Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Gipfelstürmer

.

Vincenzo Bellinis letzte Oper I puritani gehört zu den Gipfelwerken des Belcanto und verlangt Interpreten von Ausnahmeformat. Die Neuaufnahme von EuroArts (2011121, 3 CDs)  muss sich gegen berühmte Dokumente der Vergangenheit behaupten. Für die Sopranpartie der Elvira ist Maria Callas noch immer der Maßstab, auch im Repertoire von Joan Sutherland spielte sie eine zentrale Rolle.

Lisette Opresa als Bellinis Elvira an der Opéra de Paris 2024/youtube/Foto wie oben Euroarts trailer

Jetzt hat die Amerikanerin Lisette Oropesa in der 2023 im Dresdner Kulturpalast eingespielten Aufnahme die Elvira übernommen und damit ihren Rang als derzeit international führende Koloratursopranistin eindrucksvoll behauptet. Ihre Interpretation ist heutig, entbehrt des altmodischen Pathos, welches man bei vielen Sängerinnen der Vergangenheit vernimmt. Die Stimme ist von reizvollem Timbre, sicher in den Spitzentönen und angemessener Bravour für die Bewältigung der schwierigen Skalen und Koloraturen. Ihr erstes Solo, die Polacca am Ende des 1. Aktes, „Son vergin vezzosa“, absolviert sie virtuos. Im Terzetto am Ende des 1. Aktes, „Oh, vieni  al tempio“, ist dagegen ein entrückter, somnambuler Klang gefordert, glaubt sich Elvira doch von ihrem Geliebten verraten. Callas hat diese Szene mit unvergleichlicher Melancholie  gesungen, so in einem Martini&Rossi-Konzert 1956 in Mailand, doch auch Oropesa trifft die Stimmung der Figur genau. Eine von Elviras berühmtesten Nummern ist die Aria im 2. Akt „Qui la voce“ mit der CabalettaVien, diletto“. Die Sängerin setzt hier ein Glanzlicht ihrer Interpretation mit perfekter Phrasierung und betörenden Tönen, ergänzt um stupende Brillanz im Schlussteil. Im letzten Akt vollendet sie ihre Interpretation im Duetto mit Arturo und lässt glanzvolle stratosphärische Töne von mirakulöser Sicherheit hören.

Elviras Geliebter Arturo ist mit dem amerikanischen Tenor Lawrence Brownlee besetzt, einem Spezialisten für die halsbrecherischen Belcanto-Partien, zu denen ja der Arturo in besonderem Maße gehört. Immerhin war er für den legendären Tenor Giovanni Battista Rubini komponiert, der über außerordentliche Fähigkeiten in der tenoralen Extremlage verfügte. Brownlees Stimme zeichnet sich durch stupende Flexibilität aus und brilliert vor allem in der Extremhöhe. Das tückische hohe F bei „Credeasi misera“ im 3. Akt ist stets ein Ton, bei dem man zusammenzuckt, aber hier gerät er spektakulär und fordert den Vergleich mit Salvatore Fisichella in der Bregenzer Aufführung von 1985 heraus. Bemerkenswert ist der totale vokale Einsatz des Sängers, was einen virilen Klang mit sich bringt. Der bei manchen  Rollenvertretern verzärtelte Ton ist hier nicht zu bemerken, dafür findet man bei Brownlee nicht die Weichheit und Eleganz anderer Tenöre. Schon im Quartett des 1. Aktes, „A te. o cara“, werden Arturo Töne in der exponierten Lage abverlangt, Gleiches ist gefordert in der Romanza zu Beginn des 3. Aktes, „A una fonte afflitto e solo/Son già lontani“ und noch stärker im Duetto mit Elvira „Vieni, vieni fra queste braccia“. Der Sänger zeigt sich all diesen Herausforderungen souverän gewachsen und bietet eine Modellinterpretation der Partie.

Der junge amerikanische Bariton Anthony Clark Evans lässt als Riccardo, den der berühmte Antonio Tamburini kreierte,  mit markiger Stimme aufhorchen. Sein Auftritt mit „Ah! per sempre io ti perdei“ imponiert in der maskulinen Energie und kultivierten Linie. Der italienische Bass Riccardo Zanellato gibt mit samtiger Stimme Elviras Onkel Giorgio. Im Duett mit Elvira, „Sai com´arde in petto mio“, überzeugt er mit würdevollem Ton und idiomatischem Gesang, so auch in seiner kantablen Romanza im 2. Akt, „Cinta di fiori“. Spektakulär ist sein Duetto mit Riccardo im Finale II, „Il rival salvar tu dei/Se tra il buo un fantasma vedrai“, das der Bariton im Schlussteil „Suoni la tromba“ mit einem fulminanten Spitzenton krönt.

Die Besetzung komplettieren solide der Bassist Martin-Jan Nijof als Elviras Vater Lord Gualtiero, der Tenor Simeon Esper als Sir Bruno und die Mezzosopranistin Roxana Constantinescu als Enrichetta. Der MDR-Rundfunkchor (Einstudierung: Tilman Michael) und die Dresdner Philharmonie bieten unter Riccardo Frizza ein lebendig pulsierendes Klangbild mit vielen Instrumentalen Feinheiten und Farben. Bernd Hoppe    

Osteuropäische Spätromantik

.

Wohl kaum jemand kennt die Werke des kroatischen Komponisten Blagoje Bersa (1873-1934). Dem hat jetzt hinsichtlich seiner Lieder das Label hänssler CLASSIC abgeholfen, indem es in einer Welt-Ersteinspielung eine Doppel-CD herausgebracht hat. Bersa studierte zunächst in Zagreb und von 1896 bis 1899 am Konservatorium der Gesellschaft der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien bei Robert Fuchs und Julius Epstein.

Blagoje Bersa/Croation Institute of Music

Während seiner Dirigierverpflichtungen in  Sarajevo, Split, Graz und Osijek lebte er mit kurzen Unterbrechungen in Wien, bis er 1919 nach Zagreb zurückkehrte, wo er ab 1922 bis zu seinem Tod als Professor für Komposition und Instrumentation an der neu errichteten Musikakademie wirkte. Über seine Musik wird geschrieben, dass er den damaligen traditionellen Musikstil durch neue Nuancen in Harmonie und Klangfarben bereicherte. Bersa war in allen Bereichen schöpferisch tätig; außer Kammermusik und Liedern gibt es Orchester-, Chor- und Klavierwerke in seinem Gesamtwerk. Für die Bühne komponierte er das Musikdrama Feuer sowie die Opern Jelka, Oganj (Der Eisenhammer) und Der Schuster von Delft nach Hans Christian Andersen.

Die Doppel-CD mit dem Bassbariton Kresimir Strazanac und dem Pianisten Kresimir Starcevic ist eine ausgesprochen positive Überraschung. Denn die insgesamt 24 Lieder zeugen von großem Melodienreichtum und feinem Nachzeichnen der weitgehend  lyrischen Texte. Aber auch die hochdramatische Stimmung in Herders Ballade Edward, die den Vergleich mit der bekannten Brahms–Vertonung nicht zu scheuen braucht, erfährt eine beeindruckende Wiedergabe. Und damit sind wir bei den beiden kroatischen Interpreten, die bestens aufeinander abgestimmt sind. Besonders aber imponiert die geradezu vollendete Gestaltung durch den Sänger, der auch wegen der tadellosen Diktion und Intonationsreinheit für den Konzert- und Liedgesang wie geschaffen erscheint. CD 1 enthält neben der schon genannten Ballade Vertonungen von vier Heine-Gedichten, bei denen Schubertscher Einfluss unüberhörbar ist. In weiteren, deutsch gesungenen lyrischen Liedern nach Gedichten von Lermontow, Henrik Ibsen und Wilhelm Müller erfreut die technisch fundierte, bruchlose Führung des klaren, klanglich angenehm wirkenden Baritons durch alle Lagen. Auf CD 2 erklingen überwiegend Lieder, die durch kroatische Folklore beeinflusst sind. Hier und in der die CD abschließenden, auf italienisch gesungenen Goethe-Ballade Der König in Thule erweisen sich erneut die Vorzüge des Sängers, dem gemeinsam mit dem durchweg partnerschaftlich mitgestaltenden Pianisten jeweils überzeugende Liedinterpretationen gelingen (hänssler CLASSIC HC23010, 2 CD).

.

Nikolai Medtner und seine Frau/Zoo

Nun hat Brilliant Classics mit Volume 5 die Ausgabe sämtlicher Lieder von Nikolai Medtner (1880-1951) abgeschlossen. Wieder sind die in Taschkent geborene Mezzosopranistin Ekaterina Levental aus den Niederlanden und der Piano-Professor Frank Peters aus Amsterdam am Werk, die die gefühlvollen, spätromantischen Lieder des hierzulande wenig bekannten russischen Pianisten und Komponisten ausdeuten. Neben über 100 Liedern ist dieser in erster Linie mit Kompositionen für Klavier hervorgetreten, was sich auch in den Liedern niedergeschlagen hat. Der Titel der CD Geweihter Platz geht auf ein Goethe-Gedicht zurück, dessen Vertonung mit einer langen Vokalise verbunden ist. In der Reihe Sieben Gedichte op.46 geht es um Gedichte von Goethe, Eichendorff und Chamisso. Außerdem interpretieren die Künstler fünf Lieder nach Friedrich Nietzsche und in op. 61 acht Lieder nach Gedichten von Eichendorff sowie – im russischen Original gesungen – Pushkin, Lermontov und Tyutchev; den Ausklang bildet Wie kommt es? von Hermann Hesse.

Insgesamt wirkt sich stets die Vorliebe Medtners für das Klavier aus, weil bei fast allen Liedern es deutlich im Vordergrund steht, so dass die Sängerin es nicht immer leicht hat, verständlich zu sein, was teilweise auch an ihrem nicht durchweg überzeugenden Umgang mit der deutschen Sprache liegen mag. Besonders in der Vokalise im Zusammenhang mit Goethes Geweihter Platz fällt dagegen die gute Führung ihres kräftigen Soprans durch alle Lagen positiv auf. Im Übrigen spüren die Künstler den Stimmungen in den Gedichten sorgfältig nach und erfassen so ihre jeweiligen unterschiedlichen Inhalte. Allerdings singt die Mezzosopranistin mit Ausnahme weniger klarer Spitzentöne mit recht starkem Vibrato, wodurch leider manche Unruhe entsteht. Jedenfalls ist es sehr verdienstvoll, dass die doch weitgehend unbekannten Lieder Medtners mit der Gesamtedition festgehalten sind (Brilliant Classics 98072).  Gerhard Eckels

Clémence de Grandvals „Mazeppa“

.

Kaum jemand hat vor dem verdienstvollen Konzert des Münchner Rundfunk Orchesters am 19. Januar 2025 je etwas von der Komponistin Clémence de Grandval (* 21. Januar in Saint-Rémy-des-Monts – † 15. Januar 1907 in Paris) gehört, deren Oper Mazeppa nun zum ersten Mal in moderner Zeit (auch in der daraus resultierenden Aufnahme des Palazzetto Bru Zane) erklang. Aber man stutzt als Opernkenner sofort, denn Mazeppa? Mazeppa? Ist der nicht von Tschaikowsky/Puschkin, von 1884/Moskau? Dieser hier nicht, und zudem von 1892/Grandmoguin & Hartmann nach Puschkin/Paris. Wie dicht aufeinander – haben sie sich gekannt? Sie hat sicher von ihm gehört, war er doch auch in Paris gewesen und war sicher als Komponist dort bekannt. Gibt es Quellen dazu? Puschkin zumindest war die Inspiration für Grandval. Wie bekannt waren russische Komponisten in Frankreich damals überhaupt? Paris war ja stets ein Sehnsuchtsort des Ostens gewesen.

Der griechische Bariton Tassis Christoyannis singt den Mazeppa in Clémence de Grandvals Oper/Palazzetto

Der Palazzetto schreibt zu dieser Oper: Wie andere bedeutende Persönlichkeiten ihrer Zeit – wie ihr Lehrer Camille Saint-Saëns, der für die Aufführung von Étienne Marcel im Februar 1879 auf das Grand-Théâtre in Lyon zurückgreifen musste – wählte Clémence de Grandval Bordeaux für ihre Oper Mazeppa eher aus Zwang als aus Begeisterung für die musikalische Dezentralisierung. Die Pariser Oper, die noch intensiv Werke aus den Jahren 1830-1850 auf den Spielplan setzte, ließ damals wenig Raum für Neues. Nachdem Grandval das Präludium seiner Oper 1888 in Paris konzertant aufgeführt hatte, wartete er vier Jahre auf die erste Aufführung, die der Direktor von Bordeaux – Tancrède Gravière – zu einem nationalen Ereignis machte. Die Rolle der Matréna vertraute er seiner Frau Georgette Bréjan (-Silver) an. Das von Charles Grandmougin und Georges Hartmann verfasste Libretto basiert auf Puschkins düsterer Legende des ukrainischen Helden, die in Westeuropa von Lord Byron und Victor Hugo populär gemacht wurde. Diese Figur bietet den Librettisten vor allem die Gelegenheit, das Thema des Verrats umfassend zu behandeln: Liebe und kindliche Pflicht werden durch Ehrgeiz und Eifersucht auf die Probe gestellt. Die Überschreitung traditioneller Werte führt zu Wahnsinn und Tod. Die Oper wurde von den in Bordeaux anwesenden Journalisten gut aufgenommen – die Mazeppa in die Reihe der Produktionen Massenets stellten – und setzte ihre Karriere an anderen Theatern fort: Antwerpen (1896), Marseille (1897), Montpellier (1904) und Dijon (1905). Wie so oft bei Komponistinnen hielt ihre Verbreitung nach dem Tod der Autorin im Januar 1907 jedoch nicht mehr an.

Man erinnert dann die Dichtung von Lord Byron, dem umtriebigen englischen Tausendsassa, der sich in den griechischen Befreiungskriegen gegen die Osmanen einen Namen gemacht hatte. Der historische Mazeppa war zudem – wie aktuell heute – ein ukrainischer Edelmann und späterer, legendärer Nationalheld. Und prangt dort auf Geldscheinen und Münzen.

.

Clémence de Grandvals „Mazeppa“: Maurice de Vries war der erste Titelsänger/courtesy Charles Mintzer/Rudi van den Bulck Archive

Die Radioübertragung des Konzertes am 19. Januar (2025) erfüllte jede Erwartung und mehr. So sensationell habe ich eine (in diesem Falle große französische) Oper kaum je gehört, und das sage ich nach einem langen Opernerleben. Nicole Carr übertraf sich in der weiblichen Hauptrolle der Matréna um vieles, was ich von ihr kenne: solche leuchtenden Spitzennoten und dazu eine dramatische Kraft, unglaublich. Julien Dran war der umwerfende Tenor Iskra mit unglaublicher Höhe und schönem Ton – das ist eine französische Tenorstimme von schon heldischem Format. Dazu dann Tassis Christoyannis in Bestform als Mazeppa, leidend, empfindsam, auftrumpfend, sonor, sensationell. Und auch die Übrigen (Ante Jerkunica, Paweł Trojak) sowie Chor des Bayerischen Rundfunks (Stellario Fagone) und das Rundfunk Orchester unter Mihhail Gerts schufen ein Tongemälde von enormer Kraft, ohne die vielen, auch  gelegentlich russisch anmutenden lyrische Teile (wie zu Beginn des 3. Aktes) zu vernachlässigen (Tschaikowsky grüßte doch, dazu manche Assoziationen an Zeitgenössisches). Es war ein spannender Abend, der mich drei Stunden am Lautsprecher hielt.

Dazu kam (und kommt) der absolut fabelhafte Service des Bayerischen Rundfunks, online das zweisprachige Libretto (runterladen und aufheben, denn die deutsche Übersetzung von Maria Kohler wurde eigens für dies Konzert erstellt und findet sich im englisch-französischen Palazetto-Buch dann nicht mehr) und das komplette Programmheft zur Verfügung zu stellen (und wie das Konzert für einen Monat als Podcast!). Das ist beispielhaft!

Als Einführung zu dieser ungewöhnlichen Geschichte um Liebe und Rache in der Oper von Clémence de Grandval und zu jenem historischen Mazeppa äußern sich Florian Heurich sowie Natalia Mykhaylychenko zu Byron und Osteuropa, beide mit Dank nachstehend. G. H.

.

.

Die Komponistin Clémence de Grandval/ resmusica

„Eine Prvilegierte des Himmels“: Clémence de Grandval und ihre Oper Mazeppa: „Sie wären sicherlich berühmt, wäre die Autorin nicht eine Frau, was für viele Menschen ein unabänderlicher Fehler ist“, schrieb Camille Saint-Saëns einst über die Lieder von Clémence de Grandval, die als Komponistin, Pianistin und Sängerin eine der vielseitigsten, produktivsten und auch angesehensten Persönlichkeiten des französischen Musiklebens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war und dennoch bei der Nachwelt in Vergessenheit geriet. Zu einer Zeit, als das Komponieren, genauso wie Literatur, bildende Kunst und Politik, noch weitgehend eine Männerdomäne war, und komponierende oder musizierende Frauen vor allem als „Amateurinnen“ angesehen wurden, die Werke für den Hausgebrauch oder den semiprivaten Rahmen des Salons schufen, konnte sich Grandval als eigenständige Künstlerin behaupten. Ihr umfangreiches Œuvre umfasst kleine wie große Gattungen, von Kammermusik und Klavierliedern über Messen und sonstige geistliche und oratorische Werke bis hin zu groß besetzten symphonischen Arbeiten und mehreren Opern für verschiedene Pariser Konzertsäle und Theater.

Aber auch die aus adeligem Haus stammende und mit einem wohlhabenden Musikliebhaber verheiratete Grandval musste aufgrund ihrer gut situierten Lebensumstände gegen das Vorurteil einer Komponistin aus Liebhaberei ankämpfen. So schrieb der einflussreiche Musikkritiker und Biograph François-Joseph Fétis in seiner Biographie universelle des musiciens: „Obwohl Madame de Grandval wegen ihrer gehobenen Situation und ihres Vermögens nur als Amateurin angesehen werden kann, ist sie dennoch mit überaus bemerkenswerten Fähigkeiten und einer seltenen Schaffenskraft begabt, besonders für eine Frau, sodass man ihr ohne Gefälligkeit den Titel einer Künstlerin verleihen kann.“ Weniger gönnerhaft äußerte sich Saint-Saëns, der einer von Grandvals Lehrern war und den eine von gegenseitiger Wertschätzung geprägte Freundschaft mit ihr verband: „Es soll mir erlaubt sein zu bemerken, dass mit allen Werken Berlioz’ und Grandvals das französische Repertoire sich nicht zu verstecken braucht.“ Bei mehreren Gelegenheiten stellte Saint-Saëns seine einstige Schülerin und Freundin in eine Reihe mit Gounod, Massenet, Bizet, Delibes und weiteren bedeutenden Komponisten der Zeit.

.

„Mazeppa & Theresa“, Postkarte, Illustration zu „The Poems of Lord Byron“, England 1908 Dover Press

Clémence de Grandval wurde am 21. Januar 1828 als Marie-Félicie-Clémence de Reiset auf Schloss Cour du Bois, dem Besitz der Familie Reiset, in Saint-Rémy-des-Monts im nordfranzösischen Département Sarthe geboren. Ihr Vater war ein hochrangiger Militär, ihre Mutter betätigte sich als Schriftstellerin. Früh zeichnete sich eine musikalische Begabung ab, und bereits ab dem Alter von sechs Jahren erhielt Clémence im privaten Rahmen eine fundierte Ausbildung in Gesang, Klavierspiel und später auch in Komposition. Chopin gab ihr Klavierstunden, ihr erster Kompositionslehrer war Friedrich von Flotow, ein Freund der Familie, bei dem sie ab 1842 Unterricht nahm. Mit 21 Jahren trat sie noch unter ihrem Mädchennamen Mademoiselle de Reiset erstmals öffentlich als Komponistin und Interpretin in Erscheinung. Bei einer Salonmatinee führte sie ein von ihr verfasstes Klaviertrio auf und sang einige eigene Lieder, worauf in der Revue et Gazette musicale de Paris zu lesen war, „dass eine Virtuosin mit dieser Stärke wie eine Privilegierte des Himmels erscheint“.

1851 heiratete sie den 15 Jahre älteren Charles-Grégoire Vicomte de Grandval, mit dem sie zwei Töchter hatte; eine starb bereits früh. Die Ehe hinderte sie allerdings nicht daran, weiterhin ihrer musikalischen Berufung zu folgen. Im Gegenteil, nun begann sie auf professioneller Ebene bei Camille Saint-Saëns Komposition zu studieren. Ihr Mann unterstützte ihr Talent und übernahm später sogar die Rolle eines Sekretärs, der mit Impresarios korrespondierte und Zeitungskritiken sammelte. Nach seinem Tod schrieb Clémence an ihre Freundin Pauline Viardot, Komponistin, Sängerin, Pianistin und Salondame wie sie: „Der Freund, den ich verloren habe, war mir so treu ergeben, wie es von nun an niemand mehr sein wird.“

.

„Mazeppa“ von Eugène Delacroix, 1824/Wikipedia

Nach vielen Kammermusik- und Salonstücken schrieb Clémence de Grandval in den 1860er Jahren ihre ersten Bühnenwerke, zunächst jedoch noch unter Pseudonymen wie Caroline Blangy, Clémence Valgrand, Maria Felicita de Reiset oder Maria de Reiset Tesier. Für Frauen ihres Standes war das Komponieren für einen kleinen, elitären Kreis zwar durchaus akzeptiert, die Arbeit fürs Theater hatte hingegen immer einen fragwürdigen Beigeschmack, zumal Grandvals erste Bühnenstücke dem leichten Genre wie Operette, Vaudeville oder Opéra comique angehörten: Le sou de Lise wurde 1860 an den Bouffes-Parisiens uraufgeführt und Les fiancés de Rosa 1863 am Théâtre-Lyrique. Mit La Comtesse Eva, uraufgeführt 1864 in Baden-Baden, trat sie erstmals unter ihrem richtigen Namen als Opernkomponistin an die Öffentlichkeit. Es folgten noch La pénitente (Opéra-Comique, 1868), Piccolino (Théâtre-Italien, 1869) und wesentlich später Mazeppa, ihre umfangreichste Oper, die 1892 am Grand Théâtre de Bordeaux Premiere hatte. Nach vielen Jahren, in denen sich die Komponistin vor allem mit geistlicher und symphonischer Musik beschäftigt hatte, sprechen aus dieser Oper nun eine künstlerische Reife, eine emotionale Tiefe und eine Ernsthaftigkeit in Sujet und musikalischer Ausformulierung, die sie von den früheren Bühnenwerken abheben.

.

Zu Clémence de Grandvals „Mazeppa“: Illustration zum 4. Akt der Uraufführung/L’Univers illustré, 7 mai 1892/Wikipedia

Da sie selbst Sängerin war, lag Grandval die menschliche Stimme besonders am Herzen. Dies schlug sich nicht nur in ihren Opern und Liedern nieder, sondern auch in einer Reihe von geistlichen Werken mit Gesang, von denen das erfolgreichste ein Stabat mater (1870) war, sowie in den Oratorien Sainte Agnès (1876) und La fille de Jaïre (1880) oder dem Poème lyrique La forêt für Soli, Chor und Orchester (1874). Darüber hinaus schrieb sie ein Oboenkonzert (1878), das oft von dem berühmten Solisten und Musikpädagogen Georges Gillet aufgeführt wurde und ein beliebtes Prüfungsstück des Pariser Konservatoriums war.

Die Komponistin war mehr und mehr zu einer bestens etablierten Größe des Pariser Musiklebens geworden, ihre Werke wurden in vielen Kirchen und Konzertsälen dargeboten, für La fille de Jaïre erhielt sie den von der Académie des Beaux-Arts verliehenen Prix Rossini, und eine neue Konzertreihe mit dem Titel L’art moderne widmete Grandval 1878 das Eröffnungskonzert. Sie spielte eine wichtige Rolle in der gerade gegründeten Société nationale de musique, wo sich die Avantgarde der französischen Musik traf, und bei deren Konzerten in der Salle Pleyel. Zudem kam in ihrem Salon alles zusammen, was Rang und Namen hatte: Daniel-François-Esprit Auber, Ambroise Thomas, Charles Gounod, Georges Bizet, Pauline Viardot, Giacomo Meyerbeer und viele weitere Musiker, Literaten, Künstler und Persönlichkeiten der Gesellschaft.

.

„Mazeppa in the Romantic Arts“ von Albert Brussee bei AB Music Productions & Editions ist eine spannende Abhandlung zum Thema (Amazon und andere)

1886 war der Tod ihres Mannes, der während der Ehe meist hinter seine komponierende Frau zurückgetreten war und im Hintergrund vieles organisiert hatte, ein schwerer Schlag für Clémence de Grandval. Dennoch ging sie auch danach weiterhin ihrer Berufung nach, die schon längst zu einem den Lebensunterhalt sichernden Beruf geworden war. Mit Mazeppa schuf sie einen letzten Höhepunkt in ihrem Gesamtwerk. Bereits die Uraufführung in Bordeaux fand großen Anklang, und eine weitere Aufführung zwei Jahre später in der Pariser Salle Pleyel in einer Fassung mit Klavierbegleitung, bei der Grandval selbst den Klavierpart übernahm, wurde in der Presse als Ereignis gefeiert: „Mme de Grandval hat es verstanden, persönlich zu bleiben, ohne irgendetwas von der jungen Schule mit ihren Übertreibungen zu übernehmen und ohne alte Traditionen und einen aus der Mode gekommenen Stil, mit dem sich der moderne Geschmack nicht vertragen würde, zu bewahren. […] Die Gesetze der Tonalität werden beachtet, und die Melodien heben sich mit Regelmäßigkeit, perfekter Symmetrie und großer Intensität ab.“ Nach diesem letzten großen Bühnenwerk war die Künstlerin zwar nach wie vor präsent im französischen Musikleben, schränkte ihre Konzertauftritte jedoch mehr und mehr ein und komponierte immer weniger. Sie starb am 15. Januar 1907 in Paris.

.

Mit der fünfaktigen Oper Mazeppa auf ein Libretto von Charles Grandmougin und Georges Hartmann schuf Grandval ein groß dimensioniertes Bühnenwerk, dessen Musiksprache dem Stil des späten 19. Jahrhunderts voll und ganz entspricht – mit längeren, durchkomponierten Szenenkomplexen, aus denen sich solistische Passagen im Sinne von Arien, Duetten oder Terzetten herausschälen. Die Wahl eines osteuropäischen Sujets, nämlich die Geschichte des ukrainischen Kosakenhauptmanns Mazeppa, die bereits Tschaikowsky zu einer Oper inspiriert hatte, erscheint ungewöhnlich für die französische Musik. Zwar unterscheidet sich die Handlung wesentlich von Tschaikowskys Oper, das Libretto basiert aber auf denselben Vorlagen, etwa auf dem Gedicht Poltawa von Alexander Puschkin, in dem die historischen Begebenheiten um den im 17. Jahrhundert lebenden Iwan Mazeppa als Legende geschildert werden. Möglicherweise war Grandval durch Achille de Lauzières – Librettist ihrer Oper Piccolino, der bereits einen Mazeppa-Text verfasst hatte – auf dieses Sujet gestoßen.

.

Zu Clémence de Grandvals „Mazeppa“: Le Monde illustré, 23 avril 1892. Illustration reprise dans La Gironde illustrée (24 avril 1892) et dans le journal italien Il teatro illustrato/BNF/Gallica

In ihrer Musik greift Grandval das Nebeneinander einer historisch-politischen Handlung und einer Liebesgeschichte auf, mit effektvollen Ensembles und Massenszenen einerseits und intimen lyrischen Momenten andererseits. Die heroischen Taten des vom Volk gefeierten Mazeppa, der jedoch allmählich die Seiten wechselt, stehen neben der privaten Liebesbeziehung zwischen ihm und Matréna, wobei diese Verbindung schließlich zu einem Abhängigkeits-Verhältnis wird und im Wahnsinn Matrénas und der Verdammnis Mazeppas endet. Besonders wirkungsvoll sind das Finale des I. Akts, wenn Mazeppa dazu auserwählt wird, die Ukrainer zum Sieg zu führen, und vor allem das Finale des IV. Akts. Beginnend mit der Ankunft der gefangenen Ukrainer, unter denen sich auch der alte Kotchoubey, Matrénas Vater, befindet, entwickelt sich diese Szene in einer dramatischen Steigerung bis zum Fall und der Verfluchung des mittlerweile zum Verräter gewordenen Mazeppa.

„Mazeppa“: Die notorische amerikanischen Schauspielerin Ada Menken trat in England und Amerika als Mazeppa in einer Bühnenversion des Byron-Gedichtes mit großem Erfolg auf, hier das Poster zu eine Vorstellung im Londoner Adelphy 1886. Zu ihrem amerikanischen Wirken hiess es: „Her role in the melodrama Mazeppa (based on Lord Byron’s poem) which opened in 1861 in Albany, NY, created a sensation. Dressed in a flesh-colored body stocking which gave the illusion that she was nude, she appeared strapped to a horse which “galloped” down a ramp towards the audience.“/newyorkalmanack.com

Lyrisches Herzstück der Oper ist der III. Akt, der mit einer Arie der Titelfigur beginnt und zu einem ausgedehnten Duett mit Matréna wird. Auch in Matrénas Szene im II. Akt und im sich anschließenden Duett mit Iskra zeigt sich Grandval als eine Komponistin, die der Gesangsstimme dankbare Entfaltungsmöglichkeiten gibt. In den reinen Orchestersätzen wie dem Prélude, das Mazeppas wilden Ritt durch die Steppe schildert, dem Entracte zu Beginn des III. und dem Divertissement im IV. Akt, also der Ballettmusik mit ihren Anklängen an die osteuropäische Folklore, schreibt Grandval eine suggestive, farbenreiche und die Szenerie illustrierende Musik mit dezentem Lokalkolorit. Zudem werden die Hauptfiguren von Beginn an durch kurze, fast leitmotivische Themen charakterisiert, die immer wieder auftauchen. Die Oper endet in einer Art Wahnsinnsszene, in der Grandvals Gespür für Theatralik und musikdramatischen Effekt bestens zum Ausdruck kommt.

.

In der Presse wurde der Wunsch laut, dass Mazeppa auch an der Pariser Opéra gespielt werden sollte, jedoch blieben Grandvals Versuche, ihr Werk an die führende Bühne der französischen Metropole zu bringen, erfolglos. Es wurde in den Jahren darauf noch in Antwerpen (1896), Marseille (1897), Montpellier (1904) und Dijon (1905) gezeigt, mit dem Tod Grandvals 1907 verschwand es jedoch von den Spielplänen. Aber auch wenn die Nachwirkung dieser Oper ausblieb, so ist sie doch das eindrucksvolle Hauptwerk einer vergessenen Komponistin des 19. Jahrhunderts, die sich neben Musikerinnen wie Louise Farrenc, Louise Bertin, Pauline Viardot oder Cécile Chaminade ihren Platz in einer Männerdomäne erkämpft hatte. Florian Heurich

.

.

Florian Heurich ist Autor, Musikjournalist und Videoredakteur und lebt in München. Er schreibt und produziert Reportagen und Features für BR-Klassik, den SWR, den MDR und andere ARD-Anstalten über Themen in den Bereichen Oper, Literatur, Neue Musik und Weltmusik. Er schreibt für die Publikationen der Staatstheater Stuttgart und produziert Videoformate für die Bayerische Staatsoper und die Salzburger Osterfestspiele.

Legende und Wirklichkeit:  Iwan Mazeppa, ein Feldherr zwischen den Fronten. „Er rast, er fliegt, er fällt und steht als König wieder auf!“ Dies sind die letzten Worte in einem Gedicht von Victor Hugo, in dem er die Legende von Mazeppa schildert: Als Strafe für ein illegitimes Verhältnis mit einer Adligen wurde er nackt, Rücken an Rücken auf sein Pferd gebunden, das nun durch die Steppe galoppiert. Nach einigen Tagen stirbt das Tier, und auch Mazeppa ist dem Tode nah, als er von Kosaken aufgefunden wird, die ihn mit in die Ukraine nehmen und zu ihrem Anführer im Kampf gegen die Russen machen. Auch Lord Byron und Alexander Puschkin greifen diese Legende auf.

Aber wer war Mazeppa wirklich? Iwan Mazeppa wurde 1639 in der Ukraine geboren, war Page am polnischen Hof und stieg später zum Hetman (hochrangiger Feldherr) der Kosaken auf. Als Verbündeter des Zaren Peter I. kämpfte er zunächst für Russland, wechselte dann aber die Seiten und verbündete sich mit dem schwedischen König Karl XII., der versprach, die Ukraine zu beschützen. Mazeppa selbst beteuerte, dass seine Loyalität immer ausschließlich dem Kosakenheer und der ukrainischen Nation gelte, keinem König oder Zaren. Im Großen Nordischen Krieg zog er für Schweden in die Schlacht von Poltawa (Ukraine), verließ nach der Niederlage jedoch das Land, floh in Richtung Osmanisches Reich und starb 1709 im heutigen Transnistrien in Moldawien.

In der russischen Geschichtsschreibung gilt Mazeppa als negative Figur; Zar Peter I. ließ sein Bild am Galgen aufhängen, und die Russisch-orthodoxe Kirche belegte ihn mit dem Kirchenbann. In der Ukraine hingegen verehrt man ihn als Nationalhelden. So ist er etwa auf dem Zehn-Griwna-Schein abgebildet und wird von der Orthodoxen Kirche der Ukraine verehrt. Florian Heurich

.

.

Jean-Pierre Norblin de la Gourdaine Mazeppa, 1775/ collections.artsmia.org

Zum Inhalt: In der Ukraine um 1700, mitten im Kosakenkrieg. 1.  Akt:  In der Steppe. 1. Szene. Im frühen Morgenrot liegt Mazeppa, ein polnischer Edelmann, ohnmächtig auf der Erde. Zu sich kommend, beklagt er sein schweres Los. Von weither sind Stimmen zu vernehmen, die Mazeppa aufgrund seiner Ermattung aber für Illusion hält. 2. Szene.  Matréna, die Tochter des Fürsten Kotchoubey, hat Mazeppas Hilfeschrei gehört und eilt herbei. Geblendet von ihrer Schönheit, fragt Mazeppa, wohin er sich verirrt habe. 3. Szene. Das Volk der Kosaken jubelt Kotchoubey, seinem Fürsten, zu. Dieser heißt Mazeppa willkommen und erkundigt sich nach seiner Herkunft und seinen Erlebnissen: Mazeppa, einst Page am polnischen Hof, ließ sich auf eine illegitime Liaison ein und zog dadurch die Eifersucht eines Nebenbuhlers auf sich. In dessen Machenschaften verstrickt, wurde er entführt und auf ein Pferd gebunden in die Steppe hinausgejagt. Kotchoubey lädt Mazeppa ein, sich dem ukrainischen Heer anzuschließen und gegen seine einstigen Landsmänner für die Freiheit der Ukraine zu kämpfen. 4. Szene.  Kotchoubey wird mit großer Zustimmung zum ukrainischen Anführer erkoren, doch er dankt Mazeppa zuliebe ab. Erbittert setzt sich Iskra dagegen zur Wehr. Seine Worte entfachen einen heftigen Zwist, den Kotchoubey aber zu beschwichtigen vermag. Unter allgemeinem Jubel, in den nun auch Matréna einstimmt, wird Mazeppa zum Feldherrn gekürt. Neidgetrieben gelobt Iskra Rache.

„Masepa und Karl XII. nach der Schlacht von Poltawa“ (Gustaf Cederström)/Wikipedia

2. Akt. 1. Bild. Im Haus von Kotchoubey. 1. Szene.Matréna ist von Mädchen umringt. Sie stimmen ein Gebet zur Jungfrau Maria an. Matréna bittet um die Rückkehr Mazeppas, der das ukrainische Heer in den Krieg geführt hat. 2. Szene.  Kotchoubey kommt hinzu und preist die Tapferkeit Mazeppas, der selbst den Tod nicht scheut. Sein heldenhaftes Opfer werde den ruhmreichen Sieg krönen. Matréna zuckt zusammen. Beschwichtigend weissagt Kotchoubey die glückliche Rückkehr Mazeppas. 3. Szene. Nachdem Kotchoubey sich entfernt hat, gesteht sich Matréna ihre Liebe zu Mazeppa ein. Verzückt wünscht sie ihn herbei. 4. Szene. Iskra, der sie unbemerkt beobachtet hat, ergeht sich in Liebesbeteuerungen. Kühl antwortet Matréna ihm, sie würden nie zusammenkommen – ihre Zuneigung ihm gegenüber sei die einer Schwester. Von Eifersucht durchdrungen, behauptet er, Mazeppa sei tot. Aus Verzweiflung bekennt sie gegenüber Iskra schließlich ihre Liebe zu Mazeppa. Von draußen ertönen Jubelrufe: „Es lebe Mazeppa.“

2. Akt. Platz in Poltawa. 1. Szene.  Volk und Heer bejubeln Mazeppa. Er wendet sich an Matréna: Ihr Bild habe ihm zum Sieg verholfen. Die Schar begibt sich zur Kirche. 2. Szene.  In finsteres Grübeln versunken, trauert Iskra seiner Liebe zu Matréna nach. Gegenüber Kotchoubey verdächtigt er Mazeppa des Verrats. Kotchoubey erliegt den Ränken Iskras, während aus der Kirche heraus das Volk noch dem neuen Anführer seine Ehre erweist. 3. Szene. Als das Volk aus der Kirche tritt, wirft Iskra Mazeppa Verrat vor. Mazeppa wiederum erinnert die wutentbrannte Menge an den Sieg, den er als Feldherr erkämpfte. Mit dem Volk nunmehr auf seiner Seite droht er Iskra, er werde sich für die Revolte rächen. Matréna erfleht Mazeppa zu Füßen Gnade für Iskra. Das Volk bricht abermals in Jubelrufe aus. Nur einer lässt sich nicht davon mitreißen: Kotchoubey.

Titelblatt zur Mazurka aus Themen der Oper „Mazeppa“ von Clémence de Grandval, Pauline Viardot gewidmet/Palazzetto Bru Zane

3. Akt. Kotchoubeys Garten. 1. Szene. Im Mondlicht wartet Mazeppa auf seine Geliebte. Von seinen Gefühlen beflügelt, gibt er der Furcht vor Iskra keinen Raum. 2. Szene.  Matréna erscheint und schwört Mazeppa ewige Liebe. Als das Paar beschließt zu fliehen, überkommt Matréna die Erinnerung an ihren Vater. Sie vernehmen Schritte und verbergen sich in einer Hütte. 3. SzeneKotchoubey befiehlt Iskra, den Zaren von Mazeppas Verrat – nämlich einem Bündnis mit den Schweden – zu unterrichten. Matréna hört im Verborgenen alles und bleibt dennoch unbeirrt in ihrem Vertrauen auf Mazeppas Unschuld. 4. Szene.  Nachdem Kotchoubey und Iskra sich entfernt haben, nötigt Mazeppa seiner Geliebten den Schwur zum Gehorsam ab.

4. Akt.  Im Palast von Baturyn. 1. Szene.  Im prunkvollen Palast von Baturyn wird reichlich getafelt. Mazeppa und seine Krieger stoßen auf das Volk und die Liebe an. Den Feierlichkeiten wohnt auch Matréna bei, die inmitten anderer Mädchen in Festtagskleidung erscheint. Sie besingt das Vaterland und die Liebe. Doch immer wieder beschleicht Wehmut ihr Lied. Ungeduldig heißt Mazeppa die Musikanten, einen beschwingten Tanz anzustimmen. Noch ehe dieser verklingt, ertönt von Weitem Trauermusik. Ungeachtet der bangen Fragen Matrénas gebietet Mazeppa der Kapelle weiterzuspielen. Im Hintergrund ist nun der Trauerzug zu sehen. Der zum Tode Verurteilte ist Kotchoubey. 2. Szene. Verzweifelt erfleht Matréna von Mazeppa Gnade für ihren Vater. Doch Kotchoubey weist seine Tochter grimmig ab und verflucht sie. Als der Trauerzug im Begriff ist, sich zu entfernen, stürmt Iskra mit seiner Eskorte herbei. Er tut das Urteil des Zaren kund: Mazeppa sei ein Verräter. Auf dessen nachdrückliche Anweisung, Iskra festzunehmen, reagieren die Wachen nicht. Der den Trauerzug anführende Archimandrit enthebt in seiner Funktion als Herold des Zaren Mazeppa seiner Stellung. Matréna fleht ihren Vater um Vergebung an. Unerbittlich verwünscht er sie samt Mazeppa. Iskra und das Volk stimmen in den Fluch ein.

5. Akt. In der Steppe. Mazeppa denkt an seine Abenteuer zurück und wünscht sich den Tod. Aus der Ferne ist Matrénas Stimme zu vernehmen. Vollkommen in sich gekehrt, erkennt sie ihn nicht. Mazeppa offenbart sich ihr und bittet um Vergebung, die sie ihm schroff versagt. Entseelt sinkt sie zu Boden. Mazeppa stürzt auf ihre Leiche. (Programmheft zum Konzert)

.

.

„Mazeppa“: Lord Byron in albanischem Kostüm/ Ölbild von Thomas Philips, ca. 1835/Wikipedia

Dazu ein Einblick in die Geschichte Osteuropas durch Lord Byrons Gedicht Mazeppa: Im Jahr 1819 schrieb der bekannte englische Dichter der Romantik, Lord George Byron (1788-1824), ein erzählendes Gedicht über eine ukrainische historische Figur, Ivan Mazepa (1639-1709), die den Westeuropäern zu dieser Zeit kaum bekannt war. Im Laufe des 19. Jahrhunderts inspirierte Byrons Gedicht Mazeppa, von dem die Fisher-Bibliothek Toronto die erste Ausgabe besitzt, viele andere Künstler dazu, literarische, visuelle und musikalische Meisterwerke über ihn zu schaffen.

Ivan Mazepa (dies ist eine gebräuchlichere Schreibweise seines Namens im Gegensatz zu Mazeppa) war ein militärischer und politischer Anführer oder Hetman, der ukrainischen Kosaken-Hetmanate, einem autonomen Staat innerhalb Russlands zu dieser Zeit. Er war ein Adliger, ein geschickter und hochgebildeter Diplomat, polyglott, Förderer der Künste und Fürst des Heiligen Römischen Reiches. Mazepa ist für seine Rolle in der Schlacht von Poltawa im Jahr 1709 während des Großen Nordischen Krieges (1700–1721) bekannt, als seine Kosakentruppen sich im Rahmen eines geheimen Austauschs für die Unterstützung der ukrainischen Unabhängigkeit durch Schweden auf die Seite der schwedischen Armee von König Karl XII. gegen Russland stellten. Die Schlacht und später der Krieg führten zum Sieg Russlands, wodurch das Land zu einem mächtigen Staat wurde und der Lauf der Geschichte in Osteuropa verändert wurde.

Lord Byrons Gedicht basiert auf einer legendären Episode aus Mazepas früherem Leben in Polen, wo er als Page am Hofe von Johann II. Kasimir Wasa diente. Der junge Mann verliebte sich in die Frau eines Grafen, und als ihr Ehemann von der Affäre erfuhr, ließ er Mazepa nackt an ein wildes Pferd binden und dieses loslassen. (Die Szene ist in einem Gemälde, Mazeppa, von Théodore Géricault dargestellt, siehe unten.) Das Pferd ritt ostwärts und brachte ihn zurück in den Kosakenstaat, wo Mazepa später Hetman wurde.

Iwan Masepa/russ./Wikiwand

Wie die meisten romantischen Gedichte konzentriert sich Mazeppa auf die emotionale Erfahrung und die innere Welt des Helden, die durch die Darstellung der Landschaften, die der junge Mann durchquert, anschaulich zum Ausdruck gebracht werden. Die tiefe Symbolik des Werkes trägt dazu bei, das Bild Mazepas zu enthüllen. Die lange und strapaziöse Reise auf dem Rücken des Pferdes durch die Wildnis der ukrainischen Steppen, Wälder und reißenden Flüsse ist eine farbenfrohe Metapher für Mazepas entschlossene und leidenschaftliche Natur. Wie in seinem wirklichen Leben musste Mazepa Hindernisse und Gefahren überwinden, die durch die Wölfe und Krähen verkörpert werden, denen er begegnete. Das ausdauernde Wildpferd, das den jungen Mann in seine Heimat trägt, spielt auf das Streben nach Freiheit an:

Away, away, my steed and I, /Upon the pinions of the wind, /All human dwellings left behind; /We sped like meteors through the sky, /When with its cracking sound the night/Is chequer’d with the northern light.

In der romantischen Literatur ist das Pferd ein Symbol für Glück und Schicksal. Die Darstellung des wilden Pferdes, das Mazepa durch Wälder und Steppen von Polen in die Ukraine trägt, veranschaulicht die Beharrlichkeit auf dem schwierigen Weg zwischen Leben und Tod.

„Mazeppa“ als Film: „Mazeppa, or the Wild Horse of Tartary „(1910)/ Selig Polyscope Company; 1919 findet sich zudem ein deutscher Film von Helmut Berger/B Z Film GmbH: „Mazeppa, Volksheld der Ukraine“, wie auf dem Poster für das Berliner Marmorhaus angezeigt.

Byron schrieb sein Gedicht Mazeppa während einer Reise durch Italien, das sich mitten in der Befreiungsbewegung gegen Österreich befand. Als begeisterter Anhänger des Unabhängigkeits-Kampfes europäischer Nationen, insbesondere Italiens und Griechenlands, könnte der Dichter aus diesem Grund motiviert worden sein, über den Anführer des Kosakenstaates zu schreiben, der ebenfalls darum kämpfte, sich von der kaiserlichen Herrschaft zu befreien. Lord Byron war nicht der einzige Künstler, dessen Fantasie vom außergewöhnlichen Schicksal Iwan Masepas gefesselt wurde.

Tatsächlich wurde Byron selbst dazu inspiriert, sein Gedicht über den dramatischen Vorfall aus dem Leben des jungen Hetmans zu schreiben, nachdem er in Voltaires Geschichte Karls XII., König von Schweden (1731) davon erfahren hatte. Nach Byron nahm Victor Hugo in seiner Sammlung Les orientales (1828) sein eigenes Gedicht Mazeppa als seine poetische Interpretation der Episode auf.

Die Legende über das Pferd, das mit dem zukünftigen Hetman ausgesetzt wurde, faszinierte viele französische Maler der Romantik – Géricault, Eugène Delacroix, Horace Vernet, Nathaniel Currier, Théodore Chassériau und Louis Boulanger. Die Geschichte fand auch Eingang in Musikwerke wie die symphonische Dichtung Mazeppa des ungarischen Komponisten Franz Liszt sowie in Theaterstücke (z. B. das Drama Mazepa des polnischen Dichters der Romantik Juliusz Słowacki). Diese Liste ist bei Weitem nicht vollständig.

Das erzählende Gedicht Mazeppa zeigt die Kraft der Poesie, einer prägnanten und doch eloquenten Kunst, die es uns ermöglicht, in der Geschichte zurückzugehen und die geopolitische Lage der Zeit, die wichtigsten Entwicklungen und Persönlichkeiten der Staatsführer in nur wenigen tausend Worten zu erkunden. Durch symbolische Vergleiche, rhythmische Verse und eine lebendige Darstellung von Charakteren und Atmosphäre kann man leicht dazu verleitet werden, mehr über die Geschichte und den Aufbau der Nationen der heute existierenden Staaten zu erfahren. (…)  Natalia Mykhaylychenko, Akquisitionsspezialistin/Fisher Library Toronto

.

.

Und schließlich noch ein Beitrag von der chinesischen KI-Datenbank DeepSeek zu Russischen Opern im Paris des ausgehenden 19. Jahrhunderts:  In den 1870er und 1880er Jahren waren russische Opern in Paris noch relativ unbekannt, aber es gab einige bemerkenswerte Ereignisse, die dazu beitrugen, das Interesse an russischer Musik in der französischen Hauptstadt zu wecken.

Weltausstellung 1878 in Paris: Die Weltausstellung von 1878 in Paris war ein wichtiges Ereignis, bei dem auch russische Kultur und Musik präsentiert wurden. Russische Komponisten wie Nikolai Rimski-Korsakow und Alexander Borodin waren vertreten, und es gab Aufführungen russischer Musik, darunter auch Ausschnitte aus Opern. Dies war eine der ersten Gelegenheiten, bei der ein breiteres Pariser Publikum mit russischer Opernmusik in Kontakt kam.

Zu Grandvals „Mazeppa“: Ivan Korsow in der Titelrolle von Tschaikowskys gleichnamiger Oper in der Uraufführung des Werkes/Ipernity

Einfluss von Tschaikowsky: Pjotr Iljitsch Tschaikowsky, einer der bekanntesten russischen Komponisten, begann in den 1870er und 1880er Jahren international anerkannt zu werden. Seine Werke, darunter auch Opern wie Eugen Onegin (1879), wurden jedoch in Paris in dieser Zeit noch nicht regelmäßig aufgeführt. Tschaikowsky selbst besuchte Paris mehrfach und seine Musik wurde dort gelegentlich gespielt, aber seine Opern waren noch nicht Teil des regulären Repertoires.

Russische Gastspiele: In den 1880er Jahren gab es vereinzelte Gastspiele russischer Künstler und Ensembles in Paris, die auch Opernaufführungen beinhalteten. Diese Veranstaltungen waren jedoch eher selten und richteten sich oft an ein spezialisiertes Publikum, das bereits ein Interesse an russischer Kultur hatte.

Einfluss der „Mächtigen Häuflein“: Die Gruppe der „Mächtigen Häuflein“ (auch bekannt als „Das mächtige Häuflein“ oder „Die Fünf“), zu der Komponisten wie Modest Mussorgski, Alexander Borodin und Nikolai Rimski-Korsakow gehörten, begann in den 1870er Jahren, eine eigenständige russische Musiktradition zu entwickeln. Ihre Werke, darunter Opern wie Mussorgskis Boris Godunow (1874), wurden in Russland aufgeführt, fanden aber nur langsam den Weg nach Westeuropa. In Paris waren diese Opern in den 1870er und 1880er Jahren noch kaum bekannt.

Kultureller Austausch: Der kulturelle Austausch zwischen Russland und Frankreich nahm in dieser Zeit langsam zu, insbesondere durch die Bemühungen von Musikverlegern und Kritikern. Einige französische Musiker und Intellektuelle begannen, sich für die russische Musik zu interessieren, was in den folgenden Jahrzehnten zu einer stärkeren Präsenz russischer Opern in Paris führte.

Fazit: In den 1870er und 1880er Jahren waren russische Opern in Paris noch nicht weit verbreitet, aber es gab erste Anzeichen eines wachsenden Interesses. Die Weltausstellung von 1878 und vereinzelte Gastspiele russischer Künstler trugen dazu bei, das Pariser Publikum mit russischer Musik vertraut zu machen. Die eigentliche Popularität russischer Opern in Paris sollte jedoch erst in den folgenden Jahrzehnten, insbesondere im frühen 20. Jahrhundert, mit den Ballets Russes und den Aufführungen von Werken wie Boris Godunow und Der goldene Hahn, zunehmen.

.

Zu Grandvals „Mazeppa“: Georgette Silver-Bréval war die erste Matréna/Ipernity

Gibt es Hinweise darauf dass Tschaikowkis Oper Mazeppa damals in Westeuropa bekannt war? Tschaikowskis Oper Mazeppa, die 1884 uraufgeführt wurde, war in den 1880er Jahren in Westeuropa, einschließlich Frankreich, noch nicht sehr bekannt. Es gibt jedoch einige Hinweise darauf, dass das Werk langsam an Aufmerksamkeit gewann, insbesondere in Kreisen von Musikern und Musikliebhabern, die sich für russische Musik interessierten.

Begrenzte internationale Präsenz: Mazeppa wurde am 15. Februar 1884 in Moskau uraufgeführt und später im selben Jahr in St. Petersburg aufgeführt. Obwohl die Oper in Russland erfolgreich war, dauerte es einige Zeit, bis sie außerhalb Russlands bekannt wurde. In den 1880er Jahren gab es nur wenige Aufführungen von Tschaikowskis Opern in Westeuropa, und Mazeppa war keine Ausnahme.

Tschaikowskys wachsender internationaler Ruf: Tschaikowsky selbst begann in den 1880er Jahren international anerkannt zu werden, vor allem durch seine symphonischen Werke und Ballette wie Schwanensee (1876) und Dornröschen (1890). Seine Opern, darunter Mazeppa, waren jedoch weniger bekannt. Tschaikowsky unternahm in den 1880er Jahren mehrere Reisen nach Westeuropa, darunter nach Paris, wo er seine Musik dirigierte und Kontakte zu westlichen Musikern knüpfte. Dies trug dazu bei, sein Gesamtwerk bekannter zu machen, aber Mazeppa blieb zunächst im Hintergrund.

Veröffentlichungen und Kritiken: Es gibt Hinweise darauf, dass Partituren und Klavierauszüge von Tschaikowskys Werken, darunter auch Mazeppa, in den 1880er Jahren in Westeuropa veröffentlicht wurden. Dies ermöglichte es Musikern und Kritikern, sich mit dem Werk vertraut zu machen, auch wenn es nicht häufig aufgeführt wurde. Einige westliche Musikkritiker begannen, sich für Tschaikowskys Opern zu interessieren, und es gab vereinzelte Erwähnungen von Mazeppa in Fachzeitschriften.

Erste Aufführungen außerhalb Russlands: Die erste Aufführung von Mazeppa außerhalb Russlands fand 1888 in Prag statt, was ein wichtiger Schritt für die internationale Verbreitung der Oper war. In Westeuropa, insbesondere in Frankreich, gab es jedoch in den 1880er Jahren noch keine nennenswerten Aufführungen. Die Oper wurde erst später, im frühen 20. Jahrhundert, in westeuropäischen Ländern bekannter.

Kultureller Austausch: Der kulturelle Austausch zwischen Russland und Westeuropa nahm in den 1880er Jahren zu, und Tschaikowsky spielte dabei eine wichtige Rolle. Seine Bekanntschaft mit westlichen Komponisten wie Antonín Dvořák und Edvard Grieg sowie seine Auftritte in Westeuropa trugen dazu bei, dass seine Musik, einschließlich seiner Opern, langsam auch im Westen bekannt wurde.

Fazit: In den 1880er Jahren war Tschaikowskis Oper Mazeppa in Westeuropa, einschließlich Paris, noch nicht weit verbreitet. Es gab jedoch erste Anzeichen eines wachsenden Interesses, insbesondere durch die Veröffentlichung von Partituren und die zunehmende internationale Anerkennung Tschaikowskys. Die eigentliche Popularität von Mazeppa in Westeuropa sollte erst in den folgenden Jahrzehnten zunehmen, als Tschaikowskys Werk insgesamt bekannter wurde und seine Opern häufiger auf internationalen Bühnen aufgeführt wurden. DeepSeek

.

.

Dank an Florian Heurich und an Doris Sennefelder vom Rundfunk Orchester des Bayerischen Rundfunks sowie an Natalia Mykhaylychenko von der Fisher Library Toronto; das Konzert von Clémence de Grandvals Mazeppa wurde am 19. januiar 2025 auf BR gesendet und ist als Podcast einen Monat lang zu hören. Besetzung: Nicole Car/Matréna, Tochter von Kotchoubey; Julien Dran/Iskra; Tassis Christoyannis /Mazeppa; Paweł Trojak/Der Archimandrik; Ante Jerkunica/Kotchoubey; Chor des Bayerischen Rundfunks/Stellario Fagone; Münchner Rundfunkorchester/Mihhail Gerts.

Koproduktion mit Palazzetto Bru Zane – Centre de musique romantique française; Livemitschnitt für die Reihe der CD-Bücher „Opéra français“ unter dem Bru Zane Label; Liveübertragung im Radio auf BR-KLASSIK am 19. Januar 2025: rundfunkorchester.de/audio-video brklassik.de/programm/radio: Französisch-deutsches (!) Libretto: rundfunkorchester.de/mazeppa.

Dank auch an meinen Kollegen und Freund Matthias Käther für seinen Blick in die chinesische KI-Platform DeepSeek, die sich bei allen Vorbehalten als außerordentlich kompetent erweist.-

Abbildung oben/Ausschnitt: Gemälde von Iwan Mazeppa, Pawliszak, Wacław (1866-1905); Nationalmuseum Warschau, Public Domain

Lieder aus zwei Heimaten

.

Mit ihrem Debütalbum Heimwee schlägt die südafrikanische Sopranistin Linda van Coppenhagen eine aufschlussreiche Brücke zwischen den Kulturen, wenn hier die deutsche Romantik ausgesuchten Liedern eines südafrikanischen Komponisten begegnen. Linda Van Coppenhagen und ihre Mitmusikerin, die Klarinettistin Friederike von Oppeln-Bronikowski sowie der Pianist David Grant schaffen hier in symbiotischer Interaktion ein berührendes Ganzes mit Entdeckungswert.

Als einer der wenigen hat Louis Spohr in seinen Sechs Deutschen Lieder op. 103 das Potenzial der Kombination Stimme plus Klarinette plus Klavier erkannt. Bereits im ersten Lied Sei still mein Herz wird die Dialogstruktur zwischen Klarinette und Gesang deutlich: Die Klarinette agiert als „zweite Stimme“, die das Unaussprechliche hinter den Worten weiter verstärkt, was auch für die weiteren Stücke in diesem Zyklus so wirkt.

Kaum hierzulande bekannt ist Kammermusik aus Südafrika, deren Tradition trotz der historischen Konnotationen der Apartheid hohen Respekt verdient. Das beweisen nicht zuletzt die Werke von Stephanus Le Roux Marais (1896-1979), dessen Liedkompositionen durch die Interpretation auf dieser CD wie echte Kostbarkeiten funkeln. Insbesondere das titelgebende Stück Heimwee – so die Schreibweise dieses Wortes in Linda Coppenhagens Muttersprache afrikaans -spiegelt das große, brennende Gefühl der Sehnsucht wider – ein Thema, das van Coppenhagen besonders während der Pandemie erlebte, als die Reiseverbote sie physisch von ihrem Herkunftsland trennten und was letztlich zur vorliegenden CD-Produktion den ersten Anstoß lieferte. Die darstellerische Intensität ihres Gesangs, besonders in den melancholischen Untertönen, unterstreicht diese Involviertheit eindrucksvoll. Im Gegensatz dazu steht das kraftvolle Mali die slaaf se Lied, das die Geschichte von Sklaverei und Unterdrückung in Südafrika thematisiert und als musikalischer Kommentar zur sozialen Ungerechtigkeit der Vergangenheit und Gegenwart gehört werden kann. Lebensbejahung und die Hoffnung auf einen Neuanfang finden sich in dem Lied Geboorte van die Lente (Geburt des Frühlings),  das durch seine sprudelnden Melodien und dynamische Rhythmik das Thema der Erneuerung feiert.

In den nun folgenden Liedern von Richard Strauss zeigt die Sopranistin noch mehr interpretatorische Versiertheit: Die dramatischen Ausbrüche in Schlechtes Wetter, zu denen David Grants virtuoses Klavierspiel die hämmernden Regentropfen plastisch abbildet, nimmt man der Südafrikanerin, die hier in Deutschland die sonnendurchflutete Weite ihrer Heimat vermisst, ohne weiteres ab. Silbrig-leicht lässt sie die Höhen im Ständchen leuchten. Schlagende Herzen überzeugt durch die präzise Darstellung innerer Aufgewühltheit, während Ich trage meine Minne von zarter Hingabe geprägt ist. In Die Nacht beeindruckt van Coppenhagen durch subtile dynamische Abstufungen und die Fähigkeit, düster-meditative Stimmungen zu kreieren.

Abschließend greift Franz Schuberts Der Hirt auf dem Felsen als dramatisches Finale noch einmal den „Trialog“ zwischen Sopran, Klarinette und Klavier auf überzeugende Weise auf. Entstanden im Frühling 1828, kurz vor Schuberts Tod, beschwört dieses Stück das Bild eines Hirten, der auf einem Felsen sitzt und auf die Ferne blickt. Van Coppenhagen und ihre Mitmusiker fühlen sich hier tief in die innige Verbindung zwischen Natur und Liebe ein, wie sie dieses Schubert-Lied thematisiert.

Fazit: Diese Sopranistin aus Südafrika beherscht mit ihren beiden Begleitern die hohe Kunst, im knappen Format eines Liedes emotional und atmosphärisch auf den Punkt zu kommen. Ihre Debüt-CD ist auf jeden Fall eine künstlerische Visitenkarte mit Gewicht (Monarda Music 2024/ Foto oben/Ausschnitt: Die Drakensberge in Südafrika/Foto Royal Natal). Stefan Pieper

Bach-Wohlklang

.

Beim Label APARTÉ hat der junge ungarische Countertenor  Zoltan Darago 2023 in Paris ein Debütalbum aufgenommen, das den Titel Arias for Alto trägt (AP336). Sie stammen sämtlich aus dem Kantaten-Kosmos von J. S. Bach, aus dem der Sänger elf Arien ausgewählt hat. Das Album wird geadelt durch die Mitwirkung von Les Talens Lyriques unter ihrem Leiter Christophe Rousset. Man bedauert, dass das Ensemble keinen instrumentalen Beitrag beigesteuert hat. Aber der Sänger sorgt mit seiner warmen, wohllautenden Stimme für einen großen Hörgenuss. Zu bemängeln ist allerdings die mangelnde Textverständlichkeit – an seiner Artikulation müsste der Altus unbedingt arbeiten.

Unter den elf Arien sind so bekannte wie „Vergnügte Ruh, beliebte Seelenlust“ (BWV 170) und „Geist und Seele wird verwirret“ (BWV 35). Das Programm beginnt mit einer seltener zu hörenden Arie („O Mensch, errette deine Seele“) aus der Kantate „O Ewigkeit, du Donnerwort“ (BWV 20). Darago singt sie mit wunderbarer Sanftheit und lässt sogleich seine Affinität zu Bachs Musik spüren. Es folgen zwei gleichfalls weniger bekannte Arien: „Wie furchtsam wankten meine Schritte“ aus „Allein zu dir, Herr Jesu Christ“ (BWV 33) und  „Wohl euch, ihr auserwählten Seelen“ aus „O ewiges Feuer“ (BWV 34). In diesen getragenen Stücken mit ihren ruhig fließenden Passagen kommt die Schönheit der Stimme besonders zum Tragen.

Koloraturen gibt es in Bachs Kantaten nur selten. Zu hören sind sie in „Gott hat alles wohl gemacht“ aus „Geist und Seele wird verwirret. In der Interpretation des Altus verschwimmt jedoch die Kontur in der Stimmführung. Festlich wird die Arie „Erfreute Zeit“ aus der gleichnamigen Kantate (BWV 83) eingeleitet. Auch sie verlangt dem Interpreten jubelnde Koloraturen ab. Die Anthologie endet mit der Arie „Sei bemüht in dieser Zeit“ aus „Barmherziges Herze der ewigen Liebe“ (BWV 185 ), in welcher der Sänger noch einmal mit dem Wohlklang seiner Stimme besticht. Bernd Hoppe

100 Jahre Operngeschichte für die Bass-Stimme

.

„Fra  l´ombre e gl´orrori“ heißt ein Album des argentinischen Bassisten Nahuel Di Pierro bei Audax Records, das im Februar 2023 in Paris entstand (ADX 11210). Der Titel entspricht der Arie gleichen Namens aus Händels Kantate Aci, Galatea e Polifemo von 1708. Es ist dies eine der anspruchsvollsten Nummern des gesamten Bass-Repertoires wegen des geforderten immensen Stimmumfangs von über 2 1/2 Oktaven. Di Pierro meistert diese Herausforderung mit seiner sonoren Stimme, die auch in der Extremtiefe noch Wohlklang besitzt,  bewundernswert, so wie er auch die Tessitura in Argantes triumphierender Arie „Sibillar gli angui d´aletto“ aus Händel Rinaldo stupend bewältigt. Sie steht am Schluss des Programms und beendet dieses bravourös. Einen Interpreten von Ausnahmeformat verlangt auch  Claudios Arie „Cade il mondo“ aus Händels Agrippina mit ihren orgelnden tiefen Tönen und großen Sprüngen. Ein weiterer Beitrag aus Händels Oeuvre stammt aus Orlando. Es ist die mit Koloraturen gespickte Arie des Zauberers Zoroastro „Sorge infausta una procella“, in welcher Di Pierro sein virtuoses Vermögen beweist. Mit ihr ergibt sich ein interessanter Vergleich zu Vivaldis gleichnamiger Oper, aus der Di Pierro allerdings eine Arie des Titelhelden („Ah sleale, ah spergiura“) ausgewählt hat. Es ist eine spannungsgeladene Wahnsinnsszene von deklamatorischem Charakter, weil Orlandos angebetete Prinzessin Angelica sich dem heidnischen Soldaten Medoro zugewandt hat. Von Vivaldi gibt es zudem die dramatisch aufgewühlte Arie des Tito Manlio „Se il cor guerriero“ aus dem gleichnamigen Dramma per musica. Ähnlich anspruchsvoll, was den geforderten Stimmumfang betrifft, ist die Arie des Titelhelden „Occhi belli“ aus Giovanni Bononcinis Il ritorno di Giulio Cesare, in der er Calpurnia, seiner letzten Ehefrau, eine überschwängliche Liebeserklärung macht. Der Sänger lässt hier eine ganz sanfte, schwärmerische Stimme hören.

Das Programm des Albums umfasst das Repertoire für die Bass-Stimme von den Anfängen der Oper bis zu ihrer Blüte im Hochbarock, also um die 100 Jahre. Es beginnt – nach dem instrumentalen Einstieg mit der Sinfonia aus Michelangelo Rossis Erminia  sul Giordano – mit Senecas Abschiedsszene „Amici, è giunta l´ora“ aus Monteverdis Poppea. Der Philosoph ist die erste große Bass-Partie der Oper und der Sänger überzeugt hier mit großer Autorität. Auch Francesco Cavallis Ercole amante stammt aus den Anfängen des Genres. Die Arie des Titelhelden „Ma qual pungente arsura“ zeigt ihn kurz vor seinem Selbstmord, weil er, um Schmerzen zu entgehen, ins Feuer springt. Die existentielle Situation der Figur schildert der Interpret mit intensiver Klangrede ungemein plastisch.

Die insgesamt 13 interpretierten Szenen stammen auch von weniger bekannten Komponisten wie Antonio Sartorio (La Prosperità di Elio Seiano), Marc´Antonio Ziani (Alba Soggiogata da´Romani) und Antonio Giannettini (L´ingresso alla gioventù di Claudio Nerone). Einige davon sind Weltersteinspielungen.

Zudem enthält die Anthologie mehrere Instrumentalstücke (aus Zianis Il duello d´amore e di vendetta, Bononcinis Giulio Cesare und Alessandro Scarlattis La caduta de´ decemviri), in denen das klangschön begleitende Ensemble Diderot unter Leitung des Geigers Johannes Pramsohler von kammermusikalischer Durchsichtigkeit bis zu barocker Prachtentfaltung brilliert. Bernd Hoppe

Im Zwielicht

.

Die Neuaufnahme von Händels Rinaldo bei GLOSSA, entstanden im August 2023 in London, dürfte es schwer haben, sich gegen die derzeit existierenden Einspielungen zu behaupten. Man denke nur an Carolyn Watkinson bei Sony, Marilyn Horne bei Nuova Era oder David Daniels bei Decca. Bei GLOSSA ist eine höchst divergente Besetzung versammelt, die in einigen Fällen dem musikalischen Anspruch der Kompostion nicht genügt. Die Aufnahme beginnt verstörend mit dem Auftritt des Heerführers Goffredo, den unverständlicherweise der Dirigent Marco Angioloni übernommen hatte. Sein Tenor klingt dilettantisch, eng und strapaziert in der Höhe und meckernd in den Koloraturen. In der Arie „Siam prossimi al porto“, welche den 2. Akt einleitet, muss die Stimme regelrecht. kapitulieren. Die doppelte Verpflichtung ist umso befremdlicher, da er mit dem Ensemble IL GROVIGLIO für ein farbenreiches, akzentuiertes Spiel mit spannenden Kontrasten und Effekten sorgt, seine Meriten also eher als Orchesterleiter hat. Ungenügend ist zudem der Bassist Michele Mignone als Mago cristiano und Araldo, der sich mit brummiger Stimme durch die Arie „Andate, o forti“ im 3. Akt quält.

Einen zwiespältigen Eindruck hinterlässt auch Filippo Mineccia als Titelheld, bei dem die Tendenz zu heulenden Tönen sich verstärkt hat. Darunter leiden besonders der Auftritt mit „Ogn´ indugio“ und gegen Ende des 1. Aktes „Cor ingrato“. Ihm fallen einige Hits des Werkes zu – „Cara sposa“ als getragenes, inniges Liebesbekenntnis und „Venti, turbini, prestate“ als entfesselter Sturm der Leidenschaft. Das erste Solo zeichnet er mit Tönen zwischen Wehmut und Larmoyanz, das zweite mit vehementen Koloraturläufen. An seine frühere Form erinnert der Sänger in „Abbruggio avvampo e fremo“.

So avanciert die renommierte Sopranistin Roberta Mameli als Almirena zum Star der Aufnahme. Die Stimme ist delikat, leuchtend und anmutig – und das nach jahrelanger Karriere. Mit feinen Tönen absolviert sie ihren Auftritt „Quel cor che mi donasti“ und bezaubert in der Arie „Augelletti, che cantate“, welche Vogelstimmen imitiert, mit Süße und Empfindung. Für ihren Hit „Lascia ch´io pianga“ findet sie ganz neue Varianten mit individuellen Verzierungen. Die beiden Arien am Ende des 2. Aktes, „Ah! crudel!“ und „Parolette, vezzi e sguardi“, gehören zu den Höhepunkten der Einspielung – erstere mit tiefer Empfindung vorgetragen, die zweite beherzt und kokett.

Eine Überraschung ist der belgische Countertenor Logan Lopez Gonzalez als König von Jerusalem Argante mit warmem, noblem Timbre, das vielleicht nicht dem Charakter der kriegerischen Figur entspricht, in seiner Kultiviertheit aber besticht. Die zärtliche Arie „Per salvarti, idolo mio“ im 2. Akt entspricht seinem stimmlichen Naturell perfekt.

iAls Zauberin Armida, Argantes Geliebte, ist Vivica Genaux zu erleben, eine Veteranin der Barockszene, die mit dramatischem Aplomb singt und schon bei ihrem Auftritt, „Furie terribili“, mit enormer Attacke fasziniert. Die Szene wird vom Orchester rasant eingeleitet, was die Sängerin aufnimmt und sich furchtlos in extreme Ausdrucksaffekte stürzt. Beeindruckend auch ihr letztes Solo „Fatto è Giove un dio d´inferno“ mit dem Ausdruck geschuldeten

Verfärbungen und Brüchen der Stimme. Francesca Martini komplettiert als Donna und Sirena die Besetzung, hat mit der Arie „Il vostro maggio“ eines der reizendsten Stücke. des Werkes zu singen, was ihr ansprechend gelingt.

Trotz aller Einschränkungen ist die Neuaufnahme interessant wegen der gewählten Fassung. 1711 wurde das Werk als erste italienische Oper Händels für London im dortigen King´s Theatre in the Haymarket uraufgeführt, aber GLOSSA bietet die Version von 1731. Händel hatte dafür einige Arien aus seinen Opern Lotario, Partenope und Admeto eingefügt, die Musiknummern neu geordnet und den Schluss geändert. Armida und ihr Geliebter werden nun von einem Drachenwagen entführt, statt sich zum katholischen Glauben zu bekehren.   Bernd Hoppe    

Edith Mathis

.

Wenn das Publikum eine Sängerin oder einen Sänger ins Herz schließt, liegt das oft nicht nur an ihren vokalen Künsten, sondern auch daran, dass dieser Mensch auf der Bühne in Auftreten und Stimme einen Typ verkörpert, der den Geist seiner Zeit spiegelt. So dürften etliche Besucher, die am 1. Februar 1963 das Hausdebüt von Edith Mathis an der Deutschen Oper Berlin erlebten, an Audrey Hepburn gedacht haben, die kurz zuvor mit Filmen wie „Frühstück bei Tiffany“ und „Ein Herz und eine Krone“ ein neues, mädchenhaftes Frauenideal etabliert hatte. Denn Mathis, die nach einer ersten Karrierestation in Köln mit ihrem Auftritt als Zerlina in DON GIOVANNI zum Ensemble der Deutschen Oper stieß, verkörperte dieses Ideal einer mädchenhaften, zugleich übermütigen wie verletzlichen Unschuld nicht nur optisch mit großen dunklen Augen, kurzen dunklen Haaren und filigraner Erscheinung – die Schweizer Sopranistin besaß auch genau die Stimme für solche jungen Opernfrauen wie Susanna im FIGARO, Sophie im ROSENKAVALIER und Ännchen im FREISCHÜTZ. All diese Partien meisterte Edith Mathis mit unaffektierter Eleganz, deren Ausdrucksspektrum von quecksilbriger Munterkeit bis zu der anrührenden Traurigkeit von Mozarts Pamina, einer weiteren ihrer Paradepartien, reichte. Nur zu verständlich, dass Edith Mathis in den sechziger Jahren nicht nur in Berlin zum Publikumsliebling wurde, sondern schnell eine Weltkarriere machte, bei der sie von Dirigenten wie Karajan und Böhm immer wieder gefördert wurde. Die Deutschen Oper Berlin konnte den jungen Weltstar bis 1971 halten – später kehrte Mathis nur noch Ende der achtziger Jahre als Pamina an ihr einstiges Stammhaus zurück. Doch nicht nur diese insgesamt 170 Abende verbinden Edith Mathis mit der Deutschen Oper Berlin. Ihr Wirken an diesem Haus ist auch durch einige bis heute maßstäbliche Aufnahmen dokumentiert, vor allem Mozarts DIE HOCHZEIT DES FIGARO unter Karl Böhm und Henzes DER JUNGE LORD.

Kurz vor ihrem 87. Geburtstag ist Edith Mathis nun in ihrer Wahlheimat Salzburg verstorben. Die Deutsche Oper Berlin wird ihr ein ehrendes Andenken bewahren. (Quelle Deutsche Oper Berlin)

.

.

Edith Mathis wurde am 11. Februar 1938 in Luzern geboren und starb am 9. Februar 2025 in Salzburg. Sie galt als eine der profiliertesten Mozart-Interpretinnen ihrer Zeit.

Edith Mathis studierte an den Konservatorien Luzern und Zürich (bei Elisabeth Bossart). Ihre ersten Bühnenerfahrungen sammelte sie in ihrer Heimatstadt. Dort gab sie 1957 ihr Debüt als 2. Knabe in Mozarts Zauberflöte. Von 1959 bis 1963 war die junge Sopranistin vier Jahre Ensemblemitglied des Opernhauses in Köln, ab 1963 der Deutschen Oper Berlin. Gleichzeitig führten Edith Mathis Gastspiele an die Staatsoper Hamburg, zum Glyndebourne Festival und immer wieder zu den Salzburger Festspielen. Weitere wichtige Stationen ihrer Karriere waren unter anderem: Covent Garden Opera London, Bayerische Staatsoper München, Metropolitan Opera New York, Wiener Staatsoper, Gran Theatre del Liceu Barcelona, Opéra de Paris. Besondere Höhepunkte ihrer künstlerischen Laufbahn waren ihre Teilnahme an den Uraufführungen der Opern Der Zerrissene von Gottfried von Einem am 17. September 1964 an der Hamburgischen Staatsoper, Der junge Lord von Hans Werner Henze am 7. April 1965 am Deutschen Opernhaus Berlin und Hilfe, Hilfe, die Globolinks von Gian Carlo Menotti am 21. Dezember 1968 an der Hamburgischen Staatsoper.

Edith Mathis’ Repertoire erstreckte sich von den leichten lyrischen Partien Mozarts (Despina, Cherubino, Susanna, Zerlina) bis zum jugendlichen Fach (Agathe / Der Freischütz, Marschallin / Der Rosenkavalier, Contessa / Die Hochzeit des Figaro). Sie sang unter Herbert von Karajan, Karl Böhm sowie Karl Richter einige ihrer bedeutendsten Schallplatteneinspielungen (DGG, EMI, Philips usw.). Sowohl ihr Ännchen im Freischütz als auch ihre Susanna in Le Nozze di Figaro gelten als maßstäblich. Auch als Kunstlied- und Oratoriensängerin machte sich Edith Mathis einen Namen. Besonders am Herzen lag ihr die geistliche Musik von Johann Sebastian Bach. Ihr Vortrag bestach vor allem durch musikalische Ausdruckskraft und Stimmschönheit.

1979 wurde Edith Mathis zur bayerischen Kammersängerin ernannt.[2] Von 1992 bis 2006[2] war sie Professorin für Lied- und Oratorieninterpretation an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. 2001 trat sie von der Bühne zurück.[3] Sie leitete zahlreiche Meisterkurse in Europa, Japan, Korea, Kanada und in den USA. Eine ihrer Schülerinnen war Diana Damrau.

Edith Mathis war lange Zeit mit dem Dirigenten Bernhard Klee verheiratet, und zuletzt mit dem Kunstsammler Heinz Slunecko. Im Februar 2025 starb sie zwei Tage vor ihrem 87. Geburtstag in Salzburg. (Quelle Wikipedia/Foto Dacapo August Everding ZDF)

Vielstimmig Lobendes aus München

.

Im September 2023 trat Simon Rattle sein Amt als Chefdirigent von Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks an. Dazu hatte er sich als ausgewiesener Joseph-Haydn-Fan dessen Oratorium Die Schöpfung ausgewählt, das er mit den beiden Klangkörpern im Herkulessaal der Residenz in München und in der Basilika des Klosters Ottobeuren im Unterallgäu aufführte. Von Rattle ist bekannt, dass er das Oratorium besonders wegen seines optimistischen Menschenbildes liebt; er soll augenzwinkernd behauptet haben:  Wer sich nach diesem Stück nicht automatisch besser fühlt, braucht dringend Hilfe. Diese positive Sicht kommt in der von BR KLASSIK mitgeschnittenen Aufführung durchweg zum Tragen.

Das in allen Instrumentengruppen ausgezeichnete Symphonieorchester beschreibt zunächst unter der souveränen Leitung ihres Chefs die Haydn-Sicht des vor der Entstehung der Welt bestehenden Chaos‘, das unter Vermeidung klarer Tonarten durch den fahlen Gesang des Solo-Basses und sogar manch Dissonantes charakterisiert wird. Dann kommt es nach knapp zehn Minuten zu und es ward Licht zu dem immer wieder überwältigenden, von Trompeten überstrahlten Fortissimo-C-Dur-Akkord mit ungeheurer Leuchtkraft und Intensität. Im Folgenden fallen die von Rattle bevorzugten zügigen Tempi auf, wobei häufige Tonmalerei (Sternenhimmel, Regen und Schnee oder Meereswogen bis zur vielfältigen Tierwelt) genüsslich ausgekostet wird. Der Chor des Bayerischen Rundfunks zeigt sich in der Einstudierung von Peter Dijkstra sorgfältig vorbereitet, indem er wunderbar ausgewogene Klänge hören lässt und dabei auch in der Polyphonie einiger Chöre stets transparent bleibt. Angemessen wird der starke Jubel in den Jubelchören zum Lob Gottes ausgedeutet, bis der technisch anspruchsvolle Schlusschor von allen glänzend präsentiert wird.

Die Gestaltungskraft und gute Diktion des niveauvollen Solistentrios sind über jeden Zweifel erhaben. Es wird von der englischen Sopranistin Lucy Crowe angeführt, die mit blitzsauberer Führung ihrer schlanken Stimme, glasklaren Läufen und Verzierungen begeistert. Auch der Tenor Benjamin Bruns gefällt mit klarer Stimmführung und bester Textverständlichkeit.  Schließlich sind die Partien des Raphael und Adam dem Bariton Christian Gerhaher anvertraut, der vor allem als Adam überzeugt, wenn er mit der Sopranistin z.B. das Liebesduett im 3.Teil in schönstem Legato aussingt; für die tiefere Tessitura des Raphael fehlt ihm einiges an nötiger Bassgrundierung.

Insgesamt ist den hochkarätigen Musikern eine wirklich hörenswerte Aufnahme des beliebten Oratoriums gelungen (BR KLASSIK 900221). Gerhard Eckels

.

.

Mit Vater, Großvater und Urgroßvater als Organist und Komponist für Kirchenmusik schien auch für den jungen Giacomo Puccini die Bestimmung, sich der geistlichen Musik zu widmen, eine gesicherte zu sein, betätigte sich zunächst mit seinem Wirken als Organist und der Komposition seiner Messa di Gloria, die eigentlich viel mehr als eine solche ist, die eigentlich nur aus Kyrie und Gloria bestehen sollte, während der einundzwanzigjährige Puccini die gesamte Liturgie vertonte. Auf der von BR Klassik herausgegebenen CD sind außerdem noch ein Preludio sinfonico und die beliebten Crisantemi, in Italien die Blumen für die Toten, zu finden, und zwar in der Fassung für Streichorchester. Dem Opernfreund wird vieles bekannt vorkommen, so verwendete der Komponist das Agnus Dei für das Madrigal in Manon Lescaut, das Kyrie in Edgar und Motive der Crisantemi gleich in mehreren Opern.

Seit 2017 ist der kroatische Dirigent Ivan Repušic´ Chef des Münchner Rundfunkorchesters,   seit 2014 ständiger Gastdirigent der Deutschen Oper Berlin und designierter Generalmusikdirektor des Leipziger Gewandhausorchesters ab der Spielzeit 2025/26. Mit den Münchnern hat er sich besonders mit der Aufführung verschiedener Verdi-Opern hervorgetan.

Die Messa di Gloria beginnt mit süßem Streicherklang, der eher an eine zarte Liebesgeschichte denken lässt als an ein Flehen um Erbarmen, der spätere Opernkomponist ist bereits in diesem geistlichen Werk zu vernehmen und es lässt nicht verwundern, dass sich Puccini bald ganz der Opern widmen wird. Auch der Chor des Bayerischen Rundfunks wirkt im Kyrie wie weichgespült, solange nur die Damen zu Wort kommen, eher wird Baden in Wohlklang als Glaubensgewissheit verkündet. Angemessen machtvoll erklingt das Gloria. Im geradezu kämpferisch erscheinenden Credo werden insbesondere die Kontraste wirkungsvoll herausgestellt, bei Crucifixus beeindruckt die Steigerung in der Wiederholung. Die Bitterkeit des Todes scheint wie mit Süße überzogen, die Fülle des Wohlklangs ist schier überwältigend. Die beiden Solisten sind Tomislav Mužek und George Petain, der Tenor frisch, keusch und höhensicher, der Bariton warm und geschmeidig. Sie lassen Cavaradossi und Sharpless vor dem geistigen Auge des Hörers erscheinen (BR Klassik 900354). Ingrid Wanja    

Orgelndes barockes Monster

.

Ein Album von origineller Konzeption hat der italienische Bassist Luigi De Donato 2022 bei ACCENT aufgenommen (ACC 24392). Es ist dem einäugigen Unhold Polifemo gewidmet, dessen Mythos viele Komponisten des Barock zu einem Tongemälde angeregt hat. Die Platte fokussiert das Geschehen auf den Riesen, der die Nymphe Galatea begehrt und aus Eifersucht seinen Rivalen, den Schäfer Acis, umbringt. Zur bekanntesten Komposition wurde Händels Kantate Aci, Galatea e Polifemo, die 1708 in Neapel uraufgeführt wurde. Die beiden anspruchsvollen Soli  des Ungeheuers bilden dann auch den Einstieg und Abschluss des Programms der CD. „Sbillar gli angui d´ Aletto“ ist die bewegte Eingangsarie, „Fra l´ombre e gl´ orrori“ markiert im Anspruch für den Interpreten, einen Umfang von 2 x1/2 Oktaven bewältigen zu müssen, eine besondere Herausforderung. Der Sänger meistert diese sicher und scheinbar mühelos. Bei zwei Komponisten, Giovanni Bononcini und Nicola Porpora, avanciert Polifemo sogar zur Titelfigur. Aus der Oper des Ersteren, die 1702 in Berlin herauskam und den Helden eher als komische Figur charakterisiert, seine gewalttätigen Eigenschaften also negiert, stammen die Arien „Vanarella, pazzarella“ und „Dieci vacche“. in denen De Donato mit buffoneskem Ausdruck und extrem tiefen Tönen aufwartet. Porporas Werk enthält die virtuose Arie „M´accendi in sen col guardo“, in welcher der Sänger brillieren kann.

Mehrere Komponisten rückten dagegen Galatea ins Zentrum und benannten ihre Komposition nach der Nymphe – so Domenico Alberti in seiner Serenata von 1737 La Galatea. Daraus wählte De Donato „Sanno l´onde“ und die furiose Arie „Se scordato il primo amore“, in der Jagdhörner reizvolle Akzente setzen und der Sänger gebührend auftrumpft, aus. Den identischen Arien-Titel findet man in Johann Georg Schürers Vertonung aus Dresden von 1746. Der Sänger trumpft hier angemessen auf und lässt ein reiches Farbspektrum hören. Schließlich gibt es in einer Cantata in kleiner Besetzung von Antonio Cesti noch einen neuen Titel: Amante gigante. Daraus stammt das gleichnamige Trio, bei dem Polifemo zwei Soprane (Tereza Zimkovà und Pavla Radostovà) assistieren und das eher sakralen Charakter aufweist.

Engagiert begleitet das Ensemble Collegium 1704 unter Václav Luks und hat in der dreisätzigen Sinfonia in C.Dur von Antonio Caldara sowie einer munteren Sinfonia von Schürer auch noch Gelegenheit für instrumentale Beiträge, die es souverän und Affekt betont absolviert. Bernd Hoppe

Im Zauberwald

.

Die letzte CD-Aufnahme von Händels Oper Alcina mit Joyce DiDonato bei der DG erschien vor 15 Jahren, die Neueinspielung bei PENTATONE ist daher mehr als willkommen – umso mehr, da sie unter der Leitung von Marc Minkowski entstand, der mit seinem Ensemble Les Musiciens du Louvre eines der spannendsten Händel-Dokumente der letzten Zeit vorlegt. Das Album wurde im Februar 2023 in Bordeaux produziert und auf drei CDs mit einem mehrsprachigen Booklet veröffentlicht (11689581). Spektakulär ist die Besetzung, angeführt von Magdalena Kozená in der Titelrolle. Die tschechische Mezzosopranistin ist bei dem Label regelmäßig besetzt, sorgt aber hier für einen absoluten Höhepunkt ihrer Aufnahmetätigkeit. Die Intensität ihrer Interpretation ist überwältigend, das Spektrum der Emotionen und Farben schier unerschöpflich. Schon in ihrer zweiten Arie, „Sì, son quella!“, verdeutlicht sie mit umflorten Ton den Wechsel im Gefühlszustand der Figur. Bei ihrem „Ah, mio cor!“ im 2. Akt verstärkt sich die existentielle Situation noch und Kozená gelingt mit bebender Stimme und einem Ausdruck von höchster Intensität ein ergreifender Moment in ihrer Interpretation. In „Ombre pallide“ am Ende des 2. Aktes schafft sie einen Zustand von Trance und Verzweiflung, während sie bei „Ma quando tornerai“ im 3. Akt noch einmal ihr virtuoses Vermögen demonstrieren kann. Und ihr letzter Auftritt mit „Mi restano le lagrime“ ist ein ergreifendes Zeugnis ihres tragischen Scheiterns.

Die zweite Sopranpartie des Werkes, Morgana, nimmt Erin Morley wahr und überzeugt mit jugendlichem, süßem Timbre und hoher Sicherheit bei den exponierten Koloraturen. Ihr Bravourstück am Ende des 1. Aktes „Tornami a vagheggiar“ singt sie mit jubilierender Stimme und lässt die Koloraturen glitzern. Im lieblich von der Viuoline umspielten „Arna, sospira“ im 2. Akt bezaubert sie mit Tönen von anrührender Innigkeit, die beim „Credete al mio dolore“ im 3. Akt an Intensität noch gewinnen.

Die Partie des Ruggiero, komponiert für den namhaften Kastraten Giovanni Carestini, ist eine Herausforderung für jeden Interpreten, sei es ein Countertenor oder eine Mezzosopranistin. Hier sorgt Anna Bonitatibus für eine Sternstunde des Barockgesangs mit beglückender Stimme. Energisch trumpft sie in ihrer Auftrittsarie „Di te mi rido“ auf  und demonstriert schon hier ihr virtuoses Vermögen. Im wiegenden „Mi lusinga il dolce affetto“ setzt sie einen intimen Gefühlsmoment und mit dem lyrischen Glanzstück der Partie, „Verdi prati“, das die Schönheit der Natur preist, krönt sie mit sublimen Tönen und feinsten Nuancen ihre Darbietung. Natürlich imponiert sie auch mit ihrem Bravourstück „Sta nell´ ircana pietrosa“ im letzten Akt, einem cavallo di battaglia aller Händel-Mezzosoprane, mit Verve, Geläufigkeit und Emphase.

Version 1.0.0

Konkurrenz hat sie nur in Elizabeth DeShong, die als Ruggieros Braut Bradamante einen dunklen Mezzo von satter Fülle und phänomenaler Virtuosität hören lässt. Schon ihr Auftritt „È gelosia“ imponiert im energischen. Aplomb und der behänden Koloraturläufe. Höhepunkt ihrer Interpretation ist „Vorrei vendicarmi“ im 2. Akt, wo sie wie ein Wirbelsturm durch die Koloraturrouladen rast – ihr gebührt die Siegestrophäe im Wettstreit der Sängerinnen.  Der Countertenor Alois Mühlbacher gibt den Knaben Oberto mit gebührend androgynem Timbre, doch steifen Tönen in der Höhe, der Tenor Valerio Contaldo den in Morgana verliebten Oronte, der in seiner Arie „Semplicetto! A donna credi?“ zwar resoluten Ausdruck, doch auch grobschlächtige Tongebung vernehmen lässt. Einen günstigeren Eindruck hinterlässt er mit dem auftrumpfenden „È un folle“ und vor allem dem kultivierten „Un momento di contento“ im letzten Akt, doch bleibt er der Schwachpunkt der sonst hochkarätigen Besetzung. Alex Rosen komplettiert sie als Melisso mit virilem Bass, der in der großen Arie im 2. Akt, „Penso a chi geme“, mit nobler Tongebung besticht.

Sie alle führt Minkowski mit erfahrener, kundiger Hand und lässt mit seinem Orchester Händels Musik mit ihrem Farbenreichtum und all ihren Affekten erstrahlen. Seine Tempovorgaben sind zuweilen höchst riskant und verlangen den Interpreten das Äußerste an Einsatz und Virtuosität ab. Aufregend sind die Kontraste, welche der Dirigent in seiner Deutung setzt – wenn er am Ende des 2. Aktes bei Alcinas ,,Ah, mio cor!“, das den Verlust ihrer Macht anzeigt, das Orchester geradezu einfriert und klirrende staccati hören lässt. Im Ballet am Ende des 2. Aktes differenziert er deutlich zwischen dem lieblichen Entrée des Songes agréables und dem bedrohlichen Entrée des Songes funestes, macht im Klangbild die beiden unterschiedlichen Welten deutlich. Mit dem Schlusschor „Dopo tante amare“ lässt er das Werk jubilierend ausklingen. Bernd Hoppe

Heiligenlegende

.

Eigentlich für seine Orchesterstücke, darunter die drei Stimmungsbilder  Fontane di Roma, Pini di Roma und Feste di Roma, bekannt ist Ottorini Respighi, aber er ist auch Komponist einiger Opern, darunter La Fiamma und Marie Victoire, derer sich die Deutsche Oper Berlin angenommen hatte. Eigentlich als Konzerttriptychon vorgesehen war seine Maria Egiziaca, beruhend auf einer Heiligenlegende aus dem Mittelalter, in der es um eine ägyptische Prostituierte geht, die aus Alexandria ins Heilige Land übersiedelt und nach einem langen Büßerleben selig entschläft.

In dem vom Librettisten Claudio Guastalla verfassten Mistero in tre episodi trifft in diesen Maria dreimal auf den Pilger und späteren Abt Zosimo, der sie zuerst wegen ihres lockeren Lebenswandels verflucht, ihr später den Zugang zum Tempel verweigert und in dessen Armen sie schließlich nicht nur entsündigt, sondern auch menschliche Wärme fühlend stirbt.

Maria Egiziaca wurde 1932 in New York und in Venedig uraufgeführt, war in neuerer Zeit so gut wie vergessen, allerdings existieren Tonaufnahmen, eine ungarische bei Hungaroton unter Lamberti Gardelli mit Veronika KIncses, Lajos Miller und Janos Nagy und bei Bongiovanni eine CD mit Jacsra Stoiliova  und Carlo Desderi. Bei Dynamic gibt es nun die erste Videoaufzeichnung, und zwar aus dem Teatro Malibran, während der Aufbauarbeiten am durch Brand zerstörten Teatro La Fenice dessen Ersatzspielstätte und auch sonst Spielort für Opern mit kleinerer Besetzung.

Das in seiner Grundstruktur an die französische Oper Thais erinnernde Werk wurde im vergangenen Jahr vom inzwischen 94 Jahre zählenden Altmeister Pier Luigi Pizzi nicht nur inszeniert, sondern auch, er begann schließlich als Bühnenbildner, mit Dekor und Kostümen versehen. Um jeden religiösen Kitsch zu vermeiden, von dem Italien noch immer voll ist, wählte der Altmeister eine ausgesprochen karge Szene, verschmähte allerdings nicht reichlichen Videoeinsatz für Meer, Wellenwogen, Nebel, aus dem die Kirche für die zweite Szene entsteigt. Die beiden Interludi werden durch die Tänzerin Maria Novella Della Martira in schöner und dabei doch dezenter Nacktheit gestaltet, aber auch die Sopranistin Francesca Dotto ist höchst attraktiv, so dass nachvollziehbar wird, warum die drei Seeleute  ihrem Bitten nicht widerstehen können. Dazu hat sie eine leuchtende, in der Höhe schön aufblühende Sopranstimme, was der eher an der Kargheit alter  Kirchenmusik orientierten und damit altertümelnden  akustischen Seite sehr gut tut. Den erst strengen, dann mitfühlenden Zosimo singt Simone Alberghini mit erst recht herb eiferndem, dann von sanfter Müdigkeit erfülltem, in schönem Fluss dahin strömendem  Bariton. Es gibt noch eine dritte recht umfangreiche Partie, den ersten Matrosen, den der Tenor Vincenzo Costanzo eine trotzig schillernde Arie über die Ziellosigkeit seiner Seefahrt singen lässt und der im zweiten Bild noch den Leprakranken gibt, so wie der dritte Matrose (Luigi Morassi)  auch sonor der Bettler ist und dem zweiten Seemann nur eben dieser anvertraut wurde (Michele Galbiati). Eine zarte Blinde und ein schönen Trost spendender Engel ist Ilaria Vanacora.Das Orchester von La Fenice unter Manlio Benzi erweist sich als feinfühliger Begleiter der Sänger und erfolgreicher Anwalt für das zu Unrecht das Schicksal einer Rarität erduldende Werk (Dynamic 38050). Ingrid Wanja

Längst überfällige Edition

.

Lieder von Wolff. Erich Wolff. Von jenem Komponisten, der mit Doppel-F geschrieben wird. Gesprächsweise  kann es leicht zur Verwechslung mit dem anderen Wolf, mit Hugo, kommen. Ausgesprochen spielt die unterschiedliche die Schreibweise nämlich keine Rolle. Beiden ist die Hinwendung zum Lied als Zentrum des Schaffes eigen. Erich Jacques Wolff wurde am 3. Dezember 1874 in Wien geboren. Gestorben ist er am 3. März 1913 in New York. Zu Lebzeiten war er hoch geschätzt und auch als Konzertbegleiter bei Liederabenden gesucht.

Mit dem Machtbeginn der Nationalsozialisten zwanzig Jahre nach seinem Tod wurde die Erinnerung an den jüdischen Musiker getilgt. Verehrung wandelte sich in Verachtung. In den USA hingegen, wo deutsche Emigranten, darunter auch künstlerische Weggefährten von Wolff, eine neue Heimat gefundene hatten, geriet er nicht in Vergessenheit. So wurde 1936 wurde bei der Schallplattenfirma Columbia ein Album mit achtzehn ausgewählten Liedern aufgenommen. Solist ist ein Namensvetter des Komponisten, der Bariton Ernst Wolff (1905-1992), der sich selbst am Klavier begleitet. Rassistisch verfolgt, war er aus Deutschland geflohen und hatte sich in seiner neuen Heimat auch dadurch einen Namen gemacht, dass er das amerikanische Publikum beispielsweise mit der Komponistin von Clara Schumann bekannt machte. Das Plattenalbum hat seinen hohen künstlerischen Wert bewahrt und ist inzwischen ein gesuchtes Sammelobjekt. Es geht eine große Faszination vom sanften Timbre des Interpreten aus. Es sollten viele Jahrzehnte vergehen, bis man sich auch in seiner Heimat auf Erich J. Wolff besann. In Büchern tauchte zumindest sein Name wieder auf. Fotos sind aber kaum zu finden, und das allwissende Onlinelexikon Wikipedia gibt sich nach wie vor wenig auskunftsfreudig.

In Deutschland war der Musikwissenschaftler Peter P. Pachl (1953-2021) einer der ersten, wenn nicht gar der erste, der von 2009 an Lieder und Melodramen von Wolff bei der Firma Thorofon einspielen ließ. Nun hat Naxos zu einem ganz großen Schritt ausgeholt und eine komplette Einspielung der Lieder gestartet. Bisher liegen Vol. 1 (8.574451) mit Samantha Gaul (Sopran) und Daniel Johannsen  (Tenor) sowie Vol. 2 (8.574557) mit der Mezzosopranistin Ida Aldrian und schließlich Vol. 3 mit dem Bariton Hans-Christoph Begemann (8.574558) vor. Die verdienstvolle und längst überfällige Edition entsteht in Zusammenarbeit mit Radio Bremen und dem SWR. Klavierbegleiter und Spiritus Rector ist der Pianist Klaus Simon. Rüdiger Winter

.

.

Klaus Simon/Archiv Anke Nevermann/Naxos

Dieser nun schreibt in seinem Artikel im Beiheft der Naxos-Aufnahmen: Erich Wolff, ein tragisch vergessener Liedkomponist ersten Ranges. Vor bald fünf Jahren entdeckte ich den Wiener Komponisten Erich J. Wolff. Diesen Namen kennen heute nur noch die wenigsten Musikliebhaber. Wie auch? Sein Schaffen ist nur noch spärlich verlegt, und er hatte das Pech, aus einfachen jüdischen Verhältnissen zu stammen und bereits mit 39 Jahren in den USA an einer Ohrenentzündung fern seiner Heimat Österreich zu sterben. Wolff war Zeitgenosse von Arnold Schönberg und mit ihm wie auch mit Alexander Zemlinsky befreundet. Er schrieb bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1913 immerhin 168 Lieder. Zu seinen Lebzeiten rissen sich nämlich viele namhafte Sängerinnen und Sänger darum, mit Erich Wolff Erich J. Wolff (1874-1913) aufzutreten. Denn nach Engelbert Humperdincks Aussage war er zeitlebens als einer der besten Liedbegleiter Österreichs anerkannt. Welche Reputation Erich J. Wolff als Liedkomponist hatte, kann man in einem maßgeblichen Fachbuch von 1927 mit dem Titel „2000 der beliebtesten Kunstlieder“ nachlesen. Er kam nach Hugo Wolf (150), Richard Strauss (75) Gustav Mahler (23) mit 17 Liedern immerhin auf den vierten Rang und verwies Zemlinsky und Schreker mit jeweils nur einem Lied weit abgeschlagen auf die hinteren Plätze. Zwar wurden Wolffs Lieder zeitlebens alle verlegt, aber er schrieb ansonsten keine erfolgreichen großen Werke

Vor bald fünf Jahren entdeckte ich den Wiener Komponisten Erich J. Wolff. Diesen Namen kennen heute nur noch die wenigsten Musikliebhaber. Wie auch? Sein Schaffen ist nur noch spärlich verlegt, und er hatte das Pech, aus einfachen jüdischen Verhältnissen zu stammen und bereits mit 39 Jahren in den USA an einer Ohrenentzündung fern seiner Heimat Österreich zu sterben. Wolff war Zeitgenosse von Arnold Schönberg und mit ihm wie auch mit Alexander Zemlinsky befreundet. Er schrieb bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1913 immerhin 168 Lieder.

Seine Lieder waren nicht ohne Grund bis zum 1. Weltkrieg sehr erfolgreich und geschätzt. Zu seinen wie Sinfonien o. ä., welche seinen Ruhm einem größeren Publikum hätten nahebringen können. Auch seine reizvollen Klavierwerke verdienen wieder ins Repertoire zurückzukehren.

Durch die umfangreiche Tätigkeit als Liedpianist ließ er sich kompositorisch vielfältig von seinen Vorbildern inspirieren. Bei den zahlreichen Wunderhornliedern Wolffs denkt man natürlich unmittelbar an Gustav Mahlers bekannte Vertonungen. Auch Wolff traf ähnlich idiomatisch den Volkston und vertonte auch gerne Dialekttexte. Hugo Wolfs harmonischen Raffinessen und der anspruchsvollen Klavierbehandlung begegnet man hier ebenso wie der Hochromantik eines Robert Schumann. Erich J. Wolff nutzt gelegentlich auch den ganzen Fundus der spätromantischen Harmonik, ohne seinem Zeitgenossen Arnold Schönberg in die Atonalität zu folgen. Wie gut er Richard Wagners Musik kannte, ist einigen v. a. harmonisch gewagten Liedern anzuhören.

Trotz dieser Einflüsse, die bei vielen Liedern unterschiedlich stark zum Tragen kommen, hat er dennoch seinen eigenen Stil und seine eigene Liedästhetik herausgebildet. Er schafft es, für jeden seiner vertonten Texte (von großen und bekannten Dichtern wie Michelangelo, Goethe, Hölderlin und Eichendorff bis hin zu Zeitgenossen wie Dehmel, Liliencron, Verlaine und vielen vergessenen Dichtern seiner Zeit) den richtigen Tonfall zu finden. Er hat einen natürlichen Instinkt, aus jedem Gedicht ein besonderes und einmaliges Lied zu machen. In seinen besten intimen Liedern entspinnt er tief berührende Melodien, auf die selbst Richard Strauss oder Erich Wolfgang Korngold hätten neidisch werden können. Zudem sind seine anspruchsvollen Klavierbegleitungen immer pianistisch und dankbar geschrieben.

Diese Liedaufnahmen entstanden aus der Motivation, diesen großen Schatz der Lieder Wolffs wieder ins Bewusstsein zu rücken.(…) Klaus Simon (mit Dank an den Autor, R. W..)

 

 Jules Massenets “Grisélidis”

.

Eingangs: In Massenets Griselidis verliebte ich mich bei einer Begegnung mit dieser Oper in Strasbourg 1996, wohin ich in jenen Jahren oft und gerne fuhr. Nicht nur wegen der schönen Stadt, des Münsters und des Backöffele, sondern vor allem wegen der Opéra du Rhin, die sich (und in den letzten Jahren ja erneut) immer wieder dem französischen Repertoire mit ausgefallenen Titeln der damaligen Jahrhundertwende widmete.

Massenets „Grisélidis“: Hélène Garretti und René Massis in Strasbourg/ Foto Archiv Heinsen

Und 1996 gab es eben Griselidis von Jules Massenet, heimgesucht im Vorfeld von der adoptierten Enkelin des Komponisten, die – eine bizarre Regelung des französischen Urheberrechts – auf die gezeigte Produktion Einfluss nehmen wollte und konnte. Sie hielt sie für zu frivol (und nahm Anstoß am Motorrad des Teufels) … Ach ja, glückliches Frankreich. Aber den Einwänden der Goldketten-behängten Dame im strengen schwarz-weiss Chanel-Kostüm wurde begegnet. Man einigte sich. Ah: der überwältigende Charm des Intendanten René Terrasson!

Sänger waren die mir bis daher unbekannte Hélène Garretti mit cremiger, wunderbar-jugendlicher Sopranstimme (keine wirkliche Karriere danach, bei youtube mit ein-zwei Dokumenten), unvergleichlich der französische Bariton René Massis, bezaubernd der junge Tibère Raffalli als feuriger Alain: Es war akustisch wie optisch (Terrassons italienisch-beleuchtete Inszenierung diskret-zeitgenössisch) ein Fest. Weitere Begegnungen mit Grisélidis verliefen weniger enthusiasmierend (1982 in Wexford, 1992 in Saint-Etienne (dann auf CD), 2006 in Lübeck).

.

Die neue Aufnahme: Deshalb war ich so überrascht von meiner Begeisterung beim Anhören der neuen Aufnahme vom Palazzetto Bru Zane, die mit einem wirklich rundherum fabelhaften Ensemble und solidem akustischen Eindruck aufwarten kann. Nach dem Konzert 2023 in Paris mit demselben Cast eingespielt zählt dies hier zu dem Besten, das der Palazzetto herausgegeben hat und macht manche Ärgernisse der Vergangenheit vergessen. Jean-Marie Zeitouni am Pult der Kräfte aus Montpellier Occitaine schafft ein ebenso grandioses Klangbild wie auch die prickelnde Durchsichtigkeit für die ironischen Momente der frechen Parlandi aus der Hölle. Und die fünf Protagonisten könnten nicht besser besetzt sein: Vannina Santoni ist eine “fruchtig” klingende, dunkelstimmige  Titelsängerin, der man abnimmt, dass unter der Oberfläche des doch schon recht schwingenden Soprans ein Feuer lodert, das von der großbürgerlichen Prüderie gezügelt wird. Eine wirkliche Entdeckung (sie wäre die bessere Massenet-Ariane beim Palazzetto gewesen)! Thomas Dolié, Tassis Christoyannis und Julien Dran sind bekannte Größen im Cadre der Firma, als Marquis, Diable und Alain stehen sie für hohe Gesangskunst, schöne Timbres und makellose Diktion. Christoyannis ist eh´ einer meinem Lieblingssänger im dunklen Bereich. Mit Annette Dennefeld kommt eine kesse, aber eben nicht soubrettige, sondern frische und helle Stimme als Fiamina im wirkungsvollen Kontrast zur Santoni hinzu. Alle im besten Französisch zum Mitschreiben, das hat man lange so nicht mehr erlebt.

Massenets „Grisélidis“: Konzert 2023 in Paris/ Foto Marc Ginot

.

Wie stets gibt es lohnende Aufsätze im  gewohnten CD-Buch (wieder nur englisch-französisch, dabei sind die drei deutschsprachigen Länder kein zu verachtender Markt), die grauen Illustrations-Prints (Pardon, sogar zwei farbige) lassen wie stets zu wünschen übrig, das ist eben so bei diesen Buch-Ausgaben. Aber alles in allem ist dies eine ganz aufregende, lohnende und rundherum befriedigende Aufnahme. Wenngleich nicht die erste (dazu nachstehend mehr)

.

.

Das Werk: Grisélidis ist ein Spätwerk von Massenet, nur fünf Monate vor Debussys Pélléas et Mélisande uraufgeführt (was für ein Unterschied!) und weitgehend  mit derselben Equipe besetzt (außer in der Sopranrolle). In die Musiksprache dieser üppig gehaltenen Oper mischen sich denn auch  Reminiszenzen aus bekanntere Massenet-Opern, etwa der Esclamonde, der Thais oder des Chérubin (auf dessen RCA-Aufnahme die von mir erwähnte Hélène Garretti mitsingt, meines Wissens ihre einzige offizielle Aufnahme), also die bekannte rauschhaft-orgiastische Orchestrierung der großen Opern und das witzig-neckische Parlando der heiteren Werke jener Massenet-Jahre. Beides findet sich  in der Grisélidis, die hier die Aufteilung der beiden Ebenen des Heiteren und des Tragisch-Ironischen deutlich unterscheidet.

Massenets „Grisélidis“: Lucienne Bréval war die erste Titelsängerin/Wikipedia

Die Griselda-Geschichte findet sich him Decamerone von Boccaccio und ist von vielen Komponisten als Vorlage verwendet worden, von Scarlatti über Paer, Adam, dem Puccini-Vorfahren Domenico bis eben zu Massenet und danach.  Er selbst kannte zweifellos den Stoff, den ihm die beiden Autoren Silvestre und Morand aufbereiteten, nachdem 1891 am Théâtre Francais ein Stück der beiden mit eben diesem Titel herausgekommen war.

Der Komponist Massenet gehörte nach den Erfolgen der Manon 1884, des Werther 1893, der Thais 1894 zu den Säulen der französischen Musikszene. Seine Opern wurden mit Jubel bedacht, sein Name fast schon eine Legende und ein absolutes Zugpferd für die Opernhäuser. Seine umfangreiche Produktion allein war an der Regelmäßigkeit der Premieren ablesbar, war für Massenet das Komponieren doch schon ein Zwang, denn auch in der folgenden Zeit konnte beinahe jährlich ein neues Werk auf den Pariser Bühnen bewundert werden. Massenet war ein wahrer Fließbandproduzent. Auf La Navarraise 1895 folgten Le Portrait de Manon 1892, dann Sapho 1897, Cenrillon 1988 und 1900 schließlich das Oratorium La terre promise. Es nimmt also nicht Wunder, dass sich die Arbeit an Grisélidis neun Jahre hinzog und erst 1901 zum Abschluss kam.

Massenets „Grisélidis“: Lucien Fougère, der erste Teufel/Wikipedia

Am 20. November war es dann so weit: In der bewährten Opera Comique, dem Hort der Tradition und des Comique-Genres (die einst so strengen Grenzen zwischen Dialogen und Rezitativen waren längst aufgehoben), hob sich der Vorhang zu einem glanzvollen Premierenabend, der die besten Sänger jener Zeit in  Frankreich  vereinte. Die Titelpartie sang die eminente Singschauspielerin Luciénne Breval, Star der Opéra de Paris. Lucien Fougère gab den Teufel und erzielte einen großen persönlichen Erfolg, Camille Dufranc war der Marquis, der Tenor Maréchal der verführerische Liebhaber Alain, eine Madame Tiphaine die kokette Fiamina. Nicht genug damit: Der Komponist und spätere Pelléas-Dirigent André Messager leitete das  glanzvolle Ereignis; die üppigen und bewunderten Dekorationen im Stil des Mittellalters (durch die Brille der Belle Epoque) stammten von Bianchini – das Beste an Eleganz, was zu haben war.

Gegenüber dem Original des Bühnenstücks hatten die Autoren den Text abgewandelt, die reichlich sadistische Haltung des Ehemanns de Saluces gegenüber seiner Gattin, die er auf die Tugendprobe stellt, gemildert: Im 1. Akt der Oper nun ist es der Teufel, der der Anwalt des Zynismus und der Menschenverachtung wird. Charme und Poesie  inmitten dieses etwas  gestelzten Dramas der  Ehespannungen  wird von dem schönen Alain eingebracht, der nach dem feurigen Prolog der Grisélidis im 2. Akt in einer Vision erscheint und mit seinen schmachtenden Liebesschwüren eine späte ironische Parodie, wenngleich auch eine wirkungsvolle, auf die Liebhaber der alten Massenet-Schule abgibt – Des Grieux als erfolglos Seufzender sozusagen.

Was das Libretto, abgesehen von der zeitlichen Ansiedlung im fernen Mittelalter (wie viele der französischen Opernsujets nach dem schmachvollen Deutsch-französischen Krieg als Rückbeschwörung auf die am Boden liegende Grande Nation), so effektvoll macht, ist die gelungene mélange der Charaktere und der Stimmungen. Der tugendhaften und recht humorlosen Grisélidis wird die kesse, leichtfertige Fiamina, Gefährtin des Teufels, gegenübergestellt.  Der salbadernde Prior hat seine Entsprechung im Teufel selbst, der zwischen seinen Gefühlen schwankende Marquis de Saluces in dem permanent Liebenden Alain á la Des Grieux.

Massenets „Grisélidis“: Akt 2 der Uraufführung/Gallica/BFN

Auch die einzelnen atmosphärischen  Unterschiede sind gut herausgearbeitet, zwischen lustfreundlicher Hölle (allerdings ein  blasses Abbild des zuvor bei Offenbach so genial Vorgestellten) und tugendhafter, in ein enges Korsett gepresster adligen Welt, in die der Teufel mit grotesker Infamie eindringt,  gut unterschieden. Das Abschlusstableau mit seiner Apotheose der Heiligen Macht unter Gewimmel von Engeln und Heiligen ist sicherlich von Massenet doch ernsthaft gemeint (und darum seinem Kollegen Saint-Saens ähnlich, blanker Glaubenskitsch alter Männer), hatte er selbst  ein von Sentiment nur so waberndes Oratorium wie Marie Madeleine verfasst, das noch  wesentlich unerträglicher auf die sentimental-religiöse Tube drückte. Wie viele Komponisten seiner Zeit genierte sich Massenet nicht, triefende Religiosität auf die Bühne zu bringen – eine sichere Bank beim damaligen bürgerlichen Publikum. Religiöser (oder idiologischer) Sentiment war zu dieser vor allem wirtschaftlich schwierigen Zeit das Gängige, nicht das Aufgesetzte und für uns heute schwer Erträgliche. Frankreich war mehr als heute damals ein zutiefst katholisches Land, schon seit der Bartholomäus-Nacht. Und die Nachkriegs-Schmach tat das übrige.

.

.

Massenets „Grisélidis“: Akt 1 der Uraufführung/Gallica/BFN

Grisélidis hatte nach recht großen Anfangserfolgen kein weiteres Glück bevor sie im 20. Jahrhundert an der Opéra du Rhin in Strasbourg 1996 wiederentdeckt wurde.  Eine kurze Wiederbelebung in Wexford 1983 mit einer recht allgemeinen Wiedergabe vermochte keine größere Wirkung zu zeitigen (ein Mitschnitt bei der verschwundenen Firma MRF als LPs, später bei ein-zwei Firmen auch als CD zeugt davon). Eine Radioproduktion von Radio France (Chant du Monde) bot 1963 eine sehr idiomatische, aber – wie für dies Format übliche – rabiat auf zwei Stunden gekürzte Aufnahme mit Geneviéve Moizan und Jean Mollien, ganz wunderbar.

Die Straßburger Produktion der Opera du Rhin allerdings, mit ihrer intelligent-ironischen Inszenierung und ihrer ausschließlich französisch-sprachigen  Besetzung, brach einmal mehr eine Lanze für Massenets späte Oper (ist aber leider nur bei Sammlern zu finden).

Lange Jahre war die Schwann-Koch-Aufnahme von 1995 aus Saint-Etienne (als Echo der damaligen Massenet-Festspiele 1992) die einzig verfügbare. Sie hat in der ältlich-gestandenen Michéle Command keine wirklich überzeugende Vertreterin (aber die Command war eine wirklich aufregende Médée in jenen Jahren!), wenngleich alle Beteiligten – und sie – eben tadelloses Französisch singen und Patrick Fournillier sehr zügig am ungarischen Orchesterpult für Spannung sorgt. Jean-Luc Viala ist als Alain eine feurige Pracht an Tenor, Jean-Philippe Courtis zu balsamisch für den Teufel (aber was für eine schöne Stimme!), Didier Henry macht viel aus dem ehrpusseligen Marquis, und der Rest ist beste französische Bühne jener Jahre. Wäre da nicht die matronale Titelbesetzung wär´s eine ideale Aufnahme.  Aber das ist nun für mich die neue, beim Palazzetto (Illustration oben von Theodore Chasseriau/Wikipedia). Geerd Heinsen

 

Musik ihrer Kindheit

.

Fast zeitgleich mit ihrem peruanischen Tenorkollegen Juan Diego Florez hat auch der amerikanische Koloratursopran mit kubanischen bzw. spanischen Wurzeln Lisette Oropesa eine CD mit Arien aus Zarzuelas eingesungen und im zur CD gehörenden Booklet bekannt, dass die spanische Operette die Musik ihrer Kindheit gewesen sei. Allein in Kuba sollen an die 2500 Zarzuelas entstanden sein, die mehr als die spanischen sich weniger romantischen Liebesverwicklungen und mehr sozialen und rassistischen Problemen widmen.

Auf der Opernbühne konnte man bisher Oropesa  im Belcantofach, mit Mozart und im französischen Repertoire erleben, wovon es bereits CDs gibt, für die Zarzuelas mischt sie ihrer Stimme, wenn es passt, auch einen harscheren Klang bei, so im ersten Track, wo es um die Liebe einer „Mulattin“ zu einem weißen Mann und die damit verbundenen Probleme geht. Heute würde man von biracial sprechen wie auch in Bezug auf die in  südamerikanischen Zarzuelas vorkommenden „Mestizen“, den Personen mit einem indigenen und einem weißen Elternteil. Der „Mulata infeliz“ von Ernesto Lecuona also verleiht der Sopran tragischen Unterton, ein Wissen um die unmögliche Erfüllung eines Liebestraums. Das Orquesta Titular del Teatro Real unter Oliver Diaz führt mit zärtlichen Geigenklängen (Liza Kerob) in das Geschehen ein, während der Sopran mit einer farbigen Mittellage und einer sicheren Höhe erfreut. Weiter geht es mit dem Lied der Taube von Barbieri, in dem funkelnder Übermut auch mal nicht nur spritzig, sondern auch spitzig herüberkommt. Gern gibt  die Sängerin der ihren den Anschein, eine Naturstimme zu sein, schätzt eher das Einfangen der richtigen Stimmung als die Makellosigkeit des Klangs, so in Un pobre mio, und in Penellas Bendita Cruz wird Herbes durchaus zugelassen, ein kindliches Image auch vokal angestrebt. Rhythmusbetont und voll innerer Spannung ist Lunas De Espana vengo aus El niňa iudia, wo die Leidenschaft der Spanierin für den „Gitano“ trotzig verteidigt wird. Mit Koloraturen gespickt, die die Sängerin in ihrem ureigensten Element zeigen, ist das Lied über den alten Flötenspieler von Sorozabal, Geläufigkeit, Temperament und eine niedliche Biestigkeit erfordert und erhält Luisa von Chapi, zwischen den Gegensätzen Verwirrung der Gefühle und freudiger Gewissheit bewegt sich Madre de mis amores von Torroba, und beidem wird die Sängerin gerecht. Koloraturvirtuosität wird noch einmal mit Nina Tula, weibliches Selbstwertbewusstsein mit Roigs Salida de Cecilia bewiesen, wo die Herren nur bewundernd zustimmen können. Diese wie auch die weiblichen Mitglieder gehören dem Coro del la Comunidad de Madrid an und tragen das Ihre zur spannungsgeladenen Stimmung, die der Musik und den Texten innewohnt, bei. Die aber wird durchaus nicht vorwiegend von den titelgebenden Mis amores son las flores erzeugt (Euroarts 2011117). Ingrid Wanja