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Der Bariton Benjamin Appel hat seine erste Winterreise auf CD vorgelegt. Sie wurde im Oktober 2021 in der Kirche des Heiligen Silas der Märtyrer in Kentish Town, London, aufgenommen und ist nun bei Alpha Classics erschienen (ALPHA 854). Im Juni wird der in Regensburg geborene Sänger vierzig. Das richtige Alter für den Liederzyklus, den er aber schon live gesungen hat. Ein Tonträger, den man kaufen und aufheben kann, ist im Vergleich zum flüchtigen Konzert beständig. Was darauf festgehalten ist, lässt sich nicht mehr korrigieren oder verändern wie die Darbietung beim nächsten Auftritt. Sie hängt einem Interpreten auch an, legt ihn auf eine gewissermaßen auf etwas fest. Bis zu einer neuen Einspielungen desselben Werkes. Dietrich Fischer-Dieskau, dessen letzter Schüler Appl gewesen ist, stand erst im dreiundzwanzigsten Lebensjahr, als er seine 1948 seine erste Winterreise beim Rundfunk in Berlin aufnahm. Und die war so schlecht nicht. Nie dürfte er freier und natürlicher gesungen haben. Es sollten noch viele Winterreisen-Aufnahmen folgen. Firmen und Rundfunkanstalten meinten es gut mit ihm. Sein Intellekt, seine Bildung und eigene Forschungen versetzten ihn in die Lage, nach immer neuen Ansätzen suchen zu können. Appel dürfte er noch einiges mit auf den Weg gegeben haben.
Auch er hat das Werk nicht nur musikalisch studiert. Er hat sich auch viele inhaltliche Gedanken darüber gemacht. Schließlich will er sein Publikum, das ein anderes ist als zu Fischer-Dieskaus Zeiten erreichen mit Liedern, die vor fast zweihundert Jahren entstanden. Ein eigenen Beitrag im Booklet wirft interessante Frage auf: Dass die Winterreise mit dem Leiermann kein wirkliches Ende hat, empfindet Appl als „großes Geschenk“. Der Wanderer erhalte keine Antwort auf seine letzte Frage („Wunderlicher Alter / Soll ich mit dir gehen? / Willst zu meinen Liedern / Deine Leier drehn?“). „So kann man sich ein Leben lang auf diese musikalische, intellektuelle und emotionale Reise des An-Sich-Selbst-Wachsens begeben, heute an dieser Wegmarke einen anderen Pfad einschlagen als beim letzten Mal. Andere Künstler werden vielleicht ganz andere Abzweigungen nehmen. Und keiner von uns wird jemals am Ziel ankommen.“ Dieses Werk behalte seine Faszination gerade durch diesen Irrgarten der Wege, so wie das Leben selbst.
Appl beginnt seinen Vortrag verhalten, fast verträumt. So, als wolle er, der Fremde, um keinen Preis der Welt schon wieder ausziehen, nachdem er gerade eingezogen ist. Er muss aber hinaus in die Nacht. Es bleib völlig unklar, wie die Geschichte ausgeht, wo die Reise endet, nachdem sich die Tür sacht geschlossen hat. Er singt nicht am Anfang schon das Ende mit. Die spruchwörtliche Hoffnung stirbt nicht einmal am Schluss, weil er ja auf den Leiermann trifft. Unmerklich stellt sich als stimmlicher Begleiter ein gewisser Sarkasmus ein, der nichts Gutes ahnen lässt. Die Grundstimmung aber versinkt nicht in Verbitterung und Ausweglosigkeit. Allgegenwärtig ist sogar Neugierde auf das zu spüren, was als nächstes kommt. Das Zusammenspiel mit dem Pianisten James Baillieu gelingt vorzüglich. Beide folgen einer feinsinnigen Dramaturgie. Baillieu ist nicht nur musikalischer Begleiter. Er ist selbst Interpret. Seine Akzente können einen gedanklichen Ausdruck vertiefen oder ihn sogar hinterfragen – und Stimmungen erzeugen, zu denen die menschliche Stimme nicht in der Lage ist. Benjamin Appl hat mit dieser Winterreise an Profil gewonnen. Er singt einheitlicher, nimmt sich alle Zeit, die es braucht, etwas erschöpfend auszuformen. Mitunter werden mutig Grenzen zum Sprechgesang gestreift. Jedes Wort ist zu verstehen. Dramatische Momente klingen nicht mehr ganz so angestrengt. Es bleibt immer noch Luft nach oben. Alles in allem ist diese Aufnahme eine willkommene Bereicherung der sehr umfangreichen Diskographie dieses Zyklus (30.01.22). Rüdiger Winter