Gesänge aus der neuen Heimat

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Lieder im Exil ist der Untertitel dieses an Fundstücken reichen Recitals. Konkret handelt es sich dabei um Lieder aus dem Exil von (überwiegend nach Palästina) geflüchteten jüdischen Komponisten. Sie sind zum größten Teil in hebräischer Sprache geschrieben und werden hier erstmals in deutscher Übersetzung präsentiert. Die stammt von der heute 95jährigen Dichterin Dagmar Nick (Tochter von Edmund Nick), die vier Jahre in Israel gelebt hat und im ausführlichen Booklet-Text auch wichtige historische Hintergrund-Informationen zu den Liedern gibt.

Als feste Bezugsgrößen sind Paul Dessau mit drei und Kurt Weill mit einem Titel in der Sammlung vertreten, doch in den anderen Fällen betritt der Hörer wohl Neuland. Weder Paul Ben-Haim noch Alexander Boskovich sind im Bewusstsein der Musikfreunde gespeichert, und Stefan Wolpe war jedenfalls mir auch nur namentlich ein Begriff. Und wenn man nach dem Hören mit dem Eindruck zurückbleibt, da bislang durchaus etwas verpasst zu haben, dann ist das auch das Verdienst der künstlerisch sehr eloquenten Interpreten, der Mezzosopranistin Constance Heller und des Pianisten Gerold Huber. Bei ihnen hat man in keinem Moment den Eindruck, dass sie lediglich eine Nische entdeckt haben oder einer Wiedergutmachungs-Pflicht nachkommen wollten, sie sind offenbar von der Qualität der Kompositionen überzeugt und überzeugen damit auch den Hörer.

Paul Ben-Haim (1897-1984), als Paul Frankenburger in München geboren, wo er an der Akademie der Tonkunst Komposition studierte, wanderte nach Verlust seiner Kapellmeisterstelle am Augsburger Stadttheater und anhaltenden antisemitischen Anfeindungen 1933 nach Palästina aus. Dort tauchte er in eine andere Kultur ein, lernte eine neue Sprache und erhielt einen neuen Namen: Ben-Haim (=Sohn des Lebens). Erst 1937 begann er wieder mit dem Komponieren, wobei er nach einer Synthese westlicher und östlicher Musikstile suchte. Sephardische, jemenitische, bucharische und persische Volksweisen liegen den 5 Melodien aus dem Nahen Osten (1941-45) zugrunde. Der Zyklus A Star fell down (1969/70) basiert auf drei Gedichten des mit 20 Jahren gefallenen israelischen Dichters Matti Katz. Den 23. Psalm Der gute Hirte („Der Herr ist mein Hirte“), den wir in Vertonungen von Schütz, Bach und Schubert kennen, vertonte er 1939 als Dank für das gerettete Leben „im Angesicht meiner Feinde“.

Wir begegnen ihm gleich noch einmal in der Version von Alexander Uriah Boskovich (1907-1964), der ihn aus demselben Grund zum Sujet wählte. Der aus Siebenbürgen stammende, in Wien und später in Paris bei Paul Dukas, Alfred Cortot und Nadia Boulanger ausgebildete Komponist leitete in seiner Heimatstadt Klausenburg (heute Cluj) das Opernhaus, gründete mit dem Goldmark-Orchester ein jüdisches Instrumental-Ensemble und kam 1938 nach Palästina, wo er als Lehrer am Konservatorium von Tel-Aviv unterrichtete. Sein Stil zeigt französische Einflüsse, aber speist sich wie bei Ben-Haim auch aus der jüdischen Volksmusik, die sich hier mit einem heimatlichen siebenbürgischen Idiom verbindet.

Dagmar Nick gibt in ihrem Textbeitrag einen kleinen historischen Leitfaden für die Lieder der ersten Pioniere, die vor allem aus den Ländern Osteuropas nach Palästina kamen und von zuhause die Volksweisen mitbrachten, die sie als Kinder gehört hatten. Diese Weisen waren Inspirationsquellen für viele Komponisten im Exil, auch wenn sie sich nicht in Palästina niederließen wie Dessau und Weill. Der Berliner Stefan Wolpe (1902-1972) hingegen, der auf Umwegen 1933 nach Palästina kam, hat das Leben der Pioniere noch selbst erlebt. Er zeigt sich in den zehn hier aufgenommenen Liedern als eine sehr komplexe Musikerpersönlichkeit, der einerseits seine Wurzeln in der Volksmusik suchte, andererseits schon seit den 20er Jahren an der Avantgarde teilhatte und sich – als zeitweiliger Schüler von Anton Webern – auch in der Zwölftonmusik versuchte.

Darüber hinaus war er ein politisch sehr engagierter und wacher Mensch, von seiner Gedankenwelt her Sozialist und Pazifist. Ein antikapitalistischer Furor zeigt sich in Auf ein Wandbild von Diego Rivera (aus: Sechs Lieder aus dem Hebräischen) und Wehe den Mächtigen auf einen Text des alttestamentarischen Propheten Micha. In Isaiah folgt er Jesajas Vision einer besseren Welt, eines neu geschaffenen Himmels, in dem Wolf und Lamm einträchtig miteinander leben und es kein Unheil und keine Zerstörung mehr geben wird. Seine Vertonung von Erich Kästners satirischer Fantasie von übermorgen, die dem Album den Titel gibt, entstand schon vor der Emigration kurz nach der Veröffentlichung des Gedichts im Jahre 1929. Das Thema Frieden wird in Albert Einsteins Rede Zum Frieden im Atomzeitalter in aktualisierter Form wieder aufgegriffen. Es gelingt Wolpe dabei, die Intensität des Textes durch die musikalische Ausgestaltung noch zu steigern.

Das Klavier spielt in Wolpes Liedern eine bedeutendere Rolle als in den übrigen Beiträgen des Albums, der Komponist hatte auch als Pianist einen guten Namen, der Kritiker Stuckenschmidt rühmte ihm gar „zyklopische Kraft“ nach. Daran dürfte sich auch Gerold Huber orientiert haben, der hier in mitreißender Weise in die Vollen geht. Und Constance Heller, deren klangvoller und geschmeidiger Mezzo schon vorher zu schöner Wirkung kam, gewinnt hier noch einiges an Ausdruckskraft und Farben hinzu (Solo musica SM 356). Ekkehard Pluta