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Es war damals ein Paukenschlag. Ausdruck von künstlerischem Selbstbewusstsein. Eine Wegmarke. Von jetzt an sollte alles etwas anders auf der Musikbühne zugehen. Christoph Willibald Gluck hatte mit der Pariser Operndirektion einen Vertrag über sechs Opern abgeschlossen. Den Auftakt machte Iphigénie en Aulide. Francois-Louis Gand Le Blanc du Roullet hatte dazu die seit hundert Jahren auf der französischen Bühne bewunderten Alexandriner der Iphigénie von Racine, der seinerseits von Euripides inspiriert wurde, in ein Libretto gefasst. Da die Sänger trotz sechsmonatiger Probenzeit ungenügend vorbereitet schienen, ließ Gluck sogar die Generalprobe verschieben und König und Königin samt Hof ausladen. Doch als die Oper am 19. April 1774 endlich über die die Bühne ging und das Publikum erlebte, wie der Text durch die Musik unterstützt wurde, wie Worte und Gesten und Akzente im Sinn der „Tragédie-Opéra“ Gewicht erhielten und Klytämnestra, Agamemnon, Kalchas und Iphigenie in ihren menschlichen Leidenschaften und ihrer Maßlosigkeit gezeigt wurden, war die Bewunderung groß. Auch wenn er sich vom Vorbild Rameaus verabschiedete, hatte der 60jährige Gluck durch virtuose Arien und Ballette dem französischen Geschmack Tribut gezollt.
Die Alpha Classics-Aufnahme (2 CD 1073) des ohnehin selten eingespielten Werkes – die première mondiale legte Gardiner erst 1990 vor – verdient besondere Beachtung durch die Wahl des Orchesters, dessen Geschichte fast so alt wie die von Glucks Oper ist. 1784 gründete der Offizier und Musikliebhaber Claude-François-Marie Rigoley, Comte d’Ogny, das Orchester Le Concert de la Loge, für das er beispielsweise Haydns Pariser Sinfonien in Auftrag gab. 2015 ließ der Geiger Julien Chauvin Le Concert de la Loge wiederaufleben, ohne sich speziell der Musik des Barock zu verschreiben.
Die im Oktober 2022 im nordfranzösischen Soissons entstandene Aufnahme zeigt im durchsichtigen und leichten Klang, in den sprechenden Tempi, im fein abgestimmten Spiel der Streicher und Holzbläser die besondere Affinität zur Musik der Reformzeit. Der in der Ouverture angeschlagene Ton des knapp 40köpigen Orchesters schmiegt sich dem Text geschmeidig an, so dass der hier auffallend leicht, doch etwas rau und später in seiner Szene am Ende des 2. Aktes hinreichend schmerzgebeugt wirkende Bariton Tassis Christoyannis die Vorgeschichte vom Gebot der Diana, wonach Iphigenie als Preis für die ruhmreiche Heimkehr der Griechen geopfert werden müsse, als Agamemnon tatsächlich „erzählen“ kann. Der anschließende Dialog mit Kalchas, der davor warnt, den Zorn der Göttin herauszufordern, gerät in der Abfolge kurzer Arien, Rezitative und eines Duetts zu einem erregten Disput zweier klugen Männer, wobei der Bariton Jean Sébastian Bou fast ein wenig zu elegant für den Seher wirkt. Die Choreinwürfe der knapp zwei Dutzend Sänger von Les Chantres du Centre de Musique Baroque de Versailles sind demzufolge Kommentare zufällig anwesender Zuschauer.
Ähnlich empfinde ich auch Iphigénie und ihre Mutter Clytemnestre, die wie Schwestern klingen. Die Clytemnestre der Stéphanie d’Oustrac wirkt, möglicherweise auch ein wenig ungünstig aufgenommen, wie hinter Nebelschwaden, gräulich uninteressant, bleibt zwar verquollen, gewinnt aber in den leidenschaftlichen Einwürfen an Farbe und Gewicht, während Judith van Wanroijs recht reife Iphigénie der Anlage der Partie entsprechend nobel verhalten und blässlich bleibt, aber im dritten Akt mit großer Sensibilität gesungen wird.
Mir gefällt der gesteigerte Konversationston der Aufnahme, das sinnstiftende Pathos, manchmal etwas steif, aber größtenteils mit ausdrucksvoller, plastischer und sinnerfüllender Diktion, etwa der immer am Rande der Erschöpfung agierende Cyrill Dubois, der als jugendlicher, ungestümer, sich vor Aufregung stimmlich fast verhaspelnder Achille zu Iphigénie stürmt und seine kleine Air „Cruelle, non, jamais votre insensible coeur“ mit viel Zärtlichkeit und Empfindung singgestaltet. Auf jeden Fall erreicht Julien Chauvin einen durchgehend dramatischen Fluss. Er entspricht auch ansonsten Glucks Anmerkungen, die verlangen „schnelle Tempi und einen einheitlichen Rahmen zu schaffen, in dem die Unterbrechungen Effekte und nicht die Norm sind. Die vorliegende Aufnahme hat versucht, dem Geist und so weit möglich dem Buchstaben der von Gluck erdachten stilistischen Revolution in der französischen Oper treu zu bleiben“. Die Aufnahme verzichtet übrigens auf den erst im Jahr nach der Uraufführung hinzugefügten Deus ex machina-Auftritt der Diana und überlässt die Zeilen der Göttin „Votre zèle des Dieux a fléchi la colère“ dem Kalchas. Rolf Fath
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Dazu ein kleiner Überblick über Vohandenes angesichts dieser für mich (wegen Chauvin aber malgré der Damen) doch bedeutenden Neuerscheinung bei Alpha. Die Aulidische Iphigenie tritt ja gerne – für mich zu absolutem Unrecht – hinter ihrer Tauridischen Schwester zurück, auch im Bereich der Dokumentationen. Wenngleich sie öfter gespielt wird als angenommen, namentlich in deutschen Gauen. In Erinnerung bleibt da die gruseligen deutschprachige Bearbeitung (!) in Salzburg 1962 mit der bizarren Verwirrung der Partien, als Inge Borkh und Christa Ludwig die jeweils falschen Partien sangen (zuletzt nun orfeo). Da rettet auch Karl Böhm nichts. Der Berliner Rias gab die Oper mit Martha Musial und Johanna Blatter unter Arthur Heger und dem ganz jungen Fidi 1951 (Walhall und andere). 1992 brachte die Berliner Staatsoper eine Produktion auf die Bühne, die man bei youtube nachhören kann (Schreier; Hajóssyová, Lang, Vogel, Büchner) und die ich optisch recht gruselig, aber natürlich repertoiremäßig verdienstvoll in Erinnerung habe.
Deutsch ist auch die straffdirigierte Wagnersche Version, die es bei Oehms unter Christoph Spering mit einer phlegmatischen Camilla Nylund auf die CD brachte (wir hatten dazu einen Artikel in operalounge.de). Vergessen möchte ich die vorausgehende trübe Aufnahme bei Ariola mit einer bizarren Anna Moffo neben einer uninspirierten Trudeliese Schmidt unter Kurt Eichhorn (die Ariola hatte wirklich fatale Casting-Vorstellungen, wenngleich die Moffo die Partie bereits bei der RAI in den frühen Sechzigern gesungen hatte, sie musste nur umlernen). In München rettet nur Arleen Auger als Diana das Niveau. 2009 spielte die Römische Oper die Wagner-Fassung in Französisch (?) noch einmal (Ekaterina Gubanova machte keinen Splash als Mutter neben Krassimira Stoyanovas sehr reifer, recht anämischer Iphigenie, alles unter Ricardo Mutis schwerer Hand/Radio).
Maßgeblich war lange Jahre die Gardiner-Erst-Einspielung des Originals bei Erato (1990, damals ein Wagnis im Rahmen der vielen französischen Ersteinspielungen der Firma), mit einer nachdrucklosen Anne Sophie von Otter als Mama und Lynn Dawson frisch und jung als Iphigenie, alles nicht unrecht, aber doch eher allgemein. Und langweilig-höflich. Aber es blieb bis zur gegenwärtig besprochenen Rousset-Aufnahme auf dem Platten-Markt dabei.
Unter Sammlern kursiert ein bemerkenswertes Dokument von Gundula Janowitz als außerordentlich engagierte Clytemnèstre, die ich damit noch 1987 in Wien an der Staatsoper erlebt habe – stehplatz-stehend, staunend und bewegt. Die Janowitz hatte man so rasend, so temperamentvoll noch nie erlebt, und nach schlechten Erfahrungen mit dem Wien Publikum ihrer letzten Jahre traute sie dem frenetischen Beifall erst nicht. Mit Joanna Borowska und Bernd Weikl unter einem rasanten Charles Mackerras war dies ein fulminanter Abend.
Véronique Gens singt in der radio-dokumentierten Aufnahme aus Aix 2011 eine solide Iphigenie, Frau Otter hatte wohl das Monopol auf die Mutter, Mark Minkowski macht einen flotten Job, damals galt die Aufführung als maßstäblich. Aix gab in diesem Jahr (2024) die Oper erneut, Emmanuelle Haïms Leitung hielt die Musik durchsichtig und schwungvoll, Véronique Gens ist inzwischen ins Mutterfach umgestiegen und hätte einen Schluck Pastis (oder zwei) mehr vertragen können, Corinna Winters als ihre Tochter ist angenehm, aber nicht aufregend. Vorher hatte Mark Minkowski sich in Amsterdam 2012 für das Werk stark gemacht (Radio), immerhin mit Mireille Delunsch und Yann Beurron als Liebespaar sehr gut besetzt. La Gens war 2009 in der jugendlichen Rolle 2009 in Brüssel zu hören, damals unter Christoph Rousset (Radio).
Und Ricardo Muti hatte die Oper schon 2002 in Rom mit der damals entzückenden Genia Kühmeier neben der viril-robusten Daniella Barcellona gegeben (Radio). 2002 dirigierte Kenneth Montgomery sehr gewinnbringend die Aulidische in Amsterdam mit der hoffnungsvollen Robin Redmon in der Titelpartie (Radio). Paris erlebte die Oper zuletzt 2022 unter Julien Chauvin mit Judith Wanroij, Stéphanie D´Oustrac, Cyrill Dubois und Tassis Christoyannis (das klingt doch vertraut, nicht wahr?). Auch damals waren die Meinungen über die Damen schmallippig
Aber nicht vergessen sollte man die eigentliche Pioniertat, in Aix 1963, nicht, diese sogar televisionär in strengem, ruckelndem Schwarz-Weiss festgehalten: Jane Rhodes als energische, recht notenfreie Iphigenie, dazu alles was in Frankreich damals opernmäßige Füße hatte, von Gabriel Bacquier über Michel Sénéchal zu Christiane Gayrod, alles unter Pierre Dervaux, und der konnte Drama! Allein schon die Rhodes ist das Reinhören wert, selbst wenn Puristen sich sicher mit Schauder abwenden. Ich mag mich irren, aber ich denke, dies war die erste Aufführung der Oper in Frankreich nach dem Krieg, zumindest urteilten die überraschten Kritiker so 13. 11. 24). G. H.