Beeindruckende Rückschau

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Diese Edition ist in mehrfacher Hinsicht gewichtig. Sie dokumentiert die sehr erfolgreiche und (auch international) viel beachtete Zusammenarbeit des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks (BRSO) mit Mariss Jansons, seinem Chefdirigenten von 2003 bis 2019. Es war charakteristisch für diesen Dirigenten, dass er mit einigen, wenigen bedeutenden Orchestern zusammenarbeitete und diesen die Treue hielt. 2003 gab er, um sich ganz auf die Arbeit mit dem BRSO zu konzentrieren, die Leitung des Concertgebouw-Orchesters ab. Trotz fragiler Gesundheit schonte sich Jansons nur wenig. Sein Einsatz für die Musik war total und für ihn buchstäblich erschöpfend.

Die äußerlich an Schallplattenkassetten früherer Jahre erinnernde Box hat schon rein physisch Gewicht mit ihren 2,6 KG. Die Discs sind in vier Kunststoff-Fächern untergebracht. Das zweisprachige 72-seitige Begleitheft mit vielen Fotos enthält ein Interview mit Jansons, Informationen, Textbeiträge, Würdigungen von Thomas Hampson und Simon Rattle sowie ausführliche Angaben zu den einzelnen Discs (Aufnahmedaten, Tracklisting etc.), die man sich leider auf den einzelnen Discs gespart hat. Die Box ist etwas unhandlich, der Zugriff zu ihrem Inhalt mindestens umständlich. Sie passt in keinen der üblichen Aufbewahrungsorte für moderne Tonträger, sondern am ehesten in ein Platten- oder Bücherregal. Das und die doch etwas altmodische Gestaltung schmälern indes nicht die Bedeutung des Inhalts. Denn in einer Zeit oft lieblos zusammen­geschusterter Sammlun­gen ist diese Edition ein Ausnahmefall.

Neben bereits erschienenen Aufnahmen enthält die Box neun Erstveröffentlichungen: Bruckners Messe Nr. 3, die Symphonien Nr. 3, 4, 6 und 8 von Mahler, Mozarts Requiem, Arvo Pärts Berliner Messe, Poulencs Stabat mater sowie das Konzert für Klavier, Trompete und Streichorchester und die Symphonie Nr. 9 von Schostakowitsch. Erstmalig auf CD erschienen Jansons Interpretationen von Tschai­kowskys Ouvertüre Romeo und Julia und Strawinskys Feuervogel. Drei Probenmitschnitte von Mariss Jansons mit dem BRSO machen deutlich, wie genau und bis ins kleinste Detail Jansons probte, wie er mit den Musikerinnen und Musikern am Klang feilte – und nicht zuletzt, wie sehr diese Zusammenarbeit von Respekt, Verständnis und partner­schaftlichem Geist geprägt war.

Jansons kam 2003 mit 60 Jahren zu dem nur wenige Jahre jüngeren, Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. 1949 gegründet, von seinen ersten Dirigenten Eugen Jochum und vor allem Rafael Kubelik entscheidend geprägt, spielte es da längst in der Spitzenliga der deutschen und europäischen Orchester. Gegenüber traditionellen Symphonieorchestern hat es – auch aufgrund seiner Funktion als „Klangkörper“ des Bayerischen Rundfunks – den Vorteil, stilistisch sehr vielseitig und erfahren zu sein. So gehörte die zeitgenössische Musik schon immer zu seinem festen Repertoirebestand.

Die vorliegende Edition lässt neben dem breiten Repertoire die Spezifität und die Besonderheiten des BRSO erfahren. Sie gibt zugleich Auskunft über die Schwerpunkte und Vorlieben von Mariss Jansons. Da sind zunächst die Werke, die gleichsam zum „eisernen“ Bestand eines jeden Orchesters gehören. Jedes Orchester will seinen Beethoven, Brahms, Bruckner und Mahler aufführen. Beethovens Symphonien sind in spannenden, klanglich sehr fein ausbalancierten Interpretationen zu erleben. Der volle, ja „luxuriöse“ Klang wurde nicht nur gelobt, Jansons Klangästhetik sogar als „angestaubt“ bezeichnet. Sicher folgt Jansons hier nicht dem Weg der historischen Aufführungspraxis eines Hogwood, Gardiner oder Norrington, sondern wandelt eher auf den Spuren der Traditionalisten. Warum auch nicht? Und das ist keinesfalls angestaubt. Man höre nur einmal exemplarisch die Erste Symphonie: Wie lebendig, ausdrucksvoll, spannend wird hier doch musiziert? Man versteht, wieso zeitgenössische Kritiker diese Musik als „ergreifend modern“ empfanden.

Jansons‘ Brahms ist zunächst einmal streng und diszipliniert – kein Wunder, wenn man bedenkt, wie schwer sich der Komponist mit der symphonischen Form tat –, oft herb und introvertiert. Immer deutlich ist die Faktur und Struktur des Ganzen. Allerdings kommen Leidenschaft und Sinnlichkeit, die man doch auch in den Brahms-Symphonien findet, ein wenig zu kurz.

Von den neun Symphonien, die Anton Bruckner komponierte, liegen hier sechs vor; es fehlen nur die ersten beiden und die fünfte. Bruckner hatte Jansons zwar auch schon bei seinen Orchestern in Oslo und Pittsburgh dirigiert, doch die intensivsten Erfahrungen mit dieser Musik machte er erst beim Concert­gebouw Orkest in Amsterdam und dem BRSO. Noch 2014, als er mit den Münchnern die Neunte Symphonie einstudierte, meinte er, eine neue Stufe erreicht und das Gefühl gewonnen zu haben, sein Geist sei mit dieser Musik völlig eins. Tatsächlich wirken die Interpretationen der Symphonien Nr. 3, 4, 6 und 7 noch wie Vorstufen zum späteren Bruckner. Am Ziel ist Jansons mit der Achten und noch mehr der Neunten. Dieses unvollendete Werk wird getragen, feierlich, aber eben auch drängend musiziert, jedoch nie zelebriert oder quasi sakral erhöht.

Bei Mahler neigte Jansons weder zu über-gefühlsmäßigen, sentimentalen, gar extrovertierten Darstellungen, noch zum peniblen, satztechnisch präzisen Ausführen der Partituren. Mahlers Symphonien waren für ihn keine Seelendramen oder Exzesse, bei allen Novitäten und Eigentümlichkeiten eher noch klassische Symphonien mit einer extrem breiten Palette an Klängen und Stimmungen, zart und aufrauschend, innehaltend und dreinfahrend, wo nötig hymnisch. Das ist fast immer klanglich sehr ausbalanciert, ungemein detailliert ohne sich im Detail zu verlieren, aber auch ergreifend. Als exemplarisch kann die Interpretation der Dritten gelten: Anhand einer Symphonie ist zu erfahren, was die Welt Mahler erzählte und was er wiederum der Welt mit seiner Musik erzählte. Das ist immer spannend, dramaturgisch raffiniert und mit großem Atem erzählt bis zum ungewöhnlich lange ausgehaltenen Schluss. Sehr beeindruckend auch die Vierte Symphonie mit Wunderhorn-Ton und Atmosphäre, faszinierend die Sechste, ohne jede (vordergründige) Tragik, spannend vom ersten bis zum letzten Takt, mit einem buchstäblich atemberaubend-drängenden und furiosen Finale.

Die Symphonien von Dmitri Schostakowitsch konnte Jansons so unvergleichlich und suggestiv wie kaum ein anderer interpretieren. Sicher kamen da die Erfahrungen mit Unfreiheit und Diktatur in der Sowjetunion zum Tragen, die der Komponist und auch Jansons in unterschiedlicher Weise machen mussten. Doch verstand Jansons die Symphonien nicht als agitatorisch-programmatische Werke, sondern immer als klassische Kompositionen. Seine Interpretationen zeigen verschiedene Facetten, auch Seelenzustände ihres Verfassers und wie raffiniert Schostakowitsch komponieren konnte. Jansons bringt das mit dem BRSO meisterhaft zur Geltung: in der vielleicht am meisten unterschätzten, teils irritierende Sechste Symphonie mit ihrer disparaten Struktur und dem grotesken Finale; in der Neunten, die als intelligente und witzige Parodie auf die meisten bedeutungsschweren Neunten Symphonien von Beethoven bis Mahler präsentiert wird; in der Fünften, die im Gegensatz zu den sowjetischen Zuschreibungen oder Deutungen so gar nichts von Jubel und Affirmation hat. Selbst die Siebte, „Leningrad“, kann man, wie Jansons zeigt, ganz ohne ihren programmatischen Charakter als Werk der absoluten Musik verstehen. Die Zehnte erscheint, wie in kaum einer anderen Interpretation, als wohl klassischste Schostakowitsch-Symphonie. Exemplarisch bewäh­ren sich Jansons Tugenden: Detailgenauigkeit, Klarheit, weite dyna­mische und agogische Spanne. Selbst da, wo die Phonstärken beachtlich sind, wird nie brutal oder vulgär musiziert. Schließlich fehlt diesen Interpretationen jedes Pathos und jede Larmoyanz.

Jansons hatte auch ein Faible für Richard Strauss – sicher wegen der überaus virtuosen Instrumentation und der Farben des Orchesters, der klanglichen Raffinesse, der Steigerungen und der Kontraste. Doch Jansons‘ Strauss ist anders, als wir ihn zumeist zu hören bekommen. Strauss lässt eben nicht nur die Muskeln spielen, neigt nicht nur sehr häufig zur Übertreibung, jagt die Musik nicht von einem Exzess zum nächsten. Gerade die Werke, die uns im Konzertsaal häufig zu überrollen drohen – die Alpensymphonie, Also sprach Zarathustra, Ein Heldenleben –, sind hier in ungewohnter klanglicher Beleuchtung zu hören. Man bewundert gleichermaßen Jansons Kunst der musikalischen Regie wie die atemberaubenden Fähigkeiten der Musiker/innen des Orchesters – auch bei der Herausarbeitung der Subtilitäten.

Russische Komponisten spielen eine, doch nicht entscheidende Rolle in der Edition: Tschaikowskys Symphonien Nr. 5 und Nr. 6 (frei von Klischee und falschem Gefühl), seine Oper Pique Dame, Strawinskys Ballettmusiken Petruschka, Feuervogel, Le Sacre du printemps und die spröde Psalmensymphonie. Die symphonischen Tänze von Rachmaninow erfahren eine Deutung als Spätwerk mit deutlich melancholischen Tönen.

Zu Jansons Repertoire gehörten einige klassische Werke geistlicher Musik. In dieser Edition wird der Bogen gespannt von Mozart und Haydn über Dvořák, Bruckner, Verdi bis zu Poulenc, Rihm und Pärt. Dabei machen die liturgisch geprägte Berliner Messe von Arvo Pärt, Wolfgang Rihms teils sehr expressive Requiem-Strophen (in denen die Verse zeitgenössischer Autoren zu den Texten der klassischen Totenmesse in Beziehung gesetzt werden), sowie Poulencs Stabat Mater (als starkes Zeugnis der Rückkehr des Komponisten zum katholischen Glauben) besonders gute Figur. In Verdis Messa da Requiem findet Jansons zwar die Balance zwischen Einfachheit und Erhabenheit, Ernst und Theatralik. Die Schönheit und der Affektgehalt dieser oft „weltlichen“ Totenmesse kommen gut zum Ausdruck – vokal wie instrumental. Leider entgehen die Solist*innen nicht der Gefahr opernhafter Darstellung. Das großdimensionierte, erzählende wie reflektierende War Requiem von Britten erfährt demgegenüber eine ideale Aufführung, auch dank der großartigen Solisten Mark Padmore und Christian Gerhaher.

Auf einer CD werden zwei Erneuerer der Musik aus zwei Epochen präsentiert: Berlioz mit der Symphonie fantastique, Varèse mit Ionisation; beide in klanglich ausgefeilter, raffinierter Inszenierung. Dvořáks Achte sowie die selten zu hörende Streicherserenade von Josef Súk sind der Tribut an die tschechische Musik. Witold Lutoslawskis Konzert für Orchester wird exemplarisch aufgeführt. Hier erfüllt sich der Begriff der Gattung dank des virtuosen, spielfreudigen Orchesters und seiner brillanten Solisten wie selten sonst.

Zu seinem 60-jährigen Bestehen spielte das BRSO Arnold Schönbergs Gurre-Lieder, eine wegen ihres großen Aufwands nur selten aufgeführte Komposition: episch, ganz im spätromantischen Ton, mit wunderbar aufrauschendem, opulenten Klang, schwelgerisch, aber nicht schwülstig. Wagner und Mahler wehen herüber. Jansons steuert die Aufführung klug disponiert und leidenschaftlich.

Die Edition enthält auch Rhapsodien von Chabrier, Gershwin, Enescu, Ravel, Liszt (eine Art klingender Musikethnologie), Szymanowskis orientalisch beeinflusste Symphonie Nr. 3, Entbehrliches aus russischer Feder (Alexander Tschaikowskys Symphonie für Orchester, Chor und Solobratsche und die populäre „Carmen“-Suite von Rodion Schtschedrin), Saint-Saens Orgelsymphonie und Poulencs eigenwilliges Konzert für Orgel, Streicher und Pauken, Mussorgsky/Ravels Bilder einer Ausstellung (mit viel Gespür für die klanglichen Besonderheiten), Respighis Pini di Roma sowie Werke von Sibelius (darunter die Zweite Symphonie). Von Haydns Symphonien, die Jansons sehr schätzte und bei Gastspielen oft aufs Programm setzte, sind die frühe Nr. 7 und die späte Nr. 88 vertreten. Mozartsche Symphonien fehlen dagegen völlig. Dafür gibt es Schumanns Erste (sehr animiert) und die Symphonien Nr. 3 und Nr. 8 C-Dur als Beispiele des ganz jungen und des reifen Schubert.

Insgesamt ist die Box ein Kompendium, für das man sich Zeit nehmen sollte, um es ganz genießen zu können. Die Konzertmitschnitte sind ein schönes und eindrucksvolles Vermächtnis. Mariss Jansons bleibt als bescheidener, uneitler, der Sache der Musik dienender Dirigent, als Menschenfreund und Partner derer mit denen er arbeitete, in Erinnerung –nicht als Star oder Pultvirtuose. Er war ein unermüdlich an seinen Interpretationen feilender Künstler, dem Routine fremd war. Wie sein Mentor und Förderer Herbert von Karajan war er ein Klangtüftler – und hatte auch darin im Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks einen idealen Partner: ein Orchester mit großartigen Musikern, vielseitig, flexibel, mit einer breiten Klang- und Ausdruckspalette. Darauf kann sein Nachfolger Simon Rattle, der Jansons sehr schätzte, aufbauen  (Mariss Jansons – The Edition, Solisten; BRSO,  70 Discs (57 CDs, 11 SACDs und2 DVDs; umfangreiches Begleitheft; BR Klassik 900200; alle Fotos ©Peter Meisel/BR). Helge Grünewald