.
Ihr neues Album mit zwei CDs bei ERATO hat Christina Pluhar Alla napoletana genannt (0190296603617). Die Hommage an die Stadt am Vesuv, die im 17. und 18. Jahrhundert eine europäische Hauptstadt der Musik war, enthält Tarantellas, Cantatas, Arias und canzone napoletane. Die Aufnahmen entstanden im März 2021 in Paris während der Pandemie und sind ein Zeugnis des unbedingten Willens aller Künstler, gemeinsam zu musizieren.
Natürlich ist das von Pluhar gegründete Ensemble L’ARPEGGIATA mit am Werk, dazu eine Reihe von Gesangssolisten, von denen man vor allem den Countertenor Valer Sabadus kennt und sein schmeichelndes Timbre sofort heraushört. Er singt von Pietro Andrea Ziani die Canzone „Dormite o pupille“ mit betörend schwebenden Tönen und ist auch in einigen Ensembles von Cristoforo Caresana zu hören: „La Tarantella“, „La Veglia“ und „La Pastorale“. Ein Kabinettstück bietet er gemeinsam mit der Sopranistin Céline Scheen in Pietro Antonio Giramos „Chi vidde più lieto“, in dem gekichert, gestöhnt, gehaucht und geseufzt wird. Später sind sie noch in Luigi Rossis „Che più far degg’io“ zu hören, das in seinem lamentierenden Duktus in eine ganz andere Welt führt. Auch der Sopranist Bruno de Sá hat sich längst in der Elite der Alte-Musik-Interpreten etabliert. Er stellt sich mit Giovanni Legrenzis Canzone „Con cent’occhi“ vor und meistert dabei die extreme Tessitura souverän. In Sigismondo d’Indias „Sfere fermate“ spielt er gekonnt mit den Tönen und klettert gleichfalls in denkbar höchste Regionen. Auch die Mezzosopranistin Luciana Mancini ist keine Unbekannte. Von Pietro Antonio Giramo interpretiert sie die kapriziöse Canzone „La Pazza“ mit reichem Farb- und Ausdrucksspektrum, von Cristoforo Caresana „Basti, sospenda il ballo“. Dagegen sind der Altus Vincenzo Capezzuto, die Tenöre Alessandro Giangrande und Zachary Wilder sowie der Bassist Joao Fernandes hierzulande weniger prominent, können sich aber neben den etablierten Künstlern souverän behaupten.
Das Programm reißt die Grenzen zwischen Kunst- und Volksmusik, zwischen profanen und geistlichen Kompositionen auf. Viele Elemente der Musik stammen aus der commedia dell’arte, bemerkenswert ist die Vermischung von italienischem und neapolitanischem Dialekt. Zu erwähnen sind auch die humoristischen Lautmalereien, wie man sie in den Tarantellas „Lo Guarracino“ und „A la fiera de Mast’André“ findet. Erstere interpretiert der Altus Vincenzo Capezzuto mit androgyner Stimme und eröffnet damit das Programm. Die Komposition ist von ausgelassener Stimmung und ein lustvoller Einstieg. Später singt er noch das träumerische „Dicitencelle vuje!“ von Rodolfo Falvo, wo die Individualität zwischen männlicher und weiblicher Stimme noch mehr verschwimmt, wie es auch bei dem Volkslied „Raziella“ aus dem 18. Jahrhundert zu vernehmen ist. In der zweiten Tatarantella ist der Tenor Alessandro Giangrande zu hören. Sein Vortrag ist so plastisch, dass man sich beinahe auf einem Markt glaubt, wo der Verkäufer für seine Produkte wirbt. Von den insgesamt acht mitwirkenden Sängern sind sechs bei „La Tarantella“ von Cristoforo Caresana vertreten – eine übermütige Komposition aus dem Jahre 1675 in stampfendem, mitreißendem Rhythmus. Ähnlich überwältigend sind die Cantata a 6 voci „La Veglia“, mir der die zweite CD übermütig beginnt, und das siebenstimmige „Gioca al ombre“ . Sonore tiefe Töne als willkommenen Kontrast zu den hohen Stimmen bringt der Bassist Joao Fernandes mit „Dormi o ninno“ und „Il Pazzo“ ein. In letzterem werden die Grenzen des Gesangs aufgehoben zugunsten lautmalerischer Geräusche. Capezzuto setzt den Schlusspunkt mit dem populären Volkslied „Fenesta che lucive“, das in seiner Melancholie nichts daran ändern kann, dass dieses Album ein Stimmungsaufheller und Heilmittel gegen alle Depressionen ist. Bernd Hoppe