Betörend

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Fast immer wird in Einspielungen der Liederzyklus Les Nuits d’été von Hector Berlioz mit Maurice Ravels Shéhérazade kombiniert. Viele Aufnahmen auf dem Markt zeugen von dieser Praxis und so muss sich Marie-Nicole Lemieux mit ihrer Neuaufnahme bei ERATO dem Vergleich mit einer Vielzahl von Konkurrenzversionen stellen. Aber diese Platte, eingespielt im Mai 2021 und Juli 2022 in Monte-Carlo (5054 197659409), weist einen Trumpf auf, denn sie präsentiert als zusätzliches Werk die Mélodies persanes op. 26 von Camille Saint-Saëns, welche auf Tonträgern kaum  anzutreffen sind. Die Neuedition des Palazzetto Bru Zane ist sogar eine Erstaufnahme, denn hier ist Saint-Saëns’  Orchestration der Lieder nach Texten von Armand Renaud, die er ursprünglich für Gesang und Klavier schrieb, zu hören. Außerdem wurden die ursprüngliche Reihenfolge der Titel wieder hergestellt und zwei Zwischenspiele aus der sinfonischen Ode Nuit persane eingefügt. Das begleitende Orchestre Philharmonique de Monte-Carlo unter Kazuki Yamada malt diese atmosphärisch aus und ist der Garant für ein authentisches Klangidiom. „La Brise“ erinnert in ihrem sinnlichen Rhythmus an Bizets Carmen-Figur und Lemieux kann hier mit lockenden Tönen bezaubern. „La Splendeur vide“ ist von ähnlicher Stimmung, nur hintergründig-verhaltender und lässt den Alt der Sängerin schimmern und schweben. „La Solitaire“ erinnert in seinem spanischen Duktus an eine Zarzuela und gibt der Interpretin Gelegenheit für einen temperamentvollen Auftritt. „Sabre en main“ wirkt dramatischer und verlangt beinahe nach maskuliner Energie für ein martialisches Marsch-Thema. Wie bei Berlioz findet sich auch bei Saint-Saëns ein Stück mit dem Titel „Au cimetière“, aber natürlich mit anderem Text. Die Komposition ist von verhaltener Diskretion, erlaubt der Interpretin fein getupfte Passagen von nobler Zurückhaltung. Den Abschluss bildet „Tournoiement“ – ein Songe d’opium von fiebriger Nervosität.

Zu Beginn der CD erklingt der Berlioz-Zyklus mit seinen sechs Titeln. Der erste, „Villanelle“, ist von pulsierendem Rhythmus und Lemieux kann mit ihrer sinnlichen Stimme einen starken Auftakt bieten. Es folgt der melancholische Gesang „Le Spectre de la rose“, in welchem der Altistin betörende Momente mit schwebenden, flirrenden Klängen gelingen. „Sur les lagunes“ ist von schwermütigem Gestus, die Solistin setzt hier prägnante Akzente und lässt faszinierend dunkle Töne hören. Vom Ausdruck der Sehnsucht getragen ist „Absence“ und auch für „Au cimetière“ findet Lemieux delikate Stimmungen. Den Zyklus beschließt „L’Île inconnue“ mit ihrem schwelgerischen Melos, von der Solistin mit weitem dynamischem Radius erfasst.

Zum Schluss der CD sind die drei Stücke von Ravel auf Texte von Tristan Klingsor zu hören. Geheimnisvoll ertönt Asie, gestattet der Sängerin, die ganze Spanne ihrer stimmlichen Möglichkeiten auszureizen – von intimen Bekenntnissen bis zu dramatischen Ausbrüchen, bei denen dann auch ein greller Spitzenton zu hören ist. „La Flûte enchantée“ beginnt geheimnisvoll flirrend und steigert sich zu schwelgerischem, fremdartigem Melos. „L’Indifférent“ lässt an Debussys Klangidiom denken und bietet der Altistin zum Schluss nochmals Gelegenheit, ihre Ausnahmestimme bewundern zu lassen. Bernd Hoppe