In der Passionszeit häufig aufgeführt werden die Matthäus-Passion und die Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach; von der früher Bach zugeschriebenen Lukas-Passion nimmt man inzwischen an, dass das Werk größtenteils nicht von Bach selbst komponiert wurde. Bleibt noch eine Passion nach dem Evangelisten Markus: Nach Wikipedia wurde die Markus-Passion von J. S. Bach am Karfreitag 1731 in Leipzig uraufgeführt; außerdem erklang diese Passion in von Bach etwas überarbeiteter Fassung am Karfreitag 1744.
Obwohl die Musik verschollen ist, blieb das Libretto von Christian Friedrich Henrici, genannt Picander, mit dem Bach vielfach zusammengearbeitet hat, vollständig erhalten. Zur Komposition nimmt man an, dass es sich – anders als bei den beiden berühmten Passionen – wohl um eine Parodie handelte, also hatte Bach, wie er es nicht selten tat, Teile von bereits zuvor komponierten Werken wiederverwendet. Bis in die jüngste Zeit wurde versucht, andere Arien aus Bachs Kantaten zu identifizieren und ihnen die Texte der Markuspassion zu unterlegen, so z.B. auch aus der ebenfalls von Bach mehrfach aufgeführten und dabei auch bearbeiteten Hamburger Markuspassion Reinhard oder Gottfried Keisers. Wikipedia zählt zehn solcher umfassenden Versuche auf, u.a. von Tom Koopman (1999).
Nun zur Neuvertonung des Picander-Librettos durch den 1981 geborenen Schweizer Musiker Nikolaus Matthes: Die erste Gesamtneuvertonung des Textes von Picander in barocker Stilistik entstand in den Jahren 2019/2020; im März 2023 wurde die neue Markuspassion in vier Schweizer Städten uraufgeführt. Die vorliegende Aufnahme ist aus Mitschnitten der Generalprobe, der Uraufführung in Zürich und der letzten Aufführung der Konzertreihe in Luzern zusammengefügt. Dies kann man dem umfangreichen, substanzreichen Booklet entnehmen; bei Interesse sei auf die informative Website verwiesen.
Beim Hören der ca. 2 ¾ Stunden dauernden Passion ist man gleich von Beginn an erstaunt, wie sehr sich Matthes in die Kompositionsweise Bachs vertieft, ja sie sich geradezu angeeignet hat. Die Komposition enthält aber auch einige Stücke, die klanglich von Bach abweichen, wie z. B. die melancholische Sinfonia vor Jesu Grablegung. Chor und Instrumentenensemble sind extra für dieses Projekt zusammengestellt, vielfach sind es ausgewiesene Spezialisten für historische Aufführungspraxis. Auffallend ist das groß besetzte Continuo mit Cembalo, Orgel und Laute, Fagott, Kontrafagott, Violoncelli und Violonen sowie zwei Gamben und verschiedenen Bläsern.
Über die Aufnahme gibt es insgesamt viel Positives zu berichten: So sind die Choräle von wunderbarer Ausgewogenheit und Durchhörbarkeit. Das gilt gleichermaßen im Eingangs- und Schlusschor mit den als Cantus firmus unterlegten Choral-Strophen und den teilweise hochdramatischen, kompositorisch noch zugespitzten Turba-Chören, wie z.B. die kunstvolle Fuge „Gegrüssest seyst du, der Jüden König“. Die durchweg sehr versierten Instrumentalisten musizieren unter Leitung des Komponisten selbst mit durchgehender Transparenz und unterstützt dadurch die Gesangssolisten, die alle hohes Niveau aufweisen. Da sind zunächst die beiden Tenöre Daniel Johannsen und Georg Poplutz zu nennen, die aus „aufführungspraktischen“ Gründen (Nikolaus Matthes) die Rezitative und beide Arien unter sich aufgeteilt haben. Leider ist nicht zu erkennen, wer gerade an der Reihe ist, denn die lyrischen Stimmen sind sich sehr ähnlich. Beide verfügen als allgemein anerkannte Evangelisten über prägnante Artikulation und füllen die lyrischen, teilweise tonmalerischen Passagen („fing an zu zittern und zu zagen“, „er hub an zu weinen“) ebenso überzeugend aus, wie sie die notwendige Dramatik des Passionsgeschehens zur Geltung bringen; auch die beiden Tenor-Arien weisen hohe Gesangskultur auf. Die Worte Jesu sind dem Schweizer Sänger und Chorleiter Daniel Pérez anvertraut, der sie mit hellem, markant deklamierendem, in den wenigen Tiefen nicht so sehr ausgeprägtem Bariton singt. Maya Boog gefällt in ihren beiden, gesangstechnisch anspruchsvollen Arien mit schlankem, intonationsreinem Sopran. Mit volltimbriertem Mezzo präsentiert sich Annekathrin Laabs in der dramatisch zupackenden Arie nach Judas‘ Verrat und der viel Ruhe ausstrahlenden nach Jesu Gefangennahme. Auch der ebenfalls helle Bariton von Matthias Helm passt gut zu seinen beiden Arien, die Reflektion über Jesu Schweigen vor Pilatus und wenn Petrus seine Treue zu Jesu versichert.
Insgesamt sind die „Neue Markuspassion“ und ihre gelungene Aufnahme ein hochinteressantes Unternehmen, das dem Libretto Picanders im Sinne von Johann Sebastian Bach zu neuem Leben verhilft (resonando R-10018, 3 CD). Gerhard Eckels
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Ein Wort zu Picander: Christian Friedrich Henrici (Abbildung oben/Wikipedia)hat seinen Ruhm nicht Bach zu verdanken, aber Bach hat ihn unsterblich gemacht. Der Gelegenheitsdichter Christian Friedrich Henrici ps. Picander (1700-1764) war Librettist von Johann Sebastian Bach (1685-1750). Heute gilt er als mittelmäßiger Lyriker und Dramatiker, was jedoch außer Acht lässt, dass er in den 1830er und 1840er Jahren in Leipzig mit seinen Gedichten für Aufsehen sorgte und zu den bedeutenden Dichtern seiner Zeit zählte. Sein Name findet sich in Biographien seiner Zeit. Nicht umsonst war er ein Hofdichter. Ob sich neben Bach auch andere Komponisten an seinen Texten bedienten, ist bisher nicht erforscht. Auch eine vollständige Übersicht über seine Gedichte, Kantaten und Passionen fehlt. Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, diese Bestandsaufnahme selbst vorzunehmen und mit den ersten Zeilen der Couplets als Grundlage für weitere Forschungen zu ergänzen. Picander schrieb die Libretti für die Johannes-Passion (BWV 245), die Matthäus-Passion (BWV 244) und die Markus-Passion (BWV 247), deren Musik nicht gefunden wurde. Hier ist der Schluss einer Passion von Picander aus dem Jahr 1725 abgebildet. Es handelt sich um eine frühere Fassung der Johannes-Passion. Die Urheberschaft der Bach zugeschriebenen Lukas-Passion ist umstritten, aber ihr Text könnte ebenfalls von Picander stammen. (Quelle rodinbook)