Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Jung und alt

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Müssen die einzelnen Programmpunkte eines Konzerts etwas miteinander zu tun haben? Ja, meinen die Urheber der CD Debussy & Strauss und finden es darin, dass beide Komponisten für ihnen nahe oder sehr nahe stehende Sängerinnen komponiert haben. Das wäre für Debussy seine allerdings anderweitig verheiratete Geliebte Mary Garden, später seine erste Melisande, und für Strauss seine Gattin Pauline, die allerdings Jahrzehnte vor dem Entstehen der Vier letzten Lieder sich als Sängerin, so als erste Freihild im Guntram produzierte. Müssen die einzelnen Programmpunkte eines Konzerts in einem Kontrast zueinander stehen? Auch ja, meinen seine Verursacher und sehen diesen darin, dass Debussy beim Entstehen von Ariettes oubliées erst 24, Strauss hingegen beim Entstehen seines Mini-Zyklus, der nicht als solcher gedacht war, bereits 84, war allerdings zu dieser Zeit und auch sonst nicht gezwungen, ins Exil in die Schweiz zu gehen, wie das Booklet behauptet.

Die Texte zu Debussys Chansons wurden auf Gedichte des Symbolisten Paul Verlaine vertont, ursprünglich mit Klavierbegleitung, die Begleitung durch Orchester komponierte Brett Dean auf Anregung von Simon Rattle und Magdalena Kožena und orientierte sich dabei zwischen La Mer und L’Après-midi d’un faune. Für Strauss weist das Booklet interessanterweise darauf hin, dass aus Eichendorffs letzter Zeile „Ist das etwa der Tod“ ein „Ist dies etwa der Tod“ und damit eine größere Nähe zum nahenden Lebensende wurde.

Die Sängerin der beiden Zyklen ist Siobhan Stagg, eine australische Sopranistin, die dem Berliner Publikum durch jahrelange Präsenz an der Deutschen Oper Berlin bestens bekannt ist. Hier konnte man sie als leichten, dann lyrischen Sopran zwischen Sophie und Pamina erleben, inzwischen hat sie eine internationale Karriere gemacht und kümmert sich auch bereits um die nachfolgende Sängergeneration mit den Siobhan Stagg Encouragement Awards. Der Dirigent der Aufnahme ist Jaime Martin, Chefdirigent des Melbourne Symphony Orchestra, das er auch für dieses Konzert leitet.

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Strauss hatte sich für die Uraufführung, die er selbst nicht mehr erlebte, Kirsten Flagstad gewünscht, die auch als Erste, begleitet von Wilhelm Furtwängler, den Zyklus sang. Frühe Aufnahmen gibt es auch von Sena Jurinac und Fritz Busch, Lisa della Casa und Kurt Böhm sowie Elisabeth Schwarzkopf und Herbert von Karajan. Das sind sehr unterschiedliche Stimmtypen für eine Musik, für die man sich die lockere Stimmführung, den natürlichen, duftigen Klang einer Sophie und die Wärme und den melancholischen Touch einer Marschallin wünscht, dazu noch wegen der hohen Qualität der Texte eine perfekte Diktion. Die von Siobhan Stagg ist etwas verwaschen, da vertraut die Sängerin wohl darauf, dass das australische Publikum sowieso auf eine Übersetzung angewiesen ist. Der Sopran nimmt allerdings sehr schön das Farbenspiel des Orchesters auf, die Stimme  schraubt sich mühelos in die höchsten Höhen, dem Klangrausch die Textverständlichkeit opfernd. Ein sehr sanfter Tod wird mit einem schön verhallenden Schluss des letzten Liedes verheißen. Die leichte Veränderung des Eichendorfftextes von „ist das“ in „ist dies vielleicht der Tod“ wird damit eher zurückgenommen als bestätigt.

Der Debussy-Zyklus beginnt mit einer „extase langoureuse“ in schillernder Bewegtheit, allerdings auch wieder verhuschter Diktion, der Sopran korrespondiert in Il pleur dans mon cœur schön mit den Orchesterfarben und hat für L’ombre des arbres eine reiche Agogik. Leichtigkeit und Geschmeidigkeit zeichnen den instrumental geführten Sopran in Chevaux de Bois aus, Eleganz und schillernde Farben hat sie für Green und kraftvoll aufblühen kann sie für Spleen– insgesamt ist sie bei der Interpretation des jungen Debussy noch weit mehr in ihrem Element als bei der des über achtzigjährigen Strauss., während das Orchester beiden Komponisten in seiner begleitenden Funktion gerecht wird (SACD MSO 001)I. Ingrid Wanja  

Eric Tappy

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Mit großem Bedauern und persönlicher Betroffenheit las ich vom Tode des von mir außerordentlich bewunderten Schweizer Tenors Eric Tappy. Kaum eine andere männliche Stimme hat mich so erreicht wie die seine, zumal auch seine elegante, virile Erscheinung seine Wirkung auf der Bühne und im Konzert ergänzte. Ich erinnere mich sehr lebhaft an seinen Monteverdi-Nerone im bezaubernden Holztheater des schweizerischen Jura, an seine Auftritte in Salzburg und Zürich (die dankenswerter Weise als DVD dokumentiert sind). Sein Pelléas neben der erotischen Rachel Yakar unter Armin Jordan bei Erato bleibt für mich der beste überhaupt (und zudem einer der wenigen Tenöre in dieser Partie).  An seine vielen Aufnahmen unter Corboz und Harnoncourt et.al.  braucht man nicht zu erinnern. Seine Lieder-Einspielungen bleiben beispielhaft (Claves et al.), aber seine Wirkung war eben auch eine optische von unerreichter Wirkung. Was für eine Persönlichkeit und Präsenz. Er war für mich eine feste Größe meines eigenen Musiklebens. Daher die Betroffenheit. Nachstehend eine Würdigung durch die englische Wikipedia mit Dank. Geerd Heinsen

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Eric Tappy und Rachel Yakar in Monteverdis „Poppea“ in Zürich/Film/Wikipedia

Éric Tappy (19. Mai 1931 – 11. Juni 2024) war ein Schweizer Operntenor. Er trat international auf, sowohl in der Oper, bekannt als Mozart-Tenor, als auch im Konzert, insbesondere als Evangelist in Bachs Passionen. Ab 1981 konzentrierte er sich auf die Lehrtätigkeit. Von 1962 bis 1974 war Tappy Mitglied des Grand Théâtre de Genève, wo sein breites Repertoire große Mozart-Rollen und Uraufführungen wie La Mère coupable von Darius Milhaud umfasste. Er gilt als legendär, weil er Monteverdis Orfeo, den Tamino in Mozarts Die Zauberflöte und Debussys Pelléas mit einer Stimme von beispielhafter Klarheit und Diktion gesungen hat.

Tappy wurde am 19. Mai 1931 in Lausanne als Sohn des Metallarbeiters Constant Albert Tappy und seiner Frau Cécile Emile, geborene Apothéloz, geboren. Er erhielt früh musikalischen Unterricht in Geige und Chorgesang von seinem Cousin André Charlet.

Nachdem Tappy 1951 Lehrer geworden war, studierte er Gesang am Conservatoire de Musique de Genève bei Fernando Carpi. Weitere Studien absolvierte er am Salzburger Mozarteum bei Ernst Reichert,[2] am Conservatorium van Hilversum bei Eva Liebenberg,[7] und in Paris bei Nadia Boulanger.[2] Die Konzerttätigkeit begann 1956, und verstärkte sich, als er 1958 mit einem Preis ausgezeichnet wurde, mit Konzerten in der Schweiz und im Ausland; 1959 gab er deshalb seinen Lehrauftrag auf.[3] 1959 sang er in Straßburg erstmals die Rolle des Evangelisten in Bachs Matthäuspassion. Im Dezember 1959 sang er die Tenorpartie in Frank Martins Oratorium Mystère de la Nativité in Genf.

Als das Grand Théâtre de Genève 1962 wiedereröffnet wurde, trat Tappy als Graf de Lerme in Verdis Don Carlos auf. Er trat dem Ensemble bei und sang dort zwölf Jahre lang ein breites Repertoire, darunter große Mozart-Partien und Rollen in neuen Werken wie Martins Monsieur de Pourceaugnac und La Tempête; er wirkte bei der Uraufführung von Darius Milhauds La Mère coupable mit.

Er gastierte international in Rameaus Zoroastre in Bordeaux und in Paris, in der Titelrolle von Monteverdis L’Orfeo am Schlosstheater Drottningholm und als Nerone in L’incoronazione di Poppea an der Staatsoper Hannover. Im August 1970 beeindruckte er als Tamino in Mozarts Die Zauberflöte bei den Salzburger Festspielen, gefolgt von derselben Rolle und der Titelrolle in Mozarts La clemenza di Tito beim Festival von Aix-en-Provence.

Eric Tappy als Don Ottavio in Mozarts „Don Giovanni“/Agence Nouvelle/HB

Nachdem er 1979 als Nerone in L’incoronazione di Poppea am Opernhaus Zürich unter der Regie von Jean-Pierre Ponnelle und unter der Leitung von Nikolaus Harnoncourt an der Seite von Rachel Yakar in der Titelrolle aufgetreten war, wurde die Produktion auch beim Edinbourg Festival und an der Mailänder Scala gezeigt und gefilmt.[ Tappy trat erstmals 1974 am Royal Opera House in London in Mozarts La clemenza di Tito auf.

1981 zog sich Tappy von der Bühne zurück; seine letzten Auftritte auf der Bühne waren Mozarts Lucio Silla in Zürich und Nerone an der San Francisco Opera.

Nach seiner Pensionierung arbeitete Tappy als Regisseur und konzentrierte sich auf das Unterrichten. Er gründete ein Opernstudio, das Atelier d’interprétation vocale et dramatique, an der Opéra National de Lyon und leitete es. Von 1984 bis 1999 lehrte er am Conservatoire de Musique de Genève. Er starb am 11. Juni 2024 im Alter von 93 Jahren.

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Aufnahmen: Tappy nahm 1968 L’Orfeo auf. Zweimal nahm er Debussys Pelléas et Mélisande auf, 1969 eine Live-Aufnahme in Genf unter der Leitung von Jean-Marie Auberson mit Erna Spoorenberg, Gérard Souzay und dem Orchestre de la Suisse Romande und 1979 unter der Leitung von Armin Jordan mit Yakar, Philippe Huttenlocher und Chœurs et Orchestre National de L’Opéra Monte Carlo. Ein Rezensent bemerkte seine „feine, schlanke Stimme“, viriler und durchsetzungsfähiger als die mancher Kollegen, „kraftvoll in seinen Liebesbekundungen“, aber „geneigt, hart im Ton zu werden, wenn man ihn drängt“. [9] Tappy sang die Rolle des Tamino in einer Aufnahme von Die Zauberflöte, die 1980 bei den Salzburger Festspielen entstand, neben Ileana Cotrubaș als Pamina und Zdzisława Donat als Königin der Nacht, dirigiert von James Levine.  Tappy war auch in zwei Filmen von Ponnelle zu sehen: L’incoronazione di Poppea (1979)[1] und La clemenza di Tito (1980), neben Tatiana Troyanos und Carol Neblett. Er nahm das Oratorium L’Enfance du Christ von Berlioz unter der Leitung von Colin Davis und Clairières dans le ciel, einen Liederzyklus von Lili Boulanger, auf[1].

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Für seine Darstellung von Monteverdis Orfeo wurde Tappy 1966 mit der Goldmedaille des Drottningholm-Theaters ausgezeichnet. Zwei Jahre später erhielt er den Edison Award für seine Aufnahme derselben Rolle. 1994 wurde er Offizier des Ordre des Arts et des Lettres. 2007 wurde er mit dem Prix culturel de la Fondation Leenaards und der Médaille d’or von Lausanne ausgezeichnet./ Wikipedia

WONDER WOMEN

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Forschungen der Musik der Spätrenaissance im Übergang zum Frühbarock haben ergeben, dass es eine ganze Reihe ansprechender Werke von Komponistinnen gibt, die entsprechend den gesellschaftlichen Gegebenheiten eher im Stillen gewirkt haben. Stücke dieser Frauen hat.

Christina Pluhar mit ihrem Ensemble L’Arpeggiata in den Mittelpunkt ihrer neuesten CD mit dem Titel WONDER WOMENMusic by and about women gestellt. Im sehr instruktiven Beiheft weist die kompetente Lautenistin darauf hin, dass es bereits im 17. Jahrhundert „wundervolle“ Komponistinnen“ gegeben habe, „von denen Lieder hier interpretiert werden.“ Außerdem habe man sich Inspiration aus der traditionellen Musik Mexikos und Italiens geholt; so erklingen Lieder über „außergewöhnliche, starke, mutige, aber auch traurige Frauen“.  So hört man Lieder der venezianischen Sängerin und Komponistin Barbara Strozzi (1619-1677), von Francesca Caccini (1587-1641) aus der florentinischen Musikerfamilie sowie je ein Lied von Antonia Bembo (1640-1720) aus Venedig, Isabella Leonarda (1620-1704), einer Nonne aus Norditalien, und Francesca Campana (1615-1665). Zusätzlich enthält die CD mehrere, von Christina Pluhar arrangierte Traditionals aus Mexiko und Italien, die sich dem Stil der Alten Musik gut anpassen. Im Übrigen sind drei Instrumentalstücke von männlichen Komponisten dabei, und zwar vom neapolitanischen Lautenisten Andrea Falconieri (1586-1678) und Maurizio Cazzati (1616-1678), der hauptsächlich in Bologna als Kirchenmusiker tätig war. Bei den rein instrumentalen Stücken, aber natürlich auch bei der Begleitung in den vokalen Werke fällt besonders positiv auf, wie stilsicher und gut durchhörbar das Instrumentalensemble L’Arpeggiata unter seiner Gründerin musiziert. Das schon länger mit Christina Pluhar zusammen arbeitende Gesangsensemble ist eine Klasse für sich: Alle wissen ihre Stimmen dem Stil der Spätrenaissance entsprechend schlank zu führen, was die Verständlichkeit der Lieder erheblich erleichtert, obwohl der Abdruck auch in deutscher Sprache hilfreich gewesen wäre. Die belgische Sängerin Céline Scheen verfügt über einen volltimbrierten Sopran mit großer Ausdruckspalette, die sie überzeugend einzusetzen weiß. Ein dunkel getönter Mezzosopran ist der Schwedin mit chilenischen Wurzeln Luciana Mancini eigen, der bestens zu mexikanischen Traditionals wie La Bruja (Die Zauberin) oder den Vorwürfen gegenüber Alcina (Cosi, perfida Alcina von Francesca Caccini) passt. Die andere Mezzosopranistin der Aufnahme ist Benedetta Mazzucato, deren helle Stimme ebenfalls über unterschiedliche, geschickt eingesetzte Farben verfügt. Ausgesprochen feminin klingt der Altus von Vincenzo Capezzato, wodurch das italienische Traditional La Canzone di Cecilia angenehm authentisch wirkt. Insgesamt ist die CD allen zu empfehlen, nicht nur den ausgemachten Liebhabern dieser Alten Musik (ERATO 5054197959163).

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Unter dem Titel Mélodies d’ailleurs ist bei Carpe Diem Records eine CD erschienen, die spätromantische Lieder enthält, die die schweizerischen Künstlerinnen Viviane Hasler (Sopran) und Maren Gamper (Klavier) präsentieren. Im Kontrast dazu enthält die CD den Zyklus Ophelia sings von Wolfgang Rihm. Bereits in den sechs fast durchgängig melancholischen Ariettes oubliées nach Gedichten von Paul Verlaine von Claude Debussy zeigen sich die Vorzüge der jungen Sopranistin, die mit den teilweise extremen Intervallsprüngen keine Probleme hat. Mit den lautmalerischen Effekten im Klavier (Regen und Pferde-Karussell auf dem Jahrmarkt) werden die jeweiligen Stimmungen überzeugend nachempfunden. Das setzt sich in fünf gegenüber Debussy etwas schlichteren Liedern von Ernest Chausson fort, wenn hier unterschiedliche Gemütslagen ebenfalls mit perfektem Legato und damit ausgesprochen weicher Stimmführung wiedergegeben werden. Dazwischen erklingt der erste der drei Gesänge Ophelias, deren zum Wahnsinn führende Zerrissenheit mit hohen technischen Anforderungen an die Sängerin darzustellen ist. Wie diese im von ihr verfassten, sehr instruktiven Beiheft schreibt, erfordern die drei eingestreuten Lieder „schnelle Wechsel in Lagen, Dynamik und Gestus und umfassen einen weiten Ambitus“. Trotz dieser enormen Schwierigkeiten, zu denen auch gesprochene Einwürfe im Klavierpart gehören, gelingen den kompetenten Musikerinnen eindrucksvolle Seelenbeschreibungen. Mit sprudelnder Leichtigkeit und auch zurückhaltender Verträumtheit werden vier feine Miniaturen von Cécile Chaminade gestaltet. Den Abschluss der gut gelungenen CD bilden fünf Lieder von Raynaldo Hahn, die wieder mit wie selbstverständlicher Intonationsreinheit und leichter Stimmführung in exzellentem, partnerschaftlichem Zusammenspiel musiziert werden (CARPE DIEM RECORDS 11792009).

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Schwarze Erde ist eine neue CD übertitelt, die Solo MUSICA herausgebracht hat. Der Titel weist auf das erste der Acht ungarischen Volkslieder von Béla Bartók hin, der diese  sozusagen zu Kunstliedern erhoben hat. Ähnlich ist Zoltán Kodály vorgegangen, indem er in den Verspäteten Liedern op. 6 ebenfalls auf ungarische Volksmusik zurückgegriffen hat. Die aus einer deutsch-ungarischen Familie stammende Sängerin Corinna Scheurle und die Pianistin Klara Hornig interpretieren diese Lieder sowie auch die frühen Lieder op. 2 von Alban Berg, die fast alle tiefe Traurigkeit atmen. Zusätzlich enthält die CD als kompositorisch krassen Gegensatz zu den Anfang des 20. Jahrhunderts komponierten Werken die romantischen Fünf Lieder op. 40 von Robert Schumann, die allerdings thematisch passen, indem auch sie um unglückliche Liebe und die Nähe von Liebe und Tod kreisen. Bestechend an den ausgefeilten Deutungen der Lieder ist die klare, prägnante Tongebung der zur Zeit im Ensemble des Staatstheaters Nürnberg tätigen Mezzosopranistin, die ihre charakteristisch timbrierte Stimme abgerundet durch alle Lagen zu führen weiß. Allgemein ist bei der Liedgestaltung die Textverständlichkeit immens wichtig, die wohl wegen ihrer Abstammung auch in den ungarischen Liedern geradezu perfekt ist. Außerdem setzt die Sängerin den Farbenreichtum ihres Mezzos dem jeweiligen Inhalt der melancholischen Lieder angepasst gekonnt ein. Schließlich ist ihr die Pianistin, die den anspruchsvollen Klavierpart sicher beherrscht, jeweils eine gleichrangige Partnerin, so dass jeweils ungemein eindrucksvolle Stimmungsbilder entstanden sind (Solo MUSICA SM435). Gerhard Eckels

On the Golden Road to Samarkand

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Kaum jemand hierzulande dürfte noch Beechams Aufnahme von Intermezzo and Serenade von Frederick Delius Schauspielmusik zu Hassan kennen. Wie denn der in Bradford geborene und seit der Jahrhundertwende bei Fontainebleau lebende Delius (1862-1934) trotz des Einsatzes von Thomas Beecham bereits zu Lebzeiten ein wenig in Vergessenheit geriet. Mit der Schauspielmusik zu Hassan rief sich Delius als Komponist nochmals in Erinnerung, wobei er offenbar nicht die erste Wahl war. Auf jeden Fall gelang ihm damit einer der größten Erfolge seiner Laufbahn, zugleich eines der letzten Werke, bevor der Kranke auf die Hilfe und Unterstützung des jungen Komponisten Eric Fenby angewiesen war, der Delius bis zu seinem Tod betreute und seine Werke notierte. Den Auftrag erhielt Delius durch den Schauspieler und Regisseur Basil Dean, der ihn in Grez-sur-Loing aufsuchte und überredete die Musik zu einem Stück des berühmten James Elroy Flecker (1884-1915) zu schreiben, das dann 1923 im Londoner His Majesty’s Theatre eine exorbitant aufwendige und überladene Aufführung erlebte: Das Versdrama The Story of Hassan of Baghdad and How He Came to Make the Golden Journey to Samarkand. Delius zierte sich ein wenig. Doch Delius‘ Frau schrieb bald danach an Dean: „Ich werde nie vergessen, wie Sie herkamen und uns das ganze Drama vorlasen. Es war so aufregend zuzusehen, wie Delius immer interessierter wurde“.

Die Musik war rasch geschrieben, wobei Delius und später dessen Freund, der australische Komponist Percy Grainger, weitere Musik für erforderliche Szenenwechsel beisteuerten. Die Aufführung in Deutschland (Darmstadt, Juni 1923), wo sich Delius aufgrund der Uraufführung dreier seiner Opern einer gewissen Beliebtheit sicher sein konnte, war ein Reinfall. Die Londoner Aufführung ein Vierteljahr später am 20. September 1923 war indes ein großer Erfolg, an dem u.a. der Ballets Russes-Choreograph Michel Fokine und der Dirigent Eugene Goosens Anteil hatten. Die reine Bühnenmusik hängt an einem seidenen Faden. Ohne die Geschichte, die weitgehend den englischen Übersetzungen von Tausendundeine Nacht folgen, bleibt sie blutleer.

Einer der Vorzüge der neuen 80minütigen, im Februar 2023 entstandenen Chandos-Aufnahme (CHAN 20296/ das Label nun neu im Naxos-Verrtieb) besteht darin, dass zu den Britten Sinfonia Voices und der Britten Sinfonia quasi als gleichberechtigter Partner der Rundfunkmann und durch vielfache Beteiligung als Sprecher bei klassischen Konzerten und Projekten hervorgetretene Zeb Soanes hinzukommt. Soanes gelingt es die von Meurig Bowen eingerichteten Texte und die rund 20 Minuten verbliebene Sprechzeit derart lebhaft zu füllen, dass man sich mit den kurzen Hinweisen des Narrators mühelos den Fünfakter imaginieren kann. Jamie Phillips überzeugt durch dramatische Gestaltungskraft und sublime Farben vor allem im fünften Akt, in dessen Schlussszene sich der weltkluge Hassan einer Pilgerkarawane anschließt, die durch die Wüste „zu den großen Bildungs- und Religionszentren von Buchara und Samarkand unterwegs ist“. Rolf Fath

 

In Offenbachs Spuren

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Nur Mascagnis einziger Ausflug zur Operette ist um einen Buchstaben kürzer: Si ist der Name einer Schauspielerin der Folies Bergère, die nicht „nein“ sagen kann oder will. In Maurice Yvains Opérette Yes! handelt es sich um das bedeutungsvolle „Ja“, das dem schönsten Tag im Leben eines Paares das Glanzlicht aufsetzt. Bei Totte und Maxime ist es jedoch ein nüchterner Akt, mit dem man Maxime Gavards Vater, dem neureichen „Nudel-König“ („Il n’est qu’un roi sur terre“), eins auswischen möchte. Der alter Gavard besteht darauf, dass sein Sohn zur Festigung geschäftlicher Beziehungen eine exotische Schönheit aus Valparaiso heiraten solle. Der junge Maxime lebt vom Geld seines einfältigen Vaters und unterhält eine Beziehung zu Lucette de Saint-Eglefin, deren Gatte von dem jungen Charmeur ebenso angetan ist wie Madame. Gemeinsam verfallen sie auf den Plan einer Heirat in England, wo man ohne größere Formalitäten sein „Yes“ vor dem Standesamt sagen und bald darauf lösen könne. Nach vielen frivolen Verwicklungen bleiben Maxime und seine Manikürin Totte zusammen, der Nudel-König erkennt die Liebe der beiden und heiratet selbst die reiche Geschäftsfrau aus Südamerika.

Es ist ein Stoff, aus dem noch in den 1920er Jahren Operetten gezaubert wurden. Auch in Paris, wo Yes! nach dem Bestseller Totte et sa chance von Pierre Solanine und René Pujol am 28. Januar 1928 über die Bühne des kleinen Théâtre des Capucines ging. Die schmale Bühne wurde durch kein Orchesterchen zusätzlich verkleinert: Yvain begnügte sich mit zwei Klavieren, wobei die Pianisten Georges Raffit und Léo Kartun zu den Stars der umjubelten Uraufführung gehörten, und zwei spätere Stars des französischen Kinos, Arletty und Renée Devillers, frühe Erfolge feierte. Einen Monat später wechselte die Show in das Théâtre des Variétés, wo die beiden Klaviere durch ein zehnköpfiges Orchester ergänzt wurde. Im Mai zog Yes! schließlich ins 2000-Pätze-Theatre Apollo, wo zusätzlich zu den neuen Dekorationen und Kostümen das Orchester auf 35 Musiker aufgestockt wurde und Chorus Girls auftraten. Volker Klotz beschreibt in seiner Operetten-Enzyklopädie diesen Schritt, „Yvain, der ironische Gegner musikalischer Verkitschung ergab sich später leider dem Trend zur aufgeblasenen „opérette a grand spetacle“, die den internationalen Verfall der Gattung klangbunt besiegelte“.

Über rund drei Jahrzehnte setzte der 1891 in Paris und 1965 in Suresnes bei Paris gestorbene Yvain mit seiner alerten Handwerkskunst bedeutende Akzente im französischen Unterhaltungstheater, das nur selten ins Ausland vordrang. Vor allem war er, obwohl er noch nach dem Zweiten Weltkrieg tätig blieb, der „prägende Meister der Pariser Operette in den zwanziger Jahren“, eigentlich der Meister der Kammeroperette. Dieser untrügliche Bühneninstinkt, der Sinn für gestisch mitreißende Melodik, treffsicher illuminierte Texte, die bis in die 50er Jahre fast durchgehend von Albert Willemetz stammen, springen den Hörer in dieser glänzenden, im Juni 2022 entstandenen Aufnahme von Alpha-Classics (2 CD Alpha 974, engl.-franz. Beiheft, franz. Libretto) mit Les Frivolités Parisiennes in der Orchesterfassung mit Michael Ertzscheid und Nicolas Royez an den Klavieren sofort an. Das Ensemble hält Spannung und Tempo auf bewundernswerte Weise, ist jazzig und südamerikanisch, leicht und rhythmisch elegant, stets graziös und durchsichtig wie im Sextuor du thé, drall wie in Arlettys „Moi je cherche un emploi“ oder rasant purzelnd wie im Terzett „Dites à mon fils“. Die Stimmen haben Charakter und Gesicht, sind sicherlich nicht in jedem Fall hübsch, aber prägnant und sprechend, wie die unschuldig engstimmige, raffinierte Sandrine Buendia als Totte oder Guillaume Durand mit einem farblos gewöhnlichen Bariton, der schon wieder reizvoll klingt, als Maxime. Jugendliche Stimme mit außerordentlich Projektionskraft. Clément Rochefort gibt den Sprecher mit milder Affektiertheit. Die eineinhalb CDs mit 61 Minuten und 33 Minuten Spielzeit vergehen wie im Flug, hinterlassen den Hörer aber auch etwas ermattet, da die vielen kurzen temporeichen und artistischen Nummern kaum eine Atempause einlegen (13.06.24). Rolf Fath

Enchantement doublé

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Desmarests Circé zum Zweiten: Höchst ungewöhnlich ist die Veröffentlichung von Henry Desmarests Circé bei cpo (555 594-2, 3 CDs), hatte doch das Label Château de VERSAILLES diese Tragédie en musique etwa ein halbes Jahr zuvor herausgebracht (die Rezension s. nachstehend). Eine zweite Aufnahme bei einer solchen Rarität ist ohnehin ein Wagnis. Die Einspielung entstand im August 2022 in Bremen als Koproduktion des Boston Early Music Festival und radiobremen. Wenn sie auch nicht das Siegel der Erstveröffentlichung tragen kann, so doch das der ersten kompletten Aufnahme, ist sie immerhin etwa 45 Minuten länger als die Vorgängerin bei VERSAILLES unter Sébastien d´ Hérin. Auf diesen Seiten wurde sie bereits besprochen, so dass wir jetzt auf eine Inhaltsangabe verzichten können.

Das Boston Early Music Festival Orchestra wird geleitet von Paul O´Dette und Stephen Stubbs, die durch die Wiedereinfügung mehrerer Tänze (Menuet, Gigue, Bourrée, Gavotte, Canarie, Sarabande, Rondeau, Ritournelle, Loure, Passe-pied, Rigaudon) die Balance zwischen orchestralen und vokalen Teilen wiederherstellen. Das Orchester musiziert sehr kultiviert mit eher moderaten Tempi und originellen instrumentalen Effekten. Der Boston Early Music Festival Chorus nimmt seine vielfältigen Aufgaben (besonders im Prologue als Götter und Nymphen) mit hörbarem Einsatz und hoher Gesangskultur wahr.

Die Besetzung wird dominiert von der Mezzosopranistin Lucile Richardot in der Titelpartie. Sie ist eine singende Darstellerin mit sehr persönlich timbrierter, eigenwilliger Stimme und reizt die Emotionen der Figur bis zum Äußersten aus. Besonders reizvoll ist ihre Färbung in der tiefen Lage, welche bis in die Contralto-Dimension reicht und ihrem Vortrag einen sinnlich-androgynen Hauch verleiht. Ihre Szene zu Beginn des 4. Aktes „Sombres Marais du Styx“, von der Windmaschine aufregend untermalt, deklamiert sie furios, was sich mehr und mehr zu wilden Ausbrüchen steigert. Die Stimme nimmt zuweilen einen hysterischen oder heulenden Ton an, der doch stets als Ausdrucksmittel eingesetzt ist. Ihre Interpretation gipfelt im 5. Akt mit einer veristischen Hasstirade („O Rage/ô douleur mortelle!“) und in der ausgedehnten Schluss-Szene („Ah! quelle rigueur extrême“), in der sie bei aller Raserei auch eine tragische Dimension erreicht.

Ihre Gefährtin Astérie gibt Teresa Wakim mit lieblichem Sopran. Sie liebt Polite (Douglas Williams mit resonantem Bassbariton), einer der Griechen, die von Circé in wilde Tiere verwandelt wurden. Beide können im 5. Akt endlich ihr Glück besingen („Enfin le juste Ciel a comblé nos désirs“). Der Bariton Jesse Blumberg ist ein markanter Elphénor, den Circé nicht verzaubert hat, da er ihr die geplante Flucht der Griechen verraten hatte. Da seine Liebe zu Astérie unerfüllt bleibt, scheidet er aus dem Leben. Diese seine Todesszene am Ende des 3. Aktes gestaltet er mit packender Intensität.

Circés Liebe gehört Ulisse (der Tenor Aaron Sheehan mit weicher, ausgewogener Stimme), doch hat sie eine Rivalin in Èolie (Amanda Forsythe mit delikatem Sopran), die am Ende mit dem Helden vereint auf einem Schiff die Insel verlässt („Ne nous quittons jamais“). Gewaltiger Donner begleitet diese Szene und führt das Werk zu einem grandiosen Finale. Bernd Hoppe

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Und das Ganze bei Chateau de Versailles: Der Tod von Lully 1687 öffnete seinen Rivalen endlich die Türen der Pariser Opéra – neben Charpentier auch Henry Desmarest und seinen Werken, darunter die Tragédie en musique Circé. Das Libretto dieser 1694 in Paris uraufgeführter Oper stammt von Louise-Geneviève Gillot de Saintonge, einer Frau also, was höchst ungewöhnlich ist. Aber es gab in dieser Zeit auch eine Komponistin, Elizabeth Jacquet de la Guerre mit ihrer Oper Céphale et Procris, die gleichfalls 1694 ihre Premiere erlebte und vom starken Einfluss französischer Künstlerinnen in dieser Epoche zeugt.Zur Renaissance der französischen Barockoper trägt auch diese Neuveröffentlichung der Circé auf zwei CDs von Chateaux de Versailles bei, die im Januar 2022 in Versailles aufgenommen wurde (CVS085). Die Oper in einem Prologue und fünf Akten sowie Divertissements gemäß der französischen Tradition schildert die schicksalshafte Begegnung von Ulysse mit der Zauberin Circé  Diese ist gleich der Medea eine mythische Figur – eine leidenschaftliche, von Rache erfüllte Frau, die am Ende der Oper spektakulär ihre Insel zerstört, welche in den Fluten versinkt.

Für die vorliegende Einspielung war es ein Glücksfall, die renommierte französische Sopranistin Véronique Gens für die Titelrolle verpflichten zu können. Beim Auftritt im 1. Akt zeigt sie sich in wehmütiger Stimmung über die Freuden und Schmerzen der Liebe („Ah! que l’amour aurait des charmes“) und Gens gibt dieser Szene berührend melancholischen Anstrich. Spätestens im 4. Akt ändert sich der Tonfall, wenn Circé erkennen muss, dass sie Ulysse an ihre Rivalin verloren hat. „Bei „Sombres marais du Styx“ färbt Gens die Stimme dunkel und düster, die Diktion wird kantiger, aggressiver. Ihre großen Szenen am Ende des  letzten Aktes („Ô rage! Ô douleur  mortelle!“/„Ah! quelle rigueur extrème“) verdeutlichen Circés Ausnahmezustand mit einer Deklamation, welche in ihrer Heftigkeit und Wucht ihresgleichen sucht.

Nach dem Prologue, der wie üblich eine Huldigung an den französischen König darstellt, offenbart Circé ihrer Gefährtin Astérie (Caroline Mutel mit lieblichem, doch etwas unausgeglichenem Sopran) Zweifel an der Aufrichtigkeit von Ulysses Zuneigung, da sie von Elphénor (Nicolas Courjal mit resonantem, gelegentlich stark vibrierendem Bariton) vernommen hat, dass dieser die Insel verlassen will. Die Zauberin verwandelt Ulysses Gefährten in Monster und die Insel in einen Garten, in welchem sie ein Fest geben will. Ulysses Bitte, seine Gefährten zu befreien, will Circé als Zeichen ihrer Macht erfüllen. Ihre Rivalin in der Gunst Ulysses ist Éolie (Cécile Achille mit feinem, kultiviertem Sopran), der Ulysse bei einer Begegnung im Wald erneut Liebe schwört („Quand on aime tendrement“), was Elphénor belauscht und Circe verrät. Als Belohnung verspricht ihm die Zauberin die Hand von Astérie. Als diese sich weigert, begeht Elphénor Selbstmord. An seinem Grab will Circé den Namen ihrer Rivalin erfahren, doch wird ihr diese Auskunft von Elphénors Schatten verweigert. Rasend ruft sie die Geschöpfe der Unterwelt herbei und lässt Ulysse von Eumeniden verfolgen. Ihm und seiner Éolie übergibt Mercure eine Blume, welche die Gabe besitzt, Verzauberungen aufzuheben. Das rettet beide vor Circés letztem verzweifeltem Versuch, die Liebenden zu vernichten.

Neben Gens singt ein weiterer angesehener französischer Interpret – der Tenor Mathias Vidal als Ulysse. Er ist ein versierter Stilist im Repertoire des französischen Barock und überzeugt auch hier mit markanter Deklamation,  prononciertem Gesang und starker Emphase.

Das Ensemble Les Nouveaux Caractères leitet Sebastien d’Hérin, der das auf historischen Instrumenten musizierende Orchester 2006 gegründet hatte. Spezialisiert auf seltene Werke des Barock, lebt seine Einspielung von großer musikantischer Frische und künstlerischer Freiheit. Im Prologue zeugen die majestätische Ouverture, das Air pour les Jeux et les Plaisirs sowie Tänze wie Menuet, Gigue, Bourrées und Gavotte vom festlichen Anlass der Aufführung. Am Ende unterstreicht d’Herin mit orchestralem Aufruhr die dramatischen Vorgänge der Handlung mit dem Untergang der Insel. Den Esprit des französischen Barock trifft der Dirigent mit seinem Orchester in bewundernswerter Vollkommenheit (03.06.23). Bernd Hoppe

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.Foto oben: Still aus dem Film „Die Irrfahrten des Odysseus“ mit Kirk Douglas und Silvana Mangano, Italien 1954, Regie Mario Camerini/Die Nacht der lebenden Texte/Wordpress

Starbesetzt aus der Met

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Ist dies eine Virginia Woolf-Oper? Eine Mrs. Dalloway-Oper? Am treffendsten vermutlich eine Oper nach dem Film The Hours. Der wiederum basiert auf dem 1998 mit dem Pulitzer Prize ausgezeichneten Roman des amerikanischen Roman- und Drehbuchautors Michael Cunningham, der darin das Schicksal dreier Frauen verfolgt, deren Leben in Bezug zu Woolfs Roman Mrs. Dalloway stehen. Also eine Oper nach gleich zwei Romanen. Der Film bot 2002 die Stars Nicole Kidman, Julianne Moore und Meryl Streep auf, die Oper wurde zum Star-Vehikel für Joyce DiDonato, Kelli O’Hara und Renée Fleming, die in der jeweils an einem einzigen Tag über drei Zeitebenen 1923, 1949 und 2001 spielenden Handlung die entsprechenden Rollen bzw. Partien als Virginia Woolf, Laura Brown und Clarissa Vaughan übernehmen. Tatsächlich wurde die Idee von Renée Fleming aufgebracht, als sie mit dem Komponisten Kevin Puts (Pulitzer Prize 2012 für seine erste Oper Silent Night) an einem Lied-Zyklus arbeitete, „She suggested that it would be great to do something that takes place in different time periods all at the same time, like The Hours, and right away I thought it was an amazing idea.“

Bei der Uraufführung am 22. November 2022 kehrte Fleming erstmals nach fünfjähriger Abwesenheit an die Met zurück. An Puts (* 1972) wird keiner mehr im Zusammenhang mit der Oper denken. Was vermutlich ungerecht ist. Puts und Librettist Greg Pierce behielten die Grundstruktur des Films bei, der an einem einzigen Tag vom Schicksal dreier Frauen erzählt: außerhalb von London, in Richmond, beginnt Virginia Woolf 1923 mit einem neuen Roman, den sie anfangs The Hours nennen will. In Los Angeles liest die schwangere Hausfrau Laura Brown 1949 den Roman, der sie stark beeindruckt. Mit ihrem Sohn Richie bereitet sie einen Kuchen für den Geburtstag ihres Mannes vor. Sie liebt heimlich ihre Nachbarin, plant ihren Selbstmord, scheut aber zurück. 1999 plant die New Yorker Lektorin Clarissa eine Party für ihren an AIDS erkrankten Freund Richard. Richard ist der Sohn Laura Brown. Obwohl mit ihrer Freundin Sally zusammen, wünscht sie sich die Stunden mit Richard zurück. Man merkt Fleming an, wie sie sich nach der Partie sehnte. Gleich in der Anfangssequenz – mit Denyce Graves als Sally – singt sie die selbstbewusste Clarissa mit breit strömender, flexibel reagierender und farbiger Mittellage, textbewuster, als man es von ihr in Erinnerung hat, mit fester und sicherer Höhe.

Schade, dass die nur mit englischsprachigem Beiheft karg ausgestattete Aufnahme (2 CD Erato 5054197910524) auf ein Libretto verzichtet. Joyce DiDonato, auf dem Titelbild mit den drei Damen in altbackener Zurückhaltung, gibt uns Virginia Woolf mit der Autorität und in sich ruhender Selbstgewissheit der Dichterin. Mit ruhigem Mezzosopran und reichem Ton tastet sie sie sich Zeile um Zeile vor. Unauffälliger schaltet sich die klassisch ausgebildete, vor allem durch ihre Broadway-Auftritte populäre Kelli O’Hara, die an der Met Despina und Valencienne gesungen hat, als Laura Brown in das Geschehen. Viele namhafte Met-Protagonisten steuern Miniaturen bei, darunter Kyle Ketelesen als Richard. Kevin Puts stattet sie mit einer filigranen Wohlfühlmusik aus, die allen Situationen entspricht, die den Pulsschlag der Handlung aufgreift, sich aber nicht aufdrängt und allen drei Frauen und ihrem Zeitalter im Sinn einer etwas altmodischen Literaturoper ein Gesicht geben will. Zu den memorablen Momenten des musikalisch vielfach rauschhaften, schwelgerischen Werks gehört zweifellos das Terzett „All along?“ der drei Frauen am Ende der Oper, in dem sich Strauss‘ Der Rosenkavalier und Barbers Vanessa begegnen. Yannick Nézet-Séquin dirigiert die beiden Akte (82 und 60 Minuten) mit freundlicher Dezenz.                     R.F.

Massenets Werther als Bariton

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Und wieder bannt uns das renommierte Label Palazzetto Bru Zane in Erstaunen ob seiner Repertoire-Politik. Diesmal mit Massenets Werther in der Bariton-Version, die Massenet für den berühmten Bariton seiner Zeit, Mattia Battistini, schrieb, dem er sehr zugetan war. Nur eben: Es gibt eigentlich keine französische Version für Bariton, denn Battistini sang diese Partie nur (??) in seiner Heimatsprache. Erst 2004 nahm Thomas Hampson (nach Dale Duesing im fernen Seattle) eine Version auf, die auf der Grundlage der Battistini-Absachrift die Baritonlage an die Noten- und französisch-sprachliche Linie anpasst. Seitdem haben es manche Baritone gesungen und sind damit dokumentiert (und als DVD/2004 erhältlich). Von Luca Grassi 2007 Martina Franca in Italienisch), sodann in Französisch Dale Duesing (Seattle 1989), Thomas Hampson (Version Almeida, Met 1999 mit DVD Konzert Paris 2004 Mezzo) über Philip Addes (2011 Montreal), Adam Tunnicliffe und Ed Ballard (Glyndebourne Touring 2008), bis zu kürzlich Ludovic Tézier (2023 in Wien). Es ist das Verdienst der älteren Dynamic-Aufnahme von 2003 (ersch. 2004), mit Luca Grassi die originale Battistini-Version in eben dessen Heimatsprache herausgegeben zu haben. Und es ist ein Irrtum, wenn man nun von einer Battistini-Fassung spricht, aber die französische meint.

Es gibt lediglich die Übertragungen der Gesangslinie für Battistini als handschriftlicher Klavier-Auszug. Und eine Arbeitspartitur, in die ein Kopist die neue Bariton-Gesangslinie eingetragen hatte. Im Nachlass von Vanni Marcoux , dem berühmten französischen Bariton, befindet sich eine solche. Und es gibt Varianten von einer zur anderen, was auf schrittweise Bearbeitungen hindeutet, die vielleicht im Laufe von zehn Jahren erfolgten. Eine Version wurde in den USA ausgegraben und 1989 in Seattle mit Dale Duesing und 1999 an der Metropolitan Opera in New York mit Thomas Hampson aufgeführt, wobei der Text auf einer Partitur basierte, die sich im Besitz des Dirigenten Antonio de Almeida befand (Almeida war ja stets für Überraschungen auf dem musikalisch-archäologischen Sektor gut). Der Text zeigt einen früheren Stand als den, den Mattia Battistini für die beiden Auszüge aus dem Jahr 1911 aufgenommen hat, wobei die Varianten auf einigen Exemplaren (separates Stück oder Gesamtausgabe) erscheinen, die der italienische Bariton verwendet hat; dies geht aus Kopien hervor, die Jacques Chuilon, Autor einer Biografie über Mattia Battistini (Mattia Battistini, King of Baritons erschienen bei Rowman & Littlefield Publishing Group Inc 2009), vorlegte.

Jacques Chuilon ist der festen Überzeugung, dass die Vereinbarung zwischen Battistini und Massenet aus praktischen Gründen eine Baritonlinie vorsah, die ohne Änderungen in die bestehende Orchesterpartitur eingefügt werden konnte, damit die Repertoiretheater, die bereits mit dem Orchestermaterial der Tenorversion gearbeitet hatten, nicht darunter leiden mussten; diese Hypothese wird nicht durch die Tatsache widerlegt, dass Battistini zwei – derzeit verschollene – Orchestermaterialien von Werther besaß, da der Sänger diese Materialien sehr schnell in die osteuropäischen Länder liefern können musste, in denen er insbesondere „seine“ Version gesungen hatte. Solange diese Materialien jedoch nicht wieder aufgetaucht sind, wird man nicht wissen, ob sie Spuren der vom Komponisten vorgeschlagenen Änderungen tragen.

Der „nerue“ Bariton-Werther beim Palazzetto, Tassis Christoyannis/Agence Massis


Thomas Hampson, der zweite moderne französische Bariton-Werther nach Dale Duesing schreibt auf seiner Seite dazu: „Ein autographes Manuskript ist nicht erhalten, aber eine Arbeitspartitur, die Battistini gehörte, bildete die Grundlage für die hier (2004 konzertant im Pariser Châtelet) aufgeführte Fassung, in der die Rolle nicht nur transponiert, sondern auch umgeschrieben wurde, um der dunkleren und psychologisch reicheren Baritonstimme gerecht zu werden“.

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Die erneute Umarbeitung ins Französische und überhaupt betont erwartungsgemäß weniger die glanzvollen denn die dramatisch-dunkleren Momente, was mich nicht für die Fassung einnimmt. Das klingt für mich eher nach einem depressiven Hamlet als nach einem feuerköpfigen jungen Mann im Liebes-und Verzweiflungswahn, im Sinne Goethes. Die Partie erscheint nun viel älter, gesetzter, klingt nach spätem Glück eines Rentiérs. Zumal nun mit La Gens auch eine sehr stimmlich recht reife Frau sich zu ihm gesellt, ein wenig also: Eine Kaffee-Runde im Altersheim oder (Der Traum des Werther, haben Alberts Pistolen versagt?). Da stört der ältere Bariton-Mitbewerber Albert eher weniger.

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Nach einer DVD und einigen weiteren Live-Mitschnitten ist die neue Palazzetto-Buch-Edition aber zumindest die erste CD (!)-Ausgabe des Bairton-Werther, nämlich mit Glanz von Tassis Christoyannis neben einer ältlichen, abgedunkelten und nun wohl ins Mezzofach abgewanderten Véronique Gens gesungen. Der einzige Tenor weit und breit in Wetzlar ist nun Herr Schmidt. Aber Christoyannis kann für mich einfach alles singen, sogar das Telefonbuch von Neuilly, denn ich liebe diese tolle Bass-.Bariton-Stimme, zumal im Französischen. Was für ein Sänger, was für ein sinnliches Timbre, was für ein sexy Mann! Aber er allein reißt nicht alles raus. Thomas Dolie und Hélène Carpentier als Albert und Sophie sind wirklich befriedigend. György Vashegyi am Pult der beim Palazzetto bewährten Budapester Kräfte ist mir hingegen zu bodenlastig und nicht rauschhaft genug. Da gilt oben Gesagtes.

Dafür ist die Textbeilage (leider wie stets nur ein Englisch und Französisch trotz des überdimensional großen deutschsprachigen Marktes in der EU) wieder Grund für einen Neukauf! Und eben wegen der fehlenden deutschen Übersetzung bringen wir nachstehend zwei Auszüge (in eigener deutschen Übersetzung/DeepL) zur weiteren Information über die Bariton-Version, und anschließend zwei weitere interessante Beiträge von Danilo Prefumo und Lesley Wright . Es ist doch bemerkenswert, wie sich die Darstellung von Details unterscheiden. G. H.

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Mattia Battistini als Werther/Wikipedia

Alexandre Dratwicki schreibt beim Palazzetto: Auf Wunsch von Mattia Battistini stimmte der Komponist einer Neufassung der Titelrolle zu – eine Aufgabe, die Massenet bereits in groben Zügen für Massenet für Victor Maurel, der den Werther schließlich nicht sang (und die der italienische Bariton anscheinend selbst vollendet hatte) für die Aufführungen in St. Petersburg 1902 fertiggestellt hatte. Obwohl kein autographes Manuskript von Massenets Hand existiert, sind Skizzen von ihm erhalten, in denen die Rolle des Albert für einen Tenor umgeschrieben wurde, zweifellos, um den  französischen Provinztheatern die Möglichkeit zu geben, den Helden des Werks mit dem führenden Bariton des Hauses zu besetzen, während sie Albert einem Solotenor geben konnten. Aber die Adaption wurde nie vollendet. Dennoch veröffentlichte die Firma Heugel eine Vokalpartitur, wahrscheinlich nach Massenets Tod und unter Bedingungen der Eile, wie die zahlreichen Druckfehler verraten.

Die wenigen Auszüge aus Werther, die Battistini aufgenommen hat, unterscheiden sich deutlich von dieser Partitur, die wahrscheinlich das Werk eines „internen“ Bearbeiters ist, der das kommerzielle Potenzial der Oper erweitern wollte. Seitdem haben die Baritone, die diese Rolle singen, die Partitur häufig auf ihre eigenen stimmlichen Möglichkeiten zugeschnitten.

Die vorliegende Aufnahme – die dritte kommerzielle Veröffentlichung der Baritonfassung – soll einen Beitrag zur Nachwelt des Werther beitragen, indem sie zwei Aspekte beleuchtet, die die Musik in den Vordergrund stellt: den Text und die Frage nach der Stimmfarbe. Alexandre Dratwicki/DeepL

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Ebenfalls Palazzetto: Jean-Christophe Branger – ein Bariton-Werther. Nach mehreren gescheiterten Versuchen in Frankreich und im Ausland wurde Werther schließlich am 16. Februar 1892 in Wien (in deutscher Sprache) mit dem Tenor Ernest Van Dyck in der Titelrolle gegeben. Entgegen allen Erwartungen war die Premiere ein denkwürdiger Triumph. Das Werk wurde während der Spielzeit regelmäßig wiederaufgenommen und im selben Jahr in Weimar (ebenfalls in deutsch) aufgeführt. Aber es hatte Schwierigkeiten, sich in Frankreich und anderswo zu etablieren, da kein Tenor in der Lage war, eine Rolle, die solche stimmlichen und dramatischen Anforderungen stellte, auszuführen.

Die Pariser Premiere an der Opéra-Comique machte diese Schwierigkeiten deutlich. Im Herbst 1892 probte Étienne Gibert, der Schöpfer des Roland in Esclarmonde, mit der jungen Marie Delna. Doch verzweifelt von Massenets Forderungen und seiner wiederholten Unzufriedenheit mit ihm, gab der Tenor schließlich seine Rolle zurück. Die wurde dann Charles Delmas zugewiesen, der prompt erkrankte. Angesichts dieser vielfältigen Schwierigkeiten komponierte Massenet eine Fassung der Titelrolle für Bariton, die er für Victor Maurel, einem bewunderten Verdi-Interpreten, vorgesehen hatte Doch dieses Projekt, das für die Opéra-Comique geplant war, scheiterte jedoch bald, bis der Tenor Guillaume Ibos Massenet anfragte, ob er sich der Herausforderung stellen könne. Ibos behauptete später sogar, er habe sich an Massenet gewandt, nachdem er von dem Projekt mit Maurel erfahren habe. Allerdings überzeugte seine Darstellung die Kritiker nicht. Werther sollte erst 1903 in Frankreich dank des Talents des jungen Léon Beyle seine Nische in Frankreich finden.

Bariton Philipp Addis als Werther in Montreal/PHOTO MIGUEL LEGAULT, COLLABORATION SPÉCIALE Montreale 2011

In der Zwischenzeit tauchte die Baritonversion wieder auf, als Mattia Battistini (1856-1928) Massenet fragte, ob er Werther singen könne. Als gewiefter Stratege bot ihm der Komponist die für Maurel arrangierte Partitur an und behauptete, sie sei für ihn konzipiert worden, wie er an seinen Verleger Heugel schrieb: „Sie wissen sehr wohl, dass die Arbeit getan ist – sie ist fertig – aber ich möchte, dass, wenn ich meine Antwort gebe, bekannt wird, dass ich die Rolle auf diese Weise für Battistini arrangiert habe“. Nachdem er die Rolle mit Massenet studiert hatte, sang der italienische Bariton die Rolle (in Italienisch!) im November 1901 in Warschau und im folgenden Jahr in St. Petersburg und Odessa, ein Jahrzehnt bevor er einige Auszüge im Jahr 1911 aufnahm. Doch Massenets Autograph dieser Fassung ist bis heute nicht auffindbar und wurde nie veröffentlicht. Dennoch wurde sie wahrscheinlich weitergegeben, vielleicht sogar vom Komponisten oder auch von anderen, denn der französische Bariton Vanni Marcoux besaß ein Exemplar des Werther aus dem Jahr 1918, in der die – handschriftliche – Gesangslinie manchmal von dem abweicht, was wir in Battistinis Aufnahmen hören. Die Baritonfassung geriet schließlich in Vergessenheit, da die Tenöre in einer Oper, die inzwischen in den Opern-Kanon aufgenommen worden war, großen Erfolg hatten. (Erst 1989 tauchte die Baritonfassung in einer Bearbeitung  durch Antonio de Almeida) wieder auf. Nach Dale Duesing in Seattle im Jahr 1989 nahm Thomas Hampson die Oper 1999 wieder auf (dto. Almeida). Jean-Christophe Branger/ DeepL/ Kursiveinschübe G. H.

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Nachstehend ein weiterer interessanter Artikel des italienischen Musikwissenschaftler Danilo Prefumo aus dem Beiheft zu der erwähnten originalen Battistini-Version aus Martina-Franca 2007. 

Massenet hatte bereits seit 1880 begonnen, an Werther zu denken und vervollständigte sein Projekt dann im Februar 1882 zur Zeit der italienischen Erstaufführung von Hérodiade. Damals war er mit der Komposition von Manon und Le Cid beschäftigt und hatte nicht viel Zeit, um die Arbeit des Librettisten Paul Milliet zu verfolgen, die nur von Georges Hartmann, dem ersten Pariser Verleger des Komponisten, überwacht wurde. Da Hartmann und Massenet mit Milliets Arbeit wenig zufrieden waren, erbaten sie die Mitarbeit eines weiteren Librettisten ihres Vertrauens, Edouard Blau. Dessen Beitrag erwies sich für das gute Gelingen des literarischen Teils als entscheidend; sein Name erscheint denn auch als erster in dem von ihm zusammen mit Milliet (der dann nicht mehr mit Massenet arbeitete) verantworteten Libretto.

Dieses wurde Anfang 1885 beendet, und Massenet begann im Frühjahr desselben Jahres mit der Komposition. Die Klavierfassung war Ende Februar 1887 fertig, und die Orchestrierung wurde am 2. Juli desselben Jahres beendet. Ursprünglich sollte die Oper an der Opéra-Comique herauskommen, aber am 25. April 1887 ging das Haus in Flammen auf, und alle Pläne hinsichtlich des Werther wurden buchstäblich zu Rauch. Einige Jahre lang sollte von dem Werk nicht mehr die Rede sein.

Delores Ziegler (Charlotte) and Dale Duesing (Werther) in Massenet’s Werther, Seattle Opera 1989/Matthew McVay

Am 19. November 1890 ging Massenets Manon über die Bühne der Kaiserlichen Hofoper in Wien; die Hauptrollen sangen Marie Renard und der belgische Tenor Ernest van Dyck. Es war ein riesiger Erfolg, weshalb es wahrscheinlich ist, dass in dessen Sog der Einfall entstand, hier auch den noch unaufgeführten Werther spielen zu wollen. Der Leiter des Wiener Hauses, Wilhelm Jahn, nahm den Vorschlag begeistert auf.

Der Verleger Hartmann war aber anfangs 1891 gezwungen, eine Bankrotterklärung abzugeben, und dieses unglückselige Ereignis versetzte den Komponisten nicht wenig in Angst um das Schicksal seiner Oper. Zu Massenets Glück wurde das Verlagsarchiv von Heugel erworben, und damit unterlag Werther keinem Risiko.

Ludovic Tézier als Werther in Wien 2022/Foto Pöhl

So kam es endlich mit den erwähnten selben Sängern zur Wiener Uraufführung vom 16. Februar 1892. Wie damals üblich, wurde die Oper in deutscher Sprache geboten (die Übersetzung stammte von Max Kalbeck). Es kam zu einem vollem Erfolg bei Publikum und Kritik; auch der bei der Premiere anwesende Johannes Brahms gab seiner Bewunderung für die Partitur Ausdruck. Bei seiner Rückkehr nach Paris fand Massenet ein Schreiben von Léon de Carvalho, dem Direktor der wiedererstandenen Opéra-Comique, vor, in dem zu lesen war: “Revenez-nous […] et rapatriez ce Werther que, musicalement, vous avez fait français”.

Auf den Tag genau ein Jahr nach der Wiener Premiere und nach der eigentlichen französischsprachigen Premiere in Genf 1892 (mit Ernest van Dyck)  ging Werther mit triumphalem Erfolg am 16. Februar 1893 über die Bühne der Opéra-Comique, damals im Théatre Lyrique an der Place du Chatelet.

Massenets Widmungsfoto für den von ihm hochgeschätzten Battistini/Novo

Auf der Hauptprobe war es allerdings zu einem unerfreulichen Zwischenfall gekommen. Weil Massenet mit dem für die Titelrolle vorgesehenen Tenor (Etienne Gilbert) in keiner Weise zufrieden war, protestierte er gegen diesen auf aufsehenerregende Weise wegen Unfähigkeit. Le Figaro brachte die Nachricht in großer Aufmachung und fügte auch hinzu, Massenet hätte die Absicht, die Rolle von Tenor auf Bariton umzuschreiben und sie dann Victor Maurel (dem ersten Jago in Verdis Otello) zu übertragen.

Die Vorstellung einer Baritonfassung kam Massenet also sehr früh (1901) in den Sinn, obwohl diese erst etliche Jahre später zustande kam, was dem italienischen Sänger Mattia Battistini (Contigliano, Rieti, 1857 – Colle Buccaro, Rieti, 1928) zu verdanken war. Battistini hatte eine der bedeutendsten Baritonstimmen und oft Opern von Massenet gesungen, die damals auch in Italien sehr populär waren. Die Beziehung zwischen den beiden Künstlern war immer eine ausgezeichnete, und Massenet nahm den Vorschlag des Sängers einer Transponierung der Rolle des Werther vom Tenor zum Bariton gerne auf (auf dieselbe Weise transponierte er, gleichfalls für Battistini, die Rolle des Athanaël in Thaïs von Bass auf Bariton).

Natürlich wurde Werther in dieser Neufassung von 1901 von Battistini immer auf Italienisch gesungen, und der Künstler erkühnte sich nie, die Rolle in Frankreich zu singen, wo er sie hätte auf Französisch bringen müssen. Im übrigen gehörte damals der Purismus hinsichtlich der Originalsprache nicht zur landläufigen Meinung, und es wurde als ganz natürlich betrachtet, dass man eine Oper in die Sprache des Landes, in welchem sie gegeben wurde, übersetzte.

In jedem Fall diente damals das Italienische als übergeordnete Sprache, und französische Opern wurden, wenn sie außerhalb Frankreichs gespielt wurden – beispielsweise an der New Yorker Met – fast immer auf Italienisch gegeben.

Aufführungsposter für Battistini als Werther 1911/Ipernity

Die Erstaufführung des Werther in der Baritonfassung erfolgte am 18. November 1901 in Warschau mit Battistini in der Titelrolle und Salomea Kruscenski als Charlotte. Der Vorgang blieb nicht frei von kritischen Einwänden, auch wenn niemand wagte, den Wert von Battistinis künstlerischer Leistung zu beanstanden, der – wie Giancarlo Landini schrieb – „auf neue, unübliche Weise die Natur dieser Figur zeichnete: Ausbrüche und Leidenschaft fügten sich in eine höhere Schönheit der Ausdrucksweise, als Beweis für ein dermaßen vornehmes Fühlen, dass es zum Selbstmord trieb, um der Gewöhnlichkeit der Gesellschaft zu entgehen“.

Danilo Prefumo (Übersetzung: Eva Pleus). Entnommen der Beilage zur Dynamic-CD der Oper in der Einspielung eines Mitschnitts aus Martina Franca 2007 mit Luca Grassi unter Jean-Luc Tingaud.

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Und dazu noch ein Beitrag von Lesley Wright: Obwohl die Wiener Premiere sehr positiv aufgenommen wurde, brachte es das Werk an der Opéra-Comique in Paris zwischen 1893 und 1902 nur auf 56 Aufführungen. In London scheiterte die Oper 1894 grandios. Massenets schwierige und abenteuerliche Suche nach dem richtigen Tenor, der seinen tragisch-romantischen Helden an der Opéra-Comique spielen konnte, zögerte nicht nur die Pariser Premiere vom November 1892 auf den 16. Januar 1893 hinaus (so dass die Ehre der ersten französischsprachigen Produktion am 27. Dezember 1892 Genf zuteil wurde), sondern bewegte den Komponisten möglicherweise auch dazu, eine Fassung für Bariton vorzulegen.

Victor Maurel war Massenets idealer Werther, sang die Partie aber nie/Ipernity

Mit dieser Fassung verband der Komponist Berichten zufolge die Hoffnung, dass der große Sänger und Schauspieler Victor Maurel (der Verdis ersten Iago und Falstaff gegeben hatte) die Rolle im April 1894 an der Opéra-Comique übernehmen und mit Werther anschließend auf Welttournee gehen würde. (…) Viele Jahre später betonte der Tenor der Genfer Erstaufführung, Guillaume, Ibos noch einmal, wie viel Gewicht Massenet seiner Oper und ihrem Erfolg beimaß, weil sie „sein eigenes Leben als Mensch und Musiker“ widerspiegelte. Diese Behauptung scheint trotz der Beobachtung ihre Gültigkeit zu behalten, dass Ibos gegen Ende seines Lebens dazu tendierte, die Wahrheit auszuschmücken, vor allem was seinen eigenen Beitrag zur Geschichte des Werther anbelangt. Dieser Beitrag bestand darin, dass er in letzter Minute die Titelrolle übernahm und damit die Pariser Premiere ermöglichte. (…)

Die Bärenreiter-Neuedition geht den Unterschieden zwischen den verschiedenen Quellen aus der Zeit Massenets nach, erläutert diese und bringt sie zusammen (etwas, was dem Komponisten selbst nie gelang). Sie würdigt außerdem die Rolle des Librettos, korrigiert Fehler und Auslassungen und empfiehlt eine andere Paukenstimmung (davon ausgehend, dass heutigen Paukisten drei leicht zu stimmende Pauken zur Verfügung stehen). Anmerkungen machen ältere Lesarten zugänglich und erläutern Massenets Wunsch nach einem Zusammenwirken von Inszenierung und Musik.. Lesley Wright (aus [t]akte 2/2016) (Übersetzung: Anna-Lena Bulgrin)

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.Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie Die vergessene Oper hier

 

Du bist wie eine menschliche Blume

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Seit seiner Uraufführung 1911 im Pariser Théâtre du Châtelet dürfte  das „Mystère en cinq mansions composé en rhythme français“, dessen Aufführung selbst gekürzt etwa viereinhalb Stunden dauerte, nicht eben häufig aufgeführt worden sein. Ich erinnere mich nur an eine von Maurice Béjart verwaltete, ratlos lassende Aufführung 1986 an der Mailänder Scala mit Eric Vu-An als Sébastien. Dirigiert wurde die Aufführung von Sylvain Cambreling, der sich eine Neigung für das Stück bewahrte und es als Chefdirigent des SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg, wo er 1999 die Nachfolge von Michael Gielen angetreten hatte, im Januar 2005 in Freiburger Konzerthaus aufführte. Die Aufnahme erscheint nun neuerlich; diesmal beim hauseigenen Label (SWR19149CD).

Das ehrgeizige Unternehmen des Dichters, Dandys und Ästheten Gabriele D’Annunzio brauchte Attraktionen. Die Figur des Heiligen Sebastian schrieb er für die Tänzerin und Schauspielerin Ida Rubinstein, die in der Folge Aufträge an bedeutende Komponisten vergab, darunter Igor Strawinsky, der sich nicht scheute, sie als eine der dämlichsten Frauen der Kunstwelt zu bezeichnen. Der Choreograph Michel Fokine und der Ausstatter Léon Bakst, zwei Exponenten des Ballets Russes, waren Rubinstein durch ihre Petersburger Jahre vertraut. Punkten konnte D’Annunzio vor allem mit der Wahl der Musik, für die er Claude Debussy gewinnen konnte. Debussy stellte die Musik innerhalb kürzester Zeit, von Januar bis April, in Zusammenarbeit mit dem Komponisten André Caplet her, insgesamt 17 Nummern von circa 50 Minuten Dauer. So entstand ein szenisches Gesamtkunstwerk, in dem Dichtung, Musik, Tanz und bildende Kunst miteinander verflochten sind und Schauspieler, Tänzer und Sänger eng zusammenwirken. Bald nach der Premiere waren Debussy und seine Schüler bestrebt, die Musik für den Konzertsaal zu retten, beispielswiese durch eine Orchestersuite.

Der Dirigent Inghelbrecht erstellte eine Konzertfassung mit einem zusätzlich zur Musik Debussys auf etwa 15 Minuten radikal gekürzten Text. Ebenso verfuhr Cambreling in Freiburg mit seiner 77minütigen Fassung, indem er der Musik Debussys Texte Martin Mosebachs entgegensetzte, die nicht unbedingt den Verlauf der Handlung wiedergeben. Die Musik führt, um den Titel des 2. Akts zu zitieren, in eine „Wunderkammer“, „La chambre magique“, in ein Reich altertümlicher Choräle, klarer Linien, raffinierter Schmerzensgesten, süßer Engelsgesänge und beschwörender Sanftmut, instrumental so kostbar austariert und abgehört, dass sich die exotisch mystische Atmosphäre unmittelbar einstellt. So sanftmütig Dörte Lyssewski sowohl die Erzählerin als auch den Heiligen gibt, lässt sich die der hybriden Anlage geschuldete Fremdheit und Steifheit im Zusammenspiel mit den Gesängen der himmlischen Chöre und der Zwillinge Markus (Dagmar Pecková) und Marcellianus (Nathalie Stutzmann), die auf glühenden Kohlen hingerichtet werden sollen, nicht überhören. Cambreling ist von großer Intensität in den zauberisch verinnerlichten ersten Akten, wo im zweiten Abschnitt das Lied der Erigone auffällt; Heidi Grant Murphy ist für himmlische Stimmen und seelenvolle Inbrunst zuständig. Ab dem dritten Akt am Hof des von Sebastians Schönheit verzauberten Kaisers Diokletian prunken Cambreling und das SWR Sinfonierochester Baden-Baden und Freiburg sowie das Collegium Vocale Gent mit der schillernden Prachtentfaltung, mit der Debussy das Leiden und Sterben Sebastians geradezu wollüstig ausstellt, auskostet, steigert und samten umkleidet. Kurz vor der Aufführung hatte der Pariser Erzbischof den Besuch der Aufführung verboten, da die Vermischung der Heiligenlegende mit dem erotischen Adoniskult und die Darstellung des Heiligen durch eine Frau als Beleidigung des „christlichen Bewusstseins“ angesehen wurden. Debussy versicherte, er habe die Musik so geschrieben, als sei sie ihm von einer Kirche aufgetragen worden.  Rolf Fath

 

Erstfassung Wien 1762

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Herzenswunsch eines jeden Countertenors von Rang ist es wohl, Glucks Orfeo zu singen – oder noch besser: die Partie in einer Tonaufnahme zu dokumentieren. Eine schier unüberschaubare Fülle findet sich auf dem Musikmarkt, darunter auch eine ERATO-Einspielung mit Philippe Jaroussky aus dem Jahre 2018. Nun hat die Firma ihrem Exklusivkünstler Jakub Jozef Orlinski seinen Wunsch erfüllt – mit ihm die Azione teatrale per musica im Januar 2023 in Warschau produziert und nun nochmal bei Erato auf einer CD veröffentlicht (5054197897535). Im Unterschied zu Jaroussky, der sich für  die Fassung von Neapel 1774 entschieden hatte, ist nun die Erstfassung Wien 1762 zu hören. Orlinski fungiert in der Neuproduktion als Interpret der männlichen Titelrolle, als Produzent, künstlerischer Leiter und Besetzungschef. Im Fall des Amore hatte er eine besonders glückliche Hand mit der Wahl der ägyptischen Sopranistin Fatma Said. Ihre Stimme besitzt hohen Farbreichtum, Sinnlichkeit und eine bedeutende lyrische Substanz, wie man sie gewöhnlich in dieser Partie nicht zu hören bekommt. Der Amore als Nebenrolle erhält dadurch einen höheren Stellenwert als in den meisten anderen Aufnahmen. Seine Begegnung mit Orfeo am Ende des 1. Aktes, „T´assiste Amore!“/„Gli sguardi trattieni“, wird zu einer Kernszene der Handlung dank des nachdrücklichen und phantasievollen Vortrags der Sängerin. Das rückt die Partie der Euridice fast in den Hintergrund – trotz ihres großen Duos mit Orfeo und der vehementen Arie „Che fiero momento!“ im 3. Akt. Der Sopran von Elsa Dreisig vermag sich aber nicht genügend von dem Fatma Saids abzusetzen. Die Stimme ist in ihrem Charakter lyrisch und ausgewogen, aber weit weniger persönlich als die der Ägypterin. Und in den Rezitativen klingt sie im Bemühen um dramatischen Ausdruck zuweilen schimpfend. Die dramatische Arie wird vom Orchester mit einem Wirbelsturm eingeleitet und gelingt ihr dann auch überzeugend, wenngleich die eingelegten staccati zwar virtuose Elemente der Verzierung sein mögen, aber kaum der existentiellen Situation der Figur entsprechen.

Orlinski stellt seinen Orfeo in einer ausgesprochen introvertierten Lesart vor, gipfelnd in der berühmten Arie „Che farò senza Euridice?“, die er in betont getragenem  Tempo und mit ganz nach innen gewandtem Ausdruck vorträgt. Orfeos erstes Solo, „Chiamo il mio ben così“, erklingt zunächst in schlichter Anmut, wechselt dann aber in weinerliche  Schmerzenslaute. Das Dacapo wird variiert, entbehrt aber gleichfalls nicht der Larmoyanz. In „Mille pene“ im 2. Akt hört man heulende Töne, gelungener ertönt „Che puro ciel“ in purer Innigkeit.

Bei aller Konkurrenz: Die Neuaufnahme kann durchaus mit den besten existierenden Tondokumenten konkurrieren. Das ist vor allem das Verdienst des Orchesters, denn Il Giardino d´Amore unter Stefan Plewniak musiziert mit einer solchen Vitalität, einer derartigen dynamischen Bandbreite und einer Fülle von überraschenden Akzenten, dass man beim Hören geradezu gebannt ist. Das beginnt mit der spannungsgeladenen Sinfonia, zu welcher der folgende, schleppende Gesang des Chores einen starken Kontrast bildet. In der Folge begeistern Chor und Orchester immer wieder mit ihren Nummern – dem furiosen Ballo di furie e spettri oder dem paradiesischen Ballo d`eroi ed eroine negli Elisi. Am Ende hat Il Giardino d`Amore im viersätzigen Ballo noch einmal Gelegenheit, mit graziösen, beschwingten und heiteren Klängen zu glänzen, bevor sich alle zum jubilierenden Schlussgesang „Trionfi Amore!“ vereinen. Bernd Hoppe

Erbangelegenheiten

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Willy Heinz Müller (1900–1974) gehört zu den Komponisten, deren Oeuvre bislang noch auf seine Entdeckung gewartet hat. In seinem Fall auf einem Stapel neben dem Klavier seiner Urenkelin, der Sopranistin Mélanie Adami. Während der Corona-Pandemie hat sie sich des Stapels angenommen und beschlossen, die Lieder ihres Urgroßvaters, so schreibt sie im Booklet, ›wieder zum Leben zu erwecken‹. Den Bariton Äneas Humm und die Pianistin Judit Polgar hat sie für ihre Mission gewinnen können und mit den beiden ein Album eingespielt. Vergessene Lieder, vergessene Lieb heißt es – übrigens kein Liedtitel von Willy Heinz Müller, sondern von Ernst von Dohnány. Neben den Kompositionen ihres Urgroßvaters hat sich Melanie Adami noch eine Reihe weiterer Lieder und Duette von Komponisten ausgesucht (neben Dohnány auch Béla Laszky, Franz Ries und Eugen Hildach und Carl Götze), die alle in verschiedenen Beziehungen zu ihm standen. Vor allem eint sie aber, dass sie, mit Ausnahme von Ernst von Dohnány vielleicht, eher selten gespielt werden – um es vorsichtig zu formulieren.

Die Kompositionen von Willy Heinz Müller erweisen sich durchaus als Entdeckung: farbenreiche, durch eine ausgefeilte Linearität bestechende Lieder, die unweigerlich an Bergs Jugendlieder, Lieder von Zemlinsky und Schreker erinnern. Typischer musikalischer Jugendstil gepaart mit überwiegend melancholischen Texten von Hugo Binder und Victor Heindl. Mélanie Adami, die unüberhörbar aus dem Opernfach kommt, singt die Lieder ihres Urgroßgroßer mit strahlender, vibrato- und obertonreicher Stimme. Aus den Liedern werden (schwer)gewichtige Arien. Vielleicht ist es der Wille, dem urgroßväterlichen Erbe gerecht zu werden, zu zeigen, dass er ein begnadeter Komponist war – nötig hätten die Kompositionen diesen Zeigefinger nicht gehabt. Schöner wäre es gewesen, wenn sie, so wie es der Pianistin Judit Polgar gelingt, den Farbenreichtum der Lieder in ihrer Interpretation mehr aufgegriffen hätte: mehr dynamische Varianzen, mehr Ausdruck und weniger Schwelgen in jedem Takt. Das von Mélanie Adami hin und wieder angebotene piano ist eher ein mezzopiano und offenbart stimmliche Schwächen, hörbar vor allem in einem verstärkten Anteil von Nebenluft und einer insgesamt raueren Stimme (ich möchte beinahe sagen, Mélanie Adami klingt leicht erkältet). Eine Ausnahme bildet das piano – dieses ist auch in meinen Ohren ein tatsächliches! – im Schluss des im Liedes Lass mich an deine Liebe glauben. Dieses piano dringt, ganz dem Text entsprechend, tief in die Seele ein und zeigt, dass sie durchaus fähig ist, erstklassig piano zu singen. Besonders in der Mittellage fehlt ihrer Stimme aber die Brillanz, die sie in der Höhe besitzt. Es gibt auch hier Nebenluft und die Vokale – die in allen Lagen eine Spur exakter sein dürften, besonders die o-Vokale – wirken flach.

Die Lieder der anderen Komponisten auf dem Album übernimmt beinahe ausschließlich Äneas Humm. Der als großes Nachwuchstalent gehandelte junge Schweizer Bariton ist bekannt dafür, in allen Genres zu Hause zu sein. Hier singt er Lied, häufig im besten Opern- und Operettenstil. Im Falle der Lieder des Komponisten Franz Ries, die ohnehin eine gewisse Nähe zur Operette besitzen, geht dieses Konzept gut auf. In Stücken wie dem titelgebenden Vergessene Lieder, vergessene Lieb von Ernst von Dohnány wirkt seine sehr dramatische Interpretation eine Spur zu pathetisch und damit leider auch weniger glaubwürdig, als man dies von ihm gewohnt ist. Es stellt sich, wie auch bei Mélanie Adami, selbst bei den gut gesungenen sechs Liedern von Franz Ries eine Übersättigung an großen Tönen ein. Wenn mit vollem Pathos vom ›Herzen‹ geschmettert wird, trifft es einen schon gar nicht mehr ins eigene – trotz seines unbestreitbar schönen und samtigen Timbres und seiner großen stimmlichen Möglichkeiten. Dass er sich eines größeren Ausdrucksrepertoires bedienen kann, versprechen kurze, innigere Passagen wie in Abschied von Franz Ries, die leider die Ausnahme bleiben. Im Duett der beiden Sänger verstärkt sich, was schon in den Sololiedern hörbar wird: Es wird nicht zu knapp geschwelgt und mit viel Vibrato und Legato dick aufgetragen. Die Interpretationen wirken insgesamt aus der Zeit gefallen, böse Stimmen würden ›altbacken‹ sagen (Prospero, PROSP0087). Henrike Leißner

Zuwachs im Counter-Regal

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Der holländische Countertenor Oscar Verhaar hat bei Challenge acht Arien aus Oratorien von Georg Friedrich Händel aufgenommen. Die CD entstand im April und Mai 2023 im holländischen Baarn und erschien unter dem Titel „Freedom“ (CC72973). Die „Freiheit“ sieht der Sänger als Leitmotiv in all diesen Kompositionen aus sieben Oratorien, welche von Gefangenschaft, Unterdrückung, Widerstand und eben Freiheit handeln und einen chronologischen Bogen spannen von Deborah (1733) bis zu Jephta (1751). Der Sänger wird inspirierend und engagiert begleitet vom Ensemble La Sfera Armoniosa unter Leitung von Mike Fentross, das in zwei orchestralen Beiträgen (Ouverture zu Susanna und der Symphony aus Joseph and his Brethren) auch seine musikantischen Qualitäten zeigen kann.

Als Konzertsänger ist Verhaar kein Unbekannter, doch ist diese Veröffentlichung seine Debüt-CD. Die Stimme klingt leicht und weich, sein Gesang ist kultiviert, doch mangelt es ihm an einem spezifischen Timbre und an Attacke für die heroischen Arien. Am Beginn steht Baraks lebhafte Arie „All Danger disdaining“ aus Deborah, in der die Stimme nicht genügend fokussiert klingt, gefolgt von Micahs Arie „Return, o God of Hosts“ aus Samson, einem von Händels erfolgreichsten Oratorien. In den schwebenden Tönen dieser getragenen Komposition kommt Verhaars Stimme vorteilhafter Wirkung. Die erste Gruppe beschließt die Arie des Titelhelden „Fury, with red-sparkling Eyes“  aus dem 3. Akt von Alexander Balus, eine fulminante Nummer, welche der Sänger erstaunlich bewältigt. Daniels Arie „O sacred Oracles of Truth“ aus dem Belshazzar markiert den Mittelteil des Programms. Auch diese entspricht in ihrer Empfindsamkeit genau dem Naturell des Interpreten.

Am Schluss stehen drei Arien aus bedeutenden späten Schöpfungen des Komponisten, beginnend mit der Arie des Titelhelden  „Be firm, my soul“ aus Joseph and his Brethren.  Nach einer langen, grüblerischen Einleitung erklingt Josephs klagende Stimme, wiederum wie geschaffen für das Organ des Sängers, wie auch die Arie des David „O Lord, whose Mercies numberless“ aus Saul in reiner Streicherbegleitung und dem sanften Melos. Die Arie des Hamor „Up the dreadful Steep ascending“ aus Jephta setzt den kontrastierenden Schlusspunkt, denn hier besingt der Soldat Hamor mit Jubeltönen die bevorstehende Hochzeit mit Jephtas Tochter Iphis. Bernd Hoppe

À deux voix

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Bei Audax Records ist eine sehr interessante CD unter dem Titel À deux voix mit Duetten erschienen, die das Repertoire mehrstimmiger Liederabende sicher erweitern werden. Der baskische Dirigent und Pianist Inaki Encina Oyón macht sich sehr für das Kunstlied aus Spanien, Frankreich und Deutschland stark und ist dabei auf veritable Ausgrabungen gestoßen. So gibt es auf dieser CD u.a. Kompositionen als Weltersteinspielungen von Cécile Chaminade, Paul Puget und Charles Gounod. Mit der gualtematekischen Sängerin Adriana Gonzáles hatte der Pianist schon 2020 und 2021 jeweils eine Lied-CD bei Audax herausgebracht. Als sich die Sopranistin und  Marina Viotti (Mezzosopran) aus der Schweiz bei einem gemeinsamen Engagement in Barcelona 2017 kennenlernten, stellten sie bald fest, dass ihre Stimmen gut zueinander passen. So ergab sich folgerichtig diese gemeinsame Einspielung von Duetten der französischen Romantik mit Inaki Encina Oýon als Begleiter am Klavier. Für das instruktive Beiheft schrieb er auch den Artikel, der die Idee der Entstehung und Programmfolge gut beschreibt. Die Stimmen der beiden Sängerinnen ähneln sich so sehr, dass man sie einerseits nur schwer auseinanderhalten kann, andererseits unterstreicht das aber die Übereinstimmung in Stilistik und Phrasierung. So begeistert Adriana Gonzáles besonders mit leichten piani in teils extremer Höhe, während Marina Viotti in der Mittellage etwas runder und voller klingt. Beide ergänzen sich einfach prächtig, und es ist ein Genuss, sich dem Zauber anspruchsvoller  Duette namhafter Komponisten hinzugeben.

Da sind zuerst sechs sehr lyrische Stücke von Charles-Marie Widor zu hören; besonders hervorzuheben ist das schwingende, sich steigernde Nocturne. Ebenso berührend und eindrücklich kommt Je ne croyais pas au bonheur herüber, wenn „die Spuren von Tränen und Schmerzen von Deiner Hand gelöscht werden“ und wieder „zum Glauben an das Glück im Leben“ verhelfen. Von Èmile Paladilhe stammt das entzückende Au bord de l’eau, das eine gedankenvolle Abendstimmung erzeugt. Les trois oiseausx von Léo Delibes ist ein reizendes, kurzes Gespräch zwischen sich nach Liebeszeichen Sehnenden und den drei Vögeln. Charlotte Devérias Les papillons ist eine schlichtere Weise , die mit innigem „aimer toujours“ endet. Eine dichte Interpretation gelingt den Protagonistinnen mit Pauline Viardots melancholischem Lied Rêverie. Die Weltersteinspielung von  Cécile Chaminade mit dem Titel Duo d’étoiles nach Armand Silvestre lebt von einem packenden, vom Klavier präzise gegebenen Puls, den die Stimmen elegant umspielen. Paul Puget ist mit zwei Ersteinspielungen vertreten: In Au bord de la mer wird quasi ein Gemälde hörbar, während Oyón die Kastagnetten imitiert und damit das Chanson andalouse schwungvoll für die Sängerinnen in Gang setzt. Mit La nuit, dessen berauschende Düfte und zitternde Sterne hörbar werden, und Réveil, dem erkennbaren Erwachen der Natur, ist Ernest Chausson bestens vertreten. Eher bekannt sind wohl die Duette von Gabriel Fauré, die er den Töchtern von Pauline Viardot gewidmet hat:  Puisq’ici-bas toute âme… und vor allem die lebhafte Tarantelle mit geläufigen Koloraturen sind ‚Spiel der Liebe‘. Sehr weich und tänzerisch kommt Les danses de Lormont von César Franck daher. Jules Massenet ist vertreten mit Marine, flüssig und beschwingt die Meereswellen beschreibend, und Joie!, in dem – befeuert vom   Klavier – überschäumende Freude eingefangen ist. Das zartere La chanson de la brise von Charles Gounod wird im lockeren Dreier-Takt elegant dargeboten. Dansons! von Édouard Lalo bildet den fröhlichen Abschluss der CD; hier kommen noch einmal die Vorzüge der gleichwertigen Sängerinnen zum Tragen, die blitzsaubere Intonation beider und die nahezu identischen Triller und Vorschläge in der anspruchsvollen Melodieführung. Nicht zu vergessen ist der hervorragende Begleiter Inaki Encina Oyón, der nicht nur unterstützend eine sichere Bank für die Sängerinnen ist, sondern auch eigene Impulse gekonnt einsetzt; dabei gerät er nie zu stark in den Vordergrund und lässt den Damen immer genug Zeit zum Aussingen der unterschiedlichen Phrasen. Man wünscht dieser CD (Audax Records, ADX  11209) eine große Verbreitung. Marion Eckels

Starke Frauen

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Zwei in eins: Asmik Grigorian, in den letzten Jahren zum Weltstar der Oper aufgestiegen, hat sich der Vier letzten Lieder von Richard Strauss angenommen, die nun wahrlich herausragender Gestaltungskunst bedürfen. Darüber verfügt die litauische Sopranistin zweifellos, wenn ihre kräftige, volltimbrierte  Stimme in allen Liedern aufs Feinste mit den farbenreichen Klängen des Orchestre Philharmonique de Radio France unter der souveränen Leitung seines Chefdirigenten Mikko Franck verschmilzt. Im impressionistisch anmutenden Frühling bewältigt sie problemlos den geforderten großen Umfang von fast zwei Oktaven und die vokalisenhaften Intervalle auf das Wort Vogelgesang. Beeindruckend ist auch die extrem ruhige Stimmführung in allen Lagen über lange Phasen hinweg, wie besonders in September oder im geradezu abgeklärten Im Abendrot deutlich wird. Als nun wirklich nur kleinen Wermutstropfen empfinde ich, dass die im Liedgesang so zwingend notwenige Diktion zu den Endkonsonanten nicht immer zufrieden stellt.

Im Vergleich zu den originalen Liedern für Sopran und Orchester hat ALPHA eine Fassung für Sopran und Klavier mit dem Pianisten Markus Hinterhäuser vorgelegt. Im Beiheft führt Asmik Grigorian dazu aus, dass die „beiden Versionen jeweils unterschiedliche Klangfarben erfordern, auch wenn es sich um dasselbe Stück handelt“. Zunächst fällt auf, dass sich die beiden Künstler in der Klavierfassung in allen Liedern gegenüber der Orchesterfassung für gedehntere Tempi entschieden haben. Auch werden bei allem pianistischen Können die vielfältigen Farben des Orchesters natürlich nicht erreicht. Abgesehen davon, dass sich die Sängerin hinsichtlich der Lautstärke deutlich zurücknimmt, weil das Klavier eben nicht so stark ist wie der volle Orchesterklang, sind die Klangfarben des Soprans gegenüber der Orchesterfassung kaum verändert. Letztlich bleibt es Geschmackssache, welche Fassung mehr gefällt (ALPHA 1042).

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Ein paar Jahre jünger als die Grigorian ist die bei Erato stark vertretene französische Sopranistin Sabine Devieilhe, die gemeinsam mit dem Pianisten Mathieu Pordoy Lieder von Wolfgang Amadeus Mozart und Richard Strauss aufgenommen hat. Nach welchen Gesichtspunkten die 16 Lieder von Strauss und die 8 von Mozart gegenüber gestellt worden sind, wird nicht immer deutlich, wenn man davon absieht, dass die selten zu hörenden vier Mädchenblumen von Strauss Mozarts bekanntem Veilchen vorangehen. Aber was das neckische Kinderspiel von Mozart mit Strauss‘ Ständchen und dem hoffnungsvollen Morgen (die Solo-Violine aus der Orchesterfassung spielt Vilde Frang) zu tun haben soll, hat sich mir nicht erschlossen. Auch das melancholische Allerseelen (Strauss) passt nicht wirklich zu Mozarts erotisch aufgeladenem An Chloe, aber vielleicht ist der starke Kontrast ja gewollt. Die Sängerin führt ihren klaren, silbrig timbrierten Sopran sicher, stets intonationsrein und mit schön aufblühenden Höhen durch alle Lagen. In partnerschaftlichem Musizieren mit dem souveränen Pianisten gelingen jeweils  ansprechende Interpretationen der sehr unterschiedlichen Lieder, dabei das elegant präsentierte Oiseaux, si tous les ans von Mozart oder das bravourös vorgetragene, mit höchst komplizierten Koloraturen à la Zerbinetta gespickte Amor (Erato 5054197948862). Gerhard Eckels

In Symbiose

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Es ist keine Seltenheit, dass Duette aus Opern oder Oratorien auf Programmen von Konzerten oder Einspielungen diverser Sängerinnen und Sänger landen. Kunstlieder im Duett werden da schon stiefmütterlicher behandelt – vielleicht, weil sie in ihrer Wohnzimmer- und Salontradition vermeintlich weniger repräsentativ sind. Schade eigentlich, müssen sich zumindest die Sopranistin Katharina Konradi und die Mezzosopranistin Catriona Morison gedacht haben. Mit Ammiel Bushakevitz  am Klavier haben sie ein ganzes Album mit solchen Duetten eingespielt. Echoes heißt es (was dieser Name, über die spontanen Assoziationen im Rahmen der sich ergänzenden Stimmen zweier Sängerinnen hinaus, mit dem Programm zu tun hat, bleibt offen).

Neben den besonders hierzulande ›üblichen Verdächtigen‹, heißt Duetten von Schumann und Brahms, haben die drei auch Duette von Komponistinnen und Komponisten aus Frankreich ausgewählt. Darunter Werke von Ernest Chausson, Gabriel Fauré, Mel Bonis, und der beiden Sängerinnen und Schwestern Pauline Viardot und Maria Malibran. Einziges Auswahlkriterium: die persönlichen Vorlieben der beiden Sängerinnen. Die Kombination aus deutscher und französischer Romantik, impressionistischen Anklängen und spanischem Kolorit, wie in Pauline Viardots Habanera, ergibt ein durchaus reizvolles Programm. Der lange Block mit deutschsprachigen Duetten direkt zu Beginn des Albums erfordert beim Hörer oder der Hörerin trotzdem eine gewisse Vorliebe für dieses Genre. Nach 12 Titeln mit bestem und zweifelsohne mustergültig interpretiertem deutschem Duett samt chronisch unterrepräsentiertem Mezzosopran, ist es, zumindest für meine Ohren, eine große Freude, musikalisch in einen anderen Kosmos einzutauchen.

Hier kommen dann auch beide Stimmen auf ihre Kosten, was besonders erfreulich ist, weil hier zwei Sängerinnen ist Bestform aufeinandertreffen: Katharina Konradi mit brillantem, hellem Sopran, großer Flexibilität in höchsten Lagen und virtuosen Trillern und Catriona Morison mit warmem Timbre, voluminöser Mittellage und einer ebensolchen Höhe (bei Ernest Chausson darf sie die auch zeigen). Die Exaktheit, mit der die beiden Sängerinnen die Duette erarbeitet haben, ist beeindruckend, Legati und kleine Schleifer sind perfekt koordiniert, Diphthonge werden zeitgleich gesprochen, der Text ist allgemein deutlich verständlich. Ermüdend oder uninteressant wird diese Dimension der Perfektion für mich nicht. Einzig Ammiel Bushakevitz hätte sich hin und wieder ein Beispiel an seinen beiden Kolleginnen nehmen können was Witz und Leichtigkeit anbelangt. (Avi Music, 8553547). Henrike Leißner