Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Gerd Feldhoff

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Mit großem Bedauern hörte ich vom Tode eines meiner Lieblingsbaritone jener Berliner Jahre des Lernens und Hörens an der Deutschen Oper Berlin, Gerd Feldhoff, Felsen im Heldenbariton-Fach, unvergessener Barak (weit vor meiner kritischen Einschätzung von Fischer-Dieskau), Alfonso vom Dienst ebenso wie Gunther, Wanderer, Pizarro,  Wozzeck, Hans Sachs, Amfortas, Jochanaan, Kurwenal und in manchen anderen Rollen, die seine ganz wunderbare Stimmführung und Charakterdarstellung zeigten. Ohne ihn ging an manchem Abend nichts, und wir im 3. Rang empfanden es als gewisse Demütigung für ihn, dass er wie andere Hausbesetzungen den illustren Gästen (so FiDI) weichen musste. Seine sonore, schön- und reichtimbrierte Stimme ist mir heute noch im Ohr. Umso mehr freute ich mich, wenn ich ihn später auch oft in Wiesbaden hörte, unter anderem ebenfalls als Barak. Er war und ist ein Teil meines musikalischen Lebens, und ich bin ihm dankbar für viele Abende des intensiven Opernerlebens. Er stand für Qualität. Einen wie ihn gibt es einfach nicht mehr. Geerd Heinsen

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Die Deutsche Oper Berlin trauert um Gerd Feldhoff (1931 – 2024). Der Neubau an der Bismarckstraße war kaum eingeweiht, da stand er schon hier auf der Bühne: Der Bariton Gerd Feldhoff sollte zu den Sängern gehören, die der Deutschen Oper Berlin ihr Leben lang verbunden blieben. Nachdem er – damals noch in der Interimsspielstätte im Theater des Westens –  bereits 1961 in der Titelpartie von Mozarts DIE HOCHZEIT DES FIGARO hier debütiert hatte, wurde Feldhoff ab 1963 festes Ensemblemitglied. Der Dirigent Karl Böhm vertraute ihm hier schnell auch die Baritonrollen des schweren Fachs an wie den Barak in DIE FRAU OHNE SCHATTEN, der zeitlebens seine Lieblingspartie bleiben sollte.

Und obwohl Einladungen nach New York, München und Wien, nach Salzburg und Bayreuth folgten, hielt Feldhoff, der vor seinem Gesangsstudium eine Lehre als Werkzeugmacher absolviert hatte, der Deutschen Oper Berlin bis zu seinem Bühnenabschied 1999 die Treue: Mit seinen 1360 Auftritten, unter anderem als Wozzeck, Hans Sachs und Amfortas, als Jochanaan, Pizarro und Wanderer, prägte er das Haus. Nun ist Feldhoff, der ab 1970 auch den Titel „Berliner Kammersänger“ trug, am 4. April im Alter von 92 Jahren verstorben. Die Deutsche Oper Berlin wird ihrem langjährigen Ensemblemitglied ein ehrendes Angedenken bewahren. (Quelle: Deutsche Oper Berlin)

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Dazu ein Auszug aus dem unersetzlichen Wikipedia: Gerd Feldhoff (* 29. Oktober 1931 in Radevormwald; † 4. April 2024 in Fürth) war ein deutscher Opernsänger (Bariton). Gerd Feldhoff machte zunächst eine Lehre zum Werkzeugmacher, bevor er sich im Alter von 23 Jahren für den Sängerberuf entschied. Seine ersten Gesangsstudien wurden durch die Stadt Radevormwald finanziell unterstützt. Sein Gesangsstudium absolvierte er an der Nordwestdeutschen Musikakademie in Detmold bei Frederick Husler, auf dessen Vermittlung Feldhoff für sein weiteres Studium ein Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes erhielt.

Nach zweijährigem Studium wurde er von Wolfram Humperdinck, damals Leiter der Opernschule und Oberspielleiter am Landestheater Detmold, als Cover für die Rolle von Zar Peter I. in Zar und Zimmermann engagiert, den er in der Folgezeit in etwa 40–50 Vorstellungen am Landestheater Detmold sang. In Detmold sang er unterschiedliche Partien, u. a. Marcello in La Bohème, Amonasro in Aida, René in Ein Maskenball und den Julius Caesar.

1959 gab er als Titelheld in Figaros Hochzeit sein Debüt am Opernhaus Essen, wo er bis 1962 im Ensemble verblieb. Ab 1961 gehörte er dem Ensemble der Oper Frankfurt an und hatte einen Gastiervertrag mit der Hamburgischen Staatsoper. Carl Ebert, der damalige Intendant der Deutschen Oper Berlin (DOB), hörte Feldhoff 1960 in Essen als Figaro und engagierte ihn daraufhin sofort nach Berlin.

1961 gab Feldhoff, noch als Gast, und wiederum als Mozart-Figaro, sein Hausdebüt an der Deutschen Oper Berlin, die damals noch in der Interimsspielstätte im Theater des Westens beheimatet war. Ab 1963 war Feldhoff dann festes Ensemblemitglied der Deutschen Oper Berlin, der er bis zu seinem Bühnenabschied im Jahr 1999 ohne Unterbrechung über 35 Jahre angehörte. Seine erste Premiere als festes Ensemblemitglied war im Juni 1963 wiederum der Figaro in Figaros Hochzeit. Im Februar 1964  sang er an der Deutschen Oper Berlin unter der musikalischen Leitung von Karl Böhm mit großem Erfolg erstmals den Barak in der Strauss-Oper Die Frau ohne Schatten, der in seinen weiteren Karrierejahren zu seiner persönlichen Lieblingspartie wurde. An der Deutschen Oper hatte er insgesamt 1.360 Auftritte, unter anderem als Wozzeck, Hans Sachs, Amfortas in Parsifal, Jochanaan in Salome, Pizarro in Fidelio und als Wanderer in Siegfried. 1969 wirkte er in Berlin in der Uraufführung der Oper 200 000 Taler von Boris Blacher mit.[6] Im März 1972 sang er an der Deutschen Oper Berlin in der deutschen Erstaufführung der Oper Der Besuch der alten Dame von Gottfried von Einem den Alfred Ill.[7] In der Spielzeit 1977/78 übernahm er die Titelrolle in einer Cardillac-Neuinszenierung unter der musikalischen Leitung von Marek Janowski.[8] In der Spielzeit 1979/80 war er der Kurwenal in einer Neuproduktion von Tristan und Isolde (Regie: Götz Friedrich) mit Daniel Barenboim als Dirigent.[9] 1996 sang er an der Deutschen Oper Berlin noch einmal in mehreren Repertoirevorstellungen den Kurwenal in Tristan und Isolde. Gegen Ende seiner Karriere war er an der DOB häufig als Vater in Hänsel und Gretel besetzt. Im Mai 1999 nahm er mit der Rolle des Kurwenal in einer von Christian Thielemann geleiteten Tristan-Aufführung seinen Abschied von der Bühne.

Feldhoff gastierte an zahlreichen Opernbühnen im In- und Ausland. 1960 trat er erstmals am Teatro Colón in Buenos Aires auf. 1964/65 sang er bei den Salzburger Festspielen den Harlekin in Ariadne auf Naxos.[10][11] In den Jahren 1966–82 gastierte er an der Wiener Staatsoper als Musiklehrer in Ariadne auf Naxos, als Alfonso in Così fan tutte, als Kothner in Die Meistersinger von Nürnberg, als Pizarro, als Orest in Elektra und als Kardinal Borromeo in Palestrina.

Bei den Bayreuther Festspielen war er 1968/69 als Amfortas in Parsifal und als Kurwenal in Tristan und Isolde zu hören. In der Spielzeit 1971/72 wurde er an die Metropolitan Opera in New York verpflichtet, wo er den Kaspar in einer Neuinszenierung der Oper Der Freischütz sang.

Im Mai 1984 gastierte er am Opernhaus Nürnberg als Pizarro in einer Gala-Vorstellung, bei der Jeannine Altmeyer (Leonore) und Karl-Heinz Thiemann (Florestan) seine Partner waren. 1985 sang er am Opernhaus Zürich die Titelrolle in Mathis der Maler. 1992 trat er am Staatstheater Karlsruhe als Barak auf.

Weitere Gastspiele gab er in Kopenhagen, Helsinki, Amsterdam, Montreal, Mexico-Stadt und bei den Schwetzinger Festspielen. Mit den Ensembles der Deutschen Oper Berlin und der Wiener Staatsoper nahm er auch an deren Japan-Tourneen teil.

Gerd Feldhoff verfügte über einen „sonoren, von kraftvoller Dramatik geprägten Bariton“ (Kutsch/Riemens), der insbesondere im Rollenfach des Heldenbaritons hervorragend zur Geltung kam. Tondokumente mit Gerd Feldhoff sind u. a. auf den Labels Eurodisc (Sebastiano in Tiefland-Gesamtaufnahme, Querschnitt aus Der Evangelimann), Deutsche Grammophon (Lulu von Alban Berg, Kothner), Philips (9. Sinfonie von Beethoven) und HMV-Electrola (Mathis der Maler) erschienen.

1970 wurde Gerd Feldhoff zum „Berliner Kammersänger“ ernannt. Auch sein jüngerer Bruder Heinz Feldhoff (1938–2010) war als Opern- und Konzertsänger tätig (Foto oben: Gerd Feldhoff als Barak an der Deutschen Oper Berlin/DOB/Crohner)Wikipedia

Harmonie von Optik und Akustik

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In Berlin konnte, nein musste das Publikum vor einigen Monaten erleben, wie eine märchenhafte, träumerische, schillernde und facettenreiche Musik niedergemacht wurde von einer Regie, die aus dem Märchenwald eine Schmuddel-WG, aus dem königlichen Palast ein Neureichen-Loft mit Blick auf den Berliner Fernsehturm und aus der Nixe Rusalka ein von niemandem gelittenes queres Wesen machte und damit auch der Musik jeden Zauber auszutreiben versuchte. In Londons Covent Garden  gab es ein Jahr zuvor eine Rusalka-Produktion   zu bestaunen, in der Optik und Akustik aufs Schönste miteinander harmonierten, die eine die andere in ihrer Wirkung nicht nur zur Geltung kommen ließ, sondern sie unterstützte (Creators und Directors  Natalie Abraham und Ann Yee). Sie ist jetzt bei opus arte erschienen und das weniger als spärliche Booklet ist das Einzige, was man an ihr aussetzen kann.

Zu Beginn und am Schluss schweben Wassermann und Nymphen über dem mit Seerosen bewachsenen Teich, die Beleuchtung von Paule Constable ist so stimmungsvoll wie es die Kostüme von Annemarie Wood, besonders das für den Wassermann, sind, und die Choreographie von Ann Yee charakterisiert Nymphen wie Hofgesellschaft gleichermaßen zutreffend. Viel Symbolik, so die weiße Marmorbank im Schloss, in die ein verdorrter Ast integriert ist, erleichtert den Zugang zum Gehalt des Märchens. Die Gummitiere im Schloss wirken wie eine Karikatur natürlicher Wesen, Irrlichter über dem Wasser hingegen sind voller Zauber (Bühne Chloe Lanford) .

Auch mit der Sängerbesetzung kann man hochzufrieden sein. Asmik Grigorian ist eine anmutige Rusalka, in deren Stimme Sehnsucht und Melancholie vernehmbar sind, die in der makellosen Höhe schön aufblühen kann und die im Forte nie angestrengt klingt. Wie in Mondlichtschimmer getaucht erscheint der Sopran beim berühmten Lied an den Mond. Wunderbar spielt sie, wie aus dem selbstsicher sich in seinem Element bewegenden, in wasserfarbene Schleier gehüllten Naturwesen ein unsicher umher stakendes Kurzhaar-Girl im Hosenanzug wird, auf dessen Rücken die Wunde, die der Austausch der Stimme mit der Menschenseele mit sich brachte, sich nicht schließen will.

Beinahe schon einen Heldentenor erfordert die Figur des Prinzen, der von David Butt Philip deshalb auch weniger durch lyrischen Schmelz überzeugen muss als mit Durchhaltevermögen, das er in schönem Maße besitzt, auch wenn die Stimme nicht in allen Registern einheitlich klingt, manche Phrase recht offen erklingt. Viel Saft und Kraft hat der Hajny von Ross Rangobin in seinem farbigen Bariton, der Küchenjunge von Hongni Wu wirkt streckenweise überfordert, hat aber auch Momente voller Frische und Jugendlichkeit, tadellos sind die drei Nixen Vuvu Mpofu, Gabriele Kupšyté und Anne Marie Stanley. Durch Mark und Bein geht der Wehe-Ruf des Wassermanns von Aleksei Isaev, dessen Bass von dunkler Farbe geradezu überströmt. Emma Bell ist eine reife Fremde Fürstin, die weniger durch die Optik als durch die Wärme und Rundheit ihres Mezzosoprans fasziniert. Die Hexe Jezbaba findet in Sarah Connolly ihre optisch wie akustisch angemessen bizarre Verkörperung. Der Zauberer am Dirigentenpult ist Semyon Bychkov, der es aus dem Orchestergraben locken und verführen, klagen und jubeln lässt und der in keinem Augenblick gegen eine die Musik denunzierende Optik ankämpfen muss (opus arte 807322D). Ingrid Wanja

Harte Arbeit

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„Laßt mich euch ihr menschenbrüder wie es war erzählen“, sagt Max, der ehemalige SS-Offizier Dr. jur Maximilian Aue. Was nun beginnt ist keine Märchenstunde, sondern bereits nach wenigen Augenblicken ein gellendes, schreiendes Chaos mit einem wütenden und kreischenden Akteur, der von Bach und Couperin erzählt, von seiner Homosexualität, „auf den Reisen sind es männer, die mich nehmen mich als frau“, von der Mechanik des Tötens „einer schließt die eisentür, einer dreht am hahn die hand“ und von seinem Tick, „Ich muss kotzen rasch verzeiht. Das begann im Krieg. Ein tick“. Nun ja. Der Text ist größtenteils nicht zu verstehen. Die Musik des seit 2002 in Paris lebenden spanischen, zeitweise am IRCAM lehrenden Komponisten Hèctor Parra fährt mit brachialer Gewalt und Wucht durch die von Händl Klaus aufgetürmten Textmassen, die dieser aus dem 1400-Seiten-Roman von Jonathan Littell als Libretto herausschnitt. Den Titel der 2006 erschienenen französischen Ausgabe des Romans, der zwei Jahre später in Deutschland als Die Wohlgesinnten herauskam, behielt Parra für sein größtenteils auf Deutsch gesungenes, sechstes großes Werk für das Musiktheater bei.

Die Uraufführung des von Aviel Cahn beauftragten Werks erfolgte 2019 in Gent, wo auch der Mitschnitt des Dreiakters entstand (3 CD b.records LBMU62). Inszeniert wurde die mit Nürnberg und Madrid koproduzierte Aufführung von Parras katalanischem Landsmann Calixto Bieto, der – den Bildern nach – die Bühne in drei Stunden in ein Schlachthaus verwandelte.

Der Roman verwendet fiktive und reale Personen, gegliedert ist er in Kapitel, deren Bezeichnungen einer barocken Suite entsprechen, was die Oper getreu übernimmt.  Im kurzen Anfangskapitel denkt Max Aue über sein Leben während des Kriegs und seine Schuld nach. Unter falscher Identität lebt er jetzt in Frankreich, leitet eine Spitzenfabrik und hat zwei Kinder, Zwillinge. Die folgenden Abschnitte spielen alle während der Kriegszeit: in Babi Jar, Stalingrad, Antibes, Auschwitz, Pommern und Berlin während des Zusammenbruchs, immer wieder trifft er auf seinen Freund und Förderer, den SD-Mann Thomas Hauser, seine Schwester Una, mit der ein inzestuöses Verhältnis unterhielt, deren Ehemann, den Komponisten Berndt von Üxküll, seine Mutter und deren neuen Gatte, die er während seines Besuchs mit einer Axt ermordet, weshalb forthin die Kriminalbeamten Weser und Clemens, die ihn für schuldig halten, verfolgen, sowie den uralten fanatischen Nationalsozialisten Dr. Mandelbrod. Der Titel des vielfach verschlungen und beziehungsreichen Romans bezieht sich auf die Eumeniden des Aischylos, die Orest wegen des Muttermordes jagen. Die Orte und die Handlung lassen sich kaum auf Anhieb erkennen, derart verschachtelt hat Händl Klaus den Romantext und offenbar kunstvoll neu zusammengesetzt.

Immerhin lassen sich einige Personen klanglich ausmachen, so der von dem lyrischen Bariton Günter Papendell gesungene Thomas, die Una der in extreme Bereiche singkreischenden, eisig exakten Schweizerin Rachel Hanisch, Natascha Petrinskys leicht hysterische Mutter, und immer wieder das aus zwei Frauen- und zwei Männerstimmen bestehende Quartett. Der amerikanische Tenor Peter Tantsits ist zu bewundern für die hochtenorale Kraft, Energie und das schiere Durchhaltevermögen, mit der er einerseits den hochkultivierten Ästheten und Bach-Bewunderer und andererseits den psychisch derangierten und manipulativen Mörder Max und dessen Perversionen darstellt und grenzüberschreitend von Falsett bis Schreien alle stimmlichen Extravaganzen ausreizt. Der Text ist auch bei ihm kaum zu verstehen. Peter Rundel bemüht sich um eine gewisse Durchsichtigkeit der Stimmen aus Chor und Nebenfiguren und ist sich mit Choeurs und Orchestre Symphonique de L‘Opera Ballett Vlaanderen offenbar bewusst, dass sie hier ein Werk zur Aufführung bringen, dessen Bedeutung sich vielleicht erst viel später herausstellt. Die flächigen, schrammenden und heulenden Orchestertutti, die Parra, in immer neuer sadomasochistischer Saftigkeit aufbaut, lassen an Strauss‘ Elektra denken: Mutter und Stiefvater von Max stehen für Klytämnestra und Aegisth. Nur sehr sparsam setzt Parra kurze schimmernde Nachtklänge mit Harfe, Celesta und Englischhorn ein, die von der Brutalität niedergemetzelt scheinen.  (21. 07. 24)             R.F.

Karneval für die Pompadour

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Mit der Weltersteinspielung von Jean-Joseph Cassanéa de  Mondonvilles Ballet héroique Le Carnaval du Parnasse kehrt das Label Château de VERSAILLES nach Ausflügen in italienische Gefilde zu seinem Stammrepertoire – der französischen Barockmusik – zurück. Die Aufnahme entstand im März 2023 in Namur und wurde auf zwei CDs veröffentlicht, wie stets bei dieser Firma in prachtvoller Ausstattung (CVS122). 1749 wurde das Werk an der Pariser Académie royale de musique uraufgeführt – mit großem Erfolg und in Rivalität zu Rameaus Oper Zoroastre, die im selben Jahr Premiere hatte. Das Textbuch von Jean-Louis Fuzelier schlägt einen leichten, tändelnden Ton an. Im Prologue wetteifern Clarice mit pathetischem Melos und Florine mit italienischer Bravour anlässlich der Rückkehr des Frühlings. Momos, der Gott des Spottes (David Witczak mit autoritärem Bass), und Thalie, die Muse der Komödie (Gwendoline Blondeel), garantieren humoristischen Schwung. Der als Schäfer verkleidete Apollon bringt einen pastoralen Ton ein. Die Handlung in drei Akten stellt zwei Paare vor, die der Liebe entfliehen wollen, in Verkleidung ihr aber nachgeben.

Die Partitur des Carnaval ist der Marquise de Pompadour gewidmet, die bei Hofe als die „Ministerin des guten Geschmacks“ galt. Jeder Akt endet mit einem Divertissement, in welchem sich Tänze, Chöre und Arietten abwechseln. Die rhythmische Verve und melodische Anmut  der Musik stellt Alexis Kossenko mit dem Ensemble Les Ambassadeurs – La Grande Écurie effektvoll heraus. Die Musik atmet Brillanz und Vitalität, ist den Sängern inspirierende Folie. Hinreißend in ihrer Spritzigkeit und Rasanz sind die Tänze – Tambourin, Menuet, Marche, Ritournelle, Chaconne und Contredanse. Der Choeur de Chambre de Namur bezaubert in reizenden Nummern, wie „Que ton retour assure“ im Prologue oder „Que votre gloire“ am Ende des 1. Aktes.

Die Besetzung dominiert Blondeel als Florine (neben ihrer energischen Thalie), der die technisch schwierigsten Arien zugeordnet sind. Gleich im Prologue singt sie das zauberhafte „Augelletti voi amate“ mit den imitierten Vogelstimmen und lässt dabei ihren klaren, leuchtenden Sopran mit sicherer Extremhöhe hören. Hélène Guilmettes Sopran gibt der Licoris vitalen Umriss. Mit beeindruckender Präsenz und einem bis zum Heulen ausgereizten Tenor wartet Mathias Vidal als Apollon und Berger auf. In den Nebenrollen überzeugen Hasnaa Bennani mit feinem Sopran als Clarice und Euterpe sowie Adrien Fournaison mit sonorem wie flexiblem Bass als Dorante. CVS sei Dank für diese Wiederentdeckung (27. 07. 24)! Bernd Hoppe

Michele Carafas „Masaniello“

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In jüngster Zeit hatte der französische Komponist Daniel Esprit Auber reichlich fortune, aufgeführt und auch eingespielt worden zu sein. Seine Muette de Portici, eigentlich die einzige seiner vielen heute noch gespielten Opern (es ist die mit dem neapolitanischen Fischer Masaniello, der bei der Brüsseler Premiere nicht nur die  Choristen des Monnaie, sondern auch das aufgeheizte Volk vor dem Theater in Wallung versetzte und angeblich eine Revolution auslöste). Aubers Volkaufstand mit tanzender, aber stummen Titelfigur  erreichte sogar Dessau und die kleineren Theater in Deutschland; die Pariser Opéra gab 2012 eine prachtvolle Vorstellung davon, und selbst wenn man mit June Anderson nicht glücklich wird ist doch die ältere EMI- (und nun Warner-) -Aufnahme ein seriöses  akustisches Dokument mit diskutabler Besetzung (auch Alfredo Kraus ist da nicht wirklich der Tenor zum Träumen; und Fans haben natürlich weitere Live- und Radioaufnahmen der Oper, die in London oder Paris mehrfach gegeben wurde, davon  später mehr). Dennoch – Auber ist – wie nun auch mit einer weiteren Naxos-Ouvertüren-CD – recht gut bedient.

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Zu Carafas „Masaniello„: Der Komponist Michele Carafa/ Stich von Maurin/ Wikipedia

Aber da gibt es ja noch einen anderen Masaniello, eben jenen von Michele Carafa von 1827 (Masaniello ou Le pêcheur napolitain), der sich nach anfänglichen Aufstieg nicht gegen den Konkurrenten Aubers durchsetzen konnte. Er galt aber lange als die erfolgreichere Oper dieses Sujets, so wie Carafa in seiner Zeit zu den wirklichen Großen der italienischen und französischen Oper gehörte.

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Das hochverdienstvolle Festival Rossini in Wildbad hat nun in diesem Sommer (19. 26. 28. Juli 2024) erstmals in moderner Zeit Carafas Masianello (konzertant) aufgeführt – eine wahre Pionierleistung in einer langen Reihe von ebensolchen beim Festival (Besetzung: Leona – Catherine Trottmann, Masaniello – Mert Süngü, Torellas – Luis Magallanes, Ruffino – Nathanael Tavernier, Theresia – Camilla Carol Farias, Matteo – Hyunduk Kim, Gouverneur/Giacomo – Francesco Bossi; Pedro/Un charlatan – Massimo Frigato, Musikalische Einstudierung – Cecile Restier; Dirigent – Nicola Pascoli; eine Produktion von Passionart und der Filharmonia K. Szymanowskiego Krakowie;. Eine Rezension von Rolf Fath gibt es nachstehend, gefolgt von einem Artikel zum Werk und seiner Geschichte von Olivier Bara. Und auf eine akustische Aufnahme hofft man heiß. Wie spannend doch die Welt der Oper ist – hatte jemals jemand vor der Pariser Aufführung 2012 etwas von Carafas  Masaniello gehört? Wir nicht, müssen wir gestehen. G. H.

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Rolf Fath: Während in zwei Wochen auf und an der Seine bereits die Eröffnung der Olympischen Spiele 2024 stattfindet, wehte im Juli ein Hauch von Paris durch den Nordschwarzwald. Rossini selbst, Wildbads berühmter Kurgast, ließ sich für seine Bäderbehandlung 1856 mehrere Wochen Zeit. Ein Sportsmann war er sicherlich nicht. Bewegungen vermied er tunlichst. Wenn er sich regelmäßig zu Ausflüge im Bois de Boulogne mit Michele Carafa traf, ritt der neapolitanischen Adelige und Offizier auf seinem Pferd, während es sich Rossini in seiner Kutsche bequem machte. Sie waren gut befreundet, seit sie in Neapel das seinerzeit beste Opernhaus der Welt erobern wollten. Beide verschlug es in den 1820er Jahren nach Paris. Der perfekt französisch sprechende Bonapartist Carafa, der auch die französische Staatsbürgerschaft annahm, konnte an der Opéra-Comique, die fortan sozusagen seine künstlerische Heimstatt blieb, sofort mit Französischen loslegen, während Rossini zögernd mit französischen Umarbeitungen früherer Werke und einer Festkantate begann, aus der er dann seine erste originale französische Oper Le Comte Ory filterte.

Von Anbeginn der Festspiele war es die Wildbader Absicht, den Rossini-Kosmos durch Werke seiner Zeitgenossen zu erweitern und auszuleuchten. Dazu gehörte u.a. 2006 die Beaumarchais-Fortsetzung I due Figaro Michele Carafas, der nun mit seinem erstmals seit mehr als 150 Jahren wieder aufgeführten Masaniello groß herauskommt. Interessant auch insofern als der aus dem neapolitanischen Hochadel der Carafa di Colobrano stammende Carafa mit dem Aufstand der Fischer, die 1647 gegen Machtmissbrauch und übermäßige Steuerlast rebellierten, einen Stoff behandelte, in dem Mitglieder seiner Familie eine unrühmliche Rolle spielten. Die Oper kam am 27. Dezember 1827 an der Opéra-Comique heraus. Exakt zwei Monate später folgte an der Opéra Aubers Die Stumme von Portici, die den gleichen Stoff behandelte und nicht nur 1830 nach einer Aufführung in Brüssel die Besucher in eine derart aufgeheizte Stimmung brachte, welche letztlich den Belgiern die Unabhängigkeit von Holland brachte, sondern auch den Startschuss zur Gattung der Grand opéra setzte. Der immer geschickte Rossini wiederum lieferte mit seinem Guillaume Tell ein prägendes Beispiel hierzu.

Carafa: „Masaniello“ in Wildbad 2024/Konzerteindruck/Foto Patrick Pfeiffer

Dabei geriet Carafas Fischeraufstand trotz riesiger Anfangserfolge etwas unter die Räder. Der in seiner Geburtsstadt und bei Cherubini in Paris ausgebildete Adelige, der zwischen Militärlaufbahn und Opernbühne wechselte und mehr als drei Jahrzehnte am Pariser Konservatorium lehrte, war kein ungeschickter Musiker. Vor allem goss er die Geschichte des Fischers Masaniello, den die Aufständischen zu ihrem Führer machen, in große Tableaus à la Rossini. Die Sprechtexte, welche durch den Ort der Uraufführung opportun waren, machen die Oper zwar etwas länglich, ebenso die Wendungen um die Gefangennahme seiner Frau Léona, der der spanische Graf Torellas nachsteigt; bei Auber wird die Figur zu titelgebenden stummen Schwester Fenella. Aubers Dichter Scribe und Delavigne sind einfach routinierter und gewiefter als die Herren Moreau und Lafortelle, die für Carafa sein vieraktiges Drame historique schufen.

Unter Nicola Pascoli klang die konzertante Aufführung so sauber und in der prallenden Akustik der lang-engen Trinkhalle mit so geballter Dramatik als gehöre die Musik Carafas zum Standardrepertoire des Philharmonischen Chors und Orchesters aus Krakau. Mit dem getragenen Ton der ausgedehnten Ouvertüre im Stil der Rettungsoper um 1800 entfaltet Pascoli ein historisches Panorama, in dem neapolitanische Straßenszenen, Tarantella-Ahnungen, Fischergesänge, kraftvolle Märsche und feurige Duette und schließlich der Ausbruch des Vesuvs ein buntes Tongemälde ergeben. 19 Nummern, davon drei Quartette und drei Duette, zwei Terzette und natürlich die vier großen Finali, bildenden das Gerüst der arios und rezitativisch weitläufig gestalteten Blöcke.

Zu Carafas „Masaniello“ in der Wildbader Trinkhalle/Rossini in Wildbad/Foto Patrick Pfeiffer

Im Mittelpunkt steht eindeutig Masaniello. Die Partie ist von der Barkarole, Kavatine, dem erstem martialischem Finale über die Arie zu Beginn des zweiten Aktes bis zum Wahnsinnsausbruch im Schlussakt eine Tour de Force, die Mert Süngü mit sauber gemeißeltem Tenor und fanfarengleichem Trompetenton souverän meistert, wie ein Florettfechter in der heldischen Attacke, aber auch mit einigen Zwischentönen in den Momenten der Verzweiflung. Interessant daneben der böse hin- und herschwankende, durchtrieben sympathische Intrigant Ruffino, dem man nie böse sein kann, weil ihn der französische Bass Nathanael Tavernier mit rauer Souveränität, auch in den Verzierungen, und lässiger Bonhomie sang. Als Léona ließ Catherine Trottmann einen sich fein und ebenmäßig entfaltenden, doch etwas larmoyanten Sopran erklingen. Der elegante paraguayische Tenor Juan José Medina und Camilla Carol Farias mit apart kullerndem Mezzosopran waren als Masaniellos Bruder und Schwägerin dabei, während die Tenöre Luis Magallanes und Massimo Frigato sowie der Bass Francesco Bossi mehrere Partien übernahmen. Schöne Momente, farbige Szenen, doch auch Längen, kein zwingender Eindruck (19.7.). Rolf Fath (sah außerdem auch noch den Comte Ory am 20. 7. 2024 – dazu sein Bericht in unserer Reihe Festivals 2024).

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Im reichhaltigen Programmheft zur Muette de Portici an der Pariser Opéra-Comique 2012 fanden wir einen informativen Artikel des Lyoneser Musikwissenschaftlers Olivier Bara über eben Carafas Masaniello, den wir mit der liebenswürdigen Erlaubnis des Autors hier in unserer Reihe Die vergessene Oper in eigener deutscher Übersetzung wiedergeben. G. H.

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Zu Carafas „Masaniello“: Frontespiece/Rossini in Wildbad/Programmheft 2024

Olivier Bara – der andere Masianello: Die Rivalität zwischen “Grand-Opéra” und “Opéra-comique” ist alt. Geht sie doch auf die Epoche der “Spectacles forains” zurück, als Vaudevilles und “Comédies en ariettes” bitter mit der Musikakademie um das exklusive Recht, auf der Bühne zu singen, kämpften. Man kannte auf verschiedenen Theatern einige “Doubletten”finden, zuerst als Parodien: zum Beispiel die von Favart 1740 parodierte musikalische Tragödie Pyrame et Thisbé.Aber die Verdopplungen werden zu Duplikaten, wenn dasselbe Thema an der Opera und der Opéra-Comique behandelt wird, auf der einen Seite im großen Stil, auf der anderen Seite im mittleren Stil: so beim berühmten Fall des Pré aux clercs von Hérold (1832), der vier Jahre vorher durch seine auf den Religionskriegen basierende Handlung die Huguenots von Meyerbeer vorwegnimmt. So ist es auch der Fall bei Masaniello von Michele Enrico Francesco Carafa di Colobrano, der am 27. Dezember 1827 am Théâtre Feydeau (Opéra Comique) zwei Monate vor La Muette de Portici von Auber an der Académie royale de musique entstand. Dasselbe Thema: die neapolitanische Revolte von 1647, dieselben historischen Hauptgestalten: Thomas Aniello, Masaniello genannt, dieselbe Handlungsentwicklung: das Scheitern des Volksführers vor dem Hintergrund des Vesuvausbruchs. Beachten wir einen Größenunterschied, der der Opéra Comique den Vorteil der musikalischen Wahrheit sichern hätte müssen: Der Komponist von Masaniello ist der Neapolitaner Michele Carafa de Colobrano, aus dessen Feder das Erlebte die Feuerwerke des Pittoresken transzendieren hätte müssen.

Zu Carafas „Masianello“/ zeitgenössische Darstellung des Fischeraufstandes in Neapel/ L´oro del popolo

Konspiration und Aufruhr: Man hat diese wichtige Figur der Geschichte der romantischen Opéra comique vergessen. Carafa, dessen Gabriella di Vergy von 1816 dem rossinischen Otello in Neapel die Stirn geboten hat. Das Théâtre Feydeau hielt sich an ihn 1821, weil es seine Musik „italianisieren“ wollte, um der Konkurrenz des Théâtre Italien mit seiner Rossiniwelle entgegen zu treten. Wenn auch die Belcantoattacke mit einer unglücklichen Jeanne d’Arc, die Carafa seinem Lehrer Cherubini gewidmet hat, nicht gegriffen hat, kam der Erfolg 1822 mit Le Solitaire (122 Vorstellungen während der Restaurationszeit), dann mit „Le Valet de chambre“ nach einem Libretto von Scribe. Zwei komische Opern und zwei Misserfolge später übernahm Carafa das Libretto des Vaudevillisten Moreau und Lafortelle Masaniello ou le Pêcheur napolitain, ein durch sein historisches und politisches Thema, seine Länge ( 4 Akte) durch sein lokales neapolitanisches Kolorit, für die Opéra Comique gefährliches Werk und den eruptiven Höhepunkt der Handlungsentwicklung  für die Opéra Comique gefährliches Werk, auch durch die Werkbezeichnung „historisches Drama“ (Barba, 1828).

Hat sich das Théâtre Feydeau entschlossen, direkt in Konkurrenz mit der Opéra zu treten und sich mit seinem großen „Opernbruder“ auf einen Wettlauf einzulassen, indem es seinen Masaniello unmittelbar vor dem Werk von Scribe und Auber auf die Bühne brachte? Hat es sich nicht auch auf einen Kampf mit dem Odéon eingelassen, das die Musik von Carafa wegführte, indem es seine milanesische Oper I due Figaro auf Französisch adaptierte? Die Presse von 1827 delektiert sich an diesem Konspirationsklima und nimmt die Kulissengespräche ebenso wie die Publikumsgespräche auf: „Die Kulturwelt hat sich in eine Arena verwandelt, wo unterhalb der Gladiatoren eine ganz spezielle Spezies kämpft und deren Hauptverdienst in ihrer Geschicklichkeit besteht, sich dessen zu bemächtigen, was die Beute der anderen ist“, schreibt der „Courrier des théâtres“ anlässlich der „zwei Masaniellos“ (siehe 12. Oktober 1827). Wer hat wen kopiert? „Wir nicht“, protestieren die beiden Librettisten der Operand Comique am nächsten Tag in derselben Zeitung: Zuerst einmal sei das Thema historisch und gehöre daher allen, weiters wurde unser Drama ab 1825 geschrieben, so behaupten sie und versuchen, öffentlich zu suggerieren, dass Eugène Scribe und Germain Delavigne die wahren Plagiateure seien. In Wahrheit stützen sich alle auf dieselben Quellen: Le Duc de Guise à Naples, ou Mémoires sur les révolutions de ce royaume en 1647 et 1648, herausgegeben vom Grafen von Pastoret im Jahr 1824. Ein musikalisches Drama Masaniello, the fisherman of Naples wurde übrigens von Henry Bishop 1825 in London herausgebracht.

Zu Carafas „Masaniello“ Zoé Prévost war die erste Leona/BNF Gallica

Die vier Librettisten schlachten eine Melodie der Zeit aus, die politisch dem Liberalismus angehört. Das ultraextreme Ministerium von Villèle wird immer mehr angefeindet. Sie wird flüsternd nach dem Sieg der Liberalen in der Deputiertenkammer verbreitet. Zur gleichen Zeit sind auf den Bühnen die „revolutionären“ Themen in Mode: die Verteidigung der Bürgerrechte und der Kampf gegen den Unterdrücker werden gefeiert, 1827 und vor allem 1828 in Guillaume Tell von Puxérécourt am Théâtre de la Gaîté, in Les Trois Cantons am Vaudeville, in „Guillaume Tell“ von Pichat am Théâtre-Français, im „Guillaume Tell“ von Grétry, der von der Opéra Comique wieder aufgenommen wurde, vor dem von Rossini, 1829 an der Opéra. In dieser Vervielfachung der  Guillaume Tell (der von der Abschwächung der Zensur unter dem Ministerium Martignac profitiert) findet sich eine teilweise Antwort auf das Geheimnis des Zwillingswesens des Masaniello: Das Theaterleben, das noch keine genauen Kriterien der künstlerischen Urheberschaft kennt, speist sich von gängigen Themen und nährt so, im Feuer des kulturellen Augenblicks, die Phantasie des Zusehers.

Zu Carafas „Masaniello„: Louis-Auguste Hué war der erste Masianello/ BNF Gallica

Ein Vesuv verschattet den anderen. Im Übrigen unterscheidet sich, wenn man die beiden Libretto genau liest, der Masaniello von Moreau und Lafortelle klar von der Muette de Portici von Scribe und G. Delavigne: Der Vergleich ist faszinierend, so sehr erlaubt er, das Genie von Scribe gegenüber den beiden Herstellern am Théâtre Feydeau zu erkennen. Die letzteren malen das historische Material in den  engen Formen der Opéra-Comique, was ihre  Vorgehensweise und ihre Couplets betrifft. Scribe hingegen nutzt nicht nur die dramatischen Potentiale, sondern auch die visuellen, klanglichen und spektakulären des Themas aus, indem er zusätzlich die Titelfigur der Stummen erfindet, eine Gelegenheit, Pantomime und Tanz in das dramatische und musikalische Geschehen einzubinden. Dadurch verwischt er die hervorstechenden Konturen eines gewagten politischen Themas, indem er, da wo die Librettisten Carafas vervielfachen,  den Diskurs, entsprechend den Zensurwünschen, implizit hält mit Anspielungen auf die heilige Vorsehung, die die Volksrevolten bestrafen kann. Dieser dramaturgische und ideologische Unterschied wurde von den Zensoren erkannt, die die ungeschickte Freizügigkeit, mit  der das Libretto der Opéra Comique das Thema der neapolitanischen Revolte behandelt, der hohen Geschicklichkeit Scribes gegenüberstellen, mit der er jede direkte Anspielung vermeidet. „Die Ruhe des Staates hängst so sehr davon ab, wie unsere Aufgaben mit Vertrauen und Unterwerfung erfüllt werden, folglich soll nichts an diesem Thema die Geister aufwiegeln, man müsse einen solchen Gegenstand sehr vorsichtig behandeln und am Theater sei es noch besser, an nichts zu rühren“, kommentiert die Zensur angesichts von „Masaniello“. Sie erkennt aber dennoch den belehrenden Charakter des Werks von Moreau und Lafortelle: der Tod des Helden am Schluss (in einer Opéra Comique unüblich), der durch die Menge der Revoltierenden getötet wird, stellt ein Beispiel der konservativen Tugenden dar. Das bietet einen Beweis der Gefahr der Revolutionen und des Nachteils, den es mit sich bringt, aus seiner Sphäre herauszutreten“, beruhigt sich der Zensor. Er erlaubt die Muette der Opéra Comique unter der Bedingung, dass Formulierungen wie „zu den Waffen greifen“ oder, schlimmer, „diese Schurken von Steuereintreibern“ gestrichen werden. Die Muette erscheint den Zensoren sogar inoffensiv dank ihrer Titelgestalt: Diese wendet die Handlung vom Politischen mehr in die intime Sphäre. „Die Gefahr für die legitime Autorität, der Volksaufruhr, die Schreie der Revolution, alles verliert sich und wird vergessen beziehungsweise vermischt es sich mit dem Interesse an einer Person. Diese Person ist eine Frau und sie ist stumm. (…) Sie ist es, auf die alle Blicke gerichtet sind, die alle Herzen berührt. Es gibt kaum etwas, das die Gefahren des Themas geschickter umgeht.“ Die Zensoren waren blind dafür, dass, wie man weiß, es Aubers Muette de Portici ist, die durch die heimtückischen Rhythmen ihrer Barcarolen und den kriegerischen Elan ihres „Amour sacré de la patrie“ die belgische Revolution von 1830 auslösen wird.

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Zu Carafas „Masaniello“: Der Tenor Louis Augustin Lemonnier war der erste Comte di Torella/BNF Gallica

Die am Rande der künstlerischen Geschichte verbliebene Opéra-Comique von Carafa hatte zweifellos auch andere Schwächen als nur das Libretto. Die Partitur des Neapolitaners erscheint rau in ihren Rhythmen, eher knapp in ihren Melodien, zu verhalten in ihrem dramatischen Elan durch die Aufeinanderfolge geschlossener Nummern, auch wenn einzelne herausgenommene Stücke einen echten kommerziellen Erfolg hatten, wie die Couplets von Notre-Dame du Mont Carmel. Die Regie der Opéra vom Regisseur Solomé, die von Ciceri nach einer Reise nach Neapel gemalten Dekorationen  lassen die Aufführung in visueller Bescheidenheit verharren trotz der für den Vesuv angewandten technischen Verbesserungen, mit denen man dem „Konkurrenz-Vesuv“ gleichkommen wollte. Es ist auch anzumerken, dass es der Titelrolle im Gegensatz zur Interpretation von Adolphe Nourrit an Eklat, Biss und Kraft gefehlt hat. Der leichte Tenor Ponchard in der Rolle des neapolitanischen Fischers hat nur ein kleines Stimmchen, beklagt die Presse. Die „Muette de Portici“ hat „Masaniello“ verdrängt. Die Oper von Carafa hatte allerdings mehr als 60 Aufführungen in zwei Jahren, ein heftiger, aber vergänglicher Erfolg aufgrund der Ähnlichkeiten der beiden Werke.

Der Autor und Musikwissenschaftlr Olivier Bara/ institution-ville-geneve

Der Titel verschwindet rasch von den Ankündigungen nach 1829, während das Werk von Scribe und Auber die neue Form entwickelt, die unter der Julirevolution eine glänzende Zukunft hat: die große romantische historische Oper, die bald darauf Rossini (Guillaume Tell), dann Halévy (La Juive) und Meyerbeer (Les Huguenots) zur Vollendung bringen werden. Die ästhetische Revolution an der Opéra Comique ist unter der Restauration nicht Masaniello, es ist die Dame blanche von Scribe und Boieldieu,die Matrix der Meisterwerke des „mittleren Genres“ des 19. Jahrhunderts.

Ein kleiner Trost für Carafa: Sein Masaniello hatte in der Provinz eine ansehnliche Karriere, wobei er von seinen kleineren Proportionen und der Einfachheit, mit der er in Szene gesetzt werden konnte, profitierte: weniger Personal, ein weniger „anspruchsvoller“ Vesuv und keine Tanzrolle. Dann also als Alternative  Masaniello oder die Muette der Armen? Olivier Bara/ Übersetzung Ingrid Englitsch

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Zu Carafas „Masaniello“: Tomasso Aniello/Masianello, Illustration for Storia d’Italia by Paolo Giudici (Nerbini, 1929-32)

Inhalt/Erster Akt. Auf dem Markt in Neapel, das unter spa­nischer Herrschaft steht, werden Obst und Fisch verkauft. Die Händler, unter denen sich die schöne Leona befindet, sind von Käufern und Schaustellern umgeben. Der Steuereintreiber Calatravio und seine Schergen kommen, um die Verkaufsab­gabe einzufordern, was den Unmut des Volkes hervorruft. Leona zieht es vor, aus Protest gegen die Übergriffe der Reichen ihre Ware wegzuwerfen, statt sie mit einer Steuer belegt zu verkaufen. Calatra­vio befiehlt ihre Verhaftung, woraufhin das Volk einen Aufstand anzettelt, aber vergeblich versucht, sie zu befreien.

Die Szene wird von Ruffino beobach­tet, einem Genueser, der sich an den Spa­niern rächen will, von denen er sich hin­tergangen fühlt: Er hat die örtliche Regie­rung davon überzeugt, die kleinen Händ­ler zu besteuern, in der Hoffnung, da­durch die Unzufriedenheit und den Zorn des Volkes zu wecken. In Masaniello sieht er einen Neapolitaner, den er manipulie­ren und an die Spitze des erstrebten Auf­stands stellen kann. Unterdessen trifft der spanische Graf von Torellas ein und offen­bart Ruffino seine Liebe, die er zu Leona hegt, seit sie ihm das Leben gerettet hat. Ruffino deutet an, dass Leona seine Liebe erwidert, und rechnet damit, dass die Eifersucht ihres Gatten Masaniello den Hass auf die Fremden noch verstärkt. Masaniello bereitet sich darauf vor, fischen zu gehen. Ruffino erregt seinen Argwohn gegen den Grafen von Torellas. Masaniello berichtet, dass eine Zigeunerin Ruffinos Horoskop bestätigt hat, wonach er als armer Fischer König von Neapel werde, aber hinzufügte, dass der Thron ihn ins Grab bringen würde. Masaniellos Bruder Matteo bringt die Nachricht, dass Leona nur gegen Zahlung von 100 Duka­ten freikommt, eine untragbare Strafe für den verzweifelten Masaniello. In der Zwi­schenzeit rebelliert das Volk gegen den Herzog von Arcos, den Gouverneur von Neapel, und fordert die Rückgabe der von Karl V. gewährten Privilegien, wonach kei­ne neuen Steuern mehr erhoben werden. Masaniello führt die Aufständischen an.

Zu „Carafas „Masianello“: „La rivolta di Masianello“/Gargiulo Domenico Detto Micco Spadaro (1609/ 1675 ca)/ Catalogo generale dei Beni Culturale

Zweiter Akt. In seiner Hütte grollt Masaniello: Die re­voltierenden Neapolitaner haben ihn im Stich gelassen, bevor er Leona befreien konnte. Doch dann treffen Matteo und dessen Frau Theresia ein, um ihm mitzu­teilen, dass das Schiff, das mit den Abga­ben der Neapolitaner beladen nach Ma­drid auslaufen wollte, in Brand gesteckt wurde und dass die Marktfrauen Leona befreit haben. Sie wird im Triumph in die Hütte ihres Mannes getragen, der jedoch gehen muss, da der Aufstand wieder auf­geflammt ist und er unterdessen zum Anführer berufen wurde. Matteo sieht die Prophezeiung über den Aufstieg seines Bruders wahr werden, aber Leona bekräftigt die Demut ihres Mannes und seine Treue zu seiner einfachen Herkunft.

In der Zwischenzeit flüchtet der Graf von Torellas, der dank einer Verkleidung dem Volk entkam, das ihn lynchen wollte, in die Hütte und findet Leona allein, der er so seine Liebe offenbaren kann. Empört und verängstigt hält Leona es für besser, ihn wegzuschicken, aber es gelingt ihr nicht: Ruffino erscheint zusammen mit Giacomo, einem Rebellen aus Pozzuoli. Nachdem er den Grafen erkannt hat, befiehlt er Giacomo dessen Bewachung, während er Masaniello suchen will. Gia­como, der zum Kommandanten der Dörfer zur Unterstützung des neapolitanischen Aufstands ernannt wurde, ist betrunken, und dem Grafen gelingt es leicht, ihm die Ernennung abzunehmen. Torellas und Leona sperren Giacomo in den Keller, als Masaniello erscheint. Torellas gibt sich als Giacomo aus und entkommt unter dem Vorwand, seine Leute zusammenrufen zu müssen. Kurz darauf kommt Matteo zu­sammen mit Theresia und erklärt, dass der Mann, der gerade gegangen ist, nicht Giacomo war; Ruffino kommt dazu und bestätigt, dass dieser in Wirklichkeit der Graf war, was Masaniellos Eifersucht weckt. Doch der Wunsch des Volkes nach Erhebung überwiegt, und Masaniello zieht mit den Aufrührern und Ruffino ab. Leona bleibt mit Theresia und Matteo allein zurück. Als dieser ein Klopfen aus dem Keller hört und die Luke öffnet, kommt der betrunkene Giacomo heraus. Wenig später werden alle vier von der Wache verhaftet und zum Gouverneur gebracht.

Zu Carafas „Masianello“: eben dieser, gemalt von James E. Freeman 1847/Wikipedia

Dritter Akt. In seinem Palast ist der Gouverneur über den Aufstand beunruhigt. Ruffino teilt die Gefangennahme von Masaniellos Angehö­rigen mit, die von ihm selbst denunziert wurden. Der Gouverneur befiehlt ihm, Masaniello zu Verhandlungen in den Pa­last zu bestellen. Dessen Familie wird mit Wohlwollen empfangen und ist erstaunt über den Reichtum des Palastes. Torellas versichert Leona, dass er nichts mit ihrer Gefangennahme zu tun hat. Bald darauf trifft Masaniello ein und beginnt, mit dem Gouverneur zu verhandeln. Das Volk, das sich um ihn sorgt, ruft ihn und randaliert unter den Fenstern; Masaniello beruhigt seine Anhänger und schickt sie weg. Der Herzog erkennt Masaniellos Einfluss auf das Volk und versucht, ihn mit dem Titel eines ständigen Abgeordneten von Neapel und einem üppigen Gehalt an sich zu binden, was dieser aber prompt ablehnt. Masaniello ist über die Anwesenheit Tore­llas‘ und das inzwischen aufgedeckte Doppelspiel Ruffinos außer sich und will aufbrechen. Da gewährt der Gouverneur die Rückgabe der alten Privilegien, wenn die Rebellion beendet wird. Der nunmehr bewachte Ruffino macht durch ein Lied deutlich, dass die Titel der Privilegien falsch sind; Masaniello versteht die Bot­schaft und bricht alle Verhandlungen ab. Dem Gouverneur gelingt es nicht, Masa­niello und seine Familie zu verhaften, bevor das Volk in den Palast einbricht und den Hofstaat zur Flucht zwingt.

Zu Carafas „Masaniello“: Gedenktafel in Neapel: „Eine verlogene Wiedergutmachung für ein vorherbestimmtes Verbrechen: Masaniellos Grabmal befand sich hier, wurde aber 1799 während der neapolitanischen Revolution aus politischen Gründen eines despotischen Herrschers entfernt.“/Wikipedia

Vierter Akt. In dem ihm zur Verfügung gestellten Haus wird Masaniello wie ein König behandelt, und das Volk zeigt seine Dankbarkeit. Die Spanier haben den Neapolitanern die von Karl V. gewährten Privilegien zurückgege­ben. Masaniello vertraut Ruffino an, dass er einen seltsamen Traum hatte, der durch den Wein verursacht wurde, den dieser ihm während der Feierlichkeiten einge­schenkt hatte: Ein Vogel, der der Sonne zu nahe kommt, wird geblendet und stirbt im Taumel. Masaniello versteht das als Warnung des Himmels und Ruffino ver­sucht vergeblich, ihn zum Ruhm zurückzu­rufen. Seine Familie trifft ein und kurz da­rauf auch der Gouverneur sowie der Graf von Torellas, die verlangen, dass der Re­gierungsrat sofort in Masaniellos Haus tagt, da die Landung neuer Truppen im Gange ist. Während der Beratung wird Masaniello jedoch wahnsinnig, als er aus der Ferne das Echo des Volksfestes hört; er sieht sich verraten und rennt hinaus, um sich zu rächen.

Als der Vesuv ausbricht, bedroht Ma­saniello mit dem Schwert in der Hand das Volk, das vergeblich versucht, ihn zur Vernunft zu bringen. Als Leona ein­trifft, wird Masaniello von einer Muske­ten-Salve getroffen und stirbt unter dem Bedauern des Volkes über diese Be­strafung durch den rächenden Himmel. Gianmarco Rossi/ Übersetzung u. Textredaktion Reto Müller

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Wir danken dem Autor Olivier Bara , Professor und Musikwissenschaftler an der Universität Lyon, für die sehr freundliche Genehmigung zur „Übernahme“ seines Artikels aus dem Programmheft zu Aubers Muette de Portici an der Pariser Opera-Comique 2012.  Die Inhaltsangabe übernahmen wir mit Dank aus dem Programmheft zur Aufführung in Bad Wildbad. Abbildung oben: „Masaniello“ (Gemälde von Tommaso Aniello), 1857, von Giuseppe Mazza/1817-1884)/Wikipedia

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge in der Reihe Die vergessene Oper findet sich auf dieser Serie hier.

Heine- und Goethe-Lieder

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Im Frühjahr dieses Jahres standen Heinrich-Heine-Gedichte im Focus einer neuen Einspielung bei ETCETERA. Unter dem Titel Mit Myrten und Rosen präsentieren die belgischen Künstler Werner Van Mechelem (Bass-Bariton) und Sylvie Decramer (Klavier) Lieder von Robert und Clara Schumann sowie Franz Schubert und Felix Mendelssohn Bartholdy. Franz Schubert war der Erste, der Heines Poesie für Liedvertonungen entdeckte. Sechs vorwiegend schwermütige Lieder – erst kurz vor seinem Tod entstanden – lagen Werner Van Mechelem sehr gut: Mit technisch bestens durchgebildeter Stimme, die über einen ausgeglichenen, großen Tonumfang verfügt, überzeugt er besonders in Der Atlas mit dramatischer Steigerung des konzentrierten Gefühls. Das einfühlsame Klaviervorspiel von Sylvie Decramer zu Die Stadt bereitete dem Sänger den Boden, auf dem er seine Interpretation der großen Weite und des Schmerzes ausbreiten konnte. Die meisten Heine-Vertonungen allerdings gibt es von Robert Schumann: Die Dichterliebe und fünf ausgewählte Lieder haben den Weg zur Aufnahme gefunden. Der Start Im wunderschönen Monat Mai wird nach meinem Geschmack zu sehr zelebriert; man muss sich auch erst an die ausgeprägte Artikulation des Sängers gewöhnen, die Vieles zu kontrolliert und künstlich erscheinen lässt (u.a. Das ist ein Flöten und Geigen). Intensiv gestalten die Künstler Ich hab‘ im Traum geweinet mit passend langen Pausen am Schluss; besonders beeindrucken die endlosen Atembögen in Ich will meine Seele tauchen. Einprägsam gelungen ist nach Die alten, bösen Lieder das wie bei Schumann üblich das lange Nachspiel zum Liederkreis. Die beiden Lieder von Clara Schumann Sie liebten sich Beide und Ich stand in dunklen Träumen sind kleine Kostbarkeiten, die mit der notwendigen Schlichtheit geboten werden. Last not least wird die CD ergänzt durch eins der sieben Lieder nach Heine-Gedichten von Felix Mendelssohn-Bartholdy Auf Flügeln des Gesanges. Es ist ein fließendes Lied im 6/8el-Takt, bei dem Träumen unter Palmen am Ganges durch weichen Gesang und perlende Klaviertöne suggeriert wird. Leider ist das instruktive Beiheft mal wieder nur auf Englisch, Französisch und Niederländisch, aber dafür die Liedtexte nur in Deutsch. Allerdings fehlt beim Text des namengebenden Liedes Mit Myrten und Rosen die letzte (6.) Text-Strophe; auf die leere halbe Seite hätte das noch gepasst!  (ETCETERA KTC 1818).

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Ebenfalls noch relativ neu sind die Goethe-Lieder  mehrerer Komponisten, die von Fanie Antonelou und Sofya Gandilyan bei Coviello Classics eingespielt wurden. Wie Letztere im sehr guten Beiheft ausgeführt hat, wollten sie die Zuhörer mitder musikalischen Vielfalt, die Goethe einst umgab, und den Werken seiner Zeitgenossen vertraut machen“. Jedem dieser Komponisten war Goethe persönlich begegnet (außer Mozart). Lieder von Ludwig van Beethoven eröffnen die CD: Nach dem frischen Maigesang zum Auftakt erklingen Drei Gesänge op.83, die es Fanie Antonelou ermöglichen, ihrn klaren, flexiblen Sopran vorzustellen. Auch Sofya Gandilyan am Hammerklavier erfreut mit der geforderten Fingerfertigkeit und impulsgebender Unterstützung für die Sängerin. Intensiver ist ihre Gestaltung u.a. in Sehnsucht (WoO 134 No.4) und Neue Liebe, neues Leben op.75 Nr.2. In Carl Friedrich Zelters Lied Rastlose Liebe kommt das Rastlose sehr gut zur Geltung, was allerdings bei der hohen Tessitura und stürmischen Tempos dieses Liedes an Textverständlichkeit einbüßt; dafür kommt die technische Versiertheit der Pianistin besonders zur Geltung. In Gleich und gleich  kann Fanie Antonelou zeigen, dass sie auch mit leichten Verzierungen und Koloraturen vertraut ist. Johann Friedrich Reichardt hat sich ebenfalls mit Rastlose Liebe beschäftigt, es aber nicht so ideenreich in seiner Komposition umgesetzt. Im Erlkönig hat die Sopranistin die unterschiedlichen Charaktere sehr gut herausgearbeitet. Für dieses Lied und noch vier weitere auf der CD wurde ein anderes Hammerklavier benutzt als für die übrigen, da es wohl eine etwas dunklere Klangfarbe aufweist. Wolfgang Amadeus Mozart hat nur ein Gedicht von Goethe vertont, das berühmte Veilchen KV 476, das hier leichte Intonationstrübungen aufweist. Die Romance der Polin Maria Szymanowska (1789-1831) fällt völlig aus dem Rahmen. Denn es besteht nur ein ganz loser Zusammenhang mit Goethe, der sie als Pianistin und Komponistin schätzte. Die Romance besteht aus einem kurzen französischen Text, den der russische Fürst Galitzin vertont hat, und zu dem die beiden Künstlerinnen eine passende Klavierbegleitung geschaffen haben; dem schließt sich eine fast fünf-minütige Klavierbearbeitung von Szymanowska über die Gesangsmelodie an. Das Beiheft enthält in dem inhaltsreichen Artikel von Sofya Gandilyan auch Interessantes über die Hammerklaviere, die bei der Aufnahme zum Einsatz kamen (Coviello Classics, COV 92313). Marion Eckels

Niccolò Piccinnis „Didon“

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Mit Spannung erwartet gab es 2024 ein bemerkenswertes Highlight auf den Aufführungsplänen der diesjährigen Festivals: Niccolò Piccinnis Didon (als Dido, Königin von Karthago einem weniger polyglotten Publikum annonciert, aber in der Originalsprache serviert). Das bezaubernde Ambiente des Rokkokko-Schlosses in Rheinsberg, Sitz von „Fritzes“ Bruder Heinrich, verfügt (bei gutem Wetter) über eine hinreißenden Spielstätte im Innenhof mit unvergleichlichem Bick über das Wasser.

Nicolò Piccinni/Wikipedia

In diesem Jahr also  Piccinnis Oper Didon, die zwischen 1969 und 2021 einige Male in Italien, Frankreich und der Schweiz gegeben wurde (davon nachstehend mehr), eines seiner wichtigen Werke für Paris 1783, in Anwesenheit des Noch-Königs Louis XVI und seiner Frau Marie-Antoinette, 16 Jahre vor deren Ende. Nach zwei Wiederaufführungen in Fontainebleau wurde die Oper am 1. Dezember 1783 in Paris uraufgeführt. Sie erwies sich als der größte Erfolg des Komponisten und wurde bis 1826 fast jedes Jahr mit insgesamt 250 Aufführungen an der Pariser Oper (der Académie Royale) aufgeführt.

In Rheinsberg nun dirigierte Bernhard Forck in der modernen deutschen Erstaufführung (1802 zuletzt eben in Rheinsberg gegeben) die Akademie für Alte Musik (liebevoll in Berlin Akamus genannt), die Regie hat Andreea Geletu; es singt das Vokalsystem Berlin, und als Sänger werden genannt: Fanny Utiger/ Noemie Bousquet als Didon, Chen Li/ Ido Beit Halachmi als Enée, Maksim Andreenkov/Yiwei Mao als Iarbe, Alexandra Neason/Lyriel Benameur als Phénice sowie in der Doppelrolle des Araspe/Anchise dann Hyunseok Lee – alles Preisträger*innen des 33. Internationalen Gesangswettbewerbs der Kammeroper Schloss Rheinsberg.

.Zur Oper selbst Texte von Friederike Janott aus dem Programmheft zur Rheinsberger Aufführung sowie von Mariateresa Dellaborra aus der CD-Beilage zur ersten Aufnahme bei Dynamic aus Baris Teatro Petruzzelli 2001. Eine Rezension der Aufführung findet sich  in unserer Rubrik Festivals 2024. Geerd Heinsen

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Zu Piccinnis „Didon“: die Titelsängerin der Uraufführung Antoinette de St. Huberty als Didon/Stich/Gallica

Friederike Janott: Von Intrigen, unerschöpflichem Schaffensdrang & Innovationsbewusstsein. Niccolò Piccinni.  Es scheint die Krönung eines ebenso schaffens- wie erfolgreichen Komponistenlebens zu sein: Vom neapolitanischen Botschafter König Ludwig dem XV. empfohlen und auf Initiative des Pariser Künstlerkreises um den Literaten Jean-Francois Marmontel wurde der süditalienische Komponist Niccolo Piccinni mit der Zusage einer jährlichen Gratifikation, Einnahmen aus den Aufführungen seiner Opern sowie der Beschäftigung am Hof und beim Adel 1776 nach Paris geladen. Diesem Angebot folgte der 48-jährige gestandene Tonsetzer direkt, sollte aber schnell herausfin­den, dass das Pariser Kulturleben, das gerade einmal fünf Jahre zuvor die Aufführung seiner Opera buffa »La buona figliuola« mit großer Begeiste­rung aufnahm, nicht nur glanzvolle Aussichten für ihn bereithalten sollte.

Im Geheimen führte ihn der Zirkel um Marmontel, dessen Mitglieder sich zu erbitterten Feinden des in Paris zu dieser Zeit dominierenden Kompo­nisten Christoph Willibald Gluck erklärt hatten, nämlich als Kontrahenten desselben ins Feld – und schon kurze Zeit nach Piccinnis Ankunft entbrann­te eine der größten Fehden der Musikgeschichte. Geführt wurde dieser Ästhetikkampf aber nicht von den Komponisten selbst, sondern von ihren jeweiligen Anhängern – es handelte sich also um eine Art Stellvertreter­krieg: Auf der einen Seite der 1714 in der Oberpfalz geborene Wahlwiener Gluck mit seinen sogenannten Reformopern, auf der anderen Seite der vierzehn Jahre jüngere und im süditalienischen Bari geborene Piccinni.

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Zu Piccinnis „Didon“: Etienne Lainez war der Enée der Uraufführung, hier als Rodrigue in Piccinnis „Chiméne“/Gallica

Wie aber kam es dazu und wo verliefen die vermeintlichen Trennlinien? Glucks Auffassung zufolge hatte sich sowohl die ernste Opera seria als auch die komische Opera buffa zu weit weg vom >wirklichen Wesen< der Kunstform entwickelt. Diese bestand für ihn darin, dass die Musik im Dienst der Dichtung stehen soll. Keine Nummernoper, in der sich le­diglich die Sängerinnen und Sänger produzieren, sondern ein durch­komponiertes Drama, das als Ganzes aus Text und Musik wirkt, war das von ihm angestrebte Ideal. Große Erfolge feierte er in Wien mit seinen beiden Reformopern »Orfeo ed Euridice« (1762) und »Alceste« (1767), die ihm auch international großen Ruhm einbrachten. Im Pariser Opernleben und damit der Hochburg der französischen Oper debütier­te er wiederum mit seiner »Iphigenie en Aulide« (1774) und sicherte sich mit diesem und den beiden nachfolgenden Bühnenwerken »Orphee« (ebenfalls 1774) sowie einer französischen Überarbeitung seiner »Alces­te« (1776) die Vormachtstellung im dortigen Adels- und Kulturkreis. In diesen Jubelsturm stimmten jedoch nicht alle mit ein und es formierte sich schnell eine Gruppe von »Anti-Gluckisten« geführt vom Literaten­kreis um Marmontel, dem Dichter Jean-Frangois de La Harpe und dem Musikkritiker Jean-Benjamin de Laborde. Ihrer Auffassung nach habe Gluck mit seiner Reform die Schönheit der Musik zugunsten einer ver­meintlichen »Natürlichkeit« im Ausdruck und letztlich den Genuss der Kunstform preisgegeben; die eigentliche Anmut, die melodiösen Einfälle und die Kantabilität seien aufgegeben worden. Sie wünschten sich eine Neuerung der französischen Oper in der die Musik zwar das Gemüt rührt, aber zugleich die Ästhetik der Gattung gewahrt wird – kurz: wo die Kunst ein untergeordnetes, schmückendes Faktum des Lebens dar­stellt. Ihr Vorbild fanden sie in der neapolitanischen Oper und suchten daher dort nach einem geeigneten Kandidaten, der für sie in Paris die französische Oper revolutionieren und Glucks Werke aus den dortigen Opernhäusern verbannen sollte.

Den glaubten sie in Piccinni gefunden zu haben, der sich mit schier unfassbarem Schaffensdrang und einem sicheren Gespür für kreative Innovationen auf dem Operngebiet einen internationalen Namen gemacht hatte. Über seine familiäre Herkunft und Kindheit ist wenig bis nichts bekannt; älteren Quellen zufolge soll sein Vater Musiker gewesen sein und bei seiner Mutter soll es sich um die Schwester des Opernkompo­nisten Gaetano Latilla gehandelt haben.

Zu Piccinnis „Didon“: Karikatur von Honoré Daumier in Charivari (3. Juli 1842)/ „Enée et Didon“/Museo Schmidt Turin

Die erste gesicherte Information ist sein Umzug an die westliche Küste Italiens in das von seinem Geburtsort etwa 260 Kilometer entfernte Nea­pel – zu dieser Zeit absolute Hochburg der italienischen Oper. Dort besuchte er ab 1742 im Alter von 14 Jahren das Konservatorium Sant’Onofrio und ging dort insgesamt zwölf Jahre lang bei den äußerst profilierten Komponisten Leonardo Leo und Francesco Durante in die Lehre, zu deren berühmten Schülern neben Giovanni Paisiello auch Giovanni Battista Pergolesi gehörte. Sein Operndebüt gab er 1754 am Teatro dei Fiorentini mit der Opera buffa »Le donne dispettose«, die in Neapel schnell Erfolg hatte und ihm innerhalb kurzer Zeit zahlreiche weitere Auf­träge sowohl für komische als auch ernste Opern einbrachte.

Sein Ansehen wuchs schnell und auch der internationale Durchbruch blieb nicht aus. In Neapel hatte er zu dieser Zeit verschiedene Posten inne: So war er zweiter Kapellmeister an der Kathedrale und seit 1771 dort auch zweiter Organist in der königlichen Kapelle. Unglaublich erscheint, in welchem Tempo er aus scheinbar unerschöpflicher Inspirationsquelle Opernwerke schuf: Bis ihn 1773 eine Intrige am römischen Hof den Auf­trag kostete, komponierte Piccinni für jede römische Karnevalssaison eine neue Oper; zur selben Zeit schuf er für Neapel über 30 Opern und weitere für die wichtigsten Städte Italiens. Bis zu seinem Wechsel an den Pariser Hof hatte Piccinni bereits 96 Opern und damit mehr als dreiviertel seines gesamten Oeuvres komponiert!

Als würdiger Nachfolger Pergolesis, als den ihn die Gluck-Gegner erachte­ten, erlangte er mit seiner ersten für Paris geschriebenen Oper »Roland«, die 1778 auf die Bühne kam, entgegen der Befürchtungen des Komponis­ten großen Erfolg. Das Libretto der dreiaktigen Tragedie lyrique schrieb dabei kein anderer als Marmontel selbst. Neben drei weiteren Opern ver­fasste er auch das Libretto zu Piccinnis fünf Jahre später auf Schloss Fontainebleau bei Paris uraufgeführten »Didon«, die mit Abstand das erfolg­reichste Werk unter all seinen in Paris aufgeführten Opern wurde. Hierin verbindet Piccinni kunstvoll die klassischen dramaturgischen Insignien der französischen Tragedie lyrique wie die Chor- und Ballettszenen mit der italienischen Operntradition und schafft so ein innovatives enges Inein­andergreifen von Handlung und Musik durch Einfügung von Arien, hand- lungsorientierten Ensembles und Chören. Letztlich zeigt sich gerade in diesem Werk – so die Pointe um den in Paris für eine neue französische Oper geführten Zwist – dass die gegen Gluck gerichteten Forderungen sozusagen meisterhaft mit Glucks Ergebnissen verschmelzen und auf einer künstlerischen Ebene die vom Publikum und einigen eingeschwore­nen Zirkeln heraufbeschworenen Gegensätze in dieser Form gar nicht existieren.

Nachdem Piccinni infolge des Ausbruchs der Französischen Revolution für kurze Zeit nach Neapel zurückkehrte, zog es ihn ab 1798 erneut nach Frankreich, wo er zwei Jahre später im Alter von 73 Jahren in Passy bei Paris verstarb. Was er der Opernwelt mit seinem unfassbaren Schaffens­drang hinterließ, spricht für sich: Bis auf 16 Werke, deren Herkunft als zweifelhaft gilt, schuf er in seinem gesamten Leben insgesamt 114 Werke für die Opernbühne und widmete damit sein Leben hauptsächlich der Oper, denn daneben schrieb er lediglich einige wenige geistliche Werke und Instrumentalmusik. Friederike Janott.

Zu Piccinnis „Didon“: Caroline Branchu (die berühmte Spontini-Julia und Cherubini-Médée ihrer Zeit) als Didon an der Academie Royale de Musique 1824/ Gallica

Mariateresa Dellaborra schreibt: Der Erfolg einiger ab 1754 in Italien gespielten Opern, der einfache, elegante Stil, die immer sorgfältige, passende Orchesterbesetzung, die Um- und wesentliche Neubearbeitung einiger bereits erfolgreicher Titel wie Alessandro nelle Indie, Artaserse und Olimpiade lenken in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts die Aufmerksamkeit nicht nur von Publikums und Kritik in Italien auf Piccinni, sondern auch einiger französischer Literaten und Geistesmenschen wie Jean-Benjamin de Laborde, Jean Frangois de La Harpe und Jean-Frangois Marmontel. Letztere sehen in ihm den Nachfolger Pergolesis und betrachten ihn für geeignet, als Anti-Gluck aufzutreten, der fähig sein würde, das Sprachrohr einer neuen Poesie (die sie selbst auf den Seiten des Journal de politique et de literature verfochten) zu werden und innerhalb des Dramas eine originelle Sicht der Musik zu schaffen. Die Polemik, die bereits seit dem ersten Erscheinen Glucks auf den Pariser Bühnen (1774 mit der französischen Fassung von Orfeo ed Euridice) tobte, war auf die Kritik an der Gluck’schen Schreibweise voller „Schmerzensschreie, krampfhaftem Stöhnen“ anstatt „vollständigen, zusammenhängenden und regelmäßigen“ Gesangs konzentriert.

Um – nach Meinung der Enzyklopädisten – die verschie­denen Seelenzustände zum Ausdruck zu bringen, war es sicherlich nötig, „schmerzliche“, „aber nicht unange­nehme Akzente“ zu finden, die „dem Ohr, indem sie ins Herz eindrangen“ immer zu schmeicheln vermochten, und „der Zauber der Melodie“ sollte sich mit „dem erhal­tenen Eindruck“ vermischen. Das heißt, es schien, als ob Gluck „jenes wirklich opernhafte System des Einschubs von Motiven in das Drama“ verlassen und eher das „Reich“ einer rauhen, trockenen „Melodie“ errichtet hätte, die keine cantabili hatte und nicht zur französischen Phrase passte. Die Kunst sollte hingegen die Seele rühren, dies aber mit Anmut und immer Genuss vermittelnd.

Zu Piccinnis „Didon“: Die Titelrolle in der Uraufführung sang Anne Vallayer-Coster, Madame de Saint-Huberty, 1785/Wikipedia

Genau dies schien Piccinnis (1728-1800) Musik zu tun, des in Bari geborenen, in Neapel aufge­wachsenen und ausgebildeten Komponisten, eines Neffen jenes Gaetano Latilla, der damals als einer der erfolgreich­sten Musiker auf komischem Gebiet gefeiert wurde. Piccinni tritt also mit dem kulturellen Kreis um de La Harpe und Marmontel in Kontakt und bietet deren Idealen die weiche Kantabilität der neapolitanischen Oper, die Leichtigkeit in der musikalischen Annäherung und die Typologie der dramatischen Verflechtungen, die die antiken Mythen evozieren, an griechische und römi­sche Größe erinnern, dies aber aktualisieren und die Auffassung von einem Musiktheater widerspiegeln, wo die Kunst als untergeordnetes, schmückendes Faktum des Lebens betrachtet wird. Marmontel, ein ebenso fruchtbarer wie sorgfältiger Librettist, erinnerte nach­drücklich daran, dass „der Gegenstand der das Gemüt rührenden Künste nicht nur de Emotion ist, sondern der Genuss, der sie begleitet. Es genügt somit nicht, dass die Emotion eine starke ist, sie muss angenehm sein“. All dies stand sicherlich in völligem Gegensatz zu dem von Gluck verfochtenen strengen, tragischen Kunstideal und führte eher ein früheres Prinzip wieder ein, das in den ersten Jahrzehnten des 18. Jhdts. beliebt war. Demgemäß wurde die Musik als Ausschmückung eines süßlichen Dramas verstanden, in welchem die psycholo­gische Introspektion fehlte, die dramatischeren Situationen zugunsten einer zarten, konventionellen Liebenswürdigkeit verbannt waren und die Chöre nur zu Ehren der französischen Traditionen beibehalten wurden. Der Bund zwischen den Literaten und Piccinni wird 1778 offiziell besiegelt, als der Komponist als Paladin der neuen Anschauungen Roland und Phaon schreibt, wird vom künstlerischen Standpunkt aus aber konkret mit den Kompositionen von Iphigenie en Tauride (1781) und Didon (1783) wirksam, bei denen die gegen Gluck gerichteten Forderungen sozusagen mit Glucks Ergebnissen verschmelzen.

Zu Piccinnis „Didon“: der Dichter Jean-Francois de Marmontel/Gemälde von Alexandre Roslin, 1767/Wikipedia

Didon wird am 16. Oktober in Fontainebleau aufgeführt und hat einen derartigen Erfolg, daß sie im Dezember an der Pariser Academie Royale de Musique wiederaufge­nommen wird. Geschrieben ist das Werk in der Form der tragedie lyrique mit Accompagnati, Ariosi, Arien, Chören, in die Geschichte gemäß einer Logik eingefüg­ten Tänzen, sowie instrumentalen Zwischenspielen. Alle Teile sind perfekt untereinander verbunden und die Szenen eng miteinander verschmolzen.

Der von Marmontel geschriebene Text stellt die einzelnen Figuren äußerst klar vor und beleuchtet die ihre Handlungen bewegenden und bestimmenden Gefühle. Nicht nur Didon wird in ihrer zweifachen Haltung als gebieterische Königin und verliebte Frau dargestellt, sondern auch Enee und larbe weisen sowohl den politi­schen und öffentlichen, als auch den menschlichen und innerlichen Aspekt ihres Charakters auf. Ihr Handeln, das sie zu einer direkten Auseinandersetzung über beide Aspekte bringt, wirkt sich unvermeidlicher Weise auf die betreffenden Völker aus, wodurch es zu impo­santen Chorszenen voller Emotion kommt. Der Chor (einmal homophon, dann wieder in kleine kontrapunktie­rende oder mit den Solisten abwechselnde Gruppen unterteilt) spielt in der ganzen Oper eine sehr bedeuten­de Rolle; seine direkte Teilnahme am Fortgang der Handlung ist eines der deutlichsten Zeichen dafür, wie sich Piccinni dem französischen dramaturgischen Ausdruck angepasst hat. Auch die Rezitative (alle mit Orchester) sind höchst dramatisch und mit theatrali­scher Empfindung durchtränkt. Ihre Anzahl liegt wesent­lich höher als bei den Arien nach italienischem Vorbild, speziell nach dem Metastasios. Die Technik der „unitée de dessin – periode“ herrscht vor und wird in spezifi­schen emotionellen und berührenden Situationen ange­wandt, wo der lyrische, ununterbrochene Gesang das Drama bis zu höchsten Graden hervorstreicht.

Die Wirksamkeit dieses Singens entfaltet sich auf glänzende Weise, wenn es auf die szenische und interpretatorische Kunst des Ausführenden trifft und mit ihr verschmilzt. Im Falle von Didon war dies Antoinette Cecile-Clavel, genannt Saint-Huberty. Wie sie selbst sagte, war die Rolle der Didon auf sie zugeschnitten (Piccinni nannte sie „meine Didon“), da es sich um eine Partie handelte, in welcher das Spiel von größter Wichtigkeit war und „das Rezitativ so gut gemacht ist, dass es unmöglich ist, es zu singen“. Dieser Sängerin hat die Rolle der Didon somit ihre konkrete Realisierng zu verdanken, und noch heute heißt es, „Didon et Saint-Huberty sont immortelles“.

Zu Piccinnis „Didon“: Bühnenbild von Alessandro Sanquirico/Tempel des Neptun/Wikipedia

Weiters trägt das orchestrale Element dazu bei, die Szenen oder einzelnen Gesten zu unterstreichen. Das Orchester übernimmt äußerst geschickt in den entschei­denden kritischen Augenblicken der Handlung eine erstrangige Rolle, indem es um neue Farben bereichert wird, die es auf völlig originelle Weise einsetzt. Beispielhaft für beide Fälle ist die Szene der Erscheinung des Schattens des Anchises oder die Sturmszene, die Äneas und den Seinen die Flucht ermöglicht. Die Verwendung dreier Posaunen, die zum Quartett der Holzbläser kommen, zwei häufig zur Besiegelung einer Passage eingesetzte Pauken, der Reichtum der Streicher und die spezifische Typologie ihrer Passagen wirken auf entscheidende Weise an der Betonung und Charakterisierung der Dramatik des sze­nischen Moments mit. Schon ab der (dreigeteilten) Ouvertüre konnte man die der Instrumentalbesetzung zugewiesene Bedeutung ahnen, ist sie doch nicht so sehr mit der Vorwegnahme von Inhalt und Themen des Dramas beschäftigt, als darauf ausgerichtet, den einzel­nen Sätzen eine außerordentliche klangliche Vielfalt und Intensität aufzuprägen. Von den drei Akten kann der letzte für die vollkommene Verschmelzung von Text und Musik als beispielhaft angesehen werden. Die Abfolge der vokalen und instrumentalen Teile erfolgt in Funktion der Handlung und der Worte, die auch durch einfache, aber sehr wirksame farbliche Kunstgriffe verstärkt werden. Die Schluss-Szene ist hochdramatisch mit der sich opfernden Didon, die „pour son bien-aimé Enee“ Worte der Liebe hat, dem Chor, der schwört, die Rasse Trojas verfolgen und ver­nichten zu wollen und den abschließenden Trompeten­stößen, die teilweise das Gefühl der Verzweiflung und völligen Vernichtung mildern. Obwohl er da und dort ita­lienischen Geist wehen lässt, gelingt es Piccinni also, musikalisch das Ideal der französischen Philosophen umzusetzen, und speziell den von Marmontel zum Ausdruck gebrachten Gedanken: „Mit Schreien, Gebrüll, durchdringenden oder schrecklichen Tönen werden Leidenschaften ausgedrückt; aber dies vermittelt, wird es in der Nachahmung nicht verschönt, nur den Eindruck des Leidens, wie in der Natur […]. Den wohl­klingenden Gesang aus der Oper verbannen zu wollen, ist ein ebenso seltsamer Einfall, als wollte man die schö­nen Verse aus der Tragödie verbannen […]. Mariateresa Dellaborra (Übersetzung: Eva Pleus)

 

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Dokumente/Verbreitung: Ein Wort zur Verbreitung der Oper vor Rheinsberg, das mit einer deutschen Erstaufführung aufwarten kann. Als eines der wichtigen Werke Piccinnis erlebte sie der Hof 1783, in Anwesenheit des Noch-Königs Louis XVI und seiner Frau Marie-Antoinette, 16 Jahre vor deren End, vorgestellt wurde. Nach zwei Wiederaufführungen in Fontainebleau wurde die Oper am 1. Dezember 1783 in Paris aufgeführt. Sie erwies sich als der größte Erfolg des Komponisten und wurde bis 1826 fast jedes Jahr mit insgesamt 250 Aufführungen an der Pariser Oper gegeben. Ein riesiger Zeitsprung findet in den Dreißigern des 20. Jahrhundert die große Sopranistin Yvonne Brothier in der Titelrolle in Paris wieder, wovon einige Tondokumente zeugen, andere wie Félia Litvinne oder Jeanne Hatteau sind nicht belegt.

Aber es gibt sie auch vollständig in der allerersten (mehr oder weniger) modernen Gesamtaufnahme bei der italienischen RAI von 1969 (Arkadia u. a.) mit Gabriella Tucci in der Titelrolle aus Neapel  unter dem vielseitigen Mario Rossi. Aus Baris Teatro Petruzzelli erschien die originale Fassung in CD-Aufnahme unter dem Pionier Arnold Bosman mit Sibongile Mngoma und Daniel Galvez-Vallejo auf dem Label Dynamic von 2003. Die jüngste Veröffentlichung kommt aus dem Hause Bongiovanni mit der für solche Rollen nicht nur heute m. E. absolut ungeeigneten Denia Mazzola-Gavazzeni sowie Yoshei Ushiroda unter Damiano Cerrutti von 2021.

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Sammler haben noch mehr. Live gab es Piccinnis Didon nach der RAI-Aufnahme von 1969 dann im selben Jahr in Paris und Tourcoing mit der bezaubernden Audrey Michael und Giles Ragon unter dem innovativen Jean-Claude Malgoire.; 2001 folgte wie erwähnt Bari; 2003 dann in Paris, Cité de la musique unter Antonio Florio mit der dünnstimmigen Roberta Invernizzi und Maria Ercolano (als Enée!), 2004 folgte Solothurn mit Liliane Schneider und Remì Garin unter Franco Trinca.

Soweit ein Blick in meine eigene kleine Sammlung; es gibt sicher weitere Dokumente.  In moderner Zeit haben sich die wunderbare Véronique Gens oder Carol Bogard darum bemüht; in der 20 CD Box 200 Ans De Musique À Versailles von 2007 gibt es zudem drei Ausschnitte aus der Oper. Sogar die Ouvertüre gibt es als Transcript für zwei Gitarren bei der Musical Heritage Soiciety … Geerd Heinsen

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Der Artikel von Mariateresa Dellaborra stammt  aus dem Beiheft zur der ersten „offiziellen“ Aufnahme der Oper, bei Dynamic von 2001 als Mitschnitt aus dem Teatro Petruzzelli, wo das Werk unter Arnold Bosman am Pult des Orchestra del Teatro Petruzzelli mit Sibongile Mngoma, Daniel Galvez-Vallejo, Davide Damiano, Teresa Di Bardi, Angelica Girardi und Antonio Signorile gegeben wurde (immer noch die beste aller drei verfügbaren Industrieaufnahmen). Dank an die Kammeroper Rheinberg für die Erlaubnis zur Übernahme des Artikels von Friederike Janott 

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Niccolò Piccinnis Statue in Bari/Wikipedia

Inhalt A1: Dido, die Königin von Karthago, könnte nicht glücklicher sein, ist sie doch frisch verliebt. Ihr Auserwählter ist der junge Held Äneas, der gerade noch rechtzeitig aus dem brennenden Troja fliehen konnte und bei ihr an der nordafrikanischen Küste angespült wurde. Doch schwere Albträume pla­gen Dido: Des nachts erscheint ihr der verstorbene Ehemann und bezich­tigt sie des Treuebruchs. Zugleich wird sie von Iarbas, dem König Numidi­ens, bedrängt. Der will sie zur Frau nehmen und ihr Land regieren. Diesen Antrag lehnt Dido wiederholt ab. Als Iarbas erfährt, dass Dido eine Hoch­zeit mit Äneas plant, schwört er Rache und fordert Äneas zum Kampf heraus.

A2: Äneas gesteht Didos Schwester seine Liebe für die Königin. Zugleich erzählt er ihr aber auch von seinem schweren Schicksal: Es zwingt ihn, Dido zu verlassen, denn die Götter haben ihm befohlen, mit den Troja­nern nach Italien zu ziehen und dort ein neues Königreich zu gründen. Dido, die davon nichts ahnt, erklärt Äneas ihre Liebe und will ihn vor den Augen ihres Volks zum Gemahl nehmen. Iarbas hat noch nicht aufgege­ben und berichtet Dido von Äneas‘ Plan, was sie jedoch nicht glauben will. Da der Druck auf Äneas wächst, gesteht er Dido letztlich, dass er sie verlassen muss. Währenddessen trifft die Nachricht ein, dass Iarbas mit seinem Heer in Richtung Karthago zum Angriff marschiert. Die Karthager und die Trojaner machen sich unter der Führung von Äneas zur Verteidi­gung Didos bereit für den Kampf. Iarbas erfährt, dass Dido eine Hoch­zeit mit Äneas plant, schwört er Rache und fordert Äneas zum Kampf heraus.

A3: Dass Äneas zu ihrer Verteidigung und für Karthago gegen Iarbas in den Krieg gezogen ist, nährt in Dido erneut die Hoffnung auf sein Bleiben. Die Numidier sind geschlagen und Äneas kehrt als Sieger zurück. Ihm erschien sowohl Jupiter als auch der Geist seines Vaters, die beide die Erfüllung seiner Pflicht und Gehorsam fordern. Dem leistet er Folge und verlässt Dido, die schwer verletzt und voller Trauer daraufhin ihren Freitod plant. Sie lässt einen Scheiterhaufen errichten, um dort Äneas‘ Kleider und Waffen zu verbrennen. Sie besteigt den Scheiterhaufen und nimmt sich mit einer der Waffen das Leben. Ihr karthagisches Volk schwört den Trojanern infolgedessen ewig währende Rache und Krieg. (Kammeroper Rheinsberg).

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie Die vergessene Oper hier.

Sinnlichkeit und Stimmzauber

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Armiden und Rinaldos gaben sich auf den Opernbühnen des 18. Jahrhunderts die Klinke in die Hand. Relativ mutig nahm sich Rossini für die dritte der neun großen Opern, die er für den Impresario Barbaja und Neapel schrieb, eines Themas an, das neben vielen anderen Lully und Händel, Haydn und Gluck hin- und hergewendet hatten und Jommelli vor mehr als einem Menschenalter 1770 im San Carlo zur Uraufführung gebracht hatte.

Für die dritte seiner Reformopern Armida nach der Elisabetta von 1815 und dem Otello 1816 nahm Rossini sich ein gutes Vierteljahr Zeit, um den mythischen, üppig barocken Stoff aus Tassos Gerusalemme liberata für das neue Zeitalter und das neue Teatro San Carlo maßzuschneidern. Der Aufbau des ersten Aktes ist in der Abfolge der Nummern vorhersehbar. Während die von Geoffredo, sprich Gottfried von Bouillon, zusammengerufenen fränkischen Ritter ihrem verstorbenen Anführer die letzte Ehre erweisen, erscheint die Zauberin Armida im Lager und bittet um Krieger. Sie sollen ihr helfen, den geraubten Thron zurückzuerobern. Rinaldo, den Armida einst vor Feinden rettete und in den sie sich verliebte, wird zum neuen Anführer der Paladine ernannt. Er folgt ihr. Bringt zuvor noch den eifersüchtigen Gernando um. Ganz und gar ungewöhnlich ist der zweite Akt, ein zauberisches Blumen- und Palastambiente mit Höllen- und Schutzgeistern und Nymphen, die Armidas große Arie „D’amore al dolce impero“ umranken. Im dritten Akt dringen die Ritter Carlo und Ubaldo in den Zaubergarten ein und überreden Rinaldo zur Rückkehr. Armidas Macht ist gebrochen. Sie schwankt zwischen Rache und Liebe, gibt sich letztlich ganz der Rache hin und zerstört ihr Zauberreich. Hervorzuheben ist im letzten Akt das umfangreiche Terzett der drei Tenöre. Vor allem die Aktionen um Armida auf der Liebesinsel mit herbeigezauberten prächtigen Palästen, Nymphen und Amoretten und schließlich dem Drachenwagen, in dem die Enttäuschte in die Lüfte entschwebt, boten hinreichend Kulissenzauber, um die Verwandlungsmöglichkeiten des durch Brand zerstörten und gerade wiedereröffneten Teatro San Carlo auszureizen.

Die Naxos-Aufnahme fängt das Zauberische und Festliche, das Kriegerische und Liebestolle des Dreiakters ein (2 CD 8.660554-55) ein. 2022 war Rossini in Wildbad nach Absage des Festivals und eingeschränktem Corona-Betrieb in den Jahren davor wieder zur Normalität zurückkehrt, weshalb über den Aufführungen am 15. und 20. Juli in der Trinkhalle lag eine besondere Spannung lag. Bereits in der Sinfonia zwingt José Miguel Pérez-Sierra martialische Kreuzritterzackigkeit und schwärmerische Liebeslyrik geschickt zusammen, gleicht durch draufgängerische Heftigkeit anfängliche Mattstellen und Ruppigkeiten des Orchesters aus und unterstreicht die Originalität der mitten ins Geschehen greifenden Introduzione, in der der Spanier Moisés Marin mit sensationeller Höhe, hell strahlendem Tenor und Autorität in den Rezitativen als Goffredo den Ton für das Liebesdrama zwischen der Zauberin Armida und dem Ritter Rinaldo vorgibt. Er ist einer der sechs Tenöre des üppig bestückten Männer-Ensembles, das bei der Uraufführung mit vier Tenören ausgekommen war, da die meisten Partien sehr überschaubar sind und nie zugleich auftreten oder wie Gernando frühzeitig gemeuchelt werden. Patrick Kabongo singt die einzige geschlossene Arie, in der Gernando seiner Eifersucht auf Rinaldo freien Lauf lässt, mit klein wenig enger Höhe, aber Leichtigkeit und Eleganz, in der seine souveräne Erfahrung mit dem Repertoire und kluge Gestaltungskraft zum Ausdruck kommen. Chuan Wang und César Arrieta stehen als Carlo und Ubaldo Rinaldo im hinreißenden Terzett im dritten Akt zu Seite, Manuel Amati macht als Eustasie nachdrücklich auf sich aufmerksam. Achtbar die Leistungen der beiden Bässe (Jusung Gabriel Park, Shi Zong).

Die einzige und zentrale durchgehende Tenorpartie ist der Rinaldo, für den der Amerikaner Michele Angelini alles gab, dabei sowohl zärtlich und draufgängerisch, sanft und wild und immer mit Inbrunst und Überzeugungskraft sang, durch präzise Triller und Koloraturen, saubere Höhen und metallische Strahlkraft überzeugte. Die drei Szenen und Duette mit Armida sind von großer Sinnlichkeit und Stimmzauber. Bereits im ersten Akt umgirren sich die beiden Stimmen, steigern sich im zweien Akt in einen Sinnestaumel und liefern sich im dritten ein kurzes leidenschaftliches Duell.

Die spanische Sopranistin Ruth Iniesta, die mittlerweile mit Violetta, Gilda, Amina, Liu und Thais gut beschäftigt ist, verfügt über einen opulent warmen, dunkel sinnlich timbrierten Sopran, mit dem sie alle Facetten der Zauberin bis ihn zum virtuosen Gaukelwerk in „D’amore al dolce impero“ und den kernigen Racheattacken ausspielen kann. Für den Philharmonischen Chor und vor allem das Philharmonische Orchester Krakau bedeutet das Stück mit seinen solistisch ausgeleuchteten Stimmungen, Zauber- und Gruselszenen ein Kraftakt. Pérez-Sierra lässt keine Langeweile aufkommen und fängt den romantischen Ton der Musik ein, wie er nicht nur in der langen, einem Flötenkonzert gleichenden Ballettmusik am Ende des zweiten Aktes zum Ausdruck kommt. Rolf Fath

Giacomo Meyerbeers „Prophète“

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Und noch einer, seufzte man als Sammler und Opernliebhaber, als das Label LSO die geplante Veröffentlichung von Meyerbeers Prophète aus Aix bekannt gab. Aber zur meiner wirklich absoluten Überraschung ist diese Neueinspielung (als live angegeben, aber dazu später mehr) in Hinsicht auf Besetzung und Fassung wohl doch die ultimative unter den verfügbaren, denn rundherum wird hier am besten, eben sensationell gesungen. Man mag – wie ich – ein wenig über die recht dunkle Akustik und über Mark Elders zum Teil mir zu langsame Tempi grummeln (was die Oper in Teilen unnötig redundant wirken lässt, aber lang ist sie gewiss), und manche Momente seiner Interpretation scheinen mir orchestral nicht transparent genug, sind mir zu aufgetürmt, zu massiv, zu marzialisch (so das berühmte Ballett auf dem Eis). Da hat die Frankfurter Oehms-Einspielung die Nase vorn, wenngleich der Titelheld dort eher blander schien und nun – in Aix – sich als ganz großer Sänger in der Nachfolge von Nicolai Gedda (als Jean in dem alten Mitschnitt aus Rom) erweist.

Es sind die Solisten und die ungekürzte neue Fassung, die für mich das Gewicht dieser sensationellen neuen Aufnahme ausmachen. „Ungekürzt“ wird im Beiheft mit dem Artikel von Etienne Jardin nicht ausgeführt, nur „angerissen“ (wie alle anderen Beiträge dreisprachig!, was für eine Seltenheit angesichts des deutschsprachigen Raums in Europa), aber nicht so gut erklärt wie Matthias Brzoska in dem hochinformativen Beitrag zur Essener Aufnahme bei Oehms, Berthes Arie und Duett originale Tonart, Selbstmord zum Saxophon und vieles mehr. Das wird die Sammler interessieren, denn außer Essen haben alle verfügbaren Aufnahmen vorher barbarische Striche, und sie benutzen zudem natürlich die alte Brandus-Fassung.

Wie bereits erwähnt hadere ich etwas mit Mark Elders Sicht der Tempi, die mir in Teilen (wie im 1. Akt) zu schleppend in der Interaktion der Personen scheinen. Die fehlt vielleicht doch die Theater-Spontanität. Andererseits ist Elder mir in Teilen zu massiv, zu kompakt im Klang und betont Meyerbeer als Quasi-Sinfoniker. Worin Elder seinem Kollegen Giuliano Carella in Essen ähnelt, der ebenso breite Tempi bevorzugt. Der neue Vasco da Gama bei Naxos ist da für mich vorbildlicher und bietet ein weit mehr durchgefächertes Klangbild, zudem auch (bedingt)  live. Es geht also, und nicht so altherrenmäßig wie bei Elder. Das führt Antonello Manacorda in Frankfurt exemplarisch vor,  bei einer fabelhaften Raumstaffelung.

Meyerbeer: „Le prophete“/ John Osborn 2017 als Jean/ aus dem Booklet der Aufnahme bei Oehms Classics und der Essener Aufführung von Matthias Jung

Live war eingangs das Stichwort. Und live ist eben nicht unbedingt ein Live-Mitschnitt, wie man vermuten möchte. Es gibt keinen Beifall, alle Nebengeräusche wurden (technisch?) entfernt,  was für den akustischen Flickenteppich verantowortlich ist, wenn man die neue Aufnahme mit Kopfhörern genießt. Denn die vielen, vielen takes machen doch eine gewisse akustische Achterbahn im Ohr aus: Es wurde sehr viel korrigiert und einzeln nach-/auf-genommen, Nah- und Fern-Einsätze folgen etwas verwirrend aufeinander, die akustische Aura wechselt. Also ist dies kein Radioband von France Musique, sondern viel Kleinarbeit. Verständlich, aber doch nicht angezeigt. Und es gibt keine Aufnahmedaten, nur ein lakonisches „recorded in July 2023“, dagegen aber technisch in in SACD hybrid und in Zusammenarbeit mit dem Palazzetto Bru Zane (LSO 0894, 3 CD mit dreisprachigem Booklet und Libretto)..

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Diese Aufnahme-Sorgfalt wirkt auf die Aufnahme als Ganzes wirklich lohnend aus. John Osborn in der Titelrolle singt wie ein Gott! Sein Problem ist es vielleicht, dass er nicht wirklich ein prägnantes Timbre besitzt, dass seine Stimme per se nicht wirklich interessant ist (anders als etwa die von Richard Leech in den Erato-Huguenots, unerreicht). Das gilt aber letzten Endes für seinen von mir so hochgeschätzten Kollegen Michael Spyres ebenso, der per Timbre nicht wirklich aufregend klingt, sondern per Interpretation und Gesang besticht. Beide Herren sind Künstler ihres Metiers, beide können eben sensationell singen.

Palais de l’Ancien Archevêché, Festival Aix-en-Provence/Aix festival

Und John Osborn hat nach seinem eher blanden Toulouser und Essener Jean eine weite Strecke zurückgelegt, ist absolut in der Rolle richtig, singt in vielen Momenten mit betörender voix mixte und scheut sich nicht, in herzzerreißendem pianissimo hochgelegene Töne fast im Falsett zu bewältigen statt sie herauszubrüllen. Seine Charakteranlage des zerrissenen Jean, namentlich in der Wiederbegegnung mit seiner Mutter, ist eine bewegende Studie in menschlicher und eben  musikalischer Charakterisierung. Ich bin sehr, sehr beeindruckt davon und dachte viel an Nicolai Gedda, dem manche Wendungen von Osborn in dieser Rolle frappierend ähneln. Er hat wirklich seine Hausaufgaben gemacht. Klang er mir im jüngsten Robert le Diable viel zu weisss, zu amerikanisch auf der Höhe, so ist seine Stimme nun rund, gedeckt, aussagekräftig, markant. Das passaggio ist beispielhaft, seine messa di voce exemplarisch und seine Diktion ohne Fehl. Seine gegenüber Spyres weichere Tenorstimme mittlerer Größe passt zu diesem Jean ungemein. Eine fabelhafte Leistung. Ich komme ins Schwärmen.

Meyerbeers „Prophéte“ im Konzert Aix-en-Provence 2023: Edwin Crossley-Mercer, Elizabeth DeShong und Mané Golyan/Foto Vincent Baume/Festival Aix-en-Provence

Und ich schwärme weiter. Besonders für die wirklich sensationelle Elizabeth DeShong als Fidès. Auch sie erinnert in einigen tief gelegenen Wendungen an ihre Rollen-Vorgängerin, eben Marilyn Horne, in entscheiden Momenten mit dem unverstellten Griff in das absolut wahnsinnige Brustregister, dies natürlich vor allem in der alles sprengenden Arie im 4. Akt, die aber eben nicht nur eine der ganz großen Bravourarien (für Pauline Viardot) ist sondern hier genial schon viel früher angelegt wird (mit eingeschobenem Chor). DeShong fegt mit ihren drei Oktovanen durch die Partie wie ein Orkan, hat aber auch viele weichere Momente zuvor, etwa im bezaubernden Duett mit Berthe zu Beginn. Hing die Kritik an der Essener Aufnahme bei  Oehms an der unterbelichteten Fidès, so kann die neue mit eben dieser aufregenden von Elizabeth DeShong prunken. Sowas hat man lange nicht mehr, wenn überhaupt, gehört. Die (oft nach Traktorfahrerin klingende Fidès der) Horne hat hohe Maßstäbe gesetzt, aber die DeShong fügt der Partie vieles an dort fehlender Weichheit, an Fürsorge und schön gesungener Mütterlichkeit hinzu.

Und zum Dritten ist Mané Galoyan aus den USA ein Gewinn. Zu Beginn gebührend timide schwingt sich ihr entzückender Sopran zu entschlossenen Tönen empor, verfügt über unglaubliche Höhenwirkung und wie ihre Rollenvorgängerin Margherita Rinaldi  in Rom über eben diese entschlossene Leuchtkraft des sich namentlich in der oberen Lage entfaltenden Soprans. Absolut bezaubernd. Und wie ihre Kollegen absolut wortverständlich.

Meyerbeers „Prophéte“ im Konzert Aix-en-Provence 2023: Mané Goloyan und John Osborne/Foto Vincent Baume/Festival Aix-en-Provence

Die Sprach-Coaches in Aix müssen Überstunden gemacht haben. Mäkelte ich beim Robert le Diable vom Palazzetto noch über die Wort-Unverständlichkeit mancher Sänger so kann man hier buchstäblich mitschreiben. Das hat man so lange nicht mehr erlebt, denkt man an das Esperanto der vielen Opern-Aufnahmen jüngerer Zeit.

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Auch die übrigen halten dies Niveau, allen voran der markant timbrierte Edwin Cross-Mercer als Comte de Oberthal, dräuend und sonor die arme Berthe verfolgend. Valerio Contaldo sticht mit seinem bemerkenswerten Tenor aus der Gruppe der Anabaptisten heraus (James Platt und Guilhem Worms sind die beiden anderen). Hugo Santos, David Sanchez und Maxime Melnik machen als drei Soldaten ebenfalls was her. Gut ausgesucht. Der Chor vom Opernhaus Lyon unter Benedict Kearns und der Kinderchor Bouches-du-Rhône unter Samuel Coquard vervollständigen überzeugend das vokale Bild. Mark Elder hat seinem LSO Orchester zu einem heißen Sommer im schönen Aix verholfen, während das Mediterranean Youth Orchestra sich um die an Verdis Autodafé erinnernden Banda-Einlagen kümmert. Und vielleicht ist es auch Elder zu verdanken, dass man nun oft an Späteres nach Meyerbeer denkt, nicht nur an Verdi.

In Summa also ist dies wirklich eine bedeutende, wichtige Neuaufnahme von Meyerbeers Propheten, ganz sicher für mich trotz kleiner Einschränkungen im Klang und Dynamikbereich die ultimative und wichtigste bislang. Was sind wir doch reich an dieser Musik.

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Giacomo Meyerbeer: „Le Prophéte“ bei Oehms Classics aus Essen

In dem Artikel zur Essener Ausgabe bei Oehms (darin auch als Übernahme der hochinformative Artikel von Markus Brzoka zur Ersteinpielung der neues Meyerbeer-Ausgabe) machte ich einen Rückblick auf Vergangenes, das war 2018. Seitdem ist in Sachen Prophète nicht viel Neues hinzugekommen, und der Bequemlichkeit wiederhole ich hier einiges vom bereits Gesagten.

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Der berühmte (Meyerbeer-)Knoten platzte für mich anlässlich der DOB-Version des Propheten in Berlin 2017, nicht so sehr wegen der lässlichen Umsetzung durch Olivier Py (Sohn des bekannten Tenors), sondern wegen des wissenschaftlichen Umfeldes. Ich habe mich zum ersten Mal in meinem langen Kritikerleben deswegen damals so richtig mit Meyerbeer beschäftigt. Da gab es das hochspannende Symposium in der DOB und vier Meyerbeer-Opern zu erleben (mit der konzertanten Dinorah fing alles an): Meyerbeer satt möchte man sagen. Bis dahin hatte ich ihn „nur“ als so eine Art „etwas schwierig zu hörenden Belcanto-Komponisten“ betrachtet, wichtig natürlich, als Steinbruch für Verdi und die Nachfolger, einschließlich Wagner. Und die Huguenots waren mir wegen Richard Leech so vertraut (Berlin und Montpellier). Ich sah Meyerbeer nicht als intellektuellen, hochpolitischen Neuerer. Spätestens der Prophète zeigte mir dann, wie sehr Meyerbeer seine Zeit und deren Strömungen, die politische Umwälzungen in seinen Opern behandelt, konservativ zwar (die Revolution muss scheitern, weil sie aus dem Ruder läuft, aber notwendig ist sie gewiss), aber einsichtig. Die Spannungen und Diskriminierungen religiöser Gruppen gegeneinander, die Verfolgung Andersdenkender, die Ausbeutung der Kolonien, der Tanz auf dem gesellschaftlichen Vulkan, die Fatalität von scheinbar sicheren Fluchtpunkten – all dies ging mir im Laufe der Beschäftigung als Resultat der drei bislang gezeigten Hauptwerke auf. Und dafür meine Verbeugung vor der DOB. Eine große Leistung und ein lobenswerter Kraftakt.

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Dennoch – ohne den alten und immer noch fabelhaften Prophète-Mitschnitt aus Rom 1970 möchte ich auch nicht sein, alte Fassung hin oder her. Nicolai Gedda ist auch nach Osborn, Heller/Karlsruhe und Sledge/Berlin unerreicht: höhensicherst, lyrisch, zerrissen und absolut – für mich – der aufregendste Jean weit und breit, pardon Messieurs. Die junge Marilyn Horne sucht als Fidés immer noch ihresgleichen, selbst wenn etwa Ewa Wollack in Karlsruhe und Ronnita Miller in Berlin sich in meinem Musikerleben fabelhaft gegen sie behaupteten. Und ich liebe Margherita Rinaldi als Berthe! In Stereo (eher Stereo-Arkadia als Myto/Discogs). Aber die neue LSO-Aufnahme stellt manches in Perspektive, muss ich sagen. Und überzeugt rundherum.

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Erstaunlicher Weise hatte es vierzig Jahre gedauert, bis nach Rom und der CBS  eine zweite (Fast)-Studio-Aufnahme von Meyerbeers Oper Le Prophète erschien. Die gruselige CBS-Einspielung mit dem indiskutablen James McCracken und der nicht mehr so durchschlagenden Marilyn Horne stammt von 1977 (die Scotto war ein Irrtum) und verwendet natürlich die alte Brandus-Fassung. Denn erst 2007 war die neue, ultimative Ricordi-Bärenreiter-Ausgabe offiziell erschienen, der weder Toulouse 2017 noch Berlin 2017 (trotz der Beteuerungen) wirklich gefolgt waren, Münster 2004 aber ja. Karlsruhe 2015 war Kratzer-fassungsmäßig außer Konkurrenz. Die bei Oehms vorliegende Aufnahme aus Essen 2017 bot nun diese (mit ganz kleinen Aufführungs-bedingten Strichen/ 3 CDs, OC 971).

Am 6. November 1814 wurde der Belgier Adolphe Sax geboren, der Erfinder des Saxophons. Am 21. März 1846 erhielt Sax in Frankreich ein Patent. Sax baute nun das Saxophon in seiner Produktionsstätte in Paris in acht verschiedenen Größen (Sopranino, Sopran, Alt, Tenor, Bariton, Bass, Kontrabass, Subkontrabass). Seine Instrumente wurden besonders in der französischen Militärmusik eingeführt. Doch auch die Komponisten wie Meyerbeer oder Massenet  wurden auf den besonderen Klang aufmerksam. (Mit Dank an „moderato“ vom Tamino Klassik-Forum)

„Trotz Beteuerungen“ verwendete die Deutsche Oper, deren Aufführungen mir so sehr im Ohr sind (namentlich die letzte im Januar 2028 mit anderer und tränen-bewegender Besetzung Sledge, Miller und Haslett, dankenswerter Weise war die Bühnen-Maschinerie ausgefallen),  eine „revidierte Fassung der historisch-kritischen Ausgabe von 2014“, und auf den Ankündigungs-Plakaten stand so etwas wie „nach der gängigen Aufführungspraxis“ (pardon, ich find den genauen Wortlaut nicht mehr). Das hieß etwa – im Gegensatz zur Neuaufnahme aus Essen – ohne die vom Saxophon(!!!) begleitete Todesszene der Berthe im letzten Akt und ohne manches andere. Da war man eben doch halbherzig –  denn allein diese paar Minuten mit diesem wunderbaren, und erstmalig in einer Oper verwendeten, Instrument, das nur wenige Jahre vor der Premiere des Prophéte von Adolphe Sax in Paris entwickelt wurde (1846),  war die Anschaffung der Oehms-Ausgabe lohnend. Was war doch Meyerbeer für ein moderner, an Neuerungen interessierter Mann. Wie man ja auch von den Erfindungen und Bühnenbedingungen für seine Opern weiß.

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Live gab´s den Prophète erstaunlich oft. In meiner kleinen, unvollständigen Sammlung finde ich natürlich die (optisch damals wirklich grausliche) Wiener Aufführung mit einer die Partie verkennenden Agnes Baltsa neben einem Plácido Domingo in zerquältem Allgemein-Modus (Wien 1988)Stockholm gab das Werk 1999 mit einem bemerkenswerten Jean-Pierre Furlan neben Ingrid Tobiasson unter Gunnar Stearn. 1977 dirigierten Richard Lewis und 1979 Charles Mackerras die Oper mit Horne, Scotto/Shane und McCracken an der Met2004 gab´s den ersten „modernen“ Prophéte nach der neuen Meyerbeer-Edition in Münster. 2007 machte Essen ein Symposium mit dem kompletten 5. Akt nach der neuen Edition und einigen Schmankerln konzertant dazu, sehr verdienstvoll (David de Villiers/Loukianetz, Scalchi, Bruns). Braunschweig schaffte eine stark gekürzte Version 2014. Dann kam Karlsruhe 2015 mit Ewa Wollack und Marc Heller in der diskutablen, stark gekürzten Kratzer-Produktion, danach Toulouse 2017 mit Osborn und Kate Aldrich (blass!), Essen 2017 (Osborn) und Berlin 2017/18 (Kunde + Margaine sowie Sledge + Miller, sensationell); nachdem am selben Haus das Werk 1966 in Deutsch wahre Buhorkane ausgelöst hatte: Das Ehepaar Warfield-McCracken bestritt neben Annabelle Bernard den Abend (ich erinnere mich an den Skandal). Auf youtube gibt´s einen angeblich absolut ungekürzten, zusammengebauten Prophète, aber da hab´ ich aufgegeben. Ganz sicher habe ich einige Dokumente nicht erwähnt. Man möge mir verzeihen. Geerd Heinsen

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie Die vergessene Oper hier

 

Festspielecho aus Bayreuth & Potsdam

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Im Schlosstheater des Neuen Palais Sanssouci gab es bei den letztjährigen Festspielen eine absolute Opernrarität mit der Festa teatrale L’Huomo von Andrea Bernasconi. Die Koproduktion mit Musica Bayreuth erschien nun bei der deutschen harmonia mundi auf drei CDs in aufwändiger Ausstattung (19658892092). Der Live-Mitschnitt vom 4. Juli 2023 stammt aus dem Markgräflichen Opernhaus Bayreuth, wo das Stück mit einem französischen Libretto von Wilhelmine von Bayreuth, das der Hofdichter Luigi Maria Stampiglia in italienische Verse gesetzt hatte, 1754 zur Uraufführung kam.

Dorothee Oberlinger/ Foto Sony

Mit ihrem Ensemble 1700 breitet die Potsdamer Festspielintendantin Dorothee Oberlinger die reiche Palette der Musik mit Drive und straffem Zugriff aus. Immer wieder setzt sie markante Akzente, ob mit festlichem Trompetengeschmetter und Paukenwirbel, einer graziösen Gavotte oder einem gravitätischen Marsch. Die Sopranistin Maria Ladurner hat als Animia reizende, auch kokette Arien, reich an Verzierungen, zu singen, was ihr beachtlich gelingt. Phänomenal im Koloraturfluss bewältigt sie ihr resolutes Solo „Fuggi da me“ im zweiten Teil. Die Stimme des Sopranisten Philipp Mathmann klingt fragil und kindlich, doch trumpft er in Anemones Arien in der oberen Lage mit stupender Wirkung auf. Virtuos wechselt er in der Arie „Sino al respiro estremo“ zwischen baritonaler Tiefe und der Extremhöhe. Auch in „La ragion gli affetti“ durchmisst er eine weite Skala, beginnend mit sanften tiefen Tönen und dann mit stratosphärischen staccati  . Spektakulär beginnt die Aufführung mit dem Auftritt des Buon Genio. Francesca Benitez singt ihre Gleichnisarie „Soffre talor del vento“ vom sanften, aber auch tobenden Meer mit dramatischem Aplomb, flexibler Stimmführung und bravouröser Bewältigung des Zierwerks. Der Buon Genio befreit seine von Höllengeistern gefesselte Tochter Negiorea, die von Alice Lackner mit klangvollem Alt gesungen wird. Mit dem pathetischen „Ti sembro austera“ und der Wutarie „Del tuo malvagio impegno“ fallen ihr zwei attraktive Nummern zu, welche sie mit kultiviertem Vortrag bzw. explosiver Attacke vorträgt. Gegenspieler ist der Cattivo Genio, den Florian Götz mit auftrumpfendem, resolutem Bass singt. Er befiehlt dem Amor Volubile und der Volusia, das junge Liebespaar zu verführen. Anemone kann deren Verlockungen nicht widerstehen und wird Animia untreu. Die Sopranistin Anna Herbst kann als Verführerin in vielfältigen Arien mit reicher Farbpalette glänzen. Als Amor Volubile (und verkleidet als Amor  Ragionevole) wartet der Tenor Simon Bode mit beherztem Vortrag und buffoneskem Beiklang auf. Die rundum ausgewogene Besetzung komplettiert Johanna Falkinger als Incosia, die mit der reizenden Schmetterlings-Arie „Della farfalla infida“ voller funkelnder staccati und lieblicher legati erfreut. Am Ende will Anemone seine Schuld mit dem Leben büßen, doch Animia verzeiht ihm. Ein Freudenchor besingt den Sieg über die Finsternis und den Triumph des Lichts. Bernd Hoppe

Ruth Hesse

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Mit Bedauern hörten wir vom Tode der Mezzosopranistin Ruth Hesse, Berliner und Wiener Operngängern immer noch ein Begriff. Nachstehend eine Würdigung unserer Kollegen von Isoldes Liebestod.

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Hesse, Ruth, Alt,  (18 September 1936 Wuppertal – 13 Juli 2024 Hallstatt/Österreich); sie erhielt ihre Ausbildung zuerst bei Peter Offermanns in Wuppertal, dann bei Hildegard Scharf in Hamburg, schließlich studierte sie in Mailand. sie debütierte 1958 am Stadttheater von Lübeck als Orpheus von Gluck und blieb an diesem Haus bis 1960. Seit 1960 gab sie regelmäßig Gastspiele an der Hamburger Staatsoper. 1960-62 war sie am Staatstheater Hannover engagiert. 1962 wurde sie an das Deutsche Opernhaus Berlin berufen, an dem sie eine große Karriere hatte, die sich bei vielen Gastspielen im In- und Ausland auch dort als erfolgreich erwies. Als hervorragende Wagner-Altistin sang sie viele Jahre hindurch bei den Bayreuther Festspielen, und zwar 1960-61 ein Blumenmädchen, 1960-61 und 1963-66 einen der Knappen, 1961 und 1963-64 das Altsolo im »Parsifal«, 1961 und 1966 die Roßweiße, 1963 die Schwertleite in der »Walküre«, 1963-64 die Magdalene in den »Meistersingern«, 1966 die Floßhilde im Nibelungenring, 1965 die Mary im »Fiegenden Holländer«, schließlich 1979 die Ortrud im »Lohengrin«. 1966 sehr erfolgreiche Gastspiele an der Wiener Staatsoper als Ortrud im »Lohengrin«, als Brangäne im »Tristan« und als Eboli in Verdis »Don Carlos«. 1966 hörte man sie in Paris als Carmen, 1967 an der Oper von Bordeaux, 1972 sang sie an der Pariser Grand Opéra in »Figaros Hochzeit« und in »Die Frau ohne Schatten« von R. Strauss, jedesmal mit großem Erfolg. Bei den Salzburger Festspielen hatte sie 1974-75 große Erfolge als Amme in der »Frau ohne Schatten«. Auch als Interpretin zeitgenössischer Musik wurde sie bekannt; so sang sie am 7.4.1965 in der Uraufführung der Oper »Der junge Lord« von Henze am Deutschen Opernhaus Berlin (und Judith in »Blaubart«, Gräfin von Helfenstein in »Mathis der Mahler«).

Ihr Engagement an der Deutschen Oper Berlin bestand bis 1995. 1965-88 trat sie regelmäßig an der Wiener Staatsoper (seit 1982 österreichische Kammersängerin) auf, wo sie 19 große Rollen zum Vortrag brachte, darunter die Ortrud im »Lohengrin«, die Herodias in »Salome« und die Amme in der »Frau ohne Schatten« von R. Strauss, die Fricka wie die Waltraute im Ring-Zyklus, die Kundry im »Parsifal«, die Preziosilla in Verdis »Macht des Schicksals«, die Azucena in »Trovatore«, die Amneris »Aida«, Carmen, Giulietta in »Hoffmanns Erzählungen« von Jacques Offenbach und die Küsterin in »Jenufa«. Sie gastierte an der Covent Garden Oper London (1969 als Amme in der »Frau ohne Schatten«, 1971 als Fricka, 1975-76 wieder als Amme), an der Oper von Lyon (1966 als Brangäne im »Tristan«, 1967 als Ortrud im »Lohengrin« und als Fricka), beim Holland Festival (1968 als Herodias in »Salome«, 1972 als Quickly im »Falstaff« von Verdi), am Teatro Colón Buenos Aires (1979 als Amme und Ortrud) und sang die Herodias 1975 in einer konzertanten »Salome«-Aufführung in der New Yorker Carnegie Hall. Weitere Gastspiele an der Königlichen Oper Stockholm, an den Opernhäusern von Marseille, Toulouse und Rio de Janeiro, am Théâtre de la Monnaie Brüssel, in Amsterdam, an der Oper von Rom (1971 als Fricka), in Turin, am Teatro Fenice Venedig (1971 als Jocasta in »Oedipus Rex« von Strawinsky), am Teatro alla Scala (9. Beethoven), in Mexico City (1970 als Fricka), Barcelona ( u.a. Klytaemnestra, Kundry, 1977 als Herodias), am Grand Théâtre Genf, am Bolshoi Theater (als Brangäne), in Washington (Herodias) und an der Chicago Opera. Beim Festival von Orange hörte man sie 1973 als Brangäne, 1974 als Herodias. In der Deutschen Oper Berlin hatte sie 1988 einen besonderen Erfolg als Klytämnestra in »Elektra« von R. Strauss. Die Berliner Kammersängerin war nicht zuletzt eine der bedeutendsten Konzert- und Oratorienaltistinnen innerhalb ihrer Generation in Deutschland, war aber auch im pädagogischen Bereich tätig. Prof. Ruth Hesse lebt mit ihrem Gatten, dem Regisseur und Ausstatter Prof. Siegwulf Turek seit Beendigung ihrer Karriere in Hallstatt (Österreich).

Die dunkel timbrierte, groß dimensionierte, zu intensiver Dramatik des Ausdrucks befähigte Stimme der Sängerin erscheint auf den Marken Electrola (»Meistersinger«, Querschnitt »Verkaufte Braut«), DGG (»Die Frau ohne Schatten« von R. Strauss, »Der junge Lord« von Henze), Concert Hall (Mozart-Requiem), Westminster (Fricka und Waltraute in vollständigem »Ring des Nibelungen«, Ortrud im »Lohengrin«), CBS (»Violanta« von Korngold), HRE (»Frau ohne Schatten« von R. Strauss).- Schallplatten auch auf Eurodisc und auf Philips (Floßhilde im »Rheingold«) sowie auf Rodolphe

Records (Mitschnitt »Tristan«). Golden Melodram (»Parsifal« von Richard Wagner – Bayreuther Festspiele unter Knappersbusch 1961, 1963 und 1964), Archiv Salzburger Festspiele (»Frau Ohne Schatten « von Richard Strauss) (Fotos im Text und oben: Ruth Hesse Portrait und als Amme/Strauss). Quelle Isoldes Liebetod

Hinreissend

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Der zugegebenermaßen hochverdiente Erfolg mit Rimski-Korsakovs Die Nacht vor Weihnachten oder aber die vorausgegangene positive Aufnahme des Werks selbst in Lyon, Erfurt und Amsterdam  waren vielleicht für die Frankfurter Oper ein Anlass dafür, sich wieder einer unbekannten russischen Oper zuzuwenden, nämlich Tchaikovskys Die Zauberin (der englische Titel ist mit The Enchantress korrekter, weil um Verzauberung geht),derer sich inzwischen Naxos mit der Herausgabe einer Bluray angenommen hat. Es geht um eine eigentlich im 15. Jahrhundert spielende Geschichte um eine junge, schöne Witwe, in deren Gasthof sich das Volk, insbesondere die Männer, amüsiert, der zauberische Kräfte nachgesagt werden und in die sich fast gleichzeitig der Fürst des Landes am Ufer der vielzitierten Oka, unerwidert, und sein Sohn, erwidert, verlieben. Die Gattin des Fürsten fordert ihren Sohn auf, die Kuma genannte Nastasya zu töten, dieser verliebt sich aber in die schöne Frau und will mit ihr fliehen, woraufhin seine Mutter sie vergiftet, was wieder den Fürsten dazu veranlasst, Frau und Sohn zu töten und selbst in Wahnsinn zu verfallen. Bei all dem spielt die Geistlichkeit eine wenig lobenswerte Rolle.

Regisseur Vasily Barkhatov lässt zwar einiges volkstümlich Russisches, so in Form einer riesigen Matroschka, zu, versetzt aber ansonsten die Geschichte in die postsowjetische Zeit, in der  bekanntlich die Geistlichkeit nach schlechter russischer Tradition auch keine positive Rolle spielt, und stellt der Galerie (?) Kumas mit einer Wolfsplastik als Symbol ihres freien, ungebändigten Lebens, die recht luxuriöse Wohnung des Fürsten gegenüber, in der Frau und Tochter sich körperoptimierenden Übungen hingeben. Hier taucht auch ein wunderschöner Schäferhund auf, der zur Ruhigstellung vom Fürsten  mit Unmengen von Leckerli gefüttert wird. Stehen die beiden Tierchen für naturnahes und von Zivilisation beeinträchtigtes Leben? Modernisierungen des Ambientes in Richtung Soap Opera gibt es auch, wenn anstelle der Quelle, an der Kuma rastet und vergiftet wird, ein mit Dosen (Red Bull?) bestückter Kühlschrank fungiert oder der Prinz ein aufstrebender Boxer mit schon vielen Pokalen auf der Wohnzimmervitrine ist.  Über allem schweben in wechselnder Farbgebung die Umrisse eines Häuschens. Der Vorhang geht auffallend häufig hoch und runter, und wenn er trotz erklingender Musik unten ist, scheint  einem diese noch blühender, noch eindringlicher, noch schicksalsträchtiger zu sein, als wenn das Auge zusätzlich beschäftigt ist. Das ist natürlich auch das Verdienst des Frankfurter Oper- und Museumsorchesters unter Valentin Uryupin, während das Leid des unterdrückten russischen Volkes eindrucksvoll vom Chor des Hauses (Leitung Tilman Michael) zu Gehört gebracht wird.

So unangefochten die schöne Nastasya das Zentrum des Operngeschehens ist, so unbezweifelbar ist auch ihre Verkörperung durch Asmik Grigorian der Glanzpunkt der Aufführung. Sie macht die Figur nicht nur optisch glaubwürdig, sondern hat auch das klare, leicht melancholische Timbre, die farbige, fast mezzoartige Mittellage und die unangefochtene, nie scharfe Höhe dafür. Claudia Mahnke stellt ihren bruchlos ebenmäßigen, warmen Mezzosopran für die betrogene Fürstin zur Verfügung, ihr It-Girl von Töchterchen ist rollendeckend Zanda Švede. Einen urgesunden, farbigen Bariton hat Iain MacNeil für den Fürsten Nikita (Vater), einen oft gequetscht klingenden Tenor Alexander Mikhailov für den Prinzen Yuri (Sohn). Aus dem Ensemble ragen vokal wie darstellerisch Frederic Jost als Mamirow und Kudma und Božidar Smiljanić als Ivan Zhuran heraus, aber das gesamte Ensemble als solches ist phänomenal in seinem unbedingten Einsatz für das Werk, das so unbekannt nicht weiter bleiben sollte. (Naxos NBD0180). Ingrid Wanja

Conradin Kreutzers „Taucher“

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Eine neue Oper von einem so scheinbar Bekannten/Unbekannten sollte doch eigentlich für Opernfreunde ein Grund zum Aufhorchen sein. Sollte eigentlich! Denn Conradin Kreutzer (* 22. November 1780 in der Thalmühle bei Meßkirch im Fürstentum Fürstenberg; † 14. Dezember 1849 in Riga, nicht zu verwechseln mit dem älteren Franzosen Rudolphe Kreutzer/* 16. November 1766 in Versailles; † 6. Januar 1831 in Genf), dessen Namen unsere Groß- und Urgroßeltern wie ein Haushaltswort ihr eigen nannten,  hat nicht nur seine heute einzig bekannte Oper Das Nachlager in Granada (nebst Ohrwurm für jeden antiken Bariton von Rang) geschrieben. Neben einigen Aufnahmen davon (mit und ohne Hermann Prey aber auch mit Jörn W. Wilsing) gibt es zudem einen Radiomitschnitt der Alpenhütte von 1965 aus Freiburg und einen privat gehandelten Mitschnitt seiner Oper Melusina aus Linz 2023,  aus Rastatt  gab´s im Radio 2021 Gesänge aus Goethes Faust mit vier Solisten zum Klavier, zudem Kammer- und einige Sinfonische Musik auf CD, was nicht gerade viel ist, bedenkt man Kreutzers ehemaligen Ruhm. Aber …

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Nun hat die Firma Carus die Vertonung von Schillers Ballade Der Taucher in der Fassung von 1813 in einer Aufnahme des SWR herausgegeben (Leitung: Frieder Bernius. Mitwirkende: Sarah Wegener, Philipp Mathmann/Countertenor, Johannes Hill, Pacal Zurek, Daniel Schmidt, Hofkapelle Stuttgart, Kammerchor Stuttgart, 1 CD 83536).

Das ist ein sehr gemischtes Glück, Tauchen in flachen Gewässern sozusagen, und lässt mich ratlos, schon weil die ursprüngliche Damen-Hosenrolle des Tauchers mit einem Counter (dem mit einer erstaunlichen Vita behafteten Philipp Mathmann) besetzt wird, was nicht nur unverständlich a-historisch, sondern (natürlich nur für mich allein) auch nicht wirklich erfreulich ist. Zumindest entlockt Frieder Bernius seinem Orchester schöne, historisch orientierte Klänge. Aber  reicht das? Zumal dies auf 64 Minuten reduzierte Singspiel fragwürdiger Provenienz auch im Ganzen nicht viel hermacht. Armer Kreutzer.

Dazu schreibt die Firma mutig: Frieder Bernius ist es ein großes Anliegen, vergessene Werke in den Archiven aufzustöbern und dem Publikum vorzustellen. Conradin Kreutzers zweiaktige Oper Der Taucher (frei nach Schiller) ist solch eine Rarität. Sie besticht durch wunderbar eingängige lyrische Melodik und farbenreiche, frühromantische Orchestrierung. Entstanden ist das Werk ursprünglich für eine Aufführung im Stuttgarter Hoftheater im Jahr 1813. Heute ist vor allem eine zweite Fassung bekannt, die Kreutzer für spätere Aufführungen in Wien erstellte. Erstmalig liegt nun eine Einspielung der ursprünglichen, originalen Fassung vor.

Wirklich? Counter? Im Stuttgarter Hoftheater 1813? 64 Minuten only? Und wo kann man die einsehen? Keine Quellenangabe! Wer hat die Partitur erstellt? Im Netz gibt´s nur die Wiener Fassung von 1824 und die von Bürde für Reichardt (1811). Im Programm zum gleichnamigen Konzert in Backnang 2023 (vom SWR mitgeschnitten und bei Sammlern vorliegend) wird immerhin von „Ausschnitten“ gesprochen. Der Beitext zur Carus-CD hält sich da sehr bedeckt: Wo ist da der Sinn einer ausführlichen Betrachtung über die Wiener Fassung 1824, wenn hier die „originale“ (?) von 1813 (in welcher Form auch immer) eingespielt wurde? Weiss man dazu nichts? Wer hat gesungen? Wann genau wurde das Operchen aufgeführt? Keine Quellen, keine Zeitungsberichte? In Stuttgart, damaliger Hauptstadt des Landes? Schlampig, sorry. Da ist man doch als Käufer recht mürrisch …

Aber da es sowenig von Kreutzer gibt, seufzten wir einmal durch und baten den Wiener Musikwissenschaftler Gerrit Waidelich (und die Firma Carus) uns seinen Einführungstext aus der 1-CD-Ausgabe über die spätere und hier nicht aufgenommene Wiener Fassung zu überlassen. Zumindest lernt man da was, wenn auch nicht das Gewünschte. G. H.

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Nun also Gerritt Weidelich: Conradin Kreutzer (1780–1849), der Sohn eines Mühlenpächters aus Meßkirch in Baden, war als einer der produktivsten deutschen Opernkomponisten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bekannt und beliebt. Nach Erfahrungen mit geistlichen Singspielen während seiner Schulzeit in Zwiefalten und Schussenried sowie mit Opernkompositionen während seiner Freiburger Studienzeit entschloss sich Kreutzer 1804 zu einem Wechsel nach Wien, wo er bis 1810 verblieb.

Conradin Kreutzer, Daguerrographie/Ipernity

Aufführungen von großen Opern in den dortigen Theatern, aus dem Umfeld Schikaneders, von Antonio Salieri, Luigi Cherubini und insbesondere auch von Beethovens Fidelio, begeisterten ihn derart, dass er neben seiner Tätigkeit als Musiker und über seine Kompositionsstudien bei Albrechtsberger hinaus Ambitionen entwickelte, nun auch selbst „große Opern“ komponieren zu wollen. In seinen Briefen an Freunde, Mäzene, Verleger und Mitarbeiter äußerte sich Kreutzer ständig über seine Aktivitäten. Hier wird sehr viel Wissenswertes mitgeteilt über konzeptionelle und ästhetische Erwägungen, über das Feilen an der Struktur seiner Werke, bis hin zu den komplizierten Vertriebswegen, damit seine Opern auf die Bühne gelangen konnten. Nach wenigen Jahren in Wien hatte er mehrere Opern fertiggestellt, und er konnte davon ausgehen, dass sie auch auf die Bühne gelangen würden, berichtete er doch 1808: „Dieses Jahr habe ich für das National-Theater eine heroische Oper geschrieben, die so eben einstudirt und längstens in 3 Wochen aufgeführt werden wird. Mir pocht jetzt schon das Herz, denn dieß ist wirklich in Wien ein gewagtes Werk. Seit ich hier bin haben schon mehr wie 10 Kompositeure gescheitert, selbst Beethoven hat mit seiner Oper nicht reüßirt, er hat über der schönen Instrumentirung den Sänger vergeßen und oft selbst der Instrumentirung den Instrumentisten.“

Bei der von ihm erwähnten eigenen Oper könnte es sich um die verschollene Frühfassung des Taucher handeln. Aber aufgrund der wirtschaftlich und politisch heiklen Situation dieser Jahre hatte er als freier Komponist ohne offiziellen Kapellmeisterposten keine Chance, eines seiner großen Werke wirklich auf die Bühne zu bringen.

„Der Taucher“/Illustration zur Schillerausgabe 1880/Wikipedia

Außerdem hatte Kreutzer in Joseph Weigl, einem seinem Naturell durchaus wesensverwandten Tonsetzer, wohl seinen stärksten Konkurrenten und zog es daher vor, sein Glück wieder anderenorts als ausübender Musiker zu versuchen. Seine Reisen führten ihn nach Belgien, in die Niederlande und nach Paris, wo er sogar Gaspare Spontini erstmals persönlich begegnete. Auf dem Rückweg erlangte er dann in Stuttgart die Position eines Hofkapellmeisters, die er vier Jahre lang bekleidete. Dort brachte er zwar mehrere eigene Opern erfolgreich auf die Bühne, musste aber das ganze Repertoire betreuen und die lokale Einrichtung von Opern italienischer und französischer Meister arrangieren, wobei er bei fremden Werken vielfach Rezitative oder die Orchestrierung ergänzte, so dass er sie in der „großen Form“ Spontinis Vestale oder anderen Vorbildern seiner Zeit anglich. Nach Auflösung seines Vertrags in Stuttgart und einem Engagement in Donaueschingen strebte er wieder nach Wien. Und seine Vorliebe für die Schiller-Ballade Der Taucher, die ihn schon um 1808/1809 in Wien und 1813 in Stuttgart zu Opern inspiriert hatte, ließ ihn dieses Sujet nochmals neu bearbeiten. Über sein neues Werk nach der großen Oper Libussa und dem spektakulären Monodram Cordelia für Wilhelmine Schröder(-Devrient) schrieb er an mehrere Verleger, seine Musik zum Taucher habe „sehr viel Gesang […] ich habe darin zwischen Weber und Roßini die Mittelstraße eingeschlagen!“ Diese Orientierung schien nach der umstrittenen Uraufführung von Webers Euryanthe und der Absage von Schuberts Fierrabras taktisch klug zu sein.

Ende 1823 berichtete Kreutzer: „Den Sommer über habe ich nun wieder eine neue große Oper, der Taucher, geschrieben […]  ich verspreche mir hievon noch größeren Succès – weil ich nun die Richtung des hiesigen musikalisch-theatralischen Geschmakes näher kennen lernte – dem ich zwar niemals auf Unkösten der hohen Kunst fröhnen werde, allein kleine Modificationen muß sich ein kluger Componist wohl gefallen lassen – Im ganzen ist hier doch noch immer, trotz den schrecklichsten Roßiniaden, sehr viel Liebhaberey für schön gedachte, warm und wahr empfundene Compositionen – nur fehlt es wie überall der deutschen Oper an bessern Sängern – mit den Sängerinnen – wenigstens mit 3 bin ich sehr gut zufrieden – das sind eine Mll: Sontag – Sopran – und Mlle. Unger, und Mad: Schütz 2 herrliche MezzoSoprane –“

Die hochbegabten, bald auch international erfolgreichen Sängerinnen inspirierten ihn dazu, die vokalen Ansprüche der Partien virtuos auszugestalten. Zugleich betonte er gegenüber den Liebhabern der „großen romantischen Oper“, sein neues Werk sei „durchaus in höherem pompeuserem Style geschrieben ist, und durchaus in Musick ohne Prosa –“ In der Wiener Theaterzeitung wurde dann gleich moniert, Kreutzer habe sich in dieser Hinsicht zu sehr an der Euryanthe orientiert, hier sei »Weber’s Manier besonders sichtbar. Wir glauben sogar, daß manche Musikstücke besser imponiren und aus der Masse hervortreten würden, wenn nicht das ganze Orchester in immerwährenden Figuren bewegt, in beständiger Anstrengung gehalten wäre.« Kreutzer wies diesen Vorwurf zurück, da er sein Werk verfasst habe, bevor er Webers Oper kennen habe können. Selbst wenn seine Orchesterbehandlung in der Regel als gewandt und originell eingestuft wurde, wenn auch gewiss nicht als so eigenwillig und brillant wie jene Webers, nahmen die Zeitgenossen wahr, dass es für Kreutzers Inspiration entscheidend war, stets in Melodien zu denken, wodurch er letztlich ähnlichen Idealen huldigte wie eine ganze Reihe zeitgenössischer Exponenten der italienischen oder auch französischen Oper dieser Zeit. In einer Besprechung über Kreutzer heißt es denn auch: „Seit je her ist bei Kreutzer der Gesang immerdar der Alles umschlingende Zaubergürtel, der eben sowohl in seinen reizenden Cantilenen als vielstimmigen Combinationen sich entfaltet, dann weiß er die Melodie des italienisches Styles mit französischer Eleganz und teutscher Kraft zu vereinen; sein Instrumentalspiel endlich ist feurig, brillant, voll Leben und höchst wirksam, ein Resultat erprobter Kenntnisse.“

„Der Taucher“, Ballade (1797) von Friedrich Schiller, Holzschnitt, 1876/Wikipedia

Kreutzer komponierte anfangs im Stil der Wiener Klassiker und Frühromantiker, aber er beschritt alle für ihn gangbaren Wege der Entwicklung einer differenzierten und effektvollen Instrumentation wie auch arios-rezitativischen Deklamation, und setzte sich erfolgreich dafür ein, zu beweisen, dass auch in der deutschen Oper neben dem motivisch-semantisch durchgestalteten Orchestersatz die Gesangsmelodie ihre Berechtigung hat.

Durch das Metier seines Vaters, eines Mühlenpächters, seit frühester Jugend vertraut mit dem Wasser als einem energetischen Element des Lebens an und für sich und dessen wirtschaftlichem Aspekt, hatte Kreutzer zeit seines Lebens eine ganz besondere Affinität zur Donau und dem Rhein, den Strömen seiner Heimatgegend. Dies thematisierte er immer wieder, und auch die großen Flüsse Elbe, Moldau und Düna (bei Riga) hat er kennengelernt. Über eine Wahrnehmung des Meeres oder auch großer Seen scheint er sich nicht näher geäußert zu haben, ob er jemals geschwommen oder gar getaucht ist, entzieht sich unserer Kenntnis. Friedrich Schillers Ballade Der Taucher schien für ihn und andere Musiker der Zeit jedoch ein sehr reizvolles Objekt zur Vertonung. Aber anders als Schubert ließ er sich weder in durchkomponierter noch melodramatischer Form auf Schillers Originaldichtung ein.

Wie Kreutzer an das Libretto des Breslauer Autors Samuel Gottlieb Bürde (1753–1831) geriet, ist nicht überliefert. Er dürfte es in handschriftlicher Form zur Kenntnis genommen haben, da es vor der Vertonung durch Kreutzer und dem in Berlin wirkenden Johann Friedrich Reichardt nicht im Druck erschienen ist. Bürde entwarf im Grunde eines der zahlreichen Opernbücher, die von Shakespeares letztem Drama Sturm (The Tempest, 1611) inspiriert waren und verknüpfte dieses mit Schillers Ballade, von der er jedoch fast nur ganz am Schluss jenes Moment heranzog, dass die Titelfigur ins Wasser springt. Ansonsten geht es, wie in den meisten Opern dieser Epoche, um Liebesdinge und Heiratssachen sowie um berechtigte und unangemessene Machtansprüche von Herrschern und Usurpatoren.

Conradin Kreutzer: Das Stuttgarter Hoftheater, Ort der Uraufführung seiner Oper „Der Taucher“1813/Wikipedia

Aber zurück zum Titel der Oper: Der Tatsache, dass beim Prozess des Tauchens durch den Sauerstoffmangel Halluzinationen entstehen können, trägt der Aspekt Rechnung, dass das Textbuch eine Fata Morgana und eine Feen-Erscheinung thematisiert. Luftspiegelungen kann es zwar nur beim zerstäubten Wasser – etwa bei dem Kreutzer aus heimatlichen Gefilden vertrauten Rheinfall bei Schaffhausen – geben und nicht in der Meerestiefe selbst, aber es ist ja keineswegs nötig, in romantischen Opernlibretti realistische Szenarien zu thematisieren. Beim ersten Anlauf Kreutzers, das Libretto zu vertonen, war es in seiner Eigenart und der expliziten Bezeichnung „romantisch“ noch vergleichsweise untypisch, während es später in der Zeit des Biedermeier zahllose „romantische“ und „pseudoromantische“ Handlungen auf den Bühnen gab.

Bürdes Libretto entsprechend, gab es in den ersten Versionen noch zwei später völlig ausgeschiedene Hauptrollen, nämlich eine Erzieherin (Alt) der Alphonsine und die explizit komische Rolle für einen Baßbuffo. An Stelle der umfangreichen Episoden und Ensembles mit diesen Charakteren wurde in die späteren Fassungen ein Nebenbuhler des Tauchers im Wettstreit um die Prinzessin eingeführt, der junge Antonio, Herzog von Calabrien, als anspruchsvolle Partie für einen Tenor, weshalb die ursprünglich alternativ vorgesehene Besetzung des hohen Mezzosoprans Ivo (eine sogenannte Hosenrolle) mit einer Tenorstimme verworfen wurde.

Das Wiener Kärntnertortheater, langjährige Wirkungsstätte Kreutzers als Dirigent, mit acht Uraufführungen zwischen 1810 und 1838/Wikipedia

Bei seinem dritten Versuch, das Süjet in Musik zu setzen, hatte Kreutzer an der Wiener Hofoper eine durchaus beachtliche Stellung inne. Die wesentlichen Verantwortlichen dieses Opernhauses waren zu der Zeit jedoch ein italienischer Impresario (Barbaja) bzw. ein französischer Tänzer (Duport). Man wartete von dieser Seite zunächst ab, ob sich deutschsprachige Werke rechnen oder gar etablieren konnten. Kreutzer standen die Sterne des Ensembles zur Verfügung, namentlich die später auch international äußerst erfolgreichen jungen Damen Henriette Sontag und Caroline Unger. Darüber hinaus trat Therese Elßler, Schwester der berühmten Tänzerin Fanny Elßler, in der Rolle der Fee in Erscheinung. Auch die männlichen Protagonisten waren umjubelte Darsteller aller markanten Rollen des Repertoires. Im Bereich der Szene setzte man auf höchsten Aufwand in der Ausstattung, auf optische Effekten, Ballett, Chor und Statisterie: Auf der vergleichsweise kleinen Bühne des Kärntnertortheaters traten ungefähr 60-80 Darsteller|innen in Erscheinung.

Theater in der Josephstadt, hier fanden 1834 –1837 acht Kreutzer-Uraufführungen statt/Wikipedia

1824 an der Hofoper und dann auch wieder 1834 im Theater in der Josefstadt setzten sich zahlreiche Journale mit Kreutzers Werk auseinander, und man verglich es mit anderen Opern seiner Zeit, in erster Linie mit jenen italienischer und französischer Provenienz, aber auch Webers Freischütz und der in Wien jüngst uraufgeführten Euryanthe: „Die ganze Composition zeugt von einem fleißigen, sehr lobenswerthen Studium der neuesten Erscheinungen, welches vielleicht auch durch öfteres Dirigiren dieser Werke veranlaßt wurde. Ein sehr lieblicher Fluß der Melodien bezeichnet die meisten Piecen dieser Oper, eine dankbare Führung der Singstimme, welche besonders die Tonlage der singenden Individuen schön berücksichtigt, ist an ihr sehr lobenswerth, und in dieser Hinsicht verdient sie vor manchem neuesten Werke den Vorzug. […]“

Als Kreutzer den Taucher Ende 1834 noch einmal herausbrachte an jenem damals als Opernhaus sehr erfolgreichen und mit der Hofoper konkurrierenden Vorstadttheater in der Josefstadt, hatte er sich dort bereits als Schöpfer des Nachtlager in Granada (nach einem Sujet des Freischütz-Librettisten Friedrich Kind) und mit der Schauspielmusik zu Ferdinand Raimunds Verschwender etabliert. Man brachte seinen neuen Bühnenwerken inzwischen große Wertschätzung entgegen, und das über viele Jahrzehnte (bis ins 20. Jahrhundert hinein) erfolgreiche Nachtlager begründete – neben seinen Chören und dem Liedschaffen – seine langjährige Beliebtheit. Gerritt Waidelich/Carus

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Noch einmal sehr herzlichen Dank an Gerritt Waidelich, dem renommierten Wiener Musikwissenschaftler und Spezialisten zur Musik des frühen 19. Jahrhunderts, für seinen Artikel und vor allem für die ausgiebige Erschließung der weiteren Quellen und des Bildmaterials! G. H.

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Hier ein paar Kritiken 1823/4: Conradin Kreutzer – Der Taucher/ Theaterzeitung (Wien), 29. Januar 1823, Nr. 13, S. 51ff./ K. Kärnthnerthortheater. Endlich wieder eine neue deutsche Oper, welche allgemein gefiel; dies ist die am 24. Jänner zum ersten Mahl gegebene Composition; sie heißt: »der Taucher,« romantische Oper in zwey Aufzügen, Musik von Hrn. C. Kreutzer, Kapellmeister des k. k. Hoftheaters nächst dem Kärnthnerthor.

„Der Taucher“, Ballade (1797) von Friedrich Schiller, Holzschnitt, 1876 veröffentlicht

Das Buch machte eine vortheilhafte Ausnahme von andern Opernbüchern. Es kommt in selbem ein schwermüthiger Herzog Lorenzo vor, welcher seinen Bruder vertrieb, und nun von Gewissensbissen verfolgt wird. Der vertriebene Bruder erscheint als Pilger, und dessen, vielleicht mitpilgernder Sohn, als Schützling der Fee Morgana. Diese zeigte ihm des Herzogs Lorenzo Tochter im Traume, und als sich diese im Walde auf der Jagd verirret, erkennet der junge Ivo sogleich sein geliebtes Traumbild in ihr. Die Prinzessinn findet an dem Vetter auch mehr Behagen als an dem ihr zugewiesenen Bräutigam, dem Herzoge von Calabrien. Selbst der Herzog Lorenzo findet sich von dem Jünglinge so angezogen, daß er ihn an seinen Hof mitnimmt. Als der Herzog Lorenzo seinen pilgernden Bruder sieht, wird zwar die Erinnerung an sein Benehmen gegen denselben wach, doch ohne daß er ihn eigentlich erkennet. Ein Traum aber bestimmt ihn, seinen goldenen Becher in der Charibde Schlund zu werfen, damit ihm mit demselben auch Gemüthsruhe und Versöhnung mit dem Bruder herauf geholet werde. Auf das Versprechen, die Tochter als Preis dem Kühnen zu geben, stürzt sich Ivo hinab, und bringt den Becher. Die Verbindung der Liebenden und die Versöhnung der Brüder ist der Lohn. Der Bräutigam war schon früher durch das Zureden der Braut aus dem erbitterten Gegner der Freund ihres Liebhabers geworden. Das Ganze endet nach Wunsch.

Die Musik ist angenehm, leicht, verständlich und heiter. Der geachtete Compositeur mahlet alle Situationen aus, ohne den Zuhörer zur besonderen Anstrengung zu nöthigen. Seine Instrumentation ist höchst effektvoll und die Musik erhielt vielen Beyfall. Hr. Kreutzer wurde nach jedem Akte gerufen. Unter den Tonstücken ist keines, welches lange Weile machte, mehrere gefielen besonders, wie ein Chor im ersten Akte, ein Duett, ein Terzett und das Finale desselben, sodann ein Duett und Terzett des zweyten Aktes so wie auch ein Chor desselben.

Bey den folgenden Darstellungen soll noch über mehrere Details dieser Oper gesprochen werden. Jetzt nur noch, daß die Aufführung sehr brav war. []

Die Ausstattung der Oper ist sehr angenehm; schöne Dekorationen, reitzende Tableaux zieren das Ganze. Nur die Charybdis gleichet einem Ringel-Spiel-Mechanism, oder einer horizontalen Windmühle. Solche Phänomene nachzuahmen, kann der Dekorateur nicht wagen, hier thut ein bescheidenes Versteck noch die beste Wirkung. Hoffentlich wird diese Oper viele Wiederholungen erleben.   M–r.

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Gedenktafel für Conradin Kreutzer in der Wiener Dorotheengasse 9/Wikipedia

Wiener Zeitschrift, 3. Februar 1824, Nr. 15, S. 123ff. Oper. [] Der Stoff, so wie er hier dramatisch behandelt, man darf wohl auch sagen, größten Theils erfunden worden, scheint die Einbildungskraft des Tonsetzers wenig angeregt, und noch weniger begeistert zu haben. [] Das Recitativ – denn die Handlung ist nur an einigen Stellen in Prosa dialogirt – hat den Vortheil einer verständigen, und den Vortrag oft sehr begünstigenden Declamation.

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Theaterzeitung (Wien), 10. Februar 1824, Nr. 18, S. 70f. Noch etwas über die Oper, »der Taucher.« Von einem geschätzten Kunstfreund eingesendet. Wir haben uns mit Beurtheilung der Musik des Herrn Conradin Kreuzer deshalb nicht übereilen wollen, weil bey den neuesten Erscheinungen im Gebiethe der deutschen Oper beynahe gewöhnlich der Fall eintritt, daß ohnerachtet des manchen Musikstücken gezollten Beyfalls, doch immer noch ein großer Theil des gebildeten Publikums eines andern Sinnes ist, und so manche Forderung, welche an ein neues Tonwerk gemacht werden könne, nicht darin erfüllt findet.

Wenn bey Weber’s »Euryanthe« der außerordentliche Kunstaufwand, der in mehreren Scenen bis zur Verschwendung getrieben und nicht selten dem genialen Fluße der Musik höchst nachtheilig ist, als ein Mangel der neuen Schöpfung erkannt, und dieselbe von vielen wahren Kennern dem »Freyschützen« deshalb nachgesetzt wurde, so tritt hier ein ganz anderer Fall ein. Weber zeigte in seiner Musik ein all zu sichtbares Streben nach Originalität, und daraus entstand wirklich eine gewisse düstre Farbe seiner Composition, eine gewisse Steifheit vieler Tonstücke, welche sich in seinem »Freyschützen« nicht vorfindet. Kreuzer hat überall eine liebliche Melodie anzubringen, und dieselbe noch obendrein stets mit einer recht blumigen Instrumentirung zu schmücken gesucht. Hierbey ist er aber oft in den Fehler gefallen, daß er nach einem fremden Muster gearbeitet und sich öfters selbst copirt hat.

Conradin Kreutzers Ruhestätte auf dem Friedhof in Riga (Die Gartenlaube, 1868)/Wikipedia

Ja wenn diese Oper ganz so in die Scene gegangen, und in den vielen Proben von der Hand eines geschickten Kenners nicht in vielen Theilen beschnitten worden wäre, so würden besonders mehrere Reminiscenzen aus der »Libussa« der Aufnahme geschadet, und vielleicht gar den ersten günstigen Eindruck vernichtet haben. Der Mangel an Originalität zeigt sich unverkennbar, und wird nur auf den ersten Moment durch die fleißige Arbeit des geschickten Compositeurs überdeckt. Sehr lieblich sind viele Melodien, sehr lebendig die Bewegungen, welche den Gesang im Orchester begleiten, aber die Töne, welche aus der Tiefe der Seele hervorklingen, sind darin nicht aufzufinden.

Weber’s »Euryanthe« ist in manchen Scenen allzudeutlich zum Grunde gelegt. In den instrumentirten Rezitationen aber ist Weber’s Manier besonders sichtbar. Wir glauben sogar, daß manche Musikstücke besser imponiren und aus der Masse hervortreten würden, wenn nicht das ganze Orchester in immerwährenden Figuren bewegt, in beständiger Anstrengung gehalten wäre. Das Thema eines Duetts, einer Arie würde weit besser hervortreten, wenn diese ewige Bewegung unterbrochen, und durch gehörige Ruhepunkte getrennt wäre. Ein immerwährendes Streben verbannt die Ruhe, welche doch bey jeder Bewegung erst die nöthige Steigerung möglich macht, ganz aus dem Werke.

Die Leistungen der Sänger sind vom Tonsetzer mit so viel Umsicht und Geschick behandelt, und der Gesang gewöhnlich sehr dankbar geführt. Als ein Vorzug muß ebenfalls angeführt werden, daß der Gesang gewöhnlich nicht so sehr in der Tiefe sich verliert als dieß oft bey Weber der Fall ist. Hr. Kreuzer hat die Individualität seiner Sänger sehr genau beachtet und dadurch die freundliche Mitwirkung derselben erzielt, ein Umstand, der seiner Musik viel genutzt hat.

Dem. Sonntag, welche darin sehr glänzend aufgeführt ist (sie gab die Alphonsine) trägt auch in der That sehr viel zum Gelingen dieses Werks bey, und man darf annehmen, daß es ohne ihre liebenswürdige Persönlichkeit seines größten Reitzes ermangelt hätte. Gleich ihr erster Auftritt in der Introduktion sichert ihr den Beyfall für den Abend. Sie singt so gefühlvoll, und zeigt in jeder Bewegung ihrer Stimme die gebildete treffliche Sängerinn. Im Duett mit Ivo (welcher von Dem. Unger gegeben wurde) herrscht eine anmuthige Frische der Melodie, und beyde Sängerinnen rivalisirten mit Glück im Vortrage dieses Tonstücks.

Gerade in diesem Musikstücke, wo Ivo Alphonsinen seinen Arm zum Schutze anträgt, ist auch Dem. Unger sehr glücklich in ihrer Leistung. Hr. Forti, der den König gibt, zeigte sich im ganzen Stücke äußerst brav, aber als ein höchst ausgezeichneter Sänger erschien er im Duett mit Lorenzo (Hr. Preisinger). Diese Scene besonders erinnert sehr an die »Euryanthe.« Hr. Preisinger stand sehr brav an der Seite des genannten Sängers. Er befriedigte ganz im Gesange und wenn auch sein Spiel weit hinter dem eines Vogel zurück blieb, so kann man doch ohne Unbilligkeit von einem so jungen Operisten nicht mehr Routine verlangen. Im Komischen übertrifft er unsre Erwartungen gewöhnlich. Seine Arie im ersten Akt hat einen recht natürlichen Melodienfluß und liegt gut für die Stimme. Er trug sie brav vor.

Hr. Haitzinger zeigte sich sehr vortheilhaft. Gleich seine erste Scene im ersten Akte gab seiner hellen, hohen Tenorstimme treffliche Gelegenheit hervorzutreten. Die Scene mit Chor im Anfang des zweyten Akts entwickelt noch mehr Kraft und wird von ihm brav executirt. Hr. Kreuzer hat mit kluger Vorsicht die tieferen Lagen ganz vermieden. In den Ensemblestücken trat der sonore Tenor dieses Sängers gut hervor. Doch gestehen wir, daß das Gefühl seinem Vortrage in solchem Grade mangelt, als es Hr. Jäger besitzt. Der Chor zeichnet sich im Vortrage des Fischerliedes aus durch Präcision und ein gutes Verhältniß im Forte und Piano. Der Jagdchor wollte nicht so recht ansprechen. Es fehlt ihm an Einfachheit und Originalität, das erste Finale hat einige kräftige Momente gegen das Ende, doch imponirt es zu wenig durch Größe des Styls.

Die Ouverture hat zu wenig entschiedenen Charakter. Als die Oper das vierte Mahl zu Hrn. Kreuzers Einnahme gegeben wurde, war das Haus wenig besucht. Parterre und Logen waren nur zur Hälfte besetzt.

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Gedenkmarke für Conradin Kreutzer für die Französische Zone Baden 1949/Wikipedia

Der Sammler (Wien), 12. Februar 1824, Nr. 19, S. 75f./ Notitzen. Schauspiele. (Hoftheater nächst dem Kärnthnerthor.)/ [] Um von der Musik eine vorläufige Übersicht zu geben, müssen wir sagen, daß Hr. Conradin Kreutzer durch dieselbe bewiesen hat, wie er die Fortschritte der neuesten Zeit geschickt zu benutzen, und zu verfolgen versteht. Weber und Rossini haben bedeutenden Einfluß auf seine Manier gehabt. Das eigentliche Recitativ, welches hauptsächlich in Webers »Euryanthe« in einen fortgesetzten, melodischen Fluß verwandelt, und beständig mit der ganzen Maße der Instrumentirung in Verbindung gesetzt ist, erscheint auch hier ganz in derselben Gestalt. Manches wird bey dieser Manier gewonnen, manches verloren. Verloren wurde die Deutlichkeit, Charakteristik und oft auch die Wahrheit. Gewonnen wird die Aufmerksamkeit des Publicums auf jeden einzelnen Moment, in welchem bald dieser, bald jener individuelle Reitz der Instrumentirung das Interesse fesselt. Die vier Waldhörner geben durch ihre gestopften Töne so manchen effectvollen Moment, und die neue Methode, welche ein immerwährendes Umstecken der Bogen für gar keinen Mißbrauch mehr hält, erhöht diese frappanten Momente bey unerwarteten Transitionen.

Die Clarinetten, Oboen, Fagots ec. nahmen auch ihren Antheil bey der fortgesetzten, nie unterbrochenen Mitwirkung des Orchesters. Die Sänger sind genöthigt, einer ununterbrochenen Cantilena ihre physische Kraft zu widmen, aber eben deßhalb treten die lyrischen oder dramatischen Momente der Oper, in denen die Musik in ihrer ganzen melodischen Kraft und Gewalt erscheinen, in denen also eine Arie, Duett oder Ensemblestück beginnen soll, etwas mehr in den Hintergrund, als bey der Oper, wie sie sonst war.

Wir haben es schon öfter erfahren, daß ohne Textbuch deßhalb der Inhalt der Opern etwas unverständlich wird. Daß bey manchen Textbüchern eine Oper dadurch gerade gewinnen kann, weil der Zuhörer gar nicht in den Stand kommt, das Ganze zu verstehen – dieß gehört auf eine andere Rechnung.

Was den Charakter der Kreutzer’schen Recitative sowohl, als der ausgeführten melodischen Tonstücke betrifft, so wird Niemand läugnen, daß er auf der von Rossini und Weber vorgezeichneten Bahn mit Vorliebe fortgegangen, nicht selten aber so fest in ihre Fußstapfen getreten ist, daß man seinen Gang für einen und denselben Schritt halten sollte. Nahmentlich die Euryanthe wäre bey mehreren Stellen zu citiren, ganz augenscheinlich aber in der Scene zwischen Alphonso und Lorenzo, vor dem zweyten Finale.

Sehr klug verfuhr der Tonsetzer, daß er seinen Tonstücken so viel melodischen Reitz als möglich zu geben bemüht war, und dieses Verdienst wird ihm jeder unpartheyische Kenner und Freund der Kunst zugestehen; doch wird auch Niemand läugnen, daß der schöpferische Genius, die originelle, hohe Kraft, vor welcher die Mit- und Nachwelt freudig staunt, daraus gar nicht hervor leuchtet.

Die ganze Composition zeugt von einem fleißigen, sehr lobenswerthen Studium der neuesten Erscheinungen, welches vielleicht auch durch öfteres Dirigiren dieser Werke veranlaßt wurde. Ein sehr lieblicher Fluß der Melodien bezeichnet die meisten Piecen dieser Oper, eine dankbare Führung der Singstimme, welche besonders die Tonlage der singenden Individuen schön berücksichtigt, ist an ihr sehr lobenswerth, und in dieser Hinsicht verdient sie vor manchem neuesten Werke den Vorzug.

In Betreff der Instrumentirung, wie wir sie jetzt am ganzen Werke betrachten, ist das Verfahren des Hrn. Kreutzer eben so lobenswerth, denn er hat die Virtuosität der meisten Mitglieder, nicht selten in Anspruch genommen.

Sein Violinen-Orchester steht beynahe stets in dem Verhältnisse eines verzierten Contrapuncts gegen die Singstimmen, ja man kann dreist sagen, daß es beynahe zu oft in einer laufenden oder trippelnden Bewegung erscheint.

Hieraus wird einiger Maßen der Mangel erklärbar, den ein großer Theil des Publicums aufrichtig empfand, wenn er hohe Einfachheit, Würde und originelle Kraft vermißte.

Was die Charakteristik der einzelnen Rollen betrifft, so läßt sich nach dem Gesagten eigentlich der Schluß schon von selbst machen. Der individuelle Reitz hebt die ideale Schönheit schon von selbst auf. []

Conradin Kreutzers Ruhestätte auf dem Friedhof in Riga zum 175. Geburtstag/Wikipedia

Der Jägerchor ist wohl unter den Chören einer der schwächsten. Die Solostimmen arbeiten viel hinein, dann sind die Modulationen auch etwas zu gesucht für eine Musik, welche durch Klarheit und Charakteristik imponiren, nicht aber durch Virtuosität der Solosänger reitzen soll.

Im Allgemeinen ist der zweyte Act besser gehalten und reicher an musikalischer Kraft. Hierunter sind aber auch die Scenen verstanden, welche wir schon als der Euryanthe Webers entlehnt, bezeichnet haben.

Die Vorzüge, die wir an diesem Werke gerühmt, und worunter wir besonders die Lieblichkeit der Melodie bezeichnet haben, errangen ihm vorzüglich dadurch das Glück des Beyfalls. Hr. Kreutzer wurde zweymahl hervorgerufen, und der Beyfall erhielt sich auch in den nächsten Vorstellungen. (Gerritt Waidelich)

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Abbildung oben: Ausschnitt/“Der Taucher“/Illustration zu Schillers Ballade von Ary Schaeffer (1795 – 1858)/Aquarell/Artnet/ Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie Die vergessene Oper finden Sie  hier

Rossini in Wien

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Viel zu verdanken hat der italienische Opernkomponist Gioacchino Rossini dem unermüdlichen Schweizer Opernforscher Reto Müller, (operalounge-Lesern wegen seiner Veröffentlichungen im Umfeld eben dieses Komponisten kein Unbekannter), der nun auch für die Herausgabe des zwölften Bandes der Schriftenreihe der Deutschen Rossini Gesellschaft und zwar des Tagungsbands mit dem Titel Rossini in Wien verantwortlich zeichnet. Die Tagung fand 2022, genau zweihundert Jahre nach dem Gastspiel Rossinis und seiner aus Neapel stammenden Operntruppe, die auch die ihm frisch angetraute Sängerin Isabella Colbran umfasste, in Wien statt, und das Buch beleuchtet das Ereignis in überaus vielseitiger, mehr oder weniger erhellender Art.

Abgedruckt sind das Programm der Tagung und das eines im Zusammenhang mit derselben stattgefunden habenden Konzerts mit Mitgliedern der Opernklasse  des mdw. Es schließt sich ein Vorwort des Vorsitzenden der Rossini Gesellschaft, Jakob Lehmann, an, das dem Leser wohl das erste zustimmende Nicken abnötigt, denn auch er wird sich wie der Verfasser fragen, warum Wien, nicht aber Bologna, Pesaro, Neapel oder Paris zum Gegenstand der Tagung wurde. Immerhin gibt es gewichtige Gründe für die Wahl Wiens, das als Ort der Vermittlung zwischen Nord und Süd gelten kann und wo Rossini während des monatelangen Aufenthalts bedeutende Erfolge erzielte. Es folgt unter dem Titel Vorbemerkungen ein Bericht Reto Müllers über die durch Corona erschwerten Vorbereitungen der Tagung, die Gewinnung von 24 Referenten und die die Lektüre erleichternde Übersetzung der fremdsprachlichen Beiträge ins Deutsche.

Jeder Leser des umfangreichen, immerhin fünfhundert Seiten umfassenden Bandes wird den Schwerpunkt seines Interesses bei unterschiedlichen Artikeln finden, die eng am Thema Rossini und Wien verharrenden bevorzugen oder ihen ausweichen, dem weit ausschweifenden, das Thema verlassenden etwas abgewinnen oder ihn als unpassend empfinden, so dass auch eine Beurteilung des Gesamtbandes schwer und nicht einheitlich ausfallen kann.

Viel Gewinn und neue Erkenntnisse ziehen kann der Leser sicherlich aus dem Beitrag Reto Müllers, der sich mit der eng begrenzenden Frage befasst, ob es eine Begegnung zwischen Rossini und Beethoven im Jahre 1822 gegeben hat. Der Beitrag ist spannend wie ein Krimi und gewissenhaft abwägend wie eine wissenschaftliche Abhandlung, konfrontiert den Leser mit einer Fülle von Quellen, die kritisch beäugt  und nicht ohne Humor dargestellt werden, so die Aussagen des wortreichen Edmond Michotte, der Rossini Jahrzehnte mach dessen Wienaufenthalt befragte.

Eine Art Gegenpol zu diesem so sachlichen wie unterhaltsamen und humorvollen Beitrag bietet Anke Chartons Die Italienerin in Wien: Performativität und verkörperte Vokalität im Rossini-Gesang, in dem gendernd über „gegenderte Darstellung“ geschrieben, über „Gruppenhierarchie nach Fachprinzip“ referiert  und zur Schlussfolgerung gekommen wird, dass Rossinigesang lesbar sei als „gegenderte, verkörperte Vokalität“.  Da kehrt man gern zurück zu sich tatsächlich an Wien und 1822 haltende Beiträge wie Melanie UnseldsSuper Coupleoder „Compositeur, sammt Gattin“, wo sich an Quellen gehalten wird, wie in Martina Gremplers Beitrag über den Übersetzer Grünbaum, wagt gern auch einen Blick ins von Rossini verlassene Neapel in Paolo Fabbris und Maria Chiara Bertiers Aufsatz.

Beachtenswert ist auch Ilaria Naricis Einsicht, dass Rossini durch seinen Erfolg in Wien den endgültigen Durchbruch als europäischer Komponist vollzog, sind die Erkenntnisse über das Wirken von Impresarii wie Domenico Barbaja, das Auf und Ab, was die Aufführungszahlen von Rossiniopern in Wien betrifft, denn nach dem Rossini-Fieber setzte eine schlimme Vernachlässigung ein, ehe durch Pesaro und Alberto Zedda eine Wiederentdeckung stattfand.

Marco Beghellis Beitrag über den Tenor Giovani David kann man entnehmen, welche Anforderungen die Musik Rossinis an die menschliche Stimme stellte und wie der gefeierte Sänger diese erfüllte, ob Falsett oder nicht zum Rossinigesang gehört, wer nun eigentlich als Erster von ihm Abschied nahm. Das geht zwar über das Tagungsthema hinaus, erfreut aber durch die „Praxisnähe“ zum Singen.

Gewinn ziehen kann der Leser auch aus dem Vergleich der beiden Fassungen von Elisabetta, regina di Inghilterra, die eine für Neapel, die andere für Wien bestimmt. Vincenzo Borghetti ist der Autor. Verzichtbar, wenn auch amüsant ist Guido Johannes Joergs Beitrag über Kanone und Kanon trotz der niedlichen Kanönchen im Text, müßig ist es, sich zu fragen, warum Rossini als Opernkomponist erfolgreicher war als Schubert. Auch das Verlagswesen wird kontaktiert von Fabian Kolb, wenig Berührungspunkte gibt es zwischen Raimund und Rossini (Bernd-Rüdiger Kern), und dem Vermarkten auch von Rossini-Ouvertüren für den Gebrauch beim Musizieren zu Hause wird Rechnung getragen (Simone Di Crescenzo).  Joachim Veit hingegen widmet sich dem Vergleich mit Weber in Wien 1822/23 und das Verhältnis von deutschem und italienischem Ensemble der Hofoper.

Der Band bietet ein überaus breites Spektrum von vielen mehr oder einigen weninger das Thema berücksichtigenden Beiträgen, die stilistisch ebenso breit gefächert erscheinen und ein vielfarbiges Bild des Schwans von Pesaro und des Wiener Opernlebens malen.

Ein umfangreicher kritischer Apparat  und ein Anhang, bestehend aus Personenregister, Werkregister und Sachregister vervollständigen das Buch (Rossini in Wien/ Tagungsband/ Herausgegeben von Reto Müller/ Leipziger Universitätsverlag 2024/ 500 Seiten / ISBN 978 3 96023 576 7/ 10. Juni 2024 ). Ingrid Wanja 

Joachim Raffs „Samson“

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Das Alte Testament ist nichts für schwache Nerven: da werden zerteilte Jungfrauen per Kurier verschickt, junge Männer im vermeintlich heiligen Krieg geopfert und hin und wieder ganze Völker eliminiert. Die Episode um den Israeliten Samson bildet in Sachen Mord und Totschlag keine Ausnahme. Samson hat sich in Delilah verliebt, eine Frau aus dem Lager seiner Widersacher – eine eher ungünstige Fügung, die ihn seine Frisur, sein Augenlicht und später alle Beteiligten das Leben kosten wird.

In den 1850er Jahren griff der Komponist Joachim Raff das Thema auf und machte daraus eine Oper mit dem Titel Samson. Anders als der spätere Camille Saint-Saëns schrieb er auch das Libretto. Wenn Raffs Samson auch mindestens so blutig ist wie die Passage aus dem Buch der Richter, so ist sein Samson doch reicher an zahlreichen Szenen mit tiefem und innigem Gefühlsausdruck – weniger ein religiöser Akt (übrigens in dieser Fassung ohne den Mythos des Haarschnitts), mehr ein menschliches Drama. Sieben Jahre lang hat Raff an seinem Samson gearbeitet. Entstanden ist eine groß angelegte Komposition mit abwechslungsreicher Orchestrierung, feiner Linienführung, einigen beeindruckenden Massenszenen und einer immer wieder spürbaren Affinität zum Musikdrama à la Richard Wagner. Trotz der unbestreitbaren Anziehungskraft des Werkes verzögerte sich die Uraufführung: 2022 wurde sie am Nationaltheater in Weimar uraufgeführt.

Das ausführliche Libretto der Ersteinspielung der Oper liefert eine Erklärung für diese verspätete Premiere. Übrigens enthält es auch das Libretto in drei Sprachen – sehr schön! Henrike Leissner

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Selten oder nie gespielte Opern haben ja für Opernfreunde stets ihren Reiz, zumal wenn sie vom Plot her Parallelen aufweisen: Es ist stets spannend zu sehen, wie das die Kollegen gemacht haben. Aber das Bessere ist eben auch leider der Feind des Guten oder des Soliden. Und es gibt da ja auch die Frage, warum ein Werk keinen Erfolg hatte oder warum es nicht zur Aufführung kam. Nicht alle Ausgrabungen lohnen sich, zumindest nicht für einen laufenden Theaterbetrieb, eher für Festivals. Oder die CD, wie nun hier.

In den 1850er Jahren beschäftigte sich der Komponist mit dem Thema des biblischen Samson, bei dem ich als Zuhörer weniger der Verführung sondern eher der Langeweile erliege, denn die neue Aufnahme bei der Schweizer Fonogramm – so verdienstvoll sie sicher ist – kann in keiner Weise mit Saint-Saens´ Bauchtanz-Oper mithalten (diese noch im Titel durch die Dame selbst erweitert). Bei Raff liegt sicher der Akzent auf dem allzumenschlichen Gefühl, auf alemannischer Befindlichkeit, wenngleich es da auch um Mord und Todschlag geht. Und natürlich ist Raff der Komponist des Kraftvollen ebenso wie des Zarten, der intimen Szenen ebenso wie der monumentalen kriegerischen Auseinandersetzungen (wie soll man das inszenieren?), aber im schweizerischen Bern verbleibt alles eher im Händelschen Oratorien-Fahrwasser, bleibt unüberzeugend, akademisch, papiern. Und eben im Gesamteindruck langweilig.

Dem arbeitet die neue Aufnahme nicht entgegen. Sicher, Philippe Bach am Pult des Berner Symphonieorchester, dem Chor der Bühnen Bern (toll!) und der Protagonisten macht einen wirklich guten Job und versucht uns von der Klangfülle der Komposition zu überzeugen – aber da ist mir zu wenig musikalisches Backing, zu wenig Rückhalt für die Protagonisten, die doch angeblich in elementaren Situationen aufeinandertreffen.

Und eben diese sind das Defizit der Aufnahme, denn einen so stentoralen Samson hat man seit Jon Vickers nicht mehr erlebt (und seiner kam aus Frankreich): Magnus Virgilius und Michael Weinius als Samson und Micha lassen mich jede Minute zum Lautstärkeregler greifen, um einer Kündigung meiner Wohnung vorzubeugen. Das ist einfach zu forciert, zu sehr unter Druck, zu unschön im Ton, Altes Testament oder nicht. Und es wird in der Dynamik schlicht zu monochrom. Auch Bariton Robin Adams als Abimelech muss sich den Vorwurf einer recht grauen, unscharfen Stimmführung gefallen lassen (meine Meinung sag ich mal gleich prophylaktisch). Das ist alles nicht spannend, nicht ereignisreich.

Der Dirigent Philippe Bach/ Wikipedia

Die Dame selbst, Olena Tokar, verwechselt Sinnlichkeit mit Kraft. Jeder Samson würde aus seiner Trance erwachen und ihr die Schere aus der Hand schlagen. Das ist mir zu viel Vibrato, zu robust der Ton, wenngleich sie von den Dreien zumindest um Zärtlichkeit und bewegende Momente bemüht ist. Auch ihr Schluss macht was her, in der Tat, selbst wenn man bei den hohen Noten etwas in Deckung geht.

Die übrigen sind funktional im großen Ganzen, das mich ab CD2 mehrere Teepausen einlegen ließ. Bei aller Wertschätzung der ganz sicher kostspieligen, mit Schweiß und Ausdauer verbundenen Bemühungen diese seltene Oper eines wenig bekannten Komponisten ans Tageslicht zu bringen und eben diesem Komponisten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: Mehr als akademisches Interesse kann ich der neuen Aufnahme nicht entgegenbringen. Pardon. Stefan Lauter

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Dazu auch ein Text zum Komponisten und Werk von Severin Kolb, Leiter des Joachim-Raff-Archivs, anlässlich der Uraufführung in Weimar 2022: Mit der Uraufführung des Lohengrin unter dem Taktstock von Franz Liszt am 28. August 1850 im Weimarer Hoftheater begann der Siegeszug der Wagnerschen Bühnenwerke im deutsch-sprachigen Raum und bald auch darüber hinaus. Der Komponist des bahnbrechenden Werkes war zum Zeitpunkt der Entstehung jedoch schon einige Schritte weiter: In seinen theoretischen Schriften, die der Exilant von seinem neuen Wohnort Zürich aus in die Welt entließ, entwirft er das «Musikdrama», das sich kategorisch von der zu überwindenden, kommerziellen Oper unterscheiden soll. «Wie hast du’s mit Wagner?» wurde bald zur musikästhetischen Gretchenfrage der Zeit. Zu den gründlichsten Kennern von Wagners Werk und Theorie in dieser Sattelzeit der Geschichte des Musiktheaters gehört der damals knapp 30-jährige Lehrer und autodidaktische Komponist Joachim Raff, der von 1850 bis 1856 in Weimar als Assistent von Franz Liszt wirkte. Ermuntert durch den Erfolg der Weimarer Uraufführung seiner grossen historischen Oper König Alfred am 9. März 1851 machte sich Raff sogleich an sein zweites Bühnenwerk, Samson. In einem Brief an seine Stuttgarter Freundin Kunigunde Heinrich charakterisiert Raff das Werk folgendermassen: «Was nun meine neue dramatische Arbeit anlangt, so verlasse ich darin den Boden der Oper, auf dem der ‹König Alfred› noch steht, gänzlich, und stelle mich aufs Gebiet des von Wagner angebahnten Musikdrama’s; auf welchem ich übrigens in einer von jenem Componisten und Dichter verschiedenen Weise zu arbeiten gedenke oder vielmehr im Begriffe bin.»

Der Autor: Severin Kolb, MA und Leiter der schweizerischen Joachim Raff-Gesellschaft/ Facebook

Raff zeigt sich in seinem Schaffen als Komponist, der stets versucht, die Positionen seiner Vorgänger zu einer Synthese zu amalgamieren. So ist auch Samson ein Versuch, Wagners Schaffen mit der Grand Opéra, insbesondere mit Giacomo Meyerbeers überaus erfolgreichen Werken, zu versöhnen, wie schon auf den ersten Blick auf die Einteilung des Werks in drei Abteilungen und die fünf Akte der französischen Tragödie sichtbar wird. Bei der Lektüre von Raffs parallel zum Samson entstandener Schrift Die Wagnerfrage, der ersten Wagner-Monographie überhaupt, kristallisiert sich heraus, in welchen Belangen Raff an Wagners Theorie und an Lohengrin (in Ermangelung an bereits existenten Musikdramen) anknüpfte, und in welchen er andere Wege ging.

Die Musik soll auch für Raff im Dienst des Dramas stehen, dessen Sujet er zwar der Bibel entnimmt, aber realistisch wie einen säkularen historischen Stoff behandelt: Parallel zur Ent-stehung des Werks wollte sich Raff mit einer Doktorarbeit über den Samson-Stoff an der Universität Jena «in der Gelehrtenwelt hinlänglich accreditieren». Der Plan scheiterte. Doch die Arbeit war nicht vergebens, denn Raff legte höchsten Wert auf eine historisch fundierte, re-alistische und enorm detailgetreue Umsetzung von Bühnenbild und Kostümen. Die Gestaltung des Titelhelden ist zeittypisch: Samson erscheint in Raffs eigenhändig verfasstem Libretto wie Wagners Rienzi oder Raoul de Nangis aus Meyerbeers Les Huguenots als Spielball des Schicksals, nicht als dessen Schmied. Zwischen den einzelnen Akten vergeht einige Zeit, so dass die Anlage des Werks Züge eines Stationendramas trägt, zumal Raff mehrfach an die biblische Passionsgeschichte anspielt.

Joachim Raffs „Samson“ in Weimar 2022/ Szene/ Foto Candy Welz

Wie in der Grand Opéra üblich (auch Wagner geht im Lohengrin keine anderen Wege), kombiniert Raff eindrückliche Massenszenen und eine intime Privathandlung, die an den widrigen Umständen letzten Endes scheitert und zum Untergang der beiden Hauptprotagonisten führt. Der dramatischen Anlage des Werks entsprechend stehen sich in der Partitur grossbesetzte Szenen (sowohl der erste Akt mit dem eingängigen Bittgesang der Philister im Zentrum oder der finale Akt mit dem umfangreichen Ballett, das ebenfalls auf die Grand Opéra verweist, sind gross angelegte Massenszenen) und psychologisch subtil gestaltete Solonummern und Duette gegenüber. In Bezug auf die Dramaturgie folgt Raff Wagners Forderung zur Auflösung von Einzelnummern in ein größeres Gefüge, ohne jedoch selbst die Unterschiede zwischen Rezitativ und Arie zu nivellieren. Die arienartigen Gebilde sind zumeist kurz, verzichten auf viel Textwiederholung und bieten wenig Gelegenheit zur Demonstration von vokaler Virtuosität – obwohl die Partitur hohe Ansprüche an die Interpretierenden stellt. Wäh-rend sich die beiden Soloszenen von Abimelech (2. Akt) und Samson (3. Akt) an der traditionellen, aus zwei kontrastierenden Teilen bestehenden Scena orientieren, lösen sich die Duette in kleingliedrigere Einzelteile auf. In dieser Hinsicht ragt das Duett des 4. Akts hervor, der Kerkerszene mit der Wiederbegegnung von Samson und Delilah, in der die Liebenden im-mer wieder neue Affekte durchleben. Raffs Tonsprache verbleibt trotz immer wieder kühnen Modulationen, chromatischen Einfärbungen und Ausflügen in ferne tonartliche Regionen weitgehend diatonisch. Er gliedert die Vertonung seiner Verse zudem weitgehend in jene quadratische syntaktische Taktgruppen, die Wagner in seinen Musikdramen auf der Suche nach der «endlosen Melodie» immer mehr aufsprengt. Dies hängt nicht zuletzt mit dem auf traditionelle Weise gereimten Libretto zusammen: Raff schätzte Wagners Dichtung des Lohengrin, verwarf aber dessen vor allem in Oper und Drama angebahnte Emanzipierung des Stabreims, der den Ring des Nibelungen prägt.

Zu Raffs „Samson“: Franz Liszt am Klavier in Weimar/ Postkarte/ Weimar-Lese

Raff nutzt die Möglichkeiten des Komponierens für Orchester auf der Höhe der Zeit: Mehrere Leitmotive setzt er auf subtile Art und Weise ein, jedoch nicht annähernd in dem Ausmaß wie Wagner im Ring des Nibelungen: (Samson-Herausgeber Volker Tosta schreibt dazu: Raff verwendet das gleiche Orchester wie Wagner im „Lohengrin“, also die Kräfte, die er am Hoftheater Weimar erwarten konnte. Er verwendet damit im „Samson“ die größte Orchesterbesetzung aller seiner Werke. Mehr noch als Wagner setzt Raff aber auf ein kammermusikalisches Klangbild mit zahlreichen Instrumentalsoli. Ein volles Orchestertutti und entsprechende Lärmentfaltung ist äußerst selten.) Während das Samson-Motiv, das vielleicht nicht zufällig dem «Siegfried/Schwert»-Motiv gleicht, die Präsenz des Helden sogar noch dann andeuten kann, wenn sich dieser gar nicht auf der Bühne befindet, wird der zweite Akt durch ein ahnungsvolles Motiv geprägt, das mit Abimelechs Intrige verknüpft ist – in der Verwendung nicht unähnlich wie das «Frageverbot»-Motiv aus Lohengrin. Ausgedehnte instrumentale Passagen – zu einem Vorspiel existiert bloß eine Skizze – verwendet Raff in erster Linie, um Szenerien zu charakterisieren, so das mit «Ländliches» überschriebene pastorale Vorspiel zu dritten Akt oder das die Kerkerszene einleitende düstere Fugato des vierten Akts. Ersteres er-scheint im vierten Akt als Erinnerungsmotiv. Steht die Instrumentalmusik der ersten vier Akte weitgehend im Dienst des Dramas, so zeigt sich Raff im die Handlung retardierenden Ballett auch als geschickter Komponist von geschlossenen Marsch- und Tanzformen. In den meisten Szenen dient das Orchester zur traditionellen Begleitung oder der Charakterisierung der Stimmung, doch in Samsons Arie des dritten Akts erweist es sich besonders deutlich als «wissendes Orchester», das durch Molleintrübungen auf Samsons Selbsttäuschung hinweist und dessen Aussagen unterminiert. Da Raff schon als feinsinniger Instrumentator gelobt wurde, ehe er überhaupt die Gelegenheit hatte, eigene Orchesterwerke zu hören, so überrascht es nicht, dass auch Samson zahlreiche faszinierende Einfälle enthält.

Zu Raffs „Samson“: Wagners Tristan, Ludwig Schnorr von Carolsfeld/ hier mit Ehefrau Malwina als Isolde auf einem Foto von Albert, sollte die Titelpartie singen/ Wikipedia

Zwar zeigten sich so eminente Persönlichkeiten wie Franz Liszt, Hans von Bülow und, der erste Sänger von Wagners Tristan, von dem Stück begeistert. Zu einer Aufführung kam es bis heute jedoch nicht. Scheiterte eine Produktion in Darmstadt an «Delilahmangel», so lag es in Weimar zunächst an Engpässen in der Spielplangestaltung. Wegen der sabotierten Aufführung der von Liszt protegierten Oper Der Barbier von Bagdad von Peter Cornelius legte dieser sein Amt als Kapellmeister im Dezember 1858 nieder und begrub dadurch die Hoffnung, den Samson in Weimar zur Aufführung zu bringen, auf längere Zeit. In den frühen 1860er Jahren versprach Raff seinen Freunden Hans von Bülow und Lud-wig Schnorr von Carolsfeld, das Werk wieder in Angriff zu nehmen. Nach Schnorrs unerwartetem Tod im Alter von bloß 29 Jahren gab Raff das Werk 1865 erneut auf. Albert Schäfer, der im Jahre 1888 das erste Verzeichnis der Werke Raffs herausgab, berichtet jedoch, dass der Komponist in seinem Todesjahr noch mehrfach davon gesprochen habe, den Samson zu überarbeiten, um ihn endlich aufgeführt zu sehen. Nach Raffs Tod geriet das Werk, das so früh wie kaum ein zweites auf das im Entstehen begriffene Musikdrama Wagners reagierte, weitgehend in Vergessenheit (…). Severin Kolb, Leiter des Joachim-Raff-Archivs, gab uns 2022 seinen Text anlässlich der Uraufführung der Oper am Nationaltheater Weimar. Mit herzlichem Dank an den Autor.

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Und der Herausgeber der musikalischen Edition des Samson, Volker Tosta, schreibt dazu: Es kommt fast einem Wunder gleich, wenn ein Herausgeber/Verleger es einmal schafft, ein Theater für ein vergessenes Werk zu begeistern. Normalerweise ist man dort gerne autark, auch wenn es darum geht Randrepertoire zu erkunden. Im Falle des Musikdramas in fünf Aufzügen Samson von Joachim Raff (1822-1882) mag geholfen haben, dass der Komponist in diesem Jahr 200 Jahre alt wurde, aber der Enthusiasmus, mit dem die Verantwortlichen des Deutschen Nationaltheaters Weimar den schon 2019 zum ersten Mal herausgegebenen Klavierauszug des Stücks begrüßten, war doch sehr bemerkenswert.

Joachim Raffs „Samson“ in Weimar 2022/ Szene/Foto Candy Welz

Die hohe Meinung von dem Werk, die sich jetzt bei den Proben unter den Beteiligten noch gesteigert hat, lässt die Überzeugung wachsen, dass sich der Funke bei der Premiere am 11. September 2022 auch auf das Publikum in Weimar überträgt. Es ist vielleicht DIE Ausgrabung der vergangenen Jahre. Schon Hans von Bülow, enger Freund Joachim Raffs, schrieb diesem: „Lass den ‚Samson‘ nicht liegen! Dass der einschlägt, ist mir sicher.“ Aber Raff ließ den 1851 begonnen und 1857 fertiggestellten „Samson“ tatsächlich liegen. Da halfen auch die flehentlichen Bitten Ludwig Schnorr von Carolsfeld (dem ersten Tristan) nichts, der das Werk in Dresden herausbringen wollte. Über die Gründe kann nur spekuliert werden. Vermutlich war Raff, der im Parteienstreit zwischen Neudeutschen und Traditionalisten eine neutrale Position einnehmen wollte, dieses Werk doch zu nahe an Wagner, zu modern geraten.

Volker Tosta, Herausgeber der Edition Nordstern/ Link

Das DNT schreibt im Flyer zu Produktion: „Die Musik Raffs erinnert an Wagner, ist jedoch kühner in der Harmonik und klassizistischer in ihrer Durchlässigkeit.“ Man kann noch hinzufügen, dass sie kontrapunktischer ist und die traditionellen Formen immer wieder durchscheinen lässt. Raff konzipierte das Werk, zu dem er auch das Libretto selbst verfasste, als Musik gewordene Manifestation seiner umfangreichen Schrift „Die Wagnerfrage“, mit der er 1856 ordentlich Wirbel im Kreise der Neudeutschen entfachte. Die 1850 erfolgte Premiere des „Lohengrin“, bei er selbst tatkräftig Liszt assistierte, waren Raff Anlass zu Lob aber auch Tadel an Wagners Werk. So erscheint der „Samson“ als Melange zwischen deutschem Musikdrama und französischer grand opéra. Dabei ist das reichbesetzte Orchester oft kammermusikalisch reduziert und gibt der vokalen Linie ungeschmälerte Präsenz. Bülow schreibt: „…das (dramatisch)-Gesangliche hat mich fast durchgängig im höchsten Grade überrascht. Reiche, schöne – ‚blühende‘ – Melodik – ungeheuer sangbar – ungeheuer dankbar!“

Zu Raffs „Samson“: Der Dirigent Hans von Bülow/ Wikipedia

Obwohl Raffs Verhältnis zu Liszt durch die Nachwirkungen der „Wagnerfrage“ getrübt war, bemühte sich dieser um eine Uraufführung des „Samson“ in Weimar, verlor dort aber bald seine Stellung und konnte das Projekt nicht weiter verfolgen. Erst 1870 gab es wieder die Premiere einer Raff Oper in Weimar. Das war aber dann die komische Oper „Dame Kobold“, mit der Raff allen neudeutschen Einflüssen abschwor und seine Ambitionen für das ernste Musikdrama für immer einstellte. Es sollten noch drei weitere Opern folgen, alle von heiterem oder lyrischem Charakter. Ausgerechnet in Weimar erfolgte dann 1877 die Premiere eines Konkurrenzwerks über den gleichen Stoff: Samson et Dalila von Camille Saint-Saëns. Die Riege der handelnden Personen in beiden Opern ist durch die gemeinsame Vorlage (AT: Buch der Richter) natürlich ähnlich, aber die Entwicklung der Charaktere und ihre Motivation ist deutlich verschieden. Besonders bemerkenswert ist, dass bei Raff Religion und Metaphysik keine Rolle spielen. Alles ist menschlich, politisch und diesseitig. Auch in seiner tiefsten Agonie kommt Raffs Samson der Ausruf „Gott“ nicht über die Lippen. Frappant ist auch die Parallele zwischen dem großen Liebesduett zwischen Samson und Delilah  im dritten Akt und der dramaturgisch ähnlichen gebauten Szene in Wagners „Tristan und Isolde“, die beide durch Eindringlinge von außen jäh beendet werden. Mit Genreszenen hält sich Raff in den ersten vier Aufzügen zurück, um dann aber im fünften Aufzug ein opulentes Fest der Philister mit großem Ballet zu zeigen. Auch hier gibt es Orientalismen, aber nicht so auffällig wie bei Saint-Saëns, der den Vorteil hatte, derartige Musik selbst gehört zu haben. Volker Tosta/ Nordstern

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Die Autoren: Severin Kolb (*1988), ist M. A., Studium der Musikwissenschaft, Religionswissenschaft und Hermeneutik an der Universität Zürich (Abschluss 2016), wo er nach einer Masterarbeit über Raffs Sinfonik über das Verhältnis von Raff zu Richard Wagner dissertiert. Seit 2016 ist er im Vorstand der Joachim-Raff-Gesellschaft und wirkt als wissenschaftlicher Leiter des Joachim-Raff-Archivs. (Quelle arbido)

Der Musikforscherr Volker Tosta von der Edition Nordstern ist der Herausgeber vieler Aufführungspartituren vergessener Opern, so zuletzt der von Meyerbeers Feldlager in Schlesien an der Oper Bonn und so auch des Samson von Raff nun am Nationaltheater Weimar im September 2020, zu dem wir dann eine längere Präsentation planen und die Aufführung auch besprechen werden. Das Vorspiel zum 3. Akt ist in einer Aufnahme unter Roland Kluttig auf youtube zu hören.  G. H.

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Abbildung oben: Samson et Dalilah von José Echenagusia Errazquin/Ausschnit.

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie Die vergessene Oper hier

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