Rares vom Donizetti Festival

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2022 hievte DonizettiOpera, also das Donizetti Festival in Bergamo, ein Werk aus der Versenkung, das seit seiner Uraufführung vor exakt zweihundert Jahren nie wieder gespielt wurde. Das Melodramma semiserio Chiara e Serafina gilt als einer der größten Misserfolge Donizettis, mit dem sich der damals 25jährige im Herbst 1822 jede Chance verbaute, an der Mailänder Scala Fuß zu fassen. Es dauerte mehr als zehn Jahre, bis er im Dezember 1833 mit Lucrezia Borgia die Scala-Schande ausmerzte. Wieder schrieb ihm Felice Romani den Text, dem Donizetti für Chiara e Serafina, o sia Il pirata das französische Melodram La Cisterne (1809) des seinerzeit populären Charles Guilbert de Pixérécourt, des „Corneille der Boulevards“, empfohlen hatte. Das umfangreiche Stück um die auseinander-gerissenen Schwester Chiara und Serafina ist Verwechslungs-, Verkleidungs- und Intrigenstück sowie Schauer- und Rettungsoper, vermischt also alle Moden der Zeit zu einem unterhaltsamen zweieinhalbstündigen Zweiakter, dem allerdings schon bei den ersten vier Aufführungen die Zuschauer der Scala davonliefen. Heute mag man das großherziger sehen. Auf jeden Fall ist es verdienstvoll, dass DonizettiOpera das Werk in seiner den Frühwerken Donizettis gewidmeten Reihe #200 zu retten versuchte. Und heutige Hörter und Zuschauer reagieren möglicherweise großherziger auf die Musik des jungen Donizetti, der den Schablonen und Mustern seiner Zeit durch eine ausgesuchte Instrumentation und aufwendige Ensembles – das erste Finale und das Sestetto am Ende des zweiten Aktes – durch seine Melange aus Melancholie und Zärtlichkeit ein eignes Flair zu geben versuchte.

Regisseur, Ausstatter und Kostümbildner Gianluca Falaschi unternahm jedenfalls alles, um das Publikum von der unbedingten Kraft des Stückes zu überzeugen. Pures Amüsement, ohne Logik, doch nicht ohne Hintersinn. Falaschis szenisches Potpourri holt vom Boulevard- und Unterhaltungstheater, von Revue und Show, Kleinkunst und Varieté des 19. und frühen 20. Jahrhunderts alles auf die Bühne, was Effekt macht und dekoriert diese mit allem, was Thema und Fundus hergeben von der runden Insel samt Palmen, Kreuzfahrtschiff, schaumgekrönten Wellen, weißen Wölkchen vor blauem Himmel bis zur furchterregenden Zisterne und maroden Burg. Bevölkert wird das Schautheater von Tanz-Girls in Glitzer-Petticoats, feschen Matrosen (Coro dell’Accademia Teatro alla Scala) und Menschen, die allesamt ihre roten Bäckchen auf weiß geschminkten Gesichtern, langen Nasen und vorstehenden Kinnpartien Spazierenführen. Das ist nostalgisch ausgebleicht wie ein liebevoll restauriertes Musical.

Das Stück scheint kompliziert. Chiara und ihr fälschlicherweise des Verrats angeklagter Vater Don Alvaro wurden von Piraten verschleppt und auf einer Insel festgesetzt. Serafina verblieb derweil in der Obhut von Don Alvaros Feind Don Fernando, der Serafina heiraten will, um an ihr Vermögen zu kommen. Serafina liebt aber Don Ramiro, den Sohn des Bürgermeisters. Soweit die Vorgeschichte. Nach zehn Jahren gelingt Chiara und ihrem Vater die Flucht. Sie stranden an der Küste Mallorcas, wo sie auf Don Meschina, Lisetta und ihre Mutter Agnes treffen, die so etwas wie das Faktotum des verlassenen Schlosses Belmonte ist. Don Fernando muss rasch handeln und heuert den Piraten Picaro an, der Serafina die Heirat mit ihm schmackhaft machen soll. Schließlich landen alle irgendwann in der Zisterne, die dem ursprünglichen Stück den Titel gab, bevor es zum absehbaren Happy End kommt und durch ein wieder aufgefundenes Dokument sogar die Unschuld des Don Alvaro bewiesen wird.

Ich hätte nicht erwartet, dass die DVD (Dynamic 37987) die bei der Premiere nicht unbedingt mitreißende Aufführung im Teatro Sociale in Bergamos Oberstadt, derart animierend einfangen würde. Das liegt aber vor allem an Sesto Quatrini und seinem Originalklangorchester Gli Originali, die Donizettis Musik und seine ambitionierten Instrumentaldetails so gustös und rhythmisch schwerelos präsentieren, dass der Hörer davongetragen wird. Vor allem in dem swingenden Duett Serafinas mit Don Ramiro „Come più dolce il zeffiro“, dem Porzellanpüppchen und dem Frack tragenden Conférencier, der kleinstimmig zuckersüßen Fan Zhou und dem tenoral durchdringenden Hyun-Seo Davide Park. Die Tanzbein schwingende Operetten-Lust steigert sich noch in Serafinas Szene mit dem Piraten in der schmucken weißen Kapitäns-Uniform „Per vederli o mia figliuola“, wobei Sung-Hwan Damien Park mit höhenstark beweglichem Bariton in der für Antonio Tamburini geschriebenen Paraderolle des Picaro glänzt. Sie alle kommen von der Accademia Teatro alla Scala, wodurch der einstige Misserfolg wieder mit der Stätte der Uraufführung in Berührung kommt, und erhielten von Pietro Spagnoli ihren letzten Schliff. Der erfahrene Buffonist selbst glänzt in der Partie des Don Meschino durch vokale Vis comica. Neben der im ersten Finale durch ihre intensive Gestaltung herausstechenden Greta Doveri als Chiara machen Valentina Pluzhnikova mit ihrem originellen Mezzosopran als groteske Lisetta und die dunkel tönende Mara Gaudenzi als skurrile Agnese großen Effekt.  Rolf Fath

  1. M. Peter

    Leider gibt es von Dynamic einmal mehr – wie schon bspw. von Mercadantes „Didone Abbandonata“ – keine CD-Version dieses äusserst raren Donizetti-Stücks.
    Gerne wüsste man weshalb.
    Streamen mag was Praktisches sein, für mich fehlt dabei aber das Gegenständliche und Haptische.

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    1. Salvatore P.

      Eine CD-Fassung derselben Aufnahme wird sicher bald bei Naxos, dem „Mutterhaus“ von Dynamic, erscheinen. Dynamic konzentriert sich künftig bei Opernproduktionen auf DVD und Blu-ray, die CD-Ausgaben kommen dann mit etwas Verzögerung bei Naxos. Das ist seit fast einem Jahr so.

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