Archiv für den Monat: März 2024

Pure Labsal

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Es  ist nicht er, Andreas Scholl, der Urvater aller deutschen Countertenöre, sondern es ist Jochen Kowalski, aber auf eine mittlerweile jahrzehntelange Karriere in diesem Fach kann der 57jährige mittlerweile auch zurückblicken und legt nun eine CD mit Invocazioni Mariane vorwiegend aus dem neapolitanischen Raum  und dem 18. Jahrhundert vor. Mit dem Sänger, der wie ein Mönch in eine schwarze Kutte gekleidet und zudem noch vor einem düsteren Hintergrund posiert,  scheint das Cover vor allem der schmerzgebeugten Mutter des Gekreuzigten Tribut zu zollen, in Wahrheit aber begegnet dem Hörer auch Maria als Trösterin und Anwältin der Bedrückten. In einem im Booklet nachlesbaren Gespräch legt der Säger auch Wert darauf zu betonen, dass sein Auftritt nicht als Travestie zu verstehen ist, sondern dass er sich in die Rolle der Maria hineinversetzt hat („humanity before gender“). Außerdem richtete er seine Interpretation  danach aus, dass man sich die Stücke auch als Opernarien vorstellen könnte, in denen der Wunsch nach mütterlicher Liebe oder aber der Schmerz der Mutter zum Ausdruck kommt. Zum Ziel gesetzt hat er sich nach eigenem Bekunden auch, seine Kunst nicht wie Kunst wirken zu lassen.

Seit zwanzig Jahren arbeitet Scholl mit der Accademia Bizantina zusammen, die von Ottavio Dantone in Ravenna gegründet wurde und nun von Alessandro Tampieri geleitet wird, der  von der ersten Geige aus dirigiert. Besucher des noblen Festivals von Ravenna, das Riccardo Muti ins Leben gerufen hatte, kennen dieses Orchester und wissen seine Qualitäten zu schätzen. Auch Andreas Scholl arbeitet regelmäßig und seit bereits zwanzig Jahren mit dem Klangkörper zusammen.

Bereits beim Anhören der ersten Tracks, Ausschnitte aus Nicola Porporas Il trionfo della divina giustizia ne‘ tormente e morte di Gesù Cristo, ist man erfreut über Frische, Reinheit und Farbigkeit der Stimme, die ein junges Timbre vermuten lässt. Davor erklingt festlich glänzend die Sinfonia. Eine zarte, pure Klage, die die Stimme als reines Instrument wirken lässt, kann man in „Occhi mesti“ vernehmen, im „Per pietà“ wird das Rezitativ fein ziseliert dargeboten. In schöner, schmerzlicher Klarheit lässt sich Leonardo Vincis Oratorio Maria Dolorata vernehmen, schwerelos schwebend und von reinem, tröstlichem Klang. Im „Tutti sono del materno seno“ faszinieren die Intervallsprünge. Es folgt Pasquale Anfossis Salve Regina als schöner Dialog der Stimme mit den variationsreich eingesetzten Instrumenten. Vivaldis Stabat Mater schließlich ist von wunderschöner Getragenheit. Das Anhören der CD befriedigt den ästhetischen Anspruch und tut darüber hinaus der Seele gut (Naive V 5474). Ingrid Wanja   

Aribert Reimann

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Als Sohn des Kirchenmusikers Wolfgang Reimann und der Altistin Irmgard Rühle wurden dem am 4. März 1936 in Berlin geborenen Aribert Reimann die musikalischen Gene gleichsam von Anfang an mitgegeben. Erste Kompositionen schrieb er bereits mit zehn und fungierte nach dem Abitur als Korrepetitor an der damaligen Städtischen Oper Berlin. Es folgte ein Klavier-, Kompositions- und Musikwissenschaftsstudium, zunächst in Berlin, später in Wien. Reimanns Repertoire als Komponist war breit gefächert und ging von der Kammermusik über Orchesterwerke bis hin zur Oper. Zu Beginn seiner Karriere erfolgte mehrfach eine Zusammenarbeit mit Günter Grass für das Ballett. Besonders mit der Oper Lear, durch Dietrich Fischer-Dieskau in der Titelrolle geadelt, schuf er 1978 zum Libretto von Claus H. Henneberg einen Klassiker der Avantgarde (die von Gerd Albrecht dirigierte Einspielung erschien bei der Deutschen Grammophon). Noch 2010 schuf er mit Medea nach der Vorlage von Franz Werfel ein bedeutendes zeitgenössisches Musikdrama. Anfang der 1970er Jahre zum Mitglied der Berliner Akademie der Künste ernannt, hatte Reimann zwischen 1974 und 1983 zunächst eine Professur für Zeitgenössisches Lied zunächst an der Hamburger Musikhochschule inne, anschließend von 1983 und 1998 an der Hochschule der Künste Berlin. Mannigfaltig ausgezeichnet, trug er u.a. das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern sowie den Pour le mérite für Wissenschaften und Künste und erhielt für sein Lebenswerk den Ernst-von-Siemens-Musikpreis. 1988 stiftete Reimann den Busoni-Kompositionspreis zur Förderung des kompositorischen Nachwuchses. Aribert Reimann, dessen Bedeutung gerade in der Vokalmusik immens war, ist am 13. März 2024 kurz nach seinem 88. Geburtstag in seiner Heimatstadt Berlin verstorben (Foto Wikipedia). Daniel Hauser

Spannende Reiseoper

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Wohl zu allen Zeiten reisefreudig waren, glaubt man der Opernliteratur, die Italienerinnen, auch wenn die Rossinis (von 1813) nicht freiwillig gleich bis nach Algier reiste und die weit weniger bekannte Domenico Cimarosas erst auf der Suche nach dem untreu geglaubten Geliebten bis nach London gelangte. Auch dem Dirigenten und dem Regisseur der Frankfurter Aufführung aus dem Jahre 2021 war das Werk nicht bekannt, Il Matrimonio segreto ein Begriff, dem Dirigenten allerdings auch ein Flötenkonzert des Italieners. Dieser lässt in L’Italiana in Londra (1778) in einem Londoner Hotel fünf Personen, die typisch für das Land ihrer Herkunft sein sollen, aufeinandertreffen (und an Rossinis Viaggio a Reims erinnern): die titelgebende Italienerin aus Genua, deren Landsmann aus Neapel, einen englischen Lord, einen holländischen Geschäftsmann und die Inhaberin der Herberge. Typisch für die Oper vor Rossini ist, dass die Liebhaber der beiden Damen über tiefe Stimmen verfügen, während der offensichtlich Ältere und unbeweibt Bleibende von einem Tenor gesungen wird.

Die Frankfurter Produktion siedelt in dem zweckmäßigen Bühnenbild von Paul Steinberg das Geschehen in einem Hotel der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts an mit noch einer Telefonzelle, einem Tresen und begrenzt von einer drehbaren Rückwand mit geographischem Muster. Die Kostüme (Doey Lüthi) sind teils witzig wie für die Wirtin, teils glamourös wie für die Italienerin, die zum Schluss wie ein aufgeplusterter Flamingo über die Bühne schwebt, und für die Männer die jeweilige Nation vertretend, d.h. der Neapolitaner in Grün-Weiß-Rot, mit Goldkettchen und Brustbehaarung. In seinem Gehabe allerdings gleicht er trotz aller Bemühungen eher einem kanadischen Holzfäller als einem Südländer. Natürlich wird in London viel Tee getrunken, und man hüllt sich auch gern in die damals allerdings noch nicht existierenden Flaggen. Mit immer neuen Einfällen weiß die Regie das Publikum bei der Stange zu halten, Monty Python, Brian Rix oder Linder Sterling scheinen Pate gestanden zu haben, und alle fünf Sänger sind mit sichtbarer und hörbarer Begeisterung dabei.

Auch die hoch amüsante akustische Seite lässt den Streit darüber, ob Cimarosa zweitrangig, weil zu vorhersehbar, sei, als müßig erscheinen, denn der auch am Hammerklavier begleitende Leo Hussain weiß die Erfahrung des Frankfurter Orchesters mit älterer Musik zu nutzen und sorgt für eine frische, durchsichtig erscheinende, temperamentvolle Begleitung. Auch die Rezitative sind unterhaltsam, da durchaus auch den Zuschauer von heute interessierende Themen berührend.

Einen hellen, zarten Sopran, der auch einer Blonde gut anstehen würde, hat Bianca Tognocchi für die liebeskranke Wirtin, die sich schließlich doch den dem Aberglauben verfallenen Neapolitaner sichert. Einen lyrischen, kühlen und höhensicheren Sopran setzt Angela Vallone für die titelgebende Livia ein, ist sehr attraktiv und hat mit „Dunque per un infido la libertà perdei?“ die bemerkenswerteste Szene. Mit präzisem  Charaktertenor und sicherer Höhe gestaltet Theo Lebow den Holländer, Iurii Samoilov ist der zu Unrecht treulos geglaubte Milord mit etwas dumpfem, aber sehr beweglichem Bariton, Gordon Bintner hat die sonorere, prägnantere dunkle Stimme für den Don Polidoro. Alle gemeinsam bilden ein hochkompetentes, sich einander ergänzendes Solistenensemble, das den Zuschauer für mehr als zweieinhalb Stunden bei der Stange halten kann (Naxos NBD0155). Ingrid Wanja   

Wie „Salome“ ohne Schlussgesang

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„Wie schön ist doch die Musik – aber wie schön erst, wenn sie vorbei ist!“ Eine Aufnahme der komischen Oper Die schweigsame Frau von Richard Strauss – und sei es als Querschnitt – ohne den finalen Monolog des Sir Morosus wäre wie Salome ohne Schlussgesang. Noch vor wenigen Tagen hätte ich darauf geschworen, dass es so ein Tondokument nicht gibt. Ich sollte eines anderen belehrt werden. Doch der Reihe nach. Der Bayerische Rundfunk hat sein Archiv geöffnet und genau so eine Produktion ohne Schluss, auf den schließlich alles hinausläuft, bei BR-Klassik auf den Markt gebracht (900219). Dabei handelt es sich um ein ganz klassisches Opernende, in dem sich die Konflikte wie in Luft auflösen. Es ist geklärt, was zu klären war. Niemand hat Schaden genommen. Alle sind glücklich. Die Welt dreht sich fort. Morosus lehnt sich „strahlend beglückt“ – wie es in der Szenenbeschreibung des Librettos von Stefan Zweig heißt – in seinem Sessel zurück: „Ach, ich fühle mich unbeschreiblich wohl. Nur Ruhe!“

Für Strauss und seinen jüdischen Textdichter sollte dieser Zustand im wirklichen Leben nicht eintreten. 1935, im Jahr der Uraufführung in Dresden unter der Leitung von Karl Böhm, war Zweig bereits emigriert. Die Nationalsozialisten bestanden darauf, dass er auf den Plakaten und Programmzetteln nicht genannt wird. Strauss, der damals bedeutendste lebende Komponist Deutschlands, widersetzte sich. Nach nur drei Wiederholungen verschwand die Oper vom Spielplan und wurde nur noch vereinzelt im Ausland gespielt. Zweig sollte sie nie auf einer Bühne sehen. Er wählte 1942 im brasilianischen Exil gemeinsam mit seiner Frau Lotte den Freitod. Nach dem Krieg versuchte sich gleich 1946 Dresden an einer Erweckung der Oper, die zunächst ohne Folgen blieb. Kurt Böhme, der in der Uraufführung noch als der Komödiant Vanuzzi mitwirkte, sang nun den Morosus. München, Wiesbaden und etliche kleinere Häuser folgten. In Berlin nahm sich 1954 Walter Felsenstein an der Komischen Oper des Stückes an und wählte für den alten Seemann mit dem auf Verdi spezialisierten Bariton Hans Reinmar eine vom bisherigen Rollenbild abweichende Besetzung. Er dürfte dabei eher an Reinmars schauspielerischen Fähigkeiten interessiert gewesen denn seinen schwindenden stimmlichen Qualitäten, die der Bariton mit intellektueller Substanz kompensierte. Wie überraschend gut das ging, anerkannte auch der österreichische Radiomoderator und Opernexperte Gottfried Cervenka, der das Finale in einer Aufnahme des DDR-Rundfunks im April 2005 ins Programm einer seiner legendären Apropos-Oper-Sendungen aufnahm.

Der Mitschnitt von den Salzburger Festspielen 1959 kam erst 1994 offiziell bei Deutsche Grammophon auf CD heraus.

Ihren internationalen Durchbruch erlebte die Schweigsame Frau 1959 mit einer neuen Inszenierung von Günther Rennert bei den Salzburger Festspielen. Uraufführungsdirigent Böhm stand wieder am Pult. Wohl, um das Publikum nicht zu überfordern, wurde die Spieldauer auf ein seinerzeit erträgliches Maß gestutzt. Es fehlen gut vierzig Minuten, was angesichts der turbulenten Handlung kaum aufgefallen sein dürfte. Hans Hotter war als Sir Morosus besetzt. Er habe eine „köstliche, fein abschattierte Charakterstudie“ geboten, der er ebenso erheiternde wie ergreifende Züge verlieh, heißt es in dem Sängerporträt von Penelope Turing, das 1983 in Buchform im Paul-Neff-Verlag Wien erschien. Der Mono-Premierenmittschnitt fand rasch seinen Weg in Sammlerkreis. Noch als Schallplatten kam er zuerst bei der auf Liveaufführungen spezialisierten Firma Melodram heraus. Laut Archiv der Salzburger Festsiele und anderer Quellen fand die Premiere am 8. August 1959 statt. Als Deutsche Grammophon 1994 die Aufnahme mit dem Segen der Festspielleitung von den Bändern des Österreichischen Rundfunks offiziell auf CD veröffentlichte, wurde im Booklet – offenkundig aus Versehen – als Sendetermin der 6. August genannt. Wiederholungen in Folgejahren gab es nicht. Etwas zu reif für die junge Aminta, die vorgebliche schweigsame Frau, war Hilde Güden, die mit unverkennbarem glitzerndem Timbre die Partie in der Nähe der Sophie aus dem Rosenkavalier zu rücken verstand und damit auch musikalische Ähnlichkeiten zwischen beiden Opern betonte. Als das Ereignis der Produktion blieben bis heute zwei junge Sänger im Gedächtnis, die von Salzburg aus zu höchstem Ruhm aufstiegen: Fritz Wunderlich (Henry) und Hermann Prey (Barbier). Einem Ruhm, der sich noch an Weihnachten desselben Jahres mit Rossinis Barbier von Sevilla im Münchner Cuvilliéstheater steigerte. Als Graf Almaviva und Barbier schrieben der Tenor und der Bariton Operngeschichte Made in Germany. Da diese Aufführung im Fernsehen übertragen wurde, drangen ihre Stimmen und Gesichter in jedes Wohnzimmer, wo ein Empfangsgerät stand. Die DVD der unverwüstlichen Produktion ist noch immer im Handel, ungeachtet der Tatsache, dass musikalisch und szenisch inzwischen ganz andere Maßstäbe gelten.

Programmzettel der Uraufführung  1935 in Dresden. Strauss setzte durch, dass der jüdische Schriftsteller Stefan Zweig als Textdichter genannt wurde / Wikipedia

Doch zurück zur Schweigsamen Frau und der neuen CD von BR-Klassik. Die Umstände ihres Entstehens sind nach mehr als sechzig Jahren nicht lückenlos zu klären. Laut Booklet handelt es sich um eine „Studio-Produktion“ aus der der Bayernhalle im Ausstellungspark in München vom 4. und 5. November 1960, während in der Wunderlich-Biographie von Werner Pfister bei Schott der 3. und 4. November genannt werden. Im erklärenden Text verweist Renate Ulm vom Bayerischen Rundfunk auf den Mitschnitt der Salzburger Aufführung, dessen Wermutstropfen „die deutlich zu hörenden Bühnengeräusche dieser turbulent-komischen Oper“ gewesen seien. „Möglicherweise hat dies Heinz Wallberg 1960 dazu veranlasst, die hier veröffentlichten Ausschnitte als Studioproduktion mit fast der identischen Sänger-Besetzung und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks noch einmal aufzunehmen.“ Hierfür habe der Dirigent „die gleichen Szenen in der Partitur gestrichen“, wie vor ihm Karl Böhm in Salzburg. „Ohne die Nebengeräusche kommt die herausragende Besetzung zu größerer Wirkung.“ Statt der Güden war diesmal die erst vierundzwanzigjährige Ingeborg Hallstein die Aminta. Sie agierte weniger glamourös, dafür viel natürlicher und frecher. Eine Antwort auf die Frage, warum nun ausgerechnet das Finale fehlt, bleibt die Autorin schuldig.

Um eine Studioaufnahme im herkömmlichen Sinne dürfte es sich dann doch nicht gehandelt haben, denn im Booklet findet sich zudem eine faksimilierte kostenlose Eintrittskarte für den 6. November zu einem Richard-Strauss-Konzert in der Bayernhalle, das im Fernsehen übertragen wurde. Dafür sollte das Publikum wohl nur Staffage sein. Unser Leser, der Düsseldorfer Opernexperte Carl Meffert, erinnert sich auch unter Hinweis auf die Zeitschrift „Hör zu“: Die Sendung habe von 20.05 bis 21.50 Uhr gedauert. Am Beginn hätten Ausschnitte aus Die Liebe der Danae mit Hildegard Hillebrecht (Danae), Fritz Uhl (Midas) und Josef Metternich (Jupiter) gestanden, gefolgt von der Burleske für Klavier und Orchester, gespielt von der Pianistin Käbi Laretei, der Ehefrau von Ingmar Bergman. Seinen Informationen zufolge gab es abschließend Szenen aus dem ersten und zweiten Akt der Schweigsamen Frau, was auch ein zusätzlicher Hinweis darauf ist, dass der Schluss der dreiaktigen Oper überhaupt nicht eingespielt wurde. „Der Regisseur wird in der TV-Zeitung nicht genannt; vermutlich war es Wilm ten Haaf“, so Carl Meffert.

Sollte es wirklich Absicht von Wallberg gewesen sein, dem technisch mangelhaften Salzburger Mitschnitt, der damals noch gar nicht auf dem Markt war, bereits im Folgejahr ein klanglich aufgehübschtes lückenhaftes Pendant entgegensetzen zu wollen? Vielmehr deutet die Faktenlage darauf hin, dass an zwei Tage dieselben Szenen unter Studiobedingungen geprobt und akustisch festgehalten wurden, die kurz darauf das Fernsehpublikum in Kostümen und Kulissen live geboten bekam. Dass es die bewegten Bilder gab, ist unstrittig. Auf YouTube sind sie zu sehen. Dort allerdings in einer Präsentation durch den Pianisten, Moderator und Musikschriftsteller Ludwig Kusche, der sich zu den Umständen der Entstehung allerdings nicht äußert. Auch die neue CD gibt äußerlich einen Hinweis auf die szenische Situation. Vorder- und Rückseite des Covers bestehen laut Booklet aus Fotos vom Richard-Strauss-Konzert aus der Bayernhalle. Dass dabei Wunderlich und Prey optisch im Mittelpunkt stehen, ist mehr als angemessen. Sie überragen das gesamte Ensemble. Deutsche Künstler mit solchen frischen süffigen Stimmen hatte man bis dahin noch nicht gehört. Beide verkörpern auch durch ein gewisses Draufgängertum und Selbstbewusstsein ihrer dreißig Jahre Aufbruch und Zukunft auf der Opernbühne. Schade, dass es keine Gesamtaufnahme geworden ist. So einen Schub wie in der Bayernhalle hätte es gebraucht, dem Werk doch noch seinen ebenbürtigen Platz neben den anderen Meisterwerken von Richard Strauss zu sichern. Was danach auf Tonträger gelangte, reicht nicht heran an dieses Münchner Feuerwerk.

Die erste komplette Aufnahme der Oper war eine deutsch-deutsche Electrola-Eterna-Gemeinschaftsproduktion von 1976 bis 1977 in Dresden.

Übrigens sind Wunderlich als Henry, die Hallstein als seine Frau Aminta und Wallberg als Dirigent 1962 bis ans Teatro Colon in Buenos Aires gekommen. Der Mitschnitt hat aber mehr dokumentarischen denn künstlerischen Wert und klingt technisch bescheiden. Die erste komplette Einspielung entstand 1976/77 am Ort der Uraufführung mit der Dresdener Staatskapelle unter Marek Janowski als deutsch-deutsches Projekt für Eterna und EMI. Sie ist nun im Katalog von Warner zu finden. Klanglich schneidet sie mit Abstand am besten ab, wenngleich das turbulente Geschehen unter Studiobedingungen gebremst und etwas steril wirkt. Mit Theo Adam (Morosus), Eberhard Büchner (Henry) und Annelies Burmeister (Haushälterin) steuerte die DDR drei ihrer namhaftesten Sänger bei. Dass auch Werner Haseleu als Vanuzzi dabei ist, dürfte noch immer jene Opernbesucher freuen, die ihm als begnadeten Sängerdarsteller in Weimar, Dresden und an der Berliner Staatsoper in Erinnerung haben. Aus dem Westen kamen in die als Aufnahmeraum genutzte Lukaskirche die Amerikanerin Jeanette Scovotti (Aminta) die sich mit der deutschen Sprache schwer tut, doch für die extremen Höhen bestens disponiert ist, Wolfgang Schöne (Barbier), Trudeliese Schmidt (Carlotta), Klaus Hirte (Morbio) und Helmut Berger-Tuna (Farfallo). Die CD von BR-Klassik erweckt Hoffnungen auf mehr. Sollte sie der Auftakt einer neuen Serie sein? Folgen gar die Danae-Szenen aus der Bayernhalle? Schön wär’s. Das Archiv ist bekanntlich gut gefüllt. Rüdiger Winter

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.Das Foto oben zeigt einen Cover-Ausschnitt der neuen CD: Fritz Wunderlich (links) und Hermann Prey in einer Szene aus der Produktion in der Bayernhalle / Sessner (BR) 

Deutsch-Polnisch-Italienisches

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Viel weniger bekannt als die drei Tudor-Opern Gaetano Donizettis ist Gioachini Rossinis Elisabetta regina d’Inghilterra, für Neapel komponiert und deshalb von vornherein unter einem schlechten Stern stehend, denn der erträumte Protegé, Napoleons Schwager, Marschall und König von Neapel, Jerome Murat, war gerade vom Thron der beiden Sizilien verjagt worden, und die Bourbonen waren zurückgekehrt. Trotzdem war das Werk durchaus ein Erfolg, irritiert allerdings heutige Hörer dadurch, dass die Sinfonia identisch ist mit der vom Barbiere di Siviglia, zu der sie in ihrer munteren Beschwingtheit weit eher zu passen scheint als zu der mit einem Verzicht auf den geliebten Leicester endenden Oper des Schwans von Pesaro. Die endet nicht so blutig wie Donizettis Maria Stuarda, die den Grafen zwischen zwei Königinnen stehend zeigt, bei Rossini ist er bereits glücklich verheiratet, einer Intrige  des Herzogs von Norfolk ausgesetzt, aber dem Schafott entgehend, weil sich Elisabetta dafür entscheidet, der Liebe zu entsagen und nur noch Landesmutter zu sein. So hat sie zwar am Schluss auch ihre große Szene, aber die ist anders als bei Donizettis Roberto Devereux nicht eine des Verzichts, sondern eine der Selbstbesinnung.

Wirft man einen ersten Blick auf das Cover der bei Naxos erscheinenden CD, denkt man, es handele sich dabei um eine polnische Produktion, denn Orchester und Chor sind die aus Krakau. Auch in der polnischen Stadt wurden Teile der CD aufgenommen, inszeniert wurde aber in Bad Wildbad zu den Rossini-Festspielen im Jahre 2021. Auf westlichen Bühnen bedient man sich noch immer gern aus dem ehemaligen Ostblock stammender Orchester und Chöre, so auch in Martina Franca, deren Mitglieder gern ihr Können an Orten, wo andere Urlaub machen, zur Schau stellen. Die Inszenierung stammte übrigens vom Begründer der Rossini-Festspiele Jörg Schönleber, für deren Authentizität lange Jahre Alberto Zedda und William Matteuzzi garantierten.

Den Genuss der beiden CDs wesentlich erhöhen kann die Lektüre des Booklets, das vom Rossini-Kenner Reto Müller gestaltet wurde und wertvolle Informationen über das Werk liefert. Zwar gibt es kein Libretto im Booklet, aber eine sehr ausführliche Inhaltsangabe auch in deutscher Sprache.

Die anspruchsvolle Partie der Elisabetta ( komponiert für Isabella Colbran) wird  hier nun von  Serena Farnocchia gesungen, die einen sehr jung klingenden, leuchtenden Sopran dafür einsetzen kann, auch in der Höhe meistens angenehm zart, unter Druck auch einmal schrill werdend, insgesamt wünscht man sich, obwohl die Sängerin zunehmend an ihrer Aufgabe zu wachsen scheint, etwas mehr Majestät in der Stimme, obwohl sie sich bemüht, ihr einen intriganten Anstrich zu geben, ehe der Entschluss zum Verzicht gereift ist.  Matilde, die Gattin des umschwärmten Leicester, ist ebenfalls ein Sopran, Veronica Marini, und gestaltet sehr schön die Verzierungen ihrer Partie, empfindsam klingt ihr „Sento un’interna voce“, sie klingt zugleich anmutig und virtuos.

Es gibt nicht vier, wie im Otello, aber immerhin drei Tenöre, die des Intriganten wurde sogar für Manuel Garcia komponiert. Merit Süngü, der eher ein Charaktertenor ist, singt einigermaßen virtuos, aber mit wenig Substanz in der sich manchmal nur mit Mühe gegenüber dem Orchester durchsetzenden Stimme. Leicester ist Patrick Kabongo mit weichem, fein konturiertem Tenor, mit guter Höhe und dem Wissen um die Bedeutung der Rezitative. Die Spitzentöne sind kraftvoll, sein „Sposa amata“ klingt empfindsam, allerdings darf man mit einem Rockwell Blake oder Chris Merrill nicht vergleichen, aber Bad Wildbad war ja nie berühmt für Starauftritte, sondern für die Entdeckung und Förderung junger Talente, was hoch verdienstvoll ist. Eher ein Stichwortgeber ist der Guglielmo von Luis Aguilar, aber er scheint ein schönes Timbre zu besitzen.

Für Italianità im Orchester sorgt Antonino Fogliani, der Chor war wohl nicht  immer optimal für eine Aufnahme platziert, schlägt sich aber  achtbar. Da die wie die Sinfonia aus anderen Opern Rossinis stammenden Tracks aus weniger bekannten Werken stammen, stört der Pasticcio-Charakter der Elisabetta kaum (Naxos 2 CD. 8.660538-9). Ingrid Wanja

A te, Puccini

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In letzter Zeit fast ausschließlich Puccini und von ihm fast ausschließlich Mimi gesungen hat Angela Gheorghiu, die sich im zum Teil selbst gestalteten Booklet zu ihrer Aufnahme von des Luccheser Canzonen noch auf die Eloge der New York Sun beruft, die sie als „the world’s most glamorous and gifted opera star“ bezeichnete, während ein anderes Urteil ihr bescheinigte, „she penetrates the hearts“. Auch mit ihren Auftritten vor gekrönten Häuptern schmückt sich der Sopran aus Rumänien gern, selbst mit denen vor einem, dem eine Krönung nie zuteil wurde wie dem Monarchen aus ihrem Heimatland.

Die CD mit siebzehn Tracks, die 2023 in Lucca aufgenommen wurde und  zum 100. Todestag des Komponisten erscheint,  zeichnet sich durch die weltweit erste Einspiellung von Melanconia aus, deren Text vom Opernlibrettisten Antonio Ghislanzoni stammt, und es gelingt der Sängerin, die Kontraste zwischen den „astri radianti“ und dem „gel eterno“ durch den Wechsel der Stimmfarben wirkungsvoll herauszustellen. Auch dem in ähnlicher Stimmung sich bewegenden Morire? überzeugt eine schöne Nachdenklichkeit, die die Stimme auch einmal wirkungsvoll aufblühen lässt.

Über diese Fähigkeit verfügt Gheorghiu auch bereits beim einleitenden A te des Sechzehnjährigen, allerdings sind auch eine verwaschene Diktion  und Züge von Manierismus unüberhörbar und eine Überfrachtung des Stückleins mit überbordender Agogik. Das von einem Harmonium begleitete Salve Regina wird sehr theatralisch aufgefasst, man bemerkt eine ausgeprägte Effekthascherei und ist verstimmt. Als Storiella bezeichnete der Komponist die Geschichte von einem Paar, das sich über einem Liebesroman der eigenen Liebe bewusst wird. Darin Francesca und Paolo zu erkennen, ist etwas gewagt, da  sie allzu heiter erscheint. Sehr schön einfühlsam erklingt A una morta, in dem die Stimme den Flug der Seele nachzuvollziehen scheint. Mit recht scharfer Extremhöhe, hochdramatisch die Kontraste hervorhebend, wird Mentia l’avviso interpretiert, erstaunlich erscheint, dass Sole e amore auch mit der von Tod und Abschied sprechenden Szene aus dem dritten Akt von La Bohéme vereinbar sind. Wie ein stolzes Bekenntnis klingt Inno a Diana und lässt den Sopran mit seinen Stimmfarben spielen. Dass sie über ein klangvolles Piano verfügt, beweist Gheorghiu mit É l’uccellino, die Melancholie von Terra e mare wie das stolze Sichaufbäumen, von dem Canto d’anime erzählt, werden in den entsprechenden Canzoni hörbar, allerdings auch eine gewisse Schärfe. Schlicht und einfach, wie es sich gehört, interpretiert der Sopran Casa mia, sanft und einschmeichelnd den Sogno d’or und mit frischer Unbekümmertheit ohne chauvinistischen Beiklang den Inno a Roma.

A te, Puccini heisst die als persönliche Gabe an den Komponisten gedachte CD, der sich sicherlich über das Geschenk einer so schönen Frau gefreut hätte.

Keinen erfahreneren und besseren Begleiter als Vincenzo Scalera kann man sich am Klavier vorstellen (SIGCD780: Ingrid Wanja   

Peitschenhiebe auf dem Felsen

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Sie sang so gut wie alles. Von der Königin der Nacht in der Zauberflöte bis hin zur Elektra, Salome, Brünnhilde und Ortrud. Dazwischen Lulu, Marschallin im Rosenkavalier, Butterfly, Tosca, Lady Macbeth und die Maria in Wozzeck. Die Rede ist von der Schwedin Laila Andersson-Palme, Jahrgang 1941. Palme im Doppelnamen rührt von ihrer Ehe mit dem renommierten Schauspieler Ulf Palme (1920 bis 1993) her. In allen Sopranlagen unterwegs, gilt sie als eine der vielseitigsten Sängerinnen ihrer Generation. Sterling, das 1980 in Stockholm gegründete Label, zeichnet ihre erfolgreiche Karriere mit immer neuen Tondokumenten nach. Das ist außerordentlich verdienstvoll. Offizielle Aufnahmen sind nämlich rar. Es wird auf Mitschnitte aus verschiedenen Ländern zurückgegriffen. Sie vermitteln von dieser temperamentvollen und spontanen Künstlerin den vielleicht besseren Eindruck. Es fällt schwer, sie sich vor einem Studiomikrophon vorzustellen. Sie brauchte die Bühne, um ihre hochdramatisches Talent zur Geltung zu bringen.

Laila Andersson-Palme / Wikipedia

Eine komplette Walküre aus dem Opernhaus der dänischen Stadt Aarhus von 1987 präsentiert die neuesten Box (CDA 1870, 1871, 1872). Am Klang in bestem Stereo ist nicht zu deuteln. Francesco Cristofoli entfesselt am Pult des Aarhus Symphony Orchestra Wagners Musikdrama in voller Pracht zwischen feinsten lyrischen Verästelungen und tosendem Sturm. Die Streicher sind sein Fundament. Es stellt sich die Frage, warum dieser dänische Dirigent, der bei Sergiu Celibidache studiert hatte und 2004 gestorben ist, außerhalb seines Heimatlandes weitgehend unbekannt blieb und so gut wie keine Platten einspielte. Er führt die Sänger sicher durch das anspruchsvolle Werk, lässt ihnen stets den Vortritt, deckt sie nie zu und dreht nur dann gehörig auf, wenn die Stimmen schweigen.

Laila Andersson-Palme ist die Brünnhilde, Lisbeth Balslev die Sieglinde. Seit sie 1978 in Bayreuth als Senta in der Harry-Kupfer-Inszenierung des Fliegenden Holländer auch international bekannt wurde, gehörte Wagner zu ihren zentralen Komponisten, den sie mit herber Stimme eindrucksvoll zu gestalten wusste. Bis auf die groß besetzte Ballade Elverskud von Niels Gade wurde sie für Studioaufnahmen nicht herangezogen. Nach Aarhus kehrte Lisbeth Balslev in den 1990er Jahren zurück, um im Ring diesmal die Brünnhilde zu singen, wovon sich ebenfalls ein Mitschnitt erhalten hat. Mit Sven-Olof Eliasson war ihr als Siegmund ein Tenor zur Seite, der vor allem durch seine Mitwirkung im Studio-Monteverdi-Zyklus von Nikolaus Harnoncourt (Ulisse und L’Humana fragilità) für Telefunken aus dem Jahr 1971 in Erinnerung geblieben ist. Vielseitigkeit war sein Markenzeichen. Er versieht Wagner mit leichten lyrischen Facetten und verkörpert so ehr das Gegenteil eines klassischen schweren Heldentenors. Was bei ihm auffällt, gilt so auch für alle Mitwirkenden – sie singen außerordentlich wortdeutlich. Und nicht nur das. Sie bringen auch das Wissen um die Rollen und die jeweiligen dramatischen Situationen des Handlungsverkaufs ein. In Arhus wird Wagner vom feinsten geboten.

Das Finale auf dem Walküren-Felsen mit Leif Roar als Wotan ist bereits aus einem anderen Sterling-Album (CDA 1837/1838-2) bekannt. Im Zusammenhang wiedergehört, bleibt es der Höhepunkt der spannungsgeladenen Aufführung, dem alles zuzustreben scheint. Laila Andersson-Palme gibt eine außerordentlich entschlossene Brünnhilde, die ihre stählerne Höhe heftig  gegen den zornigen Göttervater einsetzt wie Peitschen. „Was hast Du erdacht, das ich erdulde?“ Atemlos und gehetzt wirft sie die Frage hin und kommt damit der Wahrheit des Moments allein durch Ausdruck nahe – und nicht durch Schöngesang. Rüdiger Winter

 

Lichter im Gran Canal

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Nur wenige Stunden trennen an jedem 1. Januar die Übertragung des Neujahrskonzerts der Wiener Philharmoniker von der des Venezianer Opernhauses La Fenice, ein ganzes Jahr jedoch die überprompt erscheinende CD vom ersteren von der DVD des letzteren. Eine gleiche beruhigende Gewissheit kann man auch in Bezug auf die Programmgestaltung beider Institutionen haben, denn während die Wiener sich musikalisch im Umfeld der Familie Strauß bewegen, sind in Venedig „Va pensiero“ aus Nabucco, „Libiam ne‘ lieti calici“ aus Traviata und „Nessun dorma“ aus Turandot unverzichtbar und so sicher im Programm auftauchend wie das Amen in der Kirche. Von den Wienern unterscheiden sich die Venezianer auch dadurch, dass stets Gesangssolisten auftreten und die weiblichen sich als perfekt im schnellen Kostümwechsel erweisen. In dieser Hinsicht enttäuscht auch der Sopran vom Jahreswechsel zu 2023 nicht, indem er nacheinander, wenn auch in veränderter Anordnung die deutschen Fahnen Schwarz Rot Gold trägt, wobei die Wahl der Farbe bereits Teil der Interpretation sein dürfte.

Es beginnt allerdings ungewöhnlich mit einem nichtitalienischen Dirigenten, Daniel Harding, und einem langen rein orchestralen Programmteil, der Italienischen Sinfonie von Felix Mendelssohn Bartholdy, nachdem ein außerordentlich edel aussehender Jüngling durch ein von Schneefall zusätzlich verzaubertes Venedig wallt und sich tanzend einer Ballettgruppe anschließt. Ein ähnliches Bild gibt es später so unvermittelt wie ungewöhnlich noch einmal. Es handelt sich um Jacopo Tissi und das Ballett des Teatro Massimo di Palermo. Das Orchester jedoch ist das des Teatro di Fenice, das unter Daniel Harding sehr beschwingt, sehr melodiös, sehr romantisch aufspielt. Es folgt die Ouvertüre zu Le Nozze di Figaro, die durchaus auch als eine solche von Rossini durchgehen könnte, und schließlich ein Ausschnitt aus Tschaikowskis Dornröschen.

Ihren ersten Auftritt hat Federica Lombardi mit Normas „Casta Diva“, die sie süß flötend sehr mädchenhaft klingend bewältigt, obwohl man sich eine „wissendere“ Stimme für die komplexe Partie vorstellen kann. Musettas Auftrittslied aus La Bohéme passt hingegen perfekt, die wenigen Töne des Schlusses von Turandot, „Padre augusto“, sagen wenig aus über die Kompetenz für die Gesamtpartie wie auch das sogar mit einem Bis bedachte Brindisi aus La Traviata.

Der Tenor des Konzerts ist Freddie De Tommaso, der mit weicher, dunkel getönter Stimme die Blumenarie aus Carmen dramatisch angeht, sich einen kleinen Schluchzer leistet und mit einem schönen Diminuendo endet. Kraftvoll wird „Nessun dorma“ in Tiefe wie Höhe bewältigt und erntet natürlich den meisten Beifall. Der Chor reüssiert mit Nabucco und La Clemenza di Tito, das Orchester mit einem süffigen Intermezzo aus Cavalleria Rusticana und dem spektakulärsten Ausschnitt aus der Ouvertüre zu Guglielmo Tell. Dirigent und Professori scheinen sich bei allen Stilrichtungen gleichermaßen in ihrem Element zu befinden (C Major 766208). Ingrid Wanja        

Diebe und Huren auf Londons Bühnen

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Im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert würden viele Werke, die das anglophone Publikum als „Opern“ betrachtete, heute nicht mehr unter diese Bezeichnung fallen. Der Begriff „Oper“ existierte in einem Spektrum mit verschiedenen anderen Arten von theatralischer musikalischer Unterhaltung. Unser Katalog versucht, dieses Spektrum abzudecken. Er umfasst Werke, die auch heute noch als Opern gelten (Raymond and Agnes, The Soldier’s Legacy, The Wreckers, The Boatswain’s Mate und Fête Galante), neben Operetten (Pickwick und Cups and Saucers), Charles Dibdins ‚Table Entertainments‘, die er als Ein-Mann-Opern betrachtete (Christmas Gambols und The Wags), ein Singspiel (The Jubilee) und ein Konzertmelodram (The Happy Prince).

Jack Sheppard (Jack Sheppard – A Victorian Melodrama, a Play by John Baldwin Buckstone (1802–79), Music by G. Herbert Rodwell (1800–52), Adaptation by David Chandler and Valerie Langfield) erweitert den Blickwinkel von Retrospect Opera auf das theatralische Melodram, ein im 19. Jahrhundert äußerst beliebtes Unterhaltungsgenre, das mit der Oper konkurrierte, ihr nacheiferte und sie beeinflusste, da es oft in denselben Theatern aufgeführt wurde. Obwohl keine Melodramen aus der frühen viktorianischen Zeit vollständig erhalten sind, wurden bei Jack Sheppard – einem der erfolgreichsten Vertreter dieses Genres – das Libretto und die Lieder veröffentlicht. Daher hielten wir es nur für notwendig, die passende melodramatische Musik – handlungs- und stimmungsbestimmende Musik – desselben Komponisten einzuschieben, um diese gekürzte, speziell als Hörerlebnis konzipierte Adaption präsentieren zu können. Wir hoffen, dass dies dem modernen Publikum ein echtes Gefühl für die Aufregung, die Emotionen und die Melodramatik des Melodrams in seiner fesselndsten Form vermittelt und gleichzeitig einen wichtigen Kontext für die britischen Opern der damaligen Zeit liefert.

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‘The Escape No. 2’ by George Cruikshank, from „Jack Sheppard“ by W.H. Ainsworth (1839)/aindsworth and friends

Was ist ein Melodrama? In seinem Buch Melodrama (1973) wies James Smith auf das Definitionsproblem hin: „Fragen Sie einen Musiker, einen Literaturwissenschaftler oder sogar diese bequeme Abstraktion, den Mann auf der Straße, und Sie werden drei verschiedene Antworten erhalten.“ Aber in den 1830er Jahren ging das britische Publikum mit einer klaren Vorstellung davon ins Theater, was es zu erwarten hatte. Für sie war ein Melodram ein aufsehenerregendes musikalisches Stück, in der Regel aufwändig inszeniert und mit vielen Spezialeffekten versehen; die Handlung war auf maximale Spannung und Emotionen ausgelegt; es gab eine bestimmte Anzahl von Liedern, möglicherweise Refrains, und die gesprochenen Dialoge wurden durch Ausbrüche von Orchestermelodien unterbrochen, die oft ein „eingefrorenes“ Tableau begleiteten. Es handelt sich um ein Genre des neunzehnten Jahrhunderts. Jahrhunderts. Das erste vollwertige Melodram in diesem Sinne war Coelina, ou l’enfant du mystère von René-Charles Guilbert de Pixérécourt, das am 2. September 1800 in Paris uraufgeführt wurde. Obwohl das Melodram in London, wo es 1802 eingeführt wurde, zunächst als Kuriosität betrachtet wurde, feierte es in Großbritannien und später in Amerika bald denselben außerordentlichen Erfolg, den es bereits in Frankreich erzielt hatte. Seine Popularität hielt bis zum Aufkommen des Kinos an.

Der Autor und Schauspieler J_B_Buckstone/ Stich von Frederick_Waddy/aindsworth and friends

Das englische Melodrama des 19. Jahrhunderts kann als eine Art Alternative zur englischen Oper betrachtet werden (die ihrerseits in hohem Maße auf gesprochene Dialoge zurückgreift), zumal die beteiligten Komponisten die Dinge oft in diesem Sinne sahen. Nichtsdestotrotz hätte der Großteil des sehr unterschiedlichen Publikums das neue Genre aufgrund seiner eigenen Vorzüge genossen, und diese Aufnahme soll das Argument liefern, dass wir das auch tun sollten. Jack Sheppard ist ein hervorragender Ausgangspunkt, denn das Stück, das sich 1839, als es am 28. Oktober im Adelphi Theatre uraufgeführt wurde, großer Beliebtheit erfreute, vermittelt einen sehr guten Eindruck davon, was das Londoner Publikum zu Beginn des viktorianischen Zeitalters attraktiv fand. Tatsächlich löste Jack Sheppard, die Geschichte eines charismatischen Verbrechers, eine so große Begeisterung aus, dass nicht nur die konservativeren Mitglieder des Publikums, sondern auch die Genehmigungsbehörden, die darüber wachten, was in britischen Theatern aufgeführt werden durfte und was nicht, alarmiert waren. Als William Bodham Donne 1857 zum Examiner of Plays ernannt wurde, veranlasste er rasch ein Verbot der Aufführung von Jack Sheppard. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Stück jedoch bereits einen Eindruck in der Populärkultur hinterlassen, wie ihn kaum ein anderes Melodrama jener Zeit hinterlassen hat.

Der Komponist G. Herbert Rodwell/ainsworthandfriends.

Der echte Jack Sheppard (1702-24) war eine legendäre Figur in den Londoner Kriminalgeschichten. Der Sohn eines Zimmermanns ging selbst in die Lehre und führte bis etwa 1722 ein respektables Leben. Dann begann er nach eigenen Angaben, die Taverne Black Lion in der Drury Lane aufzusuchen, ein Treffpunkt für Kriminelle und Prostituierte. Sheppard begann 1723 eine Karriere als Dieb und wurde der Geliebte von Elizabeth Lyon, einer Prostituierten, die als Edgworth Bess bekannt war. In den letzten Monaten seines kurzen Lebens erlangte er sensationellen Ruhm, da es ihm gelang, viermal aus dem Gefängnis auszubrechen, darunter zweimal aus Newgate, dem berüchtigtsten Gefängnis des Landes. Er war ein Held für die ärmeren Bevölkerungsschichten und eine Figur von romantischer Faszination für viele in höheren Kreisen. Sheppards unerbittlicher Feind war Jonathan Wild (1682-1725), der berüchtigte „General der Diebe“, der auf beiden Seiten des Gesetzes agierte. Einer von Sheppards Verbündeten war Joseph „Blueskin“ Blake (1700-24), selbst ein berühmter Dieb und Gefängnisausbrecher. Sheppard wurde am 1. November 1724 zum letzten Mal verhaftet und am 16. November hingerichtet. Blueskin ging ihm in Wirklichkeit voraus, da er am 11. November hingerichtet wurde. Sheppards Geschichte wurde im Laufe des 17. Jahrhunderts immer wieder erzählt, und er war eine wichtige Inspiration für John Gays The Beggar’s Opera (1728), in dem Wild als Peachum persifliert wird. Wahrscheinlich hat er auch William Hogarth zu seiner Serie Industry and Idleness (1747) inspiriert, in der der Abstieg eines Lehrlings in die Kriminalität mit dem Aufstieg eines anderen Lehrlings kontrastiert wird, der die Tochter seines Meisters heiratet.

Diese Idee des Kontrasts zwischen zwei jungen Männern steht wiederum im Mittelpunkt des Romans Jack Sheppard von William Harrison Ainsworth, der zwischen Januar 1839 und Februar 1840 als Fortsetzungsroman erschien und mit großem Erfolg das Interesse an der Geschichte von Jack Sheppard wiederbelebte. Ainsworth erfand die zusätzlichen Figuren des Thames Darrell und seines schurkischen Onkels Sir Rowland Trenchard. Letzterer, so erfahren wir, war ein Jakobiter und erbte deshalb den Titel seines Vaters, nicht aber dessen Ländereien, die stattdessen an Thames‘ Mutter gingen. Ainsworth machte Blueskin zu einem viel älteren Mann aus Wilds Generation. Der Roman ist in drei Teile gegliedert. Der erste Teil spielt im Jahr 1703, zur Zeit des Großen Sturms (26. November), als Jack und Thames noch Babys sind. Der zweite Teil spielt im Jahr 1715, zur Zeit der jakobitischen Verschwörungen nach dem Tod von Königin Anne. Jack und Thames sind jetzt Lehrlinge in der Schreinerei von Owen Wood, und Thames ist Woods Adoptivsohn (ein Detail, das im Melodram nicht berücksichtigt wird). Die Unterschiede zwischen den Jungen werden stark hervorgehoben: „Die beiden Freunde standen in auffälligem Kontrast zueinander. In Darrells offenen Zügen standen Offenheit und Ehre in lesbaren Buchstaben geschrieben, während in Jacks Physiognomie Gerissenheit und Schurkerei ebenso stark eingeprägt waren. In allen anderen Aspekten unterschieden sie sich ebenso stark. Der dritte Teil, der im Jahr 1724 spielt, schildert die Ereignisse, die zu Jacks Hinrichtung führen.

Ainsworth’s „Jack Sheppard and the Newgate Controversy“/Illustration zum Roman/ainsworthandfriends

Das rasante Tempo und die ununterbrochene Spannung von Ainsworths Roman machten ihn zu einer offensichtlichen Quelle für ein Melodrama. So begann der Schauspieler und Dramatiker John Baldwin Buckstone (1802-79), ein regelmäßiger Mitarbeiter des Adelphi Theatre, lange vor der Fertigstellung der Serie mit der Ausarbeitung einer dramatischen Fassung, in der er einen Großteil von Ainsworths Dialogen wortwörtlich wiedergab. Dies war genau die Situation, die Charles Dickens zu dieser Zeit in Nicholas Nickleby (1839) angriff: Die „unvollendeten Bücher lebender Autoren“ wurden „hastig und grob“ für die Bühne adaptiert, und Romanautoren hatten keinen rechtlichen Schutz gegen solche Praktiken. In diesem Fall waren die Dinge noch komplizierter, da Ainsworth den kompletten Roman in drei Bänden am 15. Oktober 1839 veröffentlichte. Wenn man Melodram und Roman vergleicht, ist es offensichtlich, dass Buckstone zwischen dem 15. und 28. Oktober viele Änderungen an seinem Text vorgenommen haben muss, um Material einzubringen, das ihm vorher nicht zur Verfügung stand. In Anbetracht dessen ist es bemerkenswert, wie fließend das Melodrama ist, das sich nur bis zu dem Punkt eng an den Roman anlehnt, an dem Jack und Thames aus dem St. Giles’s Roundhouse fliehen; danach wird die Beziehung zwischen den Texten viel lockerer. Buckstones Melodram besteht aus vier Akten, von denen der erste 1703, der zweite 1715 und der dritte und vierte 1724 spielt. In dieser Form war es fast vier Stunden lang, so dass in der Praxis der erste Akt (der keine Lieder enthält) oft weggelassen wurde, so auch in dieser Aufnahme. Um ein kohärentes Hörerlebnis zu schaffen, haben wir zusätzlich einen Erzähler eingesetzt, der es ermöglicht, das Melodrama weiter zu kürzen und von abschweifenden Episoden zu befreien, während alle Lieder enthalten bleiben. Jack Sheppard eignet sich hervorragend für eine Präsentation in Audioform, da er viele dramatische Szenen zwischen nur zwei Sprechern enthält.

‘Jack Sheppard escaping from the condemed hold in Newgate’ (aided by Edgeworth Bess and Poll Maggot) by George Cruikshank, from Jack Sheppard by W.H. Ainsworth (1839)/ainsworthandfriends

Das Melodrama verlangt nach mutigen Schauspielern, die die einfachen, überlebensgroßen Figuren überzeugend verkörpern und das leicht ablenkbare Publikum auf das Bühnengeschehen fixieren können. In dieser Hinsicht hatte Jack Sheppard besonderes Glück, denn die Chemie zwischen Mary Anne Keeley (1805-99) in einer Hosenrolle als Jack und Paul Bedford (1792?-1871) als Blueskin war vom ersten Abend an als ein einzigartiges Stück Theatermagie anerkannt. Beide Schauspieler wurden stark mit diesen Rollen identifiziert, die sie bis in die 1850er Jahre hinein spielten. Noch 1899 schrieb Clement Scott: „Die alten Theaterbesucher werden nicht müde, uns in das Jahr 1839 zurück zu versetzen und Mrs. Keeley als Jack Sheppard und Paul Bedford als Blueskin zu beschreiben. Blueskin ist in dem Melodram eine viel sanftere Figur als im Roman – wo er beispielsweise Mrs. Wood tötet, indem er ihr die Kehle durchschneidet – und Bedford spielte ihn mit gewinnendem Charisma.

Der Mann, der die Musik für Jack Sheppard komponierte und arrangierte, war George Herbert Buonaparte Rodwell, allgemein bekannt als G. Herbert Rodwell. Er wurde am 15. November 1800 in London geboren und „begann sein Leben unter sehr günstigen Vorzeichen“, wie es in seinem Nachruf in The Times heißt. Schon in jungen Jahren zeigte er eine starke Anziehungskraft auf die Bühne, sowohl als angehender Schriftsteller als auch als Komponist. Er machte sich zunächst als Dramatiker einen Namen, seine populäre gesprochene Farce Where Shall I Dine? erschien bereits 1819. In den folgenden Jahren konzentrierte er sich jedoch auf die Musik und nahm Privatunterricht bei Henry Bishop (1786-1855), Großbritanniens führendem Theaterkomponisten in den 1810er und 20er Jahren. Rodwells späteres Lehrbuch, The First Rudiments of Harmony (1830), war Bishop in den schmeichelhaftesten Worten gewidmet: „Ihnen allein verdanke ich all das musikalische Wissen, das ich besitze. … es wird immer meine stolzeste Erinnerung sein, wenn ich daran denke, dass ich der Schüler unseres englischen Mozarts gewesen bin“.

‘Jonathan Wild throwing Sir Rowland Trenchard down the well-hole’ by George Cruikshank, from Jack Sheppard by W.H. Ainsworth (1839)/ainsworthandfriends

Sein kompositorisches Debüt gab Rodwell mit der „Dramatischen Romanze“ Waverley, or Sixty Years Since von Walter Scott, die 1824 am Adelphi Theatre aufgeführt wurde. Der Text stammte von Edward Fitzball (1792-1873), der bereits auf dem besten Weg war, einer der erfolgreichsten britischen Bühnenautoren zu werden. Fitzball schrieb später, er habe „das große Glück gehabt, einen genialen Mann für die Komposition der Musik zu haben, der die Ideen des Autors mit seinem eigenen überlegenen Können umzusetzen wusste“. Rodwell, laut Fitzball „stets ein höchst fröhlicher Gefährte, war damals ein fröhlicher junger Mann, voller Frohsinn und voller Freude“ (das Zitat stammt passenderweise aus einem populären Lied). Es überrascht nicht, dass Rodwell und Fitzball weiterhin zusammenarbeiteten. Ihren größten Erfolg hatten sie mit dem Melodram The Flying Dutchman, or The Phantom Ship (1826), das jahrzehntelang auf beiden Seiten des Atlantiks aufgeführt wurde und die populärste Theaterfassung der später von Wagner bearbeiteten Geschichte darstellte. Die Hauptperiode von Rodwells Karriere als Theaterkomponist erstreckt sich von Waverley bis Jack Sheppard. Sein berufliches Leben wurde in diesen Jahren vom Adelphi dominiert, wo er von 1827 bis 1835 und erneut von 1838 bis 1843 als Musikdirektor tätig war. Dazwischen war er Musikdirektor in Covent Garden und unterrichtete ab 1834 auch die zukünftige Königin Victoria. Im Jahr 1840 erlitt Rodwell eine schwere gesundheitliche Krise und widmete sich für den Rest seines Lebens hauptsächlich der eher sitzenden Tätigkeit des Schreibens von Fortsetzungsromanen, wobei seine sehr kompetenten Bemühungen seine tiefe Vertrautheit mit den populären Romanen seiner Zeit erkennen lassen. Er starb am 22. Januar 1852 in London.

Mary Anne Keeley war eine berühmte Hosenrollen-Darstellerin, namentlich als Jack Sheppard im Londoner Adelphy/Wikipedia

Als Komponist empfand Rodwell viel kreative Frustration, wie sein Brief an die Musiker Großbritanniens (1833) deutlich macht. Es handelt sich um eine schrille Klage, in deren Mittelpunkt die Tatsache steht, dass britische Komponisten nur sehr selten die Möglichkeit hatten, „große Opern“ zu komponieren, die er als „die Spitze des musikalischen Baumes“ ansah. Große Oper“ war eine eher vage Kategorie, bezog sich aber im Allgemeinen auf Opern im kontinentalen Stil, sei es im italienischen Stil von Rossini, im französischen Stil von Boieldieu (dessen La dame blanche Rodwell für den britischen Konsum als The White Maid adaptierte) oder im deutschen Stil von Weber. Am nächsten kam Rodwell der Komposition eines solchen Werks mit seiner „Grand National Opera“ The Lord of the Isles (nach Scott) mit einem Libretto von Fitzball, die 1834 vom Surrey Theatre herausgebracht und im darauf folgenden Jahr in Covent Garden aufgeführt wurde. Doch obwohl The Lord of the Isles erfolgreich war, konnte oder wollte Rodwell nicht mehr in diesem Umfang komponieren. Er war zwar immer gefragt, aber nicht für die große Oper. Ein Großteil seiner kreativen Energie musste in das fließen, was das Publikum am meisten wollte: das Melodram.

Die Lieder in Jack Sheppard haben meist Texte von Ainsworth selbst. The Newgate Stone“, das in Rodwells Vertonung als „Claude Duval“ bekannt wurde, „Jolly Nose“ und „The Carpenter’s Daughter“ stammen alle direkt aus dem Roman, während Jacks „St Giles’s Bowl“ eine Strophe einer langen Ballade ist, die Ainsworth Blueskin singen lässt. Nix My Dolly“, das Lied in der Umgangssprache, ist dagegen eine gekürzte Version von Jerry Juniper’s Chant“ aus Ainsworths früherem Roman Rookwood (1834). Ainsworth war sehr stolz auf diese Komposition und argumentierte, dass ihr „großes und besonderes Verdienst darin besteht, dass sie für den uninformierten Verstand völlig unverständlich ist, während ihre Bedeutung für den geübten Patterer des Romany oder Pedlar’s French vollkommen klar und deutlich sein muss. Der einzige von Buckstone gelieferte Text, „Farewell My Rory Tories“, enthält einen vergleichbaren Gebrauch von Diebesjargon.

Jack Sheppard vermittelt einen guten Eindruck von Rodwells Arbeitsmethoden, wenn er mit solchem Material konfrontiert wird, das er mit Sicherheit mit ausgewählt hat. Jolly Nose“ und „Nix My Dolly“ wurden originalgetreu vertont und erlangten beide enorme Popularität. Jolly Nose“ wurde zu einem Markenzeichen von Bedford, der es jahrzehntelang sang. Der große musikalische Hit der Show war jedoch „Nix My Dolly“. Die Era urteilte: So wie dies eindeutig das beste Lied in „Jack Sheppard“ ist, so ist es bei weitem das beste, sowohl vom Charakter als auch von der Originalität her, das wir je aus der Feder von George Herbert Buonaparte Rodwell kennen gelernt haben“. Es war „das Lied des Tages“, wie S. M. Ellis es beschrieb, und wurde stets als Zugabe gesungen, wobei das Publikum begeistert mitsang. Sir Theodore Martin (1816-1909) schrieb später über diese Zeit:

‘Jack Sheppard escaping from the condemed hold in Newgate’ by George Cruikshank, from Jack Sheppard by W.H. Ainsworth (1839)/ainsworthandfriends

Nix My Dolly kam überall hin und machte das Getrappel von Dieben und Einbrechern „in unserem Mund zu einem vertrauten Wort“. Es betäubte uns in den Straßen, wo es bei den Leierkastenmännern und deutschen Musikkapellen so beliebt war, wie es Sullivans hellste Melodien später je waren. Es schallte mittags vom Kirchturm von St. Giles, der Kathedrale von Edinburgh (Eine Tatsache. Dass ein solches Thema für das Glockenspiel einer Kathedrale, noch dazu in Schottland, überhaupt gewählt werden konnte, wird man kaum glauben. Aber meine erstaunten Ohren haben es oft gehört.); es wurde von jedem schmutzigen Straßenköter gepfiffen und in Salons von schönen Lippen gesungen, die die Bedeutung der Worte, die sie sangen, kaum kannten.

Kurzum, „Nix My Dolly“ war ein kulturelles Phänomen innerhalb eines kulturellen Phänomens. Nur ein denkwürdiges Beispiel für seine immense kulturelle Wirkung findet sich in einer Beschreibung des „Wagens der Zeit“ in Charles Henry Knox‘ Roman Harry Mowbray (1843): Vulkan selbst hatte die Räder geschmiert, bevor er losfuhr; Bacchus hielt die Zügel, und Phaeton schwang die Peitsche über seine Schultern, mit Venus auf der Kiste, Diana und den Grazien als innere Passagiere, und Apollo als Wächter, der in das Horn blies: „Nix wie weg, Kumpels, fake away“. Die Zeit selbst bewegte sich zu Rodwells Takt! Es gibt guten Grund zu der Annahme, dass Rodwell mit der enormen Popularität von „Jolly Nose“ und „Nix My Dolly“ nicht ganz glücklich war, denn dies war nicht die Art von Musik, für die er in Erinnerung bleiben wollte. Er lizenzierte jedoch vornehmere Salonversionen der beiden Lieder mit anderen Texten: Sparkling Wine“ und „The Woodland Call“. Von ersterem haben wir ein Fragment in diese Aufnahme aufgenommen.

‘Jonathan Wild throwing Sir Rowland Trenchard down the well-hole’ by George Cruikshank, from Jack Sheppard by W.H. Ainsworth (1839)/ainsworthandfriends

Für die anderen Lieder adaptierte Rodwell bestehende Melodien, die sein Publikum in den meisten Fällen wiedererkennen würde. The Carpenter’s Daughter“ adaptierte den alten Kinderreim „Dame Get Up and Bake Your Pies“. Farewell, My Rory Tories“ adaptierte Charles Dibdins „Farewell, My Trim-Built Wherry“, eine berühmte Ballade aus The Waterman (1774). St Giles’s Bowl“ ist eine Adaption von „If the Heart of a Man“, einem Lied aus The Beggar’s Opera, dem Werk, dem Jack Sheppard eine wunderbare Hommage widmet. Claude Duval“, das sich als Jacks Erkennungsmelodie durch das Melodrama zieht, wurde ebenfalls als „Arranged from an Old Tune“ veröffentlicht, obwohl es bisher nicht identifiziert wurde und möglicherweise eine umfassendere Bearbeitung darstellt. Alle diese Lieder, mit Ausnahme von „St Giles’s Bowl“, wurden in ihrer bearbeiteten Form veröffentlicht, und für „St Giles’s Bowl“ haben wir John Parrys Bearbeitung von „If the Heart of a Man“ aus den 1810er Jahren verwendet. Es ist selten, dass ein Melodram aus dieser Zeit, in der alle Lieder veröffentlicht wurden, so einfach zu rekonstruieren ist.

Der Autor und Musik-/Literatur-Wissenschaftler David Chandler/OBA

Wie bei den meisten Melodramen des 19. Jahrhunderts ist die Instrumentalmusik zu Jack Sheppard leider verloren gegangen, obwohl der Text eine Vorstellung davon vermittelt, wo die Musik gespielt wurde. Glücklicherweise sind einige Orchesterstimmen für den Fliegenden Holländer im Working Men’s Institute, New Harmony, Indiana, erhalten. Wir können nicht sicher sein, dass Rodwell die Instrumentalmusik für Jack Sheppard im gleichen Stil komponiert hätte, aber das Melodrama stützte sich in hohem Maße auf bestimmte „Standard“-Klänge, und Kritiker kommentierten oft die Vertrautheit dessen, was sie hörten. In Anbetracht dessen und der Tatsache, dass es sich bei Der fliegende Holländer um echte melodramatische Musik von Rodwell handelt, die in den 1820er Jahren für ihre Originalität bewundert wurde, sind wir der Meinung, dass Jack Sheppard heute am authentischsten mit dieser früheren Rodwell-Partitur präsentiert werden kann, der das kurze Vorspiel und die Schlussmusik entnommen sind.  Für die Begleitmusik hat Valerie Langfield die Stimmung der Szenen in den beiden Melodramen sorgfältig verglichen und die Musik aus dem einen ausgewählt, die für das andere am besten geeignet schien, oder sie hat Musik aus den Liedern genommen. Nachdem wir auf diese Weise eine Art Verbindung zwischen dem Fliegenden Holländer und Jack Sheppard hergestellt haben, haben wir die populärste Gesangsnummer aus dem ersteren in unsere Adaption des letzteren eingebracht, und zwar in einem Geist, den das Publikum des neunzehnten Jahrhunderts durchaus für zulässig gehalten hätte.

„Jack Sheppard“/Poster für die Premiere in Edinburgh/Weir Collection/Wikipedia

Es handelt sich um die Ballade „Return, O My Love“, ursprünglich gesungen von Lestelle, der Heldin des Fliegenden Holländers (entspricht Wagners Senta). Sie war einer von Rodwells ersten großen Hits und wurde von dem zeitgenössischen Dramatiker John Maddison Morton als „die schönste Ballade der Zeit“ bezeichnet, während William Makepeace Thackeray seinen fiktiven Helden Arthur Pendennis als „das aufregendste Liedchen meiner Jugend“ bezeichnete. Es war eine von nur zwei Nummern aus The Flying Dutchman, die veröffentlicht wurden, und erhöht die Zahl der Rodwell-Lieder auf diesem Album auf drei.

Alles in allem gibt diese Aufnahme einen guten Vorgeschmack auf Rodwells Musik für zwei bahnbrechende Melodramen und stellt hoffentlich sicher, dass seine Musik und diese lange verschollene Theatertradition nicht völlig in Vergessenheit geraten. Jack Sheppard wird nie wieder so zu erleben sein wie 1839, aber in der hier aufgenommenen Form ist es hoffentlich immer noch möglich, ein wahres Echo von Apollos Horn zu hören, das „Nix My Dolly“ aus dem fernen Wagen der Zeit erklingen lässt.   © 2023 David Chandler/ Übersetzung DeepL

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JACK SHEPPARD. A Victorian Melodrama. Play by John Baldwin Buckstone (1802–79). Music by G. Herbert Rodwell (1800–52). Adaptation by David Chandler and Valerie Langfield. Charli Baptie – Jack Sheppard. Peter Benedict. – Owen Wood /Sir Rowland/Trenchard,/Davies,/Hogarth. Simon Butterises – Narrator,/Blueskin/Jonathan/Wild/Mrs Wood/Mendez/John Gay, Daniel Huttlestone – Thames Darrell/Quilt/Slimkid, Emily Vine – Winny, Stephen Higgins, piano. Recorded at the Richard Burnett Heritage Collection,. Royal Tunbridge Wells, 4–7 January 2023. Recording Producers Simon Butteriss, Valerie Langfield. Recording Engineer Adam Binks. First Recording. Executive Producer David Chandler (LC 52095)

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Diese Aufnahme wurde größtenteils von David Chandler und Kaori Ashizu finanziert und erhielt Forschungsmittel von der Doshisha University, Kyoto. Wir sind The Finchcocks Charity und Michael Symes für zusätzliche finanzielle Unterstützung sehr dankbar.  Das Klavier auf dieser Aufnahme ist der Erard-Flügel von 1866 aus der Richard Burnett Heritage Collection. Valerie Langfield hat die Musik bearbeitet und die Partitur vorbereitet. Sie übernahm auch die Verantwortung für die verschiedenen „live“ produzierten Soundeffekte und sang im Chor mit.

Retrospect Opera  (eingetragene Wohltätigkeitsorganisation 1164150) mit den Treuhändern Valerie Langfield, David Chandler, Andrew H. King, Christopher Wiley und Benjamin Hamilton hat ein klares Ziel: die Wertschätzung und das Wissen über die britische Oper und verwandte Musikwerke von Mitte des 17. bis Mitte des 19. Jahrhunderts zu fördern. Wir tun dies, indem wir vergessene britische Opern und verwandte Musik erforschen, aufnehmen und veröffentlichen. Unsere Arbeit ist spannend, bereichernd und erfüllt die wertvolle Aufgabe, das britische Opernerbe für künftige Generationen zu bewahren. Ohne die Unterstützung einzelner Spender und anderer gemeinnütziger Einrichtungen, von denen wir finanzielle Mittel erhalten, wäre dies nicht möglich. Bitte besuchen Sie retrospectopera.org.uk, um mehr zu erfahren, wenn Sie glauben, dass Sie für unsere zukünftigen Veröffentlichungen spenden können.