Ersteinspielung

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Zwischen 65 und 70 Opern hat Gaetano Donizetti in nur einmal fünfzig Lebensjahren komponiert, so dass es dem in jedem Herbst stattfindenden Festival in seiner Heimatstadt Bergamo immer wieder gelingt, ein noch völlig unbekanntes Werk vor dem erstaunten Publikum zu präsentieren, so auch 2022, genau zweihundert Jahre nach der Uraufführung an der Mailänder Scala, die Semiseria Chiara e Serafina, die allerdings  einer der schlimmsten Misserfolge für das Opernhaus wie für den Komponisten war und somit für zwei Jahrhunderte in der Versenkung verschwand (s. den Bericht von Rolf Fath zur Aufführung in Bergamo 2022). Schuld daran trug der für seine Langsamkeit berüchtigte Librettist Felice Romano, der so säumig war, dass der Komponist nur elf Tage zum Komponieren hatte, nur wenige Proben stattfinden  und die Sänger Änderungswünsche nicht mehr durchsetzen konnten, entsprechend lustlos bei der Sache waren. Erst 1830 gab es wieder Donizetti in Mailand, Anna Bolena, allerdings im Teatro Carcano, und 1833 öffnete die Scala wieder ihre Pforten für den Komponisten für dessen Lucrezia Borgia.

Chiara e Serafina ist nicht etwa die erste eindeutige Lesbenoper, sondern es geht um zwei Schwestern auf Maiorca, die Jahre lang voneinander getrennt leben, weil Chiara mit dem Vater von Seeräubern entführt wurde, während Serafina vom Todfeind ihres Vaters zur Ehe gezwungen werden soll, obwohl sie einen anderen, Rosario, liebt. Entscheidend für den Sieg des Guten und der Guten ist die Wandlung im Charakter des Seeräubers Picaro zum Retter in höchster Not und mit viel Handlung in den unterirdischen Gängen zwischen Meeresstrand und Burg, und auch der männliche Part des niederen Paars, Don Meschino, ist einer der Strippenzieher, die für das happy end verantwortlich sind.

Abgesehen von dieser Partie, die dem gestandenen Bariton Pietro Spagnoli anvertraut ist, sind sämtliche Rollen mit Mitgliedern der Accademia Teatro alla Scala besetzt, auch der Chor entstammt der verdienstvollen Institution, während das Orchester Gli Originali sind, deren Namen verrät, dass unter Sesto Quatrini auf Originalinstrumenten aus der Entstehungszeit gespielt wird.

Weniger durch einprägsame Arien und Duette als durch mitreißende Ensembleszenen und rasante Finali überzeugt das Frühwerk (Donizetti komponierte es als Fünfundzwanziger ), aber es braucht auf jeden Fall auch gestandene Solosänger, die in dem bewährten Belcantobariton Spagnoli natürlich einen wichtigen Bezugspunkt fanden, der den Insiemi viel Halt verleiht. International geht es wie überall sonst auch an der Accademia zu, mit zwar auch italienischen, aber dazu drei asiatischen Solisten und einer Sängerin aus dem slawischen Sprachraum.

Der Bass Matias Moncada singt mit samtweicher Stimme den Don Alvaro, Vater der Schwestern, dazu noch die kurze Partie des Bösen, Don Fernando. Schon recht üppiges Material hat Sung-Hwan Damien Park für den Picaro, ihn könnte man sich auch als Malatesta vorstellen. Einen geschmeidigen Tenor leichter Emission setzt Hyun-Seo Davide Park für den von Serafina geliebten Don Ramiro ein, dessen  empfindsame Seite erfolgreich herauskehrend. Serafina ist Fan Zhou mit pikant-frischem Sopran, der auch einmal kindlich wirken kann. Die Schwester Chiara wird von Greta Doveri mit klarer, Zärtlichkeit verströmender Sopranstimme gesungen, wozu im Vergleich die Lisetta von Valentina Pluzhnikova typische Mezzoqualitäten aufweist.

Im ersten Augenblick bedauert man beim Erhalt der beiden CDs, dass man nicht die auch verfügbare DVD in Händen hält, ist aber, wenn man Fotos aus der Produktion angeschaut hat, dankbar dafür, dass man die  melodienselige Oper ohne die karikierende Optik genießen kann. Für das Publikum war das sicherlich eine vergnügliche Vorstellung und für die jungen Solisten eine wertvolle Erfahrung (Naxos 8.660552-53). Ingrid Wanja