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Wolfgang Rihm: Er sieht fast aus wie Beethoven, heroisch, pessimistisch nach unten schauend auf dem Cover des neusten Buches von Frieder Reininghaus. Der Untertitel: „Der Repräsentative.“ Erst auf der Titelseite liest man dann „Neue Musik in der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland.“ Aha, es geht also um mehr als nur den Komponisten Wolfgang Rihm, der am 13. März 2022 seinen 70. Geburtstag feiert.
Geboren wurde Rihm am 13. März 1952 in Karlsruhe, wo er bis heute seinen Wohnsitz hat. Er hat Komposition und Musiktheorie an der Musikhochschule in Karlsruhe studiert. Es folgten Studien bei Karlheinz Stockhausen, 1972/73 in Köln sowie von 1973 bis 1976 an der Hochschule für Musik Freiburg bei Klaus Huber (Komposition) und Hans Heinrich Eggebrecht (Musikwissenschaft). Erste eigene Erfahrung als Dozent sammelte Rihm 1973 bis 1978 in Karlsruhe, ab 1978 bei den Darmstädter Ferienkursen (die er seit 1970 besucht hatte) und 1981 an der Musikhochschule München. 1985 übernahm er als Nachfolger seines Lehrers Eugen Werner Velte den Lehrstuhl für Komposition an der Musikhochschule Karlsruhe. Er ist längst hoch geachteter Komponist, Professor für Komposition und Autor vieler Bücher, Mitglied zahlreicher Gremien in Deutschland, wo immer es gilt, die Interessen der Musikschaffenden zu vertreten.
„Keine Zweifel: Wolfgang Rihm ist ein Phänomen, eine überlebensgroße Figur. Sein Wissen auf seinem eigentlichen Betätigungsfeld, der Musik, ist allumfassend, aber das gleiche gilt auch für die Künste, die Literatur, die Philosophie – die alle für sein Komponieren als Inspirationsquelle dienen. Die Welt, die er mit seinen über 400 Kompositionen geschaffen hat, ist ein Universum.“ Wie die Universaledition, die seine Werke verlegt, ihn nicht zu Unrecht bewirbt.
Wolfgang Rihm ist einer der repräsentativsten wie erfolgreichsten, auch geschäftstüchtigsten Komponisten der Bundesrepublik Deutschland, eine Institution und bestens vernetzt im Musikbetrieb des Landes. Er ist fast so etwas, wie in der Umschlagklappe des Buches die Abendzeitung zitiert wird, „der Hofkomponist der Bundesrepublik“.
Der Riese (er ist 192 cm groß) und Zweizentnermann, Gotteskind mit humanistischer Bildung und Störenfried trotz Traditionsbindung ist ein sympathischer, ein eloquenter Gesprächspartner und feiner Mensch. Der von Reininghaus zitierte Urs Ringer hat es in der Neuen Zürcher Zeitung auf den Punkt gebracht: „Wer zu seiner Musik keinen Zugang finden sollte – die Person muss man mögen.“ Es findet wirklich nicht jeder einen Zugang zur allzu klugen Musik Rihms, von der der Komponist bekennt: „Ich brauche meine Musik zur Ich-Entfaltung. Dort verarbeite ich meine Probleme“. Immerhin. Vielen Komponisten reicht das. Das Publikum interessiert oft nicht. Man möchte es dem fleißigen und kommunikativen Wolfgang Rihm nicht unterstellen.
Worum es Frieder Reininghaus geht: „Angefangen von der in den 60erJahren entstandenen tonalen katholischen Kirchenmusik bis zum Cellokonzert für Sol Gabetta werden die verschiedenen Aspekte des Schaffens vorgestellt: die Orchester- und Kammermusik mit ihrem seit den 70er Jahren von expressionistischen Grundauffassungen genährten Ausdruckswollen (‚Musik ist Pathos‘) und das ‚work in progres“ mit seinen vielfältigen Fort- und Überschreibungen. Das lebenslange ‘Ringen‘ mit den Stimmen auf der Grundlage freier Atonalität schlug sich insbesondere auch in den medial breit rezipierten musikdramatischen Hauptwerken nieder: Jakob Lenz, Hamletmaschine, Oedipus, Die Erobeerung von Mexico und Dionysos. Im großen Ganzen geht es um den Typus des bis heute ganz und gar auf dem Papier schaffenden und zugleich prall lebenden Tonkünstlers – vorm Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklung in der alten Bundesrepublik und in den seit deren Ende vergangenen drei Jahrzehnten.“
Reininghaus hat mit seiner kenntnisreichen Studie eine brilliante Rihm-Monographie vorgelegt, die auf Selbstauskünften Rihms, seinen Anmerkungen zu den eigenen Musikanschauungen und Werken sowie „seinen gelegentlichen Polemiken“ basiert.
Als Quellen dienten Reininghaus (einer der renommiertesten Musik-Journalisten Deutschlands) zahlreiche eigene Rundfunkbeiträge sowie Zeitungs- und Zeitschriften-Texte, die der Autor zu einzelnen Arbeiten und Aspekten des Schaffens von Rihm in vier Jahrzehnten veröffentlichte. Eigene Begegnungen und Erfahrungen mit Person und Werk werden in Erinnerung gerufen, auch aus den Briefen Rihms wird zitiert. In erster Linie geht es Reininghaus darum, „sich dem Repräsentativen anzunähern, Polyphonie er Wahrnehmungen, Beschreibungen, und Einschätzungen der Kolleginnen und Kollegen aus Journalismus und Wissenschaft zu sichten, zu bündeln, zu gewichten und zu portionieren. Die Würdigungen und Lobreden, an denen fürwahr kein Mangel ist, ebenso wie ästhetische Bedenken und Einwände.“
Zwar ist unendlich viel über Wolfgang Rihm geschrieben worden, doch die Arbeit von Reininghaus hat ihre Meriten und lohnt die Anschaffung:
Der „Parcours durch Werk und Leben Wolfgang Rihms“ (den mancher Leser möglicherweise als anstrengende Tour de force empfinden wird) ist in sieben chronologische „Zeitfenster“ gegliedert, von 1979 bis zur Gegenwart. Überschrieben sind die Kapitel „Der Volltreffer des Jahrs 1979“, „Rückblende“, „Home de lettre und Mann des Musikbetriebs“, „Gourman, Gourmet und Revoluzzer“, „Aufbruch zum Innersten, allemal entäußert“, „Partielle Grenzüberschreitungen“ und „Dionysisch, höllisch, himmlisch“. Ein aufs Inhaltliche und Wesentliche zielendes Rihm-Panorama, das wichtige Werke erklärt und über den Komponisten und seinen Lebenslauf nicht nur informiert, sondern ihn auch einordnet in seine Zeit und Kultur.
Zahlreiche (rare) Fotos und Abbildungen, Literatur- und Quellenverzeichnis. Personen- aber auch Sachregister machen den nützlichen Wert der mit spitzer Feder und aus aufgeklärt kritischem Geist verfassten Monographie aus. Wer sich mit Wolfgang Rihm befasst, kommt an diesem Buch nicht vorbei. Dieter David Scholz
Rihm: Der Repräsentative; Von Frieder Reininghaus; Königshausen & Neumann; 307 S., ISBN 978-3-8260-7445-5