Barockes aus Paris

.

Zwei französische Barockopern, beide aufgenommen in der Pariser Opéra Comique, bringt NAXOS auf DVD heraus. In beiden Live-Aufführungen musiziert das renommierte Ensemble Les Arts Florissants unter Leitung von William Christie. Erstere Produktion – Jean-Baptiste Lullys fünfaktiger Atys – stammt bereits aus dem Jahre 2011 und markiert die Wiederaufnahme der Kreation von 1987 (2.110694-95, 2 DVDs).

Das Libretto von Philippe Quinault führt nach Phrygien in mythischer Zeit. Atys, Günstling des Königs Célénus, wird von dessen Verlobter Sangaride geliebt. Auch die Göttin Cybèle begehrt und ernennt ihn zum Oberpriester. Als sie von seiner Verbindung mit Sangaride erfährt, verwirrt sie ihm die Sinne, so dass er Sangaride für ein Monster hält und sie ersticht. Als er seinen Irrtum bemerkt, tötet er sich selbst.

Regisseur Jean-Marie Villégier hat die Tragédie en musique als barockes Spektakel inszeniert. Françine Lancelot und Béatrice Massin steuerten die Choreografie im höfischen Stil bei, welche die Compagnie Fêtes Galantes mit stilistischer Sachkenntnis umsetzt. Alles wird geadelt von der opulenten Ausstattung – Jean-Marie Villégiers Bühne mit ihren Prospektmalereien und prunkvollen Interieurs sowie Patrice Cauchetiers historischen Kostümen mit ihren kostbaren Stoffen und Dekors.

William Christie breitet mit dem Orchester die Ouverture in ihrem gravitätischen Duktus in aller Pracht aus, später differenziert er angemessen zwischen rhythmischer Verve, majestätischem Pomp und getragenen Passagen. Der Tenor Bernard Richter ist als Titelheld ein barocker Beau. Und schon in seinem Auftritt,  „Allons, allons“, lässt er eine wohllautende Stimme und idiomatische Diktion hören. Im 3. Akt hat er einige Soli („Nous pouvons nous flatter“), in denen er mit besonders schmeichelnden Tönen aufwartet. Die Sopranistin Emmanuelle de Negri verleiht der Sangardide stimmlichen und optischen Liebreiz. Mit „Venez tous dans mon Temple“ hat Stéphanie d’Oustrac am Ende des 1. Aktes einen autoritären Auftritt als Göttin Cybèle in schwarzer Robe und silbernem Strahlenkranz als Kopfputz. Der Mezzo der Sängerin tönt streng und herrscherlich, bewegt sich aber kompetent in barocken Bahnen. Nach Atys’ Selbstmord hat sie eine tragische Schluss-Szene („Venez, furieux Corybantes“) im deklamatorischen Stil, in der sie Atys in einen heiligen, immergrünen Pinienzweig verwandelt. Eine ausgedehnte Szene im 3. Akt hat der im barocken Repertoire erfahrene Tenor Paul Agnew als Dieu de Sommeil. Von Musikanten auf der Bühne begleitet, singt er sein „Dormons, dormons tous“ mit schwebenden Tönen und zärtlicher Empfindung. Der Solotänzer Gil Isoart von der Opéra national de Paris krönt die Szene mit seinem aristokratischen Tanz. Auch das Finale, die Première entrée des Corybantes, wird neben dem Chor dominiert von den Tänzern zu stürmischen Klängen der Musik.

Die zweite Veröffentlichung – von Jean-Joseph Cassanéa de Mondonville – entstand im Januar 2021 während der Pandemie in der Pariser Opéra Comique und wurde daher ohne Zuschauer gefilmt (2.110693). Diese Pastorale héroïque ist eine veritable Rarität auf dem Plattenmarkt. Basil Twist hat sie inszeniert und ausgestattet, darüber hinaus noch die Puppen gestaltet. Nach der opulenten Pracht des Atys nimmt sich das Bühnenbild hier aus wie aus dem Legobaustein-Setzkasten, garniert mit kunstgewerblichen Schleiern vom Schnürboden. Die Kostüme aber sind im historischen Stil, üppig verziert und aus glänzenden Stoffen.

Gezeigt wird die stürmische und unzerbrechliche Liaison zwischen der Göttin Aurora und ihrem Geliebten, dem Schäfer Titon. Eifersüchtige Götter und Göttinnen versuchen mit mörderischen Absichten und dramatischer Entführung die Verbindung zu stören – doch die wahre Liebe siegt. Traditionell beginnt die Aufführung mit einem Prologue, in welchem Prométhéé (der Bassbariton Renato Dolcini) mittels des Feuers leblose Statuen zum Leben erweckt. Er singt das AirEsprits soumis à mon empire“ mit vehementem Nachdruck und das Orchester untermalt den Vorgang mit dem wilden Air pour les Esprits du feu. Amour, personifiziert durch Julie Roset, die wie ein Octavian erscheint, gratuliert ihm zu seiner Tat. Ihr Sopran klingt im Ton etwas steif, die Ariette „Jeunes mortels“ jedoch munter.

Zu Beginn des 1. Aktes treten die beiden Titelrollenträger auf. Der Tenor Reinoud van Mechelen als Titon stellt sich mit dem Air „Que l’Aurore tarde à paraître“ vor, lässt neben lyrischem Wohllaut auch angespannte Töne hören. Die Sopranistin Gwendoline Blondeel als Aurore im golden glitzernden Kleid beginnt mit dem Air „Je n’aime, je ne vois“, in welchem sie auch keifenden Klang nicht scheut. Lieblicher ertönt ihre Ariette „Venez sous ce riant feuillage“. Putzig illustrieren kleine Wollschäfchen den Hymnus des Chores „Célébrons l’Amour et l’Aurore“. Von stampfender, lustvoller Freude erfüllt ist die Contredanse, die den Auftritt von Éole, dem Gott der Winde, der Aurore begehrt, einleitet. Der Bassbariton Marc Mauillon in einem spektakulären Gewand aus wehenden Flügeln singt ihn mit rabiater Tongebung und vehementem Einsatz. Furios ist sein rasendes Air mit Chor im 2. Akt („Vents furieux“), dem das Orchester das tobende Air pour les vents nachschickt. Palès, die Göttin der Hirten, erscheint mit einem Widdergespann wie Fricka und verweigert Éole ihre Mithilfe, seinen Rivalen Titon zu töten, will ihn aus Eigennutz stattdessen entführen. Mit Emmanuelle de Negri begegnet man der Sangaride aus dem Atys wieder, stimmlich nun strenger und deutlich gereift. In ihrem Air des 2. Aktes, „Berger, je connais vos malheurs“, kann sie aber noch immer mit zarten Klängen aufwarten. Schließlich verfällt sie wieder in rasende Wut, wenn Titon ihre Liebe zurückweist. Das Air „Tu vas sentir les effets de ma rage!“ ist ein großer tragischer Auftritt. Naiven Märchenzauber bietet optisch die Szene von Palès’ drei Nymphen (die Sopranistinnen Virginie Thomas, Maud Gnidzaz und Juliette Perret mit munterem Gesang), welche das Orchester mit graziösen Klängen ausmalt. Und zur Contredanse schweben und wirbeln die Schafe sogar in der Luft. Am Ende jubilieren Titan und Aurore in ihrem Duo „De deux parfaits amants“ über den glücklichen Ausgang. Und der Chor stimmt machtvoll ein mit „Chantons la gloire“.

Christie gelingt musikalisch ein wahres Fest für die Sinne. Der Dirigent kehrte nach sechsjähriger Abwesenheit an das Pariser Opernhaus zurück und bietet mit seinem Ensemble eine vitale Interpretation voller Energie und Esprit. So unterschiedlich die beiden Ausgaben sein mögen – William Christie ist in beiden der wahre maître. Bernd Hoppe