Pure Labsal

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Es  ist nicht er, Andreas Scholl, der Urvater aller deutschen Countertenöre, sondern es ist Jochen Kowalski, aber auf eine mittlerweile jahrzehntelange Karriere in diesem Fach kann der 57jährige mittlerweile auch zurückblicken und legt nun eine CD mit Invocazioni Mariane vorwiegend aus dem neapolitanischen Raum  und dem 18. Jahrhundert vor. Mit dem Sänger, der wie ein Mönch in eine schwarze Kutte gekleidet und zudem noch vor einem düsteren Hintergrund posiert,  scheint das Cover vor allem der schmerzgebeugten Mutter des Gekreuzigten Tribut zu zollen, in Wahrheit aber begegnet dem Hörer auch Maria als Trösterin und Anwältin der Bedrückten. In einem im Booklet nachlesbaren Gespräch legt der Säger auch Wert darauf zu betonen, dass sein Auftritt nicht als Travestie zu verstehen ist, sondern dass er sich in die Rolle der Maria hineinversetzt hat („humanity before gender“). Außerdem richtete er seine Interpretation  danach aus, dass man sich die Stücke auch als Opernarien vorstellen könnte, in denen der Wunsch nach mütterlicher Liebe oder aber der Schmerz der Mutter zum Ausdruck kommt. Zum Ziel gesetzt hat er sich nach eigenem Bekunden auch, seine Kunst nicht wie Kunst wirken zu lassen.

Seit zwanzig Jahren arbeitet Scholl mit der Accademia Bizantina zusammen, die von Ottavio Dantone in Ravenna gegründet wurde und nun von Alessandro Tampieri geleitet wird, der  von der ersten Geige aus dirigiert. Besucher des noblen Festivals von Ravenna, das Riccardo Muti ins Leben gerufen hatte, kennen dieses Orchester und wissen seine Qualitäten zu schätzen. Auch Andreas Scholl arbeitet regelmäßig und seit bereits zwanzig Jahren mit dem Klangkörper zusammen.

Bereits beim Anhören der ersten Tracks, Ausschnitte aus Nicola Porporas Il trionfo della divina giustizia ne‘ tormente e morte di Gesù Cristo, ist man erfreut über Frische, Reinheit und Farbigkeit der Stimme, die ein junges Timbre vermuten lässt. Davor erklingt festlich glänzend die Sinfonia. Eine zarte, pure Klage, die die Stimme als reines Instrument wirken lässt, kann man in „Occhi mesti“ vernehmen, im „Per pietà“ wird das Rezitativ fein ziseliert dargeboten. In schöner, schmerzlicher Klarheit lässt sich Leonardo Vincis Oratorio Maria Dolorata vernehmen, schwerelos schwebend und von reinem, tröstlichem Klang. Im „Tutti sono del materno seno“ faszinieren die Intervallsprünge. Es folgt Pasquale Anfossis Salve Regina als schöner Dialog der Stimme mit den variationsreich eingesetzten Instrumenten. Vivaldis Stabat Mater schließlich ist von wunderschöner Getragenheit. Das Anhören der CD befriedigt den ästhetischen Anspruch und tut darüber hinaus der Seele gut (Naive V 5474). Ingrid Wanja