.
The Italian Tenor nannte sich die erste CD von Vittorio Grigolo und das zu Recht, denn nach den vielen Tenören aus dem spanischen Sprachraum oder neben einem Jonas Kaufmann mit baritonaler Grundierung und verschatteter Höhe nahm sich die Stimme des Aretino mit ihren strahlenden Spitzentönen und dem durch und durch tenoralen Timbre wie eine Offenbarung aus. Dazu kamen die jünglingshafte Optik und die leidenschaftliche Darstellung, die eine Identifzierung mit vielen Figuren der italienischen Opernliteratur wie selbstverständlich erscheinen ließen.
Mit den Jahren scheint ein zu skrupelloses Ausloten der sängerischen Möglichkeiten nicht ohne Folgen geblieben zu sein, wie jüngste Auftritte zeigen, was um so mehr darüber staunen lässt, dass die kürzlich auf dem Markt erschienene Sony-CD mit dem Titel Verissimo den Tenor in sehr guter Verfassung zeigt. Des Rätsels Lösung ist das Datum der Aufnahmen (!), die – 2016! – vor immerhin acht Jahren, wie das Booklet ehrlicherweise, aber kleinstgedruckt, verkündet, in einem Prager Studio entstanden und offensichtlich 2023 im italienischen Cavarzere überarbeitet wurden. Trotzdem ist der Titel des Albums Verissimo, wohl noch als eine Steigerung zu Verismo, gleich der Wahrheit verpflichtet, aber auch als Anspruch zu verstehen, man habe es mit einer grundehrlichen Aufnahme von 2023 zu tun, wie auf der Rückseite des Albums zu lesen. Oder ist dies nur das Datum der Ausgabe der CD?
Es beginnt mit „Dai campi, dai prati“ aus Boitos Mefistofele, leider viel zu selten auf der Bühne zu erleben und vom Tenor mit allen Stärken und Schwächen seine Singens ausgestattet als da sind: ein wie weich gespült klingendes Timbre, eine sentimentale, wenn nicht gar sentimentalische Interpretation voller Effekthascherei und willkürlicher Agogik, eher ein falsch verstandener Werther als ein Faust. Aber das Timbre ist schön, die Textverständlichkeit gegeben. Das Schmachtende der Darstellung passt eher zu Osakas Ständchen aus Mascagnis Iris, offeriert angedeutete Glottischläge und eine recht offene Höhe. Ein Zuviel an Sentimentalität bringt Cielo e mar, ein geheimnisvolles Raunen, das vom Extrem Fortissmo recht abrupt abgelöst wird, insgesamt eher Brüche in der Gesangslinie aufzeigend als eine schöne musikalische Linie, mehr Schmachten als Leidenschaft. Es folgen zwei Arien des Maurizio aus Cileas Adriana Lecouvreur, die in hemmungsloser Gefühlsseligkeit den Verdacht, es handle sich um eine tragische Operette, bestärken könnten. Auch in den beiden Arien des Andrea Chénier überwiegt zuungunsten des Heldischen, das der Figur auch innewohnt, das orgiastisch Sentimentale.
Der Abschied Turiddus von der Mutter liegt dem Tenor sehr gut in der Stimme, für den Luigi aus Il Tabarro hat er mehr Sensibilität und Sentimentalität als üblich, was auch für die Arie des Johnson aus La Fanciulla del West gilt. Sehr innig klingt „Addio, fiorito asil“ und außergewöhnlich kontrastreich, mit dem Charakter des Pinkerton eher wenig vereinbar. Das „Vesti la giubba“, in dem sich der Tenor nichts schenkt, lässt den Hörer um die schöne Stimme fürchten, und auch Calaf schreit leider bereits beim eigentlich intimen „Non piangere, Liu“ ganz Pechino zusammen. Den Abschluss bildet ein Ave Maria mit der Musik des Intermezzo von Cavalleria Rusticana mit schönem Falsettone-Schluss, aber doch recht süßlichem Charakter. Pier Giorgio Morandi entlockt dem Czech National Symphony Orchestra Klänge angemessener Italianità.
Man kann sich an einem besonders schönen Stimmmaterial in nicht durchweg geschmackvollem Einsatz erfreuen, wenn auch um den Preis, nicht einwandfrei über das Entstehen der CD informiert zu sein. Mehr noch kann man bedauern, dass Vittorio Grigolo in den Jahren zwischen Aufnahme und dem heutigen Tage nicht pfleglicher mit seiner Stimme umgegangen ist (Sony 88875100342). Ingrid Wanja