Tanzvisionär

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Rechtzeitig vor dem Weihnachtsfest gibt der HENSCHEL Verlag einen prachtvollen Band über das Stuttgarter Ballett und seinen Intendanten John Cranko heraus (ISBN 978-3- 89487-842-9), der für alle Ballettfreunde der Höhepunkt auf dem Gabentisch sein dürfte. Auf fast 300 Seiten und zahlreichen Fotos (vorwiegend in Schwarz/Weiß) beleuchten die Autorinnen Julia Lutzeyer, Petra Olschowski, Angela Reinhard und Vivien Arnold Leben und Werk des Jahrhundert-Choreografen, der durch den tragischen Tod 1973 viel zu früh aus seinem Schaffen gerissen wurde.

Im ersten Kapitel (Vermächtns: Was bleibt von John Cranko?) widmet sich Angela Reinhard seinem künstlerische Erbe. Sie spricht von „Verklärung“ wenn die Rede auf den Choreografen kommt, der in Stuttgart noch heute hymnisch verehrt wird. Sie nennt natürlich die drei großen Handlungsballette (Romeo und Julia, 1962; Onegin, 1965; Der Widerspenstigen Zähmung, 1969), die zu Klassikern geworden sind und immer wieder in Neubesetzungen einstudiert wurden. Reinhard geht auf die technischen Besonderheiten im choreografischen Vokabular Crankos ein, hebt seine Repertoirepolitik hervor. Er lud berühmte Kollegen ein, ihre Arbeiten in Stuttgart zu zeigen, und förderte junge Nachwuchskräfte. Und sie beschreibt das so persönliche Verhältnis, das der Choreograf zu seinen Tänzern hatte. Davon ist im nächsten Kapitel vielfach zu lesen.

Es beinhaltet die Erinnerungen seiner Weggefährten – Tänzer, Ausstatter, Fotografen, Journalisten, Freunde… Da ist natürlich vor allem Marcia Haydée zu nennen, seine Assoluta, die in seinen drei Hauptwerken jeweils die zentrale weibliche Rolle kreierte, 1976 Direktorin der Compagnie wurde und 1987 mit Dornröschen ihr Debüt als Choreografin gab. Sie nennt Cranko „mein Glück im Leben“. Von einem „Menschenformer“ spricht Richard Cragun, der als Erster Solist wesentlichen Anteil am „Ballettwunder Stuttgart“ (so die amerikanische Presse) hatte. Nicht zu vergessen die andere Startänzerin des Ensembles und weltweit als „die deutsche Ballerina“ apostrophiert: Birgit Keil. Sie dankt Cranko, dass er auch in „sehr kritischen Phasen“ an sie geglaubt hat. Zu den wichtigen Mitgliedern der Compagnie zählen Egon Madsen und Ray Barra, für die Cranko viele Rollen schuf. Mit „Es war dieser Blick“ und „John suchte eine Familie“ sind ihre Beiträge sehr privat. Zwei in Stuttgart engagierte Tänzer wurden später gleichfalls bedeutende Ballett-Intendanten: Jirí Kylián und Jon Neumeier. Ersterer resümiert mit „Kreativ, lustig, wunderbar“ das Wesen Crankos denkbar kurz, doch treffend, der zweite empfindet die Zeit mit ihm als „besonders aufregend“. Nicht fehlen darf Jürgen Rose, dem Cranko die Ausstattung vieler seiner Ballette übertrug. Er nennt diese Schöpfungen „zeitlos gültig“ und zitiert Cranko mit „Wir hatten noch viel vor“, was angesichts seines tragischen Endes besonders schmerzlich klingt. Berührend ist der Beitrag von Georgette Tsinguirides, Solotänzerin und später Choreologin, nach deren Notaten die Ballette noch heute einstudiert werden. Er soll hier am Schluss stehen, denn darin wird Crankos Ausspruch „Wir dürfen kein Museum sein.“ zitiert, der für die kreative Zukunft des Stuttgarter Balletts steht.

Es folgt das letzte Interview, welches der Choreograf im Mai 1973 dem Journalisten Hartmut Regitz gab. Es ist ein wertvoller und aussagestarker Beitrag, gibt er doc darin Auskunft über Crankos Beziehung zu Gustav Mahler (dessen 10. Sinfonie er für seine vorletzte Arbeit, Spuren im Todesjahr 1973, nutzte), seine Russland-Erfahrungen und Zukunftspläne. Eine Biografie und das Werkverzeichnis sind nützliche  Nachschlagehilfen und runden den Inhalt ab. Bernd Hoppe