Geschichte statt Musik

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Aufmerksam den genauen Titel des dickleibigen Buches von Michael Lemster in Augenschein nehmen sollte der Musikfreund, denn da heißt es, auch wenn die drei Musiker der Familie Mozart mit ihren Instrumenten auf dem Cover erscheinen: Die Mozarts- Geschichte einer Familie, und von der Musik des Salzburger Genies, dessen Wurzeln in Augsburg zu verorten sind, wird kaum die Rede sein. Wer also mit den Kompositionen Wolfgang Amadeus Mozarts  nicht vertraut ist, der wird kaum ein Interesse haben, dessen Familie näher kennen zu lernen, wem es aber vor allem um die Musik geht, der geht beim Lesen leer aus. Trotzdem dürfte das Werk seine Liebhaber finden, denn es befriedigt die Neugier eines jeden, der an Genealogie interessiert ist, nicht nur mit einem Stammbaum auf den letzten Seiten, der die Vorfahren Mozarts bis ins 15. Jahrhundert zurückverfolgt und bis zum Aussterben der Familie , der direkten Nachfolger Mozarts bereits mit dessen zwei kinderlosen Söhnen, reicht, sondern auch mit einer detaillierten Darstellung der Lebenswege der Vorfahren, soweit diese bekannt sind. Da es dabei aus verständlichen Gründen an Material mangelt, gibt es umfangreiche Ausflüge in alle möglichen anderen Lebens- und Wissensbereiche, angefangen von der Historie der Stadt Augsburg und der Salzburgs, ausgeweitet auf die des gesamten Mitteleuropa. Der Numismatiker wird ebenso mit Wissen beglückt wie der Militärhistoriker, wenn vom Dreißigjährigen Krieg die Rede ist. Der Jurist wird ebenso belehrt über zivil- wie strafrechtliche Verfahren früherer Zeiten wie der an Mode einschließlich der Haartrachten Interessierte, und der Mediziner wird den Kopf schütteln über die irren Diagnosen und noch verrückteren Therapien, die zum frühen Ableben auch der im Zentrum des Buches stehenden Figur führen. Man wird vertraut gemacht mit den Verkehrswegen in mehreren Jahrhunderten und vielen Ländern, den Gefahren, die auf Reisen lauerten und den Verkehrsmitteln, deren Zustand jede Klage über die mangelnde Zuverlässigkeit heutiger Bahnen und Flugzeuge verstummen lässt. Vieles, wie die Ausführungen über die Fuggerei, ist durchaus von Interesse, wirkt aber doch, da die Mozarts nicht direkt betreffend, wie Füllmaterial. Auch die ausführliche Schilderung der Arbeit eines Buchbinders gehört dazu.

Stilistisch bewegt sich das Buch zwischen Roman und wissenschaftlicher Abhandlung, wechselt so auch zwischen Präsens und Imperfekt und versucht durch dessen direkte Ansprache den Leser bei der Stange zu halten. Es es setzt sich zum Ziel, durch eine Häufung von Substantiven (Todesarten im Dreißigjährigen Krieg) oder Adjektiven zu überwältigen, arbeitet dank unsicherer Quellenlage viel mit dem Konjunktiv, mit Fragesätzen, den Vokabeln „vermutlich“, „dürfte“, „wahrscheinlich“ oder „dabei muss uns die Phantasie helfen“. Ein Vertrauensverhältnis zum Leser zu schaffen ist bei so unsicherer Quellenlage natürlich oberstes Bestreben, und ein behäbig wirkendes Plaudern scheint dafür besonders geeignet zu sein, wozu auch die seitenlang durchgehende Verwendung des Namens „Wolferl“ gehört oder ein „Natürlich kann sich Constanze von öffentlicher Trauer nichts herunterbeißen.“ Auch das fast durchgehende „Wowi“ für den Mozart-Sohn wirkt zumindest auf Berliner Leser seltsam.

Interessant ist der Versuch des Autors, dem Vater Leopold Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ebenso wie er Salieri von dem allerdings längst ausgeräumten Verdacht befreit, am frühen Tod Mozarts Schuld zu sein. Auch wer noch immer glaubte, Mozart sei in einem Armengrab verscharrt worden, erfährt, dass eine Anordnung Josephs II. aufwändige Begräbnisse verboten hatte. Es geht also nicht um keinen, sondern nur um einen wieder verwendbaren Klappsarg. Andeutungen über Constanzes Untreue und „die bewusste Sache“ (Ein uneheliches Kind?) führen natürlich zu nichts, was man aber keineswegs bedauert. Man hätte eher ein Interesse an dem Verhältnis zu Da Ponte oder Schikaneder gehabt, die nur kurz erwähnt werden. Sympathisch und kenntnisreich erscheinen die gelungenen Versuche des Autors, die viel geschmähte Constanze zu rehabilitieren (Vollendung des Requiems), und so gibt es einiges auch für den Musikinteressierten, insgesamt jedoch eher Profit für den allgemein an Geschichte Interessierten zu entdecken.  

Am Schluss finden sich Anmerkungen, ein Verzeichnis weiterführender Literatur, ein Personenregister und ein Bildnachweis, wobei die sehr spärlich gesät sind.

Gewidmet ist das Werk „Allen liebenden Familien“, wobei im folgenden Text offen bleibt, ob der Autor die Mozarts zu diesen zählte, allerdings angenehm auffällt, dass nicht von der hochmütigen Warthe eines heutigen Besserwissers aus über von vielfältigen Zwängen bedrückte Menschen einer vergangenen Zeit ge- und damit verurteilt wird (2. Auflage 2020 Benevento Verlag München, Salzburg; ISBN 978 3 7109 0073 -0). Ingrid Wanja