen war seine Musik aus der Pariser Opernszene völlig verschwunden.

Natürlich kannte ganz Paris die Melodien des Faust, der 1859 am Théâtre Lyrique  das Licht der Welt erblickt hatte. Ganz Paris kannte ebenso die treuen Librettisten Gounods – Jules Barbier und Michel Carré –,  die den Erfolg des Faust gesichert hatten, als sie Goethe für die Oper adaptierten. Es war übrigens der Direktor des Théâtre Lyrique, Léon Carvalho, mit dem Gounod die Verhandlungen für ein neues Werk für diese Bühne begann. Unglücklicherweise war das Théâtre Lyrique in einer schlechten finanziellen Lage und musste das Projekt, das noch den Titel La Reine Balkis hat, aufgeben.
Logischerweise wannte sich Gounod an den Direktor der Opéra, Alphonse Royer, der das Projekt 1861 annahm. La Reine de Saba wurde also an der Opéra aufgeführt, was für den Komponisten  verbindliche Vorgaben mit sich brachte. Näheres dazu findet man nur in den  Zeugnissen, die Giuseppe Verdi anlässlich der Aufführungen seiner Werke in Paris lieferte, insbesondere der  Vêpres siciliennes im Jahr 1855.

Gounod: „La Reine de Saba“/ Représentation au Théâtre du Capitole de Toulouse, 1970/ TCT

Verdi gefiel es, die Opéra  „la grande Boite“ zu nennen, so überdimensional war das Personal der Institution, so lang und kompliziert der Prozess der Realisierung. Bei den Proben zu La
Reine de Saba
erreichte man die Zahl von 131 Proben, was nur ein paar Dutzend weniger als für Wagners Tannhäuser bedeutetete, der gewisse Rekorde geschlagen hatte.
Richard Wagner wird nicht zarter mit der Opéra umgehen, insbesondere 1861 bei der Aufführung seines Tannhäuser auf Französisch, der speziell für die Pariser Bühne adaptiert wurde. Die Komponisten, die ihre Werke an diesem Theater aufführen wollten, mussten in der Tat etliche Forderungen erfüllen, um dem Publikumsgeschmack zu entsprechen. So musste der Komponist, was es auch für eine Oper war, dem Publikum Massenszenen, Dekorationswechsel und eine Aufteilung des Werks in 5 Akte präsentieren, mindestens eine große Ballettszene, die unbedingt entweder im 2. oder 3. Akt stattfinden muss, damit die Abonnenten (und der berüchtigte Jockey Club) in Ruhe ihr Diner beenden konnten, bevor sie das Ballett und die Mädels bewundern konnten.

Gounod: „La Reine de Saba“/ Jialin-Marie Zhang in St Etienne 2003/ FMST

Dazu kamen zahlreiche zusätzliche Erwägungen: Man musste die Forderungen der Sänger erfüllen, deren Wünsche nach effektvollen Auftritten, in denen sie ihre stimmlichen Möglichkeiten vorstellen konnten, große Auftrittsszenen, meist durch den Chor begleitet,  Bravourarien mussten mit gefühlvollen Arien abwechseln. Schon für die Reine de Saba hat sich Gounod den Forderungen der Sänger widersetzt. Die Rolle der Königin zum Beispiel hat keine Auftrittsarie. Balkis muss auf den 3. Akt warten, um ihre große Szene zu haben mit dem Titel „Me voilà, seule enfin!“

Dann gab es noch die staatliche Zensur, aber auch die Zensur des Theaterdirektors, der nach Lust und Laune vom Komponisten verlangen konnte, gewisse Passagen zu streichen, die er unnötig oder zu lang fand.  La Reine de Saba  ist da keine Ausnahme, und das Werk wurde schließlich in einer Fassung gezeigt, in der etliche Passagen gestrichen waren, vor allem die – eigentlich – wichtige Szene der „Fonte“  im 2. Akt. Um diesen Strich zu rechtfertigen, bemüht man eine Sicherheitsnotwendigkeit… Die Startänzerin des Abends hatte verlangt, dass für ihre Szene ein Flötensolo komponiert wurde. Zum größten Unglück musste Gounod auch mit dem Dirigenten der Opéra, Louis Dietsch, zusammenarbeiten, der einen traurigen Ruf als mittelmäßiger Orchesterleiter  hatte. Um sich davon zu überzeugen, muss man nur an die Worte Wagners denken, der sich ein Jahr vor der Reine de Saba schon die mangelnde Professionalität des Orchesters der Opéra und seines Chefs beklagt hatte.

Nach diesen schrecklichen Proben tröstete die Premiere Gounod nicht mehr. Der Misserfolg war vollständig, und man warf dem Komponisten sogar Wagnerismus vor, was weit davon entfernt war, bei der Pariser Kritik dieser Zeit ein Kompliment zu sein. Obwohl Gounod eindringlich die Wichtigkeit seines Orchesters in der Führung der den präzisen Situationen oder Personen entsprechenden Motive entwickelt hat, bleibt das Werk deshalb nicht weniger typisch französisch und reiht sich in die Linie der „Grand opéra français“ ein, ein Genre, das 1862 bereits im Abklingen begriffen war.
Nachdem sie mit Meyerbeer und dessen Oper Robert le diable im Jahr 1831 seinen Höhepunkt erreicht hat, war die „grand opéra“ ein Genre, das Mühe hatte, sich zu erneuern. Indem sie das Grandiose anstrebten, mit Massenszenen das Publikum zu beeindrucken, vernachlässigten die Komponisten oft die Qualität ihrer Libretti, die Realitätsnähe der dargestellten Situationen und verliehen vor allem ihrem Personal wenig Substanz. La Reine de Saba ist da keine Ausnahme und es wäre verwegen, ein Libretto zu verteidigen, das keine wirklichen Themen hat das und nur Charaktere mit wenig Tiefe aufweist. Namentlich die Hauptrolle, die dem Werk den Titel gibt, die Königin Balkis selbst. Adoniram wird kaum charakterisiert, und König Soliman stellt niemals glaubwürdig das Störelement dieses Liebesdreiecks dar.


Gounod „La Reine de Saba“/ die erste Titelsängerin Pauline_Guéymard-Lauters als Balkis/ Ipernity: Pauline Lauters-Guellemard: Mezzo-soprano (Brussels, 01 December 1834)-. She sang at the Théâtre-Lyrique under the name of Ms. DELIGNE-LAUTERS. She debuted at the Opera on 12 January 1857 in IL TROVATORE (Azucena). She sang the sorceress in 1858. She created in 1859 HERCULANEUM (rie) of Félicien David; in 1859 ROMEO and Juliet (Juliet) by Bellini; in 1860 PIERRE DE MEDICI (Laura) of Prince Poniatowski. She then sang salle Le Peletier, where she sang for the first time on April 08, 1861 in LES HUGUENOTS (Valentine). She created in 1862 the Queen of Sheba (Balkis) of Gounod; in 1863 the MULE of PEDRO (Gilda) by Victor Massé; in 1864 ROLAND has RONCESVALLES (Alde) of Mermet; on March 11, 1867 DON CARLOS (Eboli) by Verdi; May 09, 1868 HAMLET (Queen) of Ambroise Thomas. January 10, 1873 the cup of the King of THULE (Myrrha) of Eugène Diaz of the Peña. It was the interpreter of IL TROVATORE (Leonora), ERCOLANO (Olympus) and ALCESTE (Alceste). At the Palais Garnier, it was displayed in LES HUGUENOTS (Valentine), LA FAVORITE (Leonor), DON JUAN (Elvire) and the Prophet (Fides).

Gounod verfolgt mit diesem Sujet jedoch die Linie der französischen Romantik, die durch Autoren wie Victor Hugo verkörpert wird, aber auch vor allem durch Gérard de Nerval. Die Romantiker hatten auch Sinn für das Ferne und erlauben dem Leser eine gewisse Öffnung für die Welt, indem sie das Ferne nahe bringen, und das in Erzählungen, die fernen Legenden entspringen. Der Orient steht zu dieser Zeit (in der Folge der napoleonischen Erkundigung des vorderen Orients)  im Zentrum ihres Interesses. Die Unterschiede der Kulturen und Lebensweisen werden sorgfältig beschrieben. Die Zeitungen publizierten auch gern Reiseberichte, und diese Veröffentlichungen  hatten bei den Lesern großen Erfolg. In einem dieser periodischen Zeitschriften – Le National – publiziert Gérard de Nerval um das Jahr 1840 die Fragmente seiner Reise in den Orient. Die Reise wurde an 1843 begonnen, und der Autor publizierte den gesamten Text 1851. Dieses Werk stellt die verschiedenen vom Autor besichtigten Gegenden vor, besonders Ägypten, den Libanon und Konstantinopel. Die Legende der Königin Balkis findet ihren Platz in seinem Werk in dem Teil mit dem Titel Les Nuits du Ramazan, unter dem Titel Histoire de la reine du Matin et de Soliman, prince des Génies.
Gérard de Nerval war bereits vor seiner Reise fasziniert von der Sängerin Jenny Colon, und er  schrieb ein Opernlibretto, dessen Hauptperson die Züge der Reine de Saba hatte. Nerval legt das Projekt einige Jahre nach dem Triumph von Robert le Diable (1831) Meyerbeer vor, aber das Schauspiel wird nie realisiert. Die Bibliothek der Opéra hatte jedoch ein Exemplar der Skizze des Librettos bewahrt (heute vollständig zerstört), und alles lässt darauf schließen, dass Michel Carré und Jules Barbier darin einen Stoff fanden.  Man muss sagen, dass diese geheimnisvolle Königin in diesen historischen Reiseberichten kaum Kontur besitzt. Sie eignet sich also perfekt für die Idee der Neuinterpretation und Adaption durch verschiedene Künstler. Man findet Spuren von dieser Königin in der Bibel, wo man erfährt, dass sie um das 10. Jahrhundert vor Christus ein Königreich im Südosten Arabiens besaß. Ihre Wege kreuzen denen von Salomon während eines Besuchs, bei dem sie von einer Karawane von Schmuck und Edelsteinen begleitet wurde. Die Königin ist vor allem dadurch bekannt, dass sie die Weisheit des Königs Salomon prüfte, indem sie ihm Rätsel zu lösen gab.

Sébastien Herbeq (Dank an die Pressestelle der Opéra de Marseille/ Übersetzungen Ingrid Englitsch/ Foto oben Yul Brunner und Gina Lollobrigida in The Queen of Sheba, MGM 1956, Regie King Vidor) 

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Gounod & Farnie: „Irene“ Grand Opera in 5 Acts. The English Libretto by Henry Farnie/ Wiki

Und noch ein  Wort zur umgearbeiteten Reine de Saba, die als Irene noch einmaL wiedergeboren wurde: Irene (Reine de Saba) Große Oper in 5 Akten. Das englische Libretto von Henry Farnie. Eine englische Überarbeitung des Librettos von Henry Farnie, „verwoben [mit] bestimmten Legenden und Traditionen der Freimaurerei“, trug den Titel Irene. Sie verlegte die Handlung nach Istanbul in die Zeit Süleymans des Prächtigen und des Baus der Großen Moschee und verwendete fast die gesamte Musik von Gounod. Es war kein Erfolg.“ (Wikipedia). „Das Werk wurde von fast der gesamten Pariser Presse scharf verurteilt. Trotz Gounods Bemühungen, die Motivationen der Figuren durch thematische Rückblicke zu verdeutlichen, waren die Kritiker von der rassischen Herkunft und den ideologischen Zwängen der Balkis-Adoniram-Vereinigung irritiert; die Oper wurde nach nur 15 Aufführungen zurückgezogen. Mit einigen Überarbeitungen wurde sie am Théâtre de la Monnaie besser aufgenommen und gehörte dort in den 1860er und 70er Jahren zum Repertoire. Aufführungen in England 1865, im Crystal Palace (wo die Titelrolle zu Irene wurde und der Schauplatz in die Türkei verlegt wurde) sowie eine Wiederaufnahme in Paris im Jahr 1900 blieben erfolglos.“/ übersetzt mit DeepL/ Steven Huebner in Grove Music Online.

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Und noch eine aus Lissabon

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Braucht die Musikwelt eine und wenn ja diese Madama Butterfly, so fragt man sich, wenn man die erste Szene der Live-Aufnahme von 2019 aus Lissabon hört und Tenöre und Bariton über japanische Bräute, ebensolche Häuser und amerikanischen Whisky  parlieren. Zwar hat der Goro von Alexander Kaimbacher den angemessen krähenden, mitunter scharfen Charaktertenor, aber der Pinkerton von Stefano Secco nähert sich diesem manchmal bis zur Gefahr des Verwechseltwerdens an, zeigt zwar eine gute Registerverblendung, aber auch eine gepresst klingende Höhe, ist zu hell timbriert für die Partie und wird sich später im Liebesduett  im Dauerforte heiser schreien, auch im „Addio fiorito asil“ nur einen vokalen Kraftakt sehen und damit hören lassen. 

Der Sharpless von Lester Lynch punktet mit einem süffigen, Vertrauen erweckenden Bariton, missfällt aber mit dumpfer Höhe und klingt stellenweise recht nasal, die Stimmführung ist unausgeglichen, insgesamt beschwert er die Partie mit allzu tragischer Geste, macht aus der väterlich besorgten Figur eine überdramatische.

Bis zum „America forever“ also kein Grund zum Jubel, doch dann kommt sie: Melody Moore, die Cio-Cio-San mit üppig-sanftem Sopran, mit für die Partie so wichtiger klangvoller Mittellage (sie singt auch Amneris), farbiger Höhe auch in der mezza voce, zwar eine ausgesprochen erwachsen klingende Stimme, die aber auch wie bei der Ausbreitung der Schätze einen naiven Anstrich annehmen kann, mit wunderbaren Crescendi und Decrescendi in „Un bel di“, berührend dadurch, dass sie die Verletzbarkeit der Figur hörbar macht. Der Sopran weiß große Bögen zu spannen, so auf „il nome“ und gestaltet den Abschied vom Kind zum Herzen des Zuhörers gehend.

Elisabeth Kulman ist mit warm klingendem Mezzo die fürsorgliche Suzuki, singt ein schlankes Gebet und behält auch im Streit mit Goro die vokale Facon, im 3. Akt kehrt sie zu sehr die große Tragödin heraus.

Eher baritonale als tenorale Fülle breitet Amitai Pati als Yamadori aus, angemessen bedrohlich klingt Kevin Short als Zio Bonzo, dumpf der Commissario von Florian Köfler. Etwas mehr als gewohnt hat die Kate Pinkerton von Liesbeth Devos zu singen, denn bei ihrem Auftritt folgt die Aufnahme der ersten, an der Scala durchgefallenen zweiaktigen Fassung der Oper, während ansonsten die übliche, dreiaktige gesungen wird.

Coro &Orquestra Gulbenkian werden dirigiert vom langjährigen (2002 bis 2013) Generalmusikdirektor des Klangkörpers, Lawrence Foster, wobei das Orchester wunderbare Stimmungsbilder zwischen dem 2. Und 3. Akt zaubert, die einzelnen Instrumentengruppen plastisch hervortreten, immer wieder die Spannung neu aufgebaut und eine schöne Ausgewogenheit zwischen Orchester und Gesangssolisten erreicht wird (2CD Pentatone PTC 5186 783).  Ingrid Wanja   

Lohnende Ausgrabungen

Dass Hermann Levi in Bayreuth die Uraufführung des „Parsifal“ dirigiert hat und trotz Wagners antisemitischer Vorbehalte ein treuer Sachwalter seiner Werke war und blieb, ist unter Opernfreunden weitgehend bekannt. Dass er von Mozarts drei da-Ponte-Opern gute deutsche Übersetzungen geschaffen hat, wissen dagegen nur diejenigen, die noch die Zeit erlebt haben, als diese Werke bei uns in der Landessprache gespielt wurden. Und dass er auch komponiert hat, erfahre zumindest ich aus Anlass der vorliegenden Veröffentlichung seiner Lieder zum ersten Mal.

In Karlsruhe, wo er seit 1864 als Musikdirektor am Großherzoglichen Hoftheater tätig war, lernte er den von ihm hoch verehrten Johannes Brahms kennen, mit dem er sich bald anfreundete und dessen Werke er regelmäßig (und in einigen Fällen, etwa Alt-Rhapsodie, ur-) aufführte. Umso härter traf es ihn, dass ausgerechnet Brahms ihm den Rat gab, mit dem Komponieren aufzuhören. Er soll daraufhin alle seine Manuskripte vernichtet haben, nur die wenigen im Druck erschienenen Werke sind erhalten geblieben. Darunter die Sechs Lieder op. 2, die er 1861 mit 22 Jahren geschrieben hatte. Sie lassen ein außergewöhnliches Talent erkennen. Von einiger Erfindungsfrische im Melodischen, dringen sie tief in die vertonten Dichtungen Heines, Eichendorffs und Chamissos ein und verweisen in der Klavierbegleitung eindrucksvoll auf die ruhmvolle Vergangenheit Levis als pianistisches Wunderkind. Vor allem die Lieder Die Glocken läuten das Ostern ein (Text: Adolf Böttger) und Eichendorffs Der letzte Gruß, das dem Album den Titel gibt, prägen sich schon beim ersten Hören nachdrücklich ein und könnten auch im heutigen Repertoire heimisch werden.

Kaum weniger profiliert erscheinen Shakespeares Narrenlied Komm herbei, Tod (aus Was ihr wollt) und die drei Vertonungen von Goethe-Gedichten: Wanderers Nachtlied, das ungemein spritzige Frühling übers Jahr und Dämm’rung senkte sich von oben. Hier wird Levis Version die Bearbeitung desselben Textes von Johannes Brahms gegenübergestellt, was im Falle eines kritischen Vergleichs nach meiner Auffassung zu einem Unentschieden führen würde. Wie überhaupt die das Album ergänzenden Kompositionen von Brahms, Schumann und Heinrich von Herzogenberg verdeutlichen, welchen Rang Levi unter diesen hätte einnehmen können, wenn er weitergemacht hätte. Sozusagen als Bonus schließen die Kollektion vier Lieder des französischen Zeitgenossen Henri Duparc ab, der mit Levi das Schicksal teilt, einen großen Teil seiner Arbeiten vernichtet zu haben. Dass er, im Banne Wagners, auch Musikdramen schreiben wollte und dann resignierend aufgab, spürt man an den dramatisch aufgewühlten Stücken Phidylé und La vague et la cloche, die deutlich vom Charakter der „mélodies“ abrücken, der das französische Liedschaffen dieser Zeit prägte.

Der Sänger René Perler und der Pianist Edward Rushton sind nicht nur für die Initiative zu loben, Levis kleine Liedperlen wieder ans Licht gebracht zu haben, sondern auch für ihre ernsthafte und eindringliche Interpretation. Auf dem Cover ist Perler als Bassbariton ausgewiesen und er hat auf der Bühne Basspartien wie die Dr. Bartolos von Mozart und Rossini und Puccinis Colline gesungen. Die Stimme, die er hier hören lässt, ist allerdings ein schlanker Bariton von tenoralem Gepräge mit sicherer Höhe, mehr charaktervoll als lyrisch, nach meinem Geschmack eine ideale Beckmesser-Stimme. Seine Diktion ist sehr ausgestellt, mit offenen Vokalen und einer Tendenz, die Töne anschwellen zu lassen, die fast etwas Zeigestockartiges hat. Das ist gewöhnungsbedürftig, aber man muß anerkennen, dass Perlers Stimme und Vortrag unverwechselbar sind, und das kann man heutzutage nicht mehr von allzu vielen Sängern behaupten. Edward Rushtons Klavierbegleitung ist imaginativ und insbesondere bei Levi brillant.  In summa: eine warme Empfehlung für diese originelle Publikation. (Prospero PROSP 0018) Ekkehard Pluta

Moderne Klassik aus Chemnitz

 

Selbst Opernkenner mittleren Alters denken bei Zimmermann allenfalls an Bernd Alois. Jüngeren ist der Dresdner Zimmermann (1943-2021) völlig unbekannt, obwohl seine Oper für zwei Sänger Weiße Rose vermutlich nie von den Kammerbühnen verschwinden wird. Dabei wurde Udo Zimmermann, im Gegensatz zu den in etwa der gleichen Generation angehörenden Kollegen Hanell, Katzer und Kunad, im Osten wie im Westen aufgeführt und darin allenfalls Matthus vergleichbar. Darüber hinaus hatte Zimmermann ab Mitte der 1980er bedeutende Funktionen an der Oper Bonn, an der Leipziger Oper, beim Bayerischen Rundfunk und schließlich an der Deutschen Oper Berlin inne. Und das ist nur ein winziger Teil der Funktionen und Aufgaben, die er übernahm. Der Schuhu und die fliegende Prinzessin ist Zimmermanns vierte Oper nach dem Dresdner Musikhochschul-Auftragswerk Weiße Rose (1968), aus dem sich 20 Jahre später die gleichnamige Kammeroper entwickelte, der so elegant als Ring-Uraufführung bezeichneten Die zweite Entscheidung (1969) und Levins Mühle nach dem gleichnamigen Roman von Johannes Bobrowski (1973). Bereits Levins Mühle erlebte ein halbes Dutzend Inszenierungen in Westdeutschland. In noch stärkerem Maß verzauberte der im Dezember 1976 an der Dresdner Staatsoper uraufgeführte Schuhu das Publikum im Osten wie im Westen.

Bereits 1977 wurde Kurt Horres‘ Darmstädter Inszenierung des Schuhu auch bei den Schwetzinger Festspielen gezeigt, die sich zwei Jahre zuvor für ein anderes Märchen, nämlich Der gestiefelte Kater oder Wie man das Spiel spielt von Günter Bialas eingesetzt hatten. Ebenfalls bei den Schwetzinger Festspielen folgte 1982 als Aufführung der Hamburgischen Staatsoper Die wundersame Schustersfrau. Bis Mitte der 1990er Jahre hatten das Kunstmärchen mit dem Text von Peter Hacks sowie die García Lorca-Adaption anhaltenden Erfolg auf deutschsprachigen Bühnen. Zuletzt hatte Zimmermann 1995 für eine Leipzig-Salzburger Koproduktion eine gekürzte zweistündige Fassung des Schuhu hergestellt, die er im August 1995 im Mozarteum dirigierte. Im Juni 2021 plante die Oper Chemnitz den seltsamen Vogelmenschen nun endlich wieder auf seine Reise nach Coburg-Gotha, Mesopotamien, Tripolis und Holland zu schicken. Leider musste die sicherlich sehenswerte Inszenierung Lorenzo Fioronis auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden. Die im Mai 2021 in der Chemnitzer Stadthalle entstandene Einspielung – die zweite nach der von Peter Gülke 1978 dirigierten Kurzfassung mit den Uraufführungssängern Jürgen Freier und Helga Termer – ist sozusagen der Appetizer dazu (Rondeau 2 CD ROP622829).

Lange Vorrede. Die Aufnahme ist rundum gelungen. Klanglich prägnant und klar, dicht und oftmals suggestiv. Es drängt sich geradezu auf, das Stück häufiger zu spielen. Es beginnt mit der Leierkastenmusik des Blockflöten-Quartetts und dem Bänkelgesang des Erzählers, „Es war ein armer Schneider“, und den Geburtsschreien der Frau, die ein Ei zur Welt bringt, aus dem im kommenden Frühjahr der Schuhu schlüpft. Mit den Wanderungen des Schuh und seinem Aufbruch aus der Vaterstadt wird die Musik farbiger, aufgeregter und zwingender, auch solistisch anspruchsvoller, wie im schönen Hornkonzert, das in der Mitte der zweiten Abteilung während der Reise des Schuhu von Mesopotamien nach Tripolis erklingt. Diego Martin-Etxebarria bringt die auf zwei identisch besetzte Kammerorchester verteilte Komposition zum Schweben und Schwingen und lässt die munter plappernden Instrumentalisten der Robert-Schumann-Philharmonie quasi als Darsteller ins Spiel greifen. Das geistreiche Miteinander aus Märchendarstellung und Kommentar unterstützt die parabelhafte Aussage und die weitgefächerten, heute schon wieder etwas altbacken anmutenden Kompositionsmittel, die Klangverfärbungen- und Verfremdungen, Echo- und Simultaneffekten, barocken Ensemblesätze und Vokalisen, das Singparlando und Zischen und Flüstern des Ensembles illustrieren trefflich die fantastische, hurtig hüpfende Handlung.

Die in 38 Szenen und drei Abteilungen und 136 Minuten erzählte Handlung ist nicht kompliziert, aber ungemein aus- und weitschweifend. Märchenhaft eben. Dass in Chemnitz vier Szenen, die Udo Zimmermann selbst vorgeschlagen hatte, gestrichen wurden, stört nicht. Erzählt werden muss die Handlung nicht. Sie erzählt sich selbst. Denn neben den beiden Titelfiguren wirken zwölf Sänger mit, die in mehrere Rollen schlüpfen und das Märchen auf der Bühne erzählen und kommentieren. Gleichberechtigt neben Andreas Beinhauer als Schuhu und Marie Hänsel als Prinzessin agieren Tatiana Larina, Katharina Baumgarten, Maraike Schröter, Lena Kutzner, Antigone Papoulkas, Sophia Maeno, Philipp Kapeller, Florian Sievers, Reto Raphael Rosin, Magnus Piontek, Till von Orlowsky und André Eckert. Man muss das Ganze sicherlich sehen.  Rolf Fath

Antonio Smareglias „Vassallo di Szigeth“

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Seit Jahren interessieren wir uns bei operalounge.de für jene Komponisten im Spannungsfeld nationaler und politischer Veränderungen, namentlich des ehemaligen k. u. k. österreichisch-italienischen Staatenverbundes und folgenden Ostblocks, auf der Suche nach einer nationalen und musikalischen Identität. Oper ist ja immer auch ein Indikator eben solcher Veränderungen, immer auch ein Bestandteil eines sozialen Umfeldes. Meist mit einiger Verspätung und nachhinkend den politischen Umwälzungen hinterher, aber fast immer auch ein Anzeiger des Errungenen, Eigenen und auch Kommenden. Denn Musik wie Literatur existiert nicht im leeren Raum sondern ist Teil eines sich verändernden Ganzen.

Der Komponist Antonio Smareglia/ Wiki

Fans des Verismo abseits von Catalani, Cilea, Mascagni und in Maßen auch Puccini werden aufgehorcht haben, als erst in den Medien und dann bei youtube eine welterste (!!!) Aufnahme von Antonio Smareglias Oper Il vassallo di Szigeth auftauchte. Die tüchtige Sopranistin Denia Mazzola-Gavazzeni, Witwe und Schützling des Verstorbenen, hat sich ja in der Vergangenheit immer wieder der vergessenen Werke dieser Epoche angenommen, vor allem solche, wofür die Beschaffenheit ihrer Stimme ihr die richte erscheint.

Nun also der Vasallo di Szigeth von Antonio Smareglia, der vor kurzen dann auch bei der italienischen CD-Firma Bongiovanni herauskam, in nämlicher Besetzung wie das gefilmte Konzert bei youtube, bizarrerweise auf der CD ohne Ouvertüre, die man aber bei youtube nachhören kann (und zudem gibt es bei Bongiovanni eine sehr schöne Sammlung von Ouvertüren und Zwischenspielen aus Smareglias Opern unter Silvano Frontalini/ GB2142). Und über Smareglia haben wir ja bei operalounge.de reichlich berichtet, so über seine Falena und die Nozze istriana.

Auf youtube kann man Madame Mazzola-Gavazzeni und Kollegen live im Konzert erleben, wo sie betörend aussieht. Wenn sie nur so sänge. Damiano Cerutti leitet das Orchestra Filarmonica Italiana mit großem Schwung und einer geeigneten Hand, auch den schlagkräftigen Coro Ab Harmonico. Neben der couragiosen, gewöhnungsbedürftigen Sopranstimme der Diva als Nala singen sehr (!) unterschiedlich erfolgreich Giuseppe Veneziano/Andor, Fulvio Ottelli/Milos, Giorgio Valerio/Rolf/Konrad sowie Syuzanna Hakobyan als Canonichessa. Ut desint vires, tamen est ... pflegte mein Geschichtslehrer zu sagen. Harte Arbeit, aber dennoch ist es lohnend, das Werk selbst endlich zu kennen.

Substanziell zum Erscheinen der Oper haben sowohl Frau Mazzola wie auch der Musikwissenschaftler Paolo Petronio beigetragen  (letzterer hat die Edition erstellt und ist operalounnge.de-Lesern kein Unbekannter, haben wir ihn reichlich für den Viktor-Parma-Artikel über dessen Oper Zlatorog bei uns zitiert): wunderbares Sponsorentum also. Denn diese Oper ist seit Menschengedenken nicht auf den Theatern gesehen worden und ist eine der heißersehnten und absolut unbekannten im spannenden Kanon der sonst zumindest dokumentierten Opern Smareglias (so haben Sammler die Mitschnitte vom Abisso/ Triest 1979, La falena/ Braunschweig 2016 und Triest 1976 sowie die diskutable Aufnahme bei Bongiovanni 2019, die Nozze istriana/ Triest 1972 und 1999 sowie RAI 1961, Oceana/Zagreb 2003 und schließlich I pittori fiamminghi/ Triest 1991).

Antonio Smareglia: Paolo Petronio, der Autor unseres Artikels, hat das ultimative Buch über den Komponisten geschrieben

Sehr wenige Theater außerhalb Triests und weniger Städte an der istrischen Adria-Küste haben in der Vergangenheit Antonio Smareglias Opern aufgeführt (Braunschweig 2016 mit der Falena eine rühmliche Ausnahme), die jedoch für Aufmerksamkeit in Prag oder Wien gesorgt hatten. Im heute kroatischen, ehemals italienischen Pula am 5. Mai 1854 und im selben Jahr wie Catalani geboren, begann Antonio  Smareglia sehr früh  mit seiner musikalischen Ausbildung, zuerst in Wien als kulturellem Zentrum  Mitteleuropas jener Zeit (er war als Sohn einer kroatischen Mutter und eines österreichischen Vaters deutschsprachig aufgewachsen), später in Mailand, wo er die Freundschaften von wichtigen Persönlichkeiten des Musiklebens wie Arrigo Boito und Luigi lllica gewann. Ausgebildet wurde er bei dem Komponisten und Lehrer Antonio Faccio (dessen von Antonio Barrese wiederaufgefundener Amleto vor kurzem in der Musikwelt für Aufsehen). In jenen Jahren florierte besonders in Mailand die nonkonformistische  Kulturbewegung der scapigliatura,  deren antiromantische, antirhetorische Ideale auch auf Smaraglia abfärbten.

Der Komponist Smareglia und seine Librettisten: Luigi Illica, Antonio Smareglia & Francesco Pozza/ OBA

Diese „Junge Schule“ der Tempelstürmer wurde im musikalischen Bereich von der ebenfalls jungen Musikfirma Sanzogno gefördert, die es wagte, sich neben dem übermächtigen Musikverlag Ricordi zu etablieren, der auch den Verlag der Witwe Lucca (wo Catalani verlegt wurde) „schluckte“ – durchaus einer der Gründe, warum Smareglia in der späteren Folge kaum aufgeführt wurde. Ricordi war übermächtig.

In jenen Jahren war der Austro-Kroatische Konflikt mit Italien evident, und Smareglia erlebte in Mailand die Fremdheit einer Welt, mit der er sich weniger identifizieren konnte als in Wien. Vielleicht auch um diesem Konflikt zu entgehen, verließ er das dortige Konservatorium 1877 und vervollständigte sein Studium selbst – später äußerte er sich enttäuscht und desillusioniert über seine mangelnde Zugehörigkeit zu keiner der beiden Kulturen. Dennoch war Mailand der Aufführungsort seiner ersten Werke: Preziosa 1879 und Bianca da Cervia bereits an der Scala 1882, letztere deutlich in Anlehnung an das Modell der Grand Opéra, aber auch bereits Trägerin seiner Vorstellungen von Harmonik und Instrumentation.

Bei seinem zweiten Wien-Aufenthalt von 1888 bis 1894 experimentierte Smareglia mit neuen Ausdrucksformen und betonte damit einmal mehr seine Distanz zu den gängigen Opern der Jahrhundertwende in der Folge Verdis. Dabei zog er überzeugend die Aufmerksamkeit eines so eminenten Kritikers wie Eduard Hanslick und Komponisten wie Johannes Brahms auf sich. In diese Phase gehören seine Opern II vassallo di Szigeth in Wien 1889 (in der Übersetzung von Max Kahlbeck, einem renommierten Schriftsteller und Übersetzer, der Hunderte von fremdsprachigen Opern für die Wiener Bühne einrichtete) und Cornill Schutt 1893 in Dresden, dann in Prag (ab 1928 als Pittori fiamminghi vielfach in Italien aufgeführt (ein Hosentaschen-Mitschnitt von  1991 aus Triest liegt vor). Beide Opern wurden in deutscher Kahlbeck-Übersetzung der Libretti von lllica gegeben (Bote & Bock).

Antonio Smareglia: Deckblatt des Klavierauszuges zum „Vasall von Szigeth“/ Paolo Petronio

Der kroatisch-italienische Musikwissenschaftler und Journalist Paolo Petronio hat nicht nur das ultimative Buch über Smareglia und sein Schaffen geschrieben, sondern auch den Artikel im Booklet der Bongiovanni-CD-Ausgabe (GB 269495/2 gut ausgestattet mit zweisprachigem Libretto) den wir nachstehend und mit Dank in unserer eigenen Übersetzung von Daniel Hauser bringen und der uns in die Welt Smareglias und seiner Oper Il vassallo di Szigeth einführt. Dank an beide. G. H.

 

 Und nun Paolo Petronio: Il vassallo di Szigeth (Der Vasall von Szigeth). Der Wendepunkt für Antonio Smareglia. Nach seinem glänzend erfolgreichen Studium am Mailänder Konservatorium und dem Interesse der Verlegerin Giovannina Lucca an ihm komponierte Antonio Smareglia Preziosa und Bianca da Cervia. Diese beiden Opern fanden großen Anklang und ähneln in gewisser Hinsicht den frühen Werken seines Zeitgenossen Alfredo Catalani – tatsächlich suchten beide Komponisten einen neuen Stil in der Oper. Als sich Smareglia jedoch mit dem mächtigen Verleger Ricordi stritt, bewegte ihn das völlige Fiasko seiner dritten Oper Re Nala dazu, deren Partitur zu vernichten und so der Vergessenheit zu überlassen. Nach Rückkehr in seine Heimatstadt Pola, seinerzeit Teil der österreichisch-ungarischen Monarchie, wurde Smareglia von dem damals angehenden Librettisten Luigi Illica und später von Giovanni Pozza kontaktiert und begann mit der Arbeit an Il vassallo di Szigeth, einer neuen Oper, die auf das Interesse des Erzherzogs Karl Stephan von Österreich mit Sitz in Pola stieß. Karl Stephan selbst dirigierte sie an der Wiener Oper – der damaligen Hofoper und heutigen Staatsoper – anlässlich der Eröffnung der Spielzeit am 4. Oktober 1889, dem Namenstag von Kaiser Franz Joseph, der der Aufführung beiwohnte und so begeistert war wie der Rest des Publikums.

Antonio Smareglia: Der Übersetzer der Oper Max Kahlbeck/ Wikipedia

Smareglia scheint etliches aus Re Nala wiederverwendet und viel neue Musik für sein Brahms-ähnliches Werk geschrieben zu haben (trotz Smareglias oft erklärter Bewunderung für Wagner), das selbst Johannes Brahms begeistert lobte. Und die überaus positive Reaktion des mächtigen Kritikers Eduard Hanslick, dessen Abneigung gegenüber einer Oper deren Chancen an jedem Ort zerstörte und der wie Brahms erbittert gegen Wagner eingestellt war, beweist, dass Smareglias Oper alles andere als wagnerisch war. Die Wiener Hofoper brachte ihre Inszenierung von Il vassallo di Szigeth auf Tournee nach New York, machte sie zur berühmtesten Oper des Repertoires und ermöglichte es Smareglia, an ihren Erfolg von 1893 mit Cornill Schutt anzuknüpfen. Abermals mit einem Libretto von Illica und weiteren Überarbeitungen der Musik von Re Nala, war diese dezidiert mitteleuropäisch inspirierte neue Oper ein Triumph in Dresden und Prag und machte Smareglia zu einem der vielversprechendsten Komponisten dieser Epoche – sie wurde 1927 mit dem neuen Titel Pittori fiamminghi überarbeitet. Dieser Erfolg zerbrach jedoch, als Smareglias Bewunderung für Wagner ihn dazu veranlasste, den antisemitischen Artikel des Komponisten Das Judenthum in der Musik zu loben, was ihm den Widerstand der Wiener jüdischen Kreise und auch des neuen Direktors der Wiener Hofoper, Gustav Mahler, einbrachte. Mahlers Vorgänger Richter war im Streit mit dem Chef des Opernhauses Jahn gefeuert worden, und Smareglia hatte sich unklug in die Affäre hineinziehen lassen und sich auf die Seite von Richter gestellt. Dies kostete ihn dort jede Unterstützung, die er später hätte genießen können.

Antonio Smareglia: die tüchtige Sopranistin Denia Mazzola arbeitet sich als Nala durch die Oper „Il vasallo di Szigeth“/ youtube

Wieder zurück in Pula, wurde der enttäuschte und ausgegrenzte Smareglia erneut von Luigi Illica aufgesucht, mit einem Vorschlag für das Libretto von Nozze istriane. In Triest ein Hit, ist dies bis heute die berühmteste Oper des Komponisten, wenn auch nicht seine beste, was auch Smareglias eigener Meinung entsprach. Der nun entschieden postwagnerische Komponist wurde dann von Silvio Benco kontaktiert, einem jungen aufstrebenden Dichter und begeisterten Wagner-Verehrer, der die italienische giovane scuola (junge Schule) des späten 19. Jahrhunderts für eine dekadente und falsche Richtung erachtete und glaubte, dass die italienische Musik nur im Namen Wagners zu ihrer Größe zurückgeführt werden konnte, was daher die Smareglia zugedachte Rolle sei. Dies führte zur Komposition von drei mächtigen nachwagnerischen Opern – La falena, Oceàna und Abisso – von denen insbesondere die ersten beiden bewiesen, dass Smareglia zu Meisterwerken imstande war. Aber einmal mehr arbeiteten seine Kunst und seine Ansichten gegen ihn selbst. Das Publikum wurde von den ebenso chaotischen wie unglaubwürdigen Intrigen von La falena, Oceàna und Abissso abgeschreckt; Bencos neigte politisch zum irredentismo, einem elitären Gedankengang, der Verdi verachtete, wenn er nicht den Umständen entsprach, und Wagner vorbehaltlos bewunderte, während Smareglia ein treuer Untertan Österreichs blieb. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs führte zu einem Streit zwischen dem Komponisten und den irredentisti, die ihn als Abtrünnigen und Verräter bezeichneten. Trotz Smareglias Entschuldigung blieben diese verleumderischen Bezichtigungen bestehen; der Zusammenbruch Österreich-Ungarns entzog ihm seine Rente und er verlor in der Folge sogar die Freundschaft mit Toscanini über die postume Fertigstellung der Oper Nerone von Arrigo Boito, einem ehemaligen Freund und Studienkollegen in Mailand.

Als Produkt deutscher, slawischer und italienischer Einflüsse ist Smareglia ein durch und durch mitteleuropäischer Komponist und doch ein sehr eigenständiger Mann, ein perfektes Beispiel für die Musik der Region Triest-Istrien. Es ist verlockend, ihn als einen der „nationalen Komponisten“ zu sehen, die im Europa des 19. und frühen 20. Jahrhunderts eine Blütezeit erlebten. Seine Heimat Julisch Venetien war jedoch nie eine Nation als solche und von denjenigen Mächten erbittert umkämpft, die Österreich-Ungarn mit ihrem Dogma des Entweder-oder nachfolgten. Und Smareglia stand sowieso immer auf beiden Seiten. Tatsächlich waren seine Opern das Fundament einer wahrhaft authentischen Triester Musikschule mit so hervorragenden Komponisten wie Eugenio Visnoviz, Gastone de Zuccoli, Michele Eulambio, Cesare Nordio, Antonio Illersberg, Victor de Sabata, Mario Bugamelli, Guilio Viozzi und Fabio Vidali. Alle sind sie zu Unrecht in Vergessenheit geraten, nur weil sie auf der falschen Seite der Geschichte standen.

Il vassallo di Szigeth ist eine Oper, welche die erste Phase von Smareglias Schaffen abschließt und gleichzeitig die Errungenschaft eines neuen Stils markiert, der sie für die Entwicklung des Komponisten grundlegend macht. Im Gegensatz zu Smareglias anderen großen Erfolgen wurde Il vassalo di Szigeth vor allem wegen des Anspruchs eines reinen Spektakels im zweiten Akt mit der langen Ballettsequenz ins Abseits gedrängt. Sie wurde 1930 in Italien zuerst in Pola, dann in Triest und 1931 in den Studios von EIAR in Rom (die heutige RAI – der nationale Rundfunk Italiens) aufgeführt. Das bedeutet, dass sie seit 90 Jahren nicht mehr auf einer Opernbühne aufgeführt wurde und seit 89 Jahren keine nicht-szenische Aufführung erfahren hat. Paolo Petronio/ Übersetzung Daniel Hauser

Die Handlung ist abgeleitet von der realen historischen Episode des Vasallen von Sziget, der in einer epischen Schlacht gegen die Türken heldenhaft starb. Der Komponist Ivan Zajc aus Fiume (heute Rijeka) hatte dies zum Thema seiner eigenen Oper Nikola Subic Zrinski (1876) gemacht, die als eine Art kroatisches Nabucco gilt und dort einen bleibenden Ruf genießt. In dieser Geschichte liegt Sziget in der Ebene des Banats, dem heutigen Serbien, obwohl es tatsächlich zwei Szigets gibt, das andere in den Karpaten Siebenbürgens gelegen, das heutige Sighetu Marmatiei in Rumänien. Und diesen Ort hat Illica gewählt und gab den drei Hauptfiguren trotz der Geographie ungarische, serbische und deutsche Namen – Andor, Milos und Rolf.

Die Oper hat drei Schauplätze: die Schlosskirche, das Tibisco-Tal (Theiß-Tal) und im zweiten Tableau des ersten Aktes und im dritten Akt Milos‘ Gemach im Schloss. Das erste Tableau des ersten Aktes beginnt mit den Feierlichkeiten anlässlich der Hochzeit von Andor, Baron von Szigeth, und Naja, einer Jungfrau aus Dalmatien, obwohl ihr ungewöhnlicher Name in diesem Land nicht existiert. Sie scheint keinen adeligen Rang zu haben und aus dem Nichts in die heimischen Berge gekommen zu sein (Illica war berühmt dafür, das Ungewöhnliche zu erfinden, weshalb Puccini ihn immer zusammen mit dem prosaischen Giacosa einsetzte). Naja bricht unvermittelt zusammen und scheint tot zu sein. Der verzweifelte Andor beschließt, sich aus dem öffentlichen Leben zurückzuziehen und übergibt die Macht an seinen Bruder Milos. In Wirklichkeit ist dies alles eine Verschwörung von Milos, um Naja mit Hilfe seines Vasallen Rolf, der ein Experte für Zaubertränke ist, an sich zu reißen, doch weiß Milos nicht, dass Rolf dies als Rache für die Ermordung seiner gesamten Familie durch Andors und Milos‘ Vater vor Jahren ansieht. Im zweiten Tableau liefert er Naja an Milos aus, der den Irrglauben des verwirrten Mädchens ausnutzt, die meint, mit Andor zusammen zu sein.

Der Autor, Smaregia-Experte und Musikwissenschaftler mit Schwerpunkt istrische Komponisten, Paolo Petronio/ timone

Der spektakuläre zweite Akt beginnt mit der Zeremonie zur Machtübergabe im Tal des Flusses Tibisco mit Gesang, Tanz und einem ungarischen Ballett. Dann offenbart Rolf Andor die Wahrheit, die Brüder geraten aneinander und Naja wird als Hexe und Hochstaplerin festgenommen.

Im dritten Akt bringt Rolf seine schreckliche Rache zu einem perfekten Abschluss. Er führt Naja in Milos‘ Zimmer, wo das Mädchen immer noch benommen ist und darum bittet zu sterben. Rolf gibt ihr ein Gift. Dann erscheint Andor – gemäß dem Plan mit Rolf –, um Naja mit sich zu nehmen und mit ihr über die Grenze zu fliehen, aber sie stirbt kurz darauf. Als Milos hereinkommt, tötet ihn sein wütender, hasserfüllter Bruder. Der teuflische Rolf kehrt triumphal zurück im Wissen, dass seine Rache erfolgreich war. Paolo Petronio/ Übersetzung Daniel Hauser

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.