Moderne Klassik aus Chemnitz

 

Selbst Opernkenner mittleren Alters denken bei Zimmermann allenfalls an Bernd Alois. Jüngeren ist der Dresdner Zimmermann (1943-2021) völlig unbekannt, obwohl seine Oper für zwei Sänger Weiße Rose vermutlich nie von den Kammerbühnen verschwinden wird. Dabei wurde Udo Zimmermann, im Gegensatz zu den in etwa der gleichen Generation angehörenden Kollegen Hanell, Katzer und Kunad, im Osten wie im Westen aufgeführt und darin allenfalls Matthus vergleichbar. Darüber hinaus hatte Zimmermann ab Mitte der 1980er bedeutende Funktionen an der Oper Bonn, an der Leipziger Oper, beim Bayerischen Rundfunk und schließlich an der Deutschen Oper Berlin inne. Und das ist nur ein winziger Teil der Funktionen und Aufgaben, die er übernahm. Der Schuhu und die fliegende Prinzessin ist Zimmermanns vierte Oper nach dem Dresdner Musikhochschul-Auftragswerk Weiße Rose (1968), aus dem sich 20 Jahre später die gleichnamige Kammeroper entwickelte, der so elegant als Ring-Uraufführung bezeichneten Die zweite Entscheidung (1969) und Levins Mühle nach dem gleichnamigen Roman von Johannes Bobrowski (1973). Bereits Levins Mühle erlebte ein halbes Dutzend Inszenierungen in Westdeutschland. In noch stärkerem Maß verzauberte der im Dezember 1976 an der Dresdner Staatsoper uraufgeführte Schuhu das Publikum im Osten wie im Westen.

Bereits 1977 wurde Kurt Horres‘ Darmstädter Inszenierung des Schuhu auch bei den Schwetzinger Festspielen gezeigt, die sich zwei Jahre zuvor für ein anderes Märchen, nämlich Der gestiefelte Kater oder Wie man das Spiel spielt von Günter Bialas eingesetzt hatten. Ebenfalls bei den Schwetzinger Festspielen folgte 1982 als Aufführung der Hamburgischen Staatsoper Die wundersame Schustersfrau. Bis Mitte der 1990er Jahre hatten das Kunstmärchen mit dem Text von Peter Hacks sowie die García Lorca-Adaption anhaltenden Erfolg auf deutschsprachigen Bühnen. Zuletzt hatte Zimmermann 1995 für eine Leipzig-Salzburger Koproduktion eine gekürzte zweistündige Fassung des Schuhu hergestellt, die er im August 1995 im Mozarteum dirigierte. Im Juni 2021 plante die Oper Chemnitz den seltsamen Vogelmenschen nun endlich wieder auf seine Reise nach Coburg-Gotha, Mesopotamien, Tripolis und Holland zu schicken. Leider musste die sicherlich sehenswerte Inszenierung Lorenzo Fioronis auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden. Die im Mai 2021 in der Chemnitzer Stadthalle entstandene Einspielung – die zweite nach der von Peter Gülke 1978 dirigierten Kurzfassung mit den Uraufführungssängern Jürgen Freier und Helga Termer – ist sozusagen der Appetizer dazu (Rondeau 2 CD ROP622829).

Lange Vorrede. Die Aufnahme ist rundum gelungen. Klanglich prägnant und klar, dicht und oftmals suggestiv. Es drängt sich geradezu auf, das Stück häufiger zu spielen. Es beginnt mit der Leierkastenmusik des Blockflöten-Quartetts und dem Bänkelgesang des Erzählers, „Es war ein armer Schneider“, und den Geburtsschreien der Frau, die ein Ei zur Welt bringt, aus dem im kommenden Frühjahr der Schuhu schlüpft. Mit den Wanderungen des Schuh und seinem Aufbruch aus der Vaterstadt wird die Musik farbiger, aufgeregter und zwingender, auch solistisch anspruchsvoller, wie im schönen Hornkonzert, das in der Mitte der zweiten Abteilung während der Reise des Schuhu von Mesopotamien nach Tripolis erklingt. Diego Martin-Etxebarria bringt die auf zwei identisch besetzte Kammerorchester verteilte Komposition zum Schweben und Schwingen und lässt die munter plappernden Instrumentalisten der Robert-Schumann-Philharmonie quasi als Darsteller ins Spiel greifen. Das geistreiche Miteinander aus Märchendarstellung und Kommentar unterstützt die parabelhafte Aussage und die weitgefächerten, heute schon wieder etwas altbacken anmutenden Kompositionsmittel, die Klangverfärbungen- und Verfremdungen, Echo- und Simultaneffekten, barocken Ensemblesätze und Vokalisen, das Singparlando und Zischen und Flüstern des Ensembles illustrieren trefflich die fantastische, hurtig hüpfende Handlung.

Die in 38 Szenen und drei Abteilungen und 136 Minuten erzählte Handlung ist nicht kompliziert, aber ungemein aus- und weitschweifend. Märchenhaft eben. Dass in Chemnitz vier Szenen, die Udo Zimmermann selbst vorgeschlagen hatte, gestrichen wurden, stört nicht. Erzählt werden muss die Handlung nicht. Sie erzählt sich selbst. Denn neben den beiden Titelfiguren wirken zwölf Sänger mit, die in mehrere Rollen schlüpfen und das Märchen auf der Bühne erzählen und kommentieren. Gleichberechtigt neben Andreas Beinhauer als Schuhu und Marie Hänsel als Prinzessin agieren Tatiana Larina, Katharina Baumgarten, Maraike Schröter, Lena Kutzner, Antigone Papoulkas, Sophia Maeno, Philipp Kapeller, Florian Sievers, Reto Raphael Rosin, Magnus Piontek, Till von Orlowsky und André Eckert. Man muss das Ganze sicherlich sehen.  Rolf Fath