.
Die Gretchenfrage für einen Komponisten, zumindest im 19. und frühen 20. Jahrhundert, könnte lauten: Wie hältst du’s denn mit Faust? Gemeint ist natürlich Goethes Tragödie, und vor allem deren 1808 in heutiger Form erschienener erster Teil. Vertonungen gibt es bereits seit Ignaz Walters Oper Doktor Faustus Anno 1797, noch auf dem 1790 veröffentlichten Faust-Fragment basierend. Die heute bekanntesten musikalischen Abhandlungen des Goethe’schen Faust-Stoffes sind gewiss die „dramatische Legende“ La Damnation de Faust von Hector Berlioz (1846), die Szenen aus Goethes Faust von Robert Schumann (1853), die Faust-Symphonie von Franz Liszt sowie die Opern Faust (1859; in Deutschland lange Margarete genannt) von Charles Gounod und Mefistofele von Arrigo Boito (1868). Hinzu treten u. a. Wagners selten aufgeführte Faust-Ouvertüre (1840) und Mahlers kantatenartige Sinfonie Nr. 8 (1910), die sogenannte Sinfonie der Tausend, deren zweiter Teil die Schlussszene von Faust II vertont. Und manche weitere Komponisten (wie Ludwig Spohr 1813/1852) mehr. Erstaunlich erscheint, dass eine genuine deutsche Oper, auf diesem Stoff basierend, fehlt (Faust von Spohr, uraufgeführt 1816, beruht auf Vorlagen von Friedrich Maximilian von Klinger und Heinrich von Kleist). Die bekanntesten Bühnenadaptionen kommen von „Ausländern“. In diesem Zusammenhang sollte es einen also gar nicht so wundernehmen, dass sich auch ein Engländer an den bedeutungsschweren Stoff herangewagt hat.
Havergal Brian (1876-1972) war ein reichlich kurioser Zeitgenosse und wurde die meiste Zeit seines langen Lebens nicht seinem Genie entsprechend gewürdigt. In Dresden (sic), einem Vorort des englischen Longton in Staffordshire geboren, erregte besonders seine gewaltige erste Sinfonie The Gothic, 1927 vollendet, Aufsehen, erfuhr aber bezeichnenderweise ihre eigentliche Uraufführung erst 1961. Es folgten nicht weniger als 31 weitere Sinfonien, aber Brian tummelte sich in praktisch jedem musikalischen Genre. Die meisten seiner fünf Opern entstanden in den 1950er Jahren, darunter auch Faust (1955/56), um den es hier gehen soll. Der damals bereits achtzigjährige Komponist bezeichnete das Werk als A Tragedy in a Prologue and Four Acts. Entsprechend ambitioniert ist es angelegt. Interessanterweise wird auf Deutsch gesungen und bedient sich Brian der Worte Goethes. Das auf solch exklusives Repertoire spezialisierte britische Label Dutton bringt nun in Zusammenarbeit mit der Havergal Brian Society die Weltersteinspielung auf den Markt.
Essentiell ist bei einer solchen Wiederentdeckung das Beiheft, welches labeltypisch exzellent ausfällt. In einer informativen Einführung beschreibt John Pickard die Hintergründe (bedauerlicherweise ohne deutsche Übersetzung). So zitiert er gleich eingangs Havergal Brian, der sich bei seiner Oper vom „Mischmasch“ von Gounod und Berlioz distanziert und betont, dass seine Goethe-Vertonung auch den Prolog im Himmel sowie den Dialog zwischen Schüler und Mephistopheles beinhalte. Überhaupt fällt die Komposition in die Phase des späten „Indian Summer“ Brians, der zwischen 1950 und 1957 vier seiner fünf Opern schrieb. 1954 wurde er auf Betreiben des Dirigenten Sir Adrian Boult endlich von der BBC gewürdigt, die eine Aufführung der achten Sinfonie im Rundfunk übertrug. Boult war es dann auch, der 1966 in Kooperation mit der BBC die professionelle Erstaufführung der Gotischen Sinfonie auf die Beine stellte (erschienen beim Label Testament). Brians gut zweistündige Faust-Oper kehrt zum menschlichen Drama der Originalvorlage von Goethe zurück und befleißigt sich einer Wiedergabetreue und Genauigkeit, die sämtliche anderen Vertonungen weit hinter sich lässt (welche freilich gar nicht erst diesen fast pedantischen Anspruch erhoben haben). Der Respekt des Komponisten vor dem Dichterfürsten geht soweit, dass der Text unverfälscht daherkommt. Gewiss gibt es unvermeidliche Kürzungen, jedoch keine eigenen Hinzufügungen. Was fehlt, sind Auerbachs Keller und die Walpurgisnacht, doch wird der von Brian gewollte Fokus auf die drei Hauptcharaktere Faust, Gretchen und Mephisto dadurch noch verstärkt. Faust und Gretchen erscheinen gleichsam als Kollateralschaden in einem Spiel unsichtbarer Mächte. Der so essentielle himmlische Prolog (17 Minuten), der die eigentlichen Handlungstreiber entlarvt, erhält beinahe die Dimensionen eines eigenen Aktes. Im ersten eigentlichen Aufzug (35 Minuten) geht es um die Beziehung Faustens zu Mephisto, im zweiten Akt (28 Minuten) sodann um Faust und Gretchen und den Verlust von deren Unschuld. Der dritte Aufzug (25 Minuten) setzt sich mit Gretchens Verderben auseinander, der vierte Akt (27 Minuten) behandelt schließlich ihre drohende Hinrichtung, Fausts Versuch, sie zu retten, Mephistos versuchte Vereitelung dessen und die unverhoffte plötzliche Deus ex machina-Erlösung Gretchens. Der hohe intellektuelle Anspruch, den der Autodidakt Brian an seine Oper stellt, wird auch durch die Inklusion der auf den ersten Blick aus dem Rahmen fallenden Szene zwischen Mephistopheles und dem Schüler deutlich, deren komischer Beigeschmack dem Komponisten wichtig war. Indem er die Hexenküche samt der Verabreichung des Zaubertrankes streicht, erhöht Brian auf der anderen Seite die moralische Verantwortung Dr. Faustens an Gretchens Schicksal.
Zur Hebung der Textverständlichkeit bedient sich Brian insgesamt einer recht deklamatorischen Gesangsführung. Sein Faust ist ein Musikdrama im wagnerischen Sinne, trotz des Fehlens eigentlicher Leitmotive, und insgesamt sinfonisch konnotiert. Die Dominanz der drei genannten Hauptfiguren sollte indes nicht verbergen, dass es nicht weniger als ein Dutzend Rollen im Werk gibt, nämlich den Herrgott, den Bösen Geist, den Erdgeist, die drei Erzengel Raphael, Gabriel und Michael, den schon genannten Schüler, Valentin sowie Marthe. Die gesanglichen Anforderungen gerade der Hauptcharaktere sind hoch, fordert Brian doch einen dramatischen Tenor für die Titelfigur und einen ebenso dramatischen Sopran für Gretchen. An Komplexität übertrifft diese allerdings noch Mephisto, der die volle Bandbreite vom aalglatten Charmeur bis zum teuflischen Ränkeschmied abdecken muss. Der Chor schließlich tritt einzig im dritten Akt, dafür aber ganz markerschütternd in Erscheinung, zunächst als Zeugen der Ermordung Valentins durch Faust und sodann in der Dom-Szene mit dem Dies irae bei der Heimsuchung Gretchens durch den Bösen Geist, unterstützt von der Orgel (Organist: Iain Farrington).
Die künstlerische Qualität dieser nunmehrigen Weltpremiere ist hoch zu würdigen und stellt eine überzeugende Wiedergabe des Brian’schen Opus dar. Der Tenor Peter Hoare in der Titelrolle gibt einen sehr jugendlich-stürmischen, geradezu heldischen, vielleicht etwas einfältigen Faust. Rein stimmlich ist er den erheblichen Anforderungen der Partei sehr wohl gewachsen. Darüber verschmerzt man auch den hie und da durchklingenden dezenten Akzent. Die Sopranistin Allison Cook ist mehr Margarete als Gretchen, stimmlich sehr reif, aber eben auch mit der erforderlichen Dramatik ausgestattet, bald himmelhoch jauchzend, bald zu Tode betrübt. David Soar, Bassbariton, drückt dem Erzbösewicht Mephistopheles nachhaltig seinen Stempel auf, verfällt dabei nicht in die Gefahr der Einseitigkeit und vermittelt alle Facetten dieses gewiss vielseitigsten Charakters. Der Mezzosopran von Katie Coventry in der Hosenrolle des Schülers interagiert mit ihm hervorragend. Auch die restliche Besetzung ist mehr als gediegen und unterstreicht den sehr guten Eindruck. Die drei Erzengel, besetzt mit den Tenören William Morgan (Raphael) und Elgan Llyr Thomas (Michael) sowie dem Bassisten Robert Hayward (Gabriel), absolvieren ihren kurzen Auftritt zu Beginn rollendeckend. Der Bassist Simon Bailey übernimmt nicht nur den Herrn im Prolog, sondern tritt später auch als Böser Geist in Erscheinung und ist dabei in der Lage, die Unterschiede herauszuarbeiten. Als imposanter Erdgeist tritt mit David Ireland ein weiterer Bass hinzu. Eine profunde Charakterstudie liefert vor allem der Bariton Nicholas Lester als nicht eben zimperlicher oder feinfühliger Soldat Valentin, Gretchens Bruder, im effektvollen dritten Aufzug. In der kleinen Rolle der Marthe schließlich Clare Presland mit adäquatem Mezzo. Ganz am Schluss in der Minirolle als Stimme von oben die Sopranistin Claire Mitcher. Überhaupt ist das Deutsch der Beteiligten, auch des Chores – der zudem auf Latein agiert –, zu würdigen. Es zeichnet verantwortlich der Chorus of English National Opera (Chorleiter: James Henshaw) sowie das Orchestra of English National Opera unter der mitreißenden Leitung des in Kennerkreisen zurecht hochgeschätzten Martyn Brabbins.
Das Orchester ist von zentraler Bedeutung, somit ganz in der Wagner-Nachfolge stehend. Hie und da ist eine gewisse Nähe zum von Brian geschätzten Mathis der Maler von Paul Hindemith nicht ganz abzustreiten, wie Pickard herausarbeitet, auch wenn Brians Musik ihre unverkennbaren Eigenheiten behält. Der Ritt Faustens und Mephistos auf den schwarzen Zauberpferden gerät zu einem orchestralen Höhepunkt im gesamten Schaffen Havergal Brians, der seinen Faust zudem für sein bestes Werk überhaupt hielt, auch wenn er seine Uraufführung nicht mehr erleben durfte. Klanglich darf die Dutton-Produktion zudem als Offenbarung gelten (Aufnahme: Abbey Road Studio I, London, August 2019; die Orgel und die Windmaschine wurden im April 2021 in St George’s Headstone, Harrow, aufgenommen). Bereits die reine CD-Spur stellt vollauf zufrieden. Zudem handelt es sich um eine hybride SACD, die neben der Stereo-Tonspur auch im Mehrkanal-Verfahren abgespielt werden kann.
Das komplette Libretto im deutschen Original und nebst englischer Übersetzung sowie Kurzbiographien aller beteiligten Solisten und des Dirigenten, alles auf wertigem Papier gedruckt, runden diesen neuen Gipfel in der an Höhepunkten reichen Diskographie von Dutton Epoch ab. Eine nachhaltige Empfehlung ist unabdingbar (Dutton Epoch 2CDLX 7385). Daniel Hauser
Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.