Hochbesetzte Schlangengrube

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Johann Adolf Hasse schrieb sein biblisches Oratorium Serpentes ignei in deserto für das berühmte Ospedale degli Incurabili in Venedig, wo es 1733 oder 35 uraufgeführt wurde. Das Werk fußt auf dem lateinischen Libretto von Bonaventura Bonomo und vermittelt die Botschaft, dass der Mensch nicht am göttlichen Wohlwollen zweifeln solle. Erzählt wird der Auszug des hebräischen Volkes aus Ägypten in das von Gott verheißene Land. Während der langen Durchquerung der Wüste beklagt sich das erschöpfte Volk und lehnt sich gegen Gott auf. Dieser schickt als Strafe giftige Schlangen, die vielen Menschen den Tod bringen. Moses bittet Gott um Vergebung, die gewährt wird. Eine eherne Schlange auf Moses´ Stange wird zum Symbol des Lebens und der Hoffnung.

Nach der Papierform hatte die Aufnahme das Zeug zu einer Sensation, denn nicht weniger als vier namhafte Countertenöre und ein Ausnahme-Sopranist sind in der Besetzung versammelt, ergänzt um einen gleichfalls renommierten Sopran. Sechs hohe Stimmen also und kein Tenor, kein Bass. Erato, derzeit neben Château de Versailles konkurrenzlos aktiv in der Einspielung von Werken Alter Musik, hat die Aufnahme im Juni des vergangenen Jahres in Paris produziert und eine Phalanx renommierter Interpreten des Genres verpflichtet (5021732399045). Weniger bekannt ist das Ensemble Les Accents, das unter seinem Gründer und Leiter Thibault Noally aber einen glänzenden Eindruck hinterlässt, die Musik in ihrer Bravour und belkantesken Lyrik mit frischem, unkonventionellem Zugriff interpretiert.

Der Beginn der Einspielung ist ernüchternd, denn der schwedische Counter David Hansen lässt es als Eliab in seiner vehementen Eingangsarie „Incerta vivendo“ zwar nicht an der gebotenen Virtuosität fehlen, irritiert aber mit enervierend heulenden Tönen. Die zentrale Partie des Moyses wird von Philippe Jaroussky wahrgenommen und auch er hat in seiner ersten Arie „Coelo turbido et irato“ Probleme, lässt eine unausgewogene Stimmführung hören. Besser gelingt ihm der finale Auftritt mit „Ara excelsa“, kann er doch in diesem ruhig-getragenen Stück seine Stimme unangestrengt und ausgewogen fließen lassen. Der Sopranist Bruno de Sà als Josue offeriert in „Spera, o cor“ Töne von mirakulöser Vollendung. Julia Lezhneva sorgt als Angelus für den ersten bravourösen Höhepunkt mit ihrer langen Arie „Caeli, audite“, welche zunächst und am Ende in getragenem Duktus erklingt, aber im Mittelteil ein furioses Koloraturfeuerwerk erfordert. Nicht weniger anspruchsvoll  ist die zweite Arie, „Aura beata“, mit schier endlosen Koloraturläufen, welche die Sopranistin in phänomenaler Manier absolviert und darüber hinaus mit jauchzendem Klang begeistert. Ihr fällt mit „Ecce conversus Israel“ der Exodus zu – ein Recitativo accompagnato, welches das Werk überraschend schlicht enden lassen würde, hätte der Dirigent nicht die Fugue aus der Introduzione angefügt.

Der Beginn der 2. CD markiert den Auftritt Nathanaels in Gestalt von Jakub Józef Orlinski, der die aufgewühlte Arie „Furit grando procellosa“ mit Entschlossenheit angeht, dessen larmoyantes Timbre jedoch nicht jedermanns Geschmack ist. Ihm folgt Carlo Vistoli, ein neuer Stern am Counter-Himmel, mit der Partie des Eleazar. Er lässt zweifellos die schönste Counterstimme hören. Die Arie „Dolore pleni“ ist eine Perle der Komposition und in seiner Wiedergabe mit warmem, innigem Ton beglückend. Mit de Sà hat er ein Duett zu singen („Moesto corde“), welches zu den wunderbarsten Momenten der Aufnahme zählt, vereinen sich beide Stimmen doch in schönster Harmonie.

Das Ensemble mit seinem Dirigenten und einige der Solisten werden im Mai des kommenden Jahres das Werk in der Berliner Philharmonie aufführen – ein Fest für alle Freunde der Alten Musik. Bernd Hoppe