Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Aber was für eine Geschichte!

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Zwei seiner Bühnenwerke hat Walter Braunfels nach seiner Übersiedlung an den Bodensee geschrieben. Hitlers Machtübernahme hatte seine Karriere beendet, er verlor sein Amt als Direktor der Kölner Musikhochschule, öffentliche Betätigung war ihm verboten, seine Musik wurde auf den Index gesetzt. In der inneren Emigration in Überlingen entstanden Werke, die keine Aussicht auf eine Aufführung hatten: 1933-37 die Verkündigung nach Paul Claudels L‘ annonce faite à Marie/ Mariä Verkündigung, 1938-42 Jeanne D’Arc. Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna, zu der Braunfels selbst das Libretto nach den Prozessakten verfasste. Die Verkündigung wurde 1948 in Köln uraufgeführt, gelangte aber erst 2012 in Kaiserslautern neuerlich auf die Bühne, Jeanne D’Arc wurde sogar erst 2001 in Stockholm uraufgeführt und 2008 erstmals szenisch an der Deutschen Oper Berlin gegeben. 2013 dann folgte die von Capriccio veröffentlichte Aufführung bei den Salzburger Festspielen (2 CD C 5515), die, wie bereits die Uraufführung in Stockholm sowie die deutsche Erstaufführung im selben Jahr in München, von Manfred Honeck dirigiert wurde, der zusammen mit Juliane Banse, die stets seine Johanna war, aber 2011 unter Ulf Schirmer auch die Violaine der Verkündigung gesungen hatte (BR Klassik 900311), zu den erfahrensten Jeanne D’Arc-Interpreten gehört.

In seinem ausgezeichneten Text, der bereits bei anderen Braunfels-Veröffentlichungen bei Capriccio aufgefallen war, lässt Jens Laurson, der übrigens von einer zarten Braunfels-Renaissance spricht, den Dirigenten deshalb ausführlich zu Wort kommen: „Es ist eine Schande, dass die von den Nazis verbannten Künstler immer noch in der Versenkung weilen. Man muss sich einmal ausmalen, wie die Künstler sich gefühlt haben müssen- die, die überlebt haben – als sie darauf gehofft hatten, nach 1945 wieder aufgeführt zu werden, nach all diesen Jahren der Finsternis, nur um zu bemerken, dass nach ihnen nicht länger verlangt wurde. Wie sich das für Braunfels angefühlt haben muss, nach all den Jahren der inneren Emigration. Was für eine Katastrophe für ihn. Aber was für eine Geschichte! Wobei Braunfels‘ Musik so gut ist, dass ich sie auch aufführen würde, wenn es diese Geschichte nicht gäbe“.

Braunfels bezeichnet seine Oper als „Handlung in 3 Teilen und einem Vorspiel op. 57“ bezeichnet. Die drei Teile sind mit „Berufung“, „Triumph“ und „Leiden“ überschrieben, wobei der erste und dritte Teil jeweils aus drei Szenen, der mittlere nur aus einer bestehen. Die rahmenden Chöre des Volkes, „Herrre, hilf, Herre, hilf“ und „Ein Wunder, Ein Wunder“, verleihen dem Werk einen oratorischen Duktus, der durch die Vielzahl der Figuren und den Reichtum der Handlung aufgebrochen wird, die Braunfels auf faszinierende Weise vergegenwärtigt. Laurson spricht von einer schwelgerischen post-romantischen „Tonsprache irgendwo zwischen Die tote Stadt und Salome.. mit einem Schuss Bartók“. Dabei mit vielen pfitznerisch zähen Rezitativen sicher kantiger, auch archaischer, wohl auch instrumental farbig und auftrumpfend und im ersten Finale geradezu orchestral virtuos.

Die Hörer sowie das ORF Radio-Symphonieorchester Wien brauchen etwas, um sich einzuhören und einzuspielen, bis sie von Honecks souveräner und kenntnisreicher Leitung mitgerissen werden. Ausgezeichnet der Bachchor, Kinder- und Festspielchor. Neben der bekannten Geschichte von der Vision der Johanna, der Befreiung von Orleans, der Krönung des Thronfolgers, dem Inquisitionsprozess und der Hinrichtung malt Braunfels eine Beziehung Johannas zu Gilles de Rais aus; vielfach wurde in ihm die Urgestalt des Blaubart erkannt, und Braunfels nimmt sich dieser Legende gerne an. Gilles de Rais galt als einer der reichsten Grundherren Frankreichs, stieg zum Marschall von Frankreich auf und wurde im Oktober 1440 in Nantes hingerichtet, nachdem er sich dazu bekannte über Jahre hinweg Hunderte von Kindern bestialisch zu Tode gequält zu haben.

Johan Reuter singt den zweifelnden und suchenden Gilles de Rais mit markantem und forschem Bassbariton, interessanter scheint der Dauphin Karl von Valois, der in seinem großen Monolog „Ein neuer Morgen, und immer noch die gleiche Nacht“ Resignation und Selbstzweifel offenbart, ohne dass Pavol Breslik dies trotz seines hübschen Tenors zu echter Charakterisierung nutzt. Unter den vielen kleineren Partien, darunter Tobias Kehrer als Vater Jacobus, Martin Ganter als Ritter Baudricourt und Michael Laurenz als Richter Cauchon fallen Norbert Ernst mit prallem Charaktertenor als Schäfer Colin, Wiebke Lehmkuhl mit gutem Alt als Baudricourts Frau und der tenoral aufleuchtende Bryan Hymel als Heiliger Michael, zu dessen Bio das Beiheft bemerkt, dass er sich mehr auf das Unterrichten konzentriert und 2022 Teil der Fakultät des Westminster Choir College wurde. Juliane Banse zeigt sich am 1. August 2013 in der Felsenreitschule als gereifte Johanna, der vor allem die Szenen der Gequälten und Leidenden vor Gericht und im Gefängnis liegen.  Rolf Fath

Gemeinschaftswerk

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Durch und durch Familienmensch ist offensichtlich Pene Pati, der nicht nur sein Hochzeitsglück im Internet mit dem Rest der Welt teilt, sondern auch in seine nunmehr zweite CD seine Ehefrau Amina Edris  und seinen Bruder Amitai Pati integriert und somit eine recht bizarre Programmgestaltung garantiert hat.  Duette zwischen zwei Tenören würden nicht viel hergeben, sei es Norma oder Attila, und auch die vom Sänger gewählte kurze Szene zwischen Macduff und Macolm aus Verdis Macbeth ist kaum dazu angetan, die Qualitäten einer Stimme zu offenbaren. Außerdem gibt es, dem Familienzusammenhalt geschuldet,  einen Ausschnitt aus Mercadantes Il Bravo, einen aus Halévys La Juive und einen aus Guirauds Frédégonde, in der auch der zarte Sopran der Gattin in der Partie der Brunhilda, die einst von einem Auch-Wagner-Sopran, Lucienne Bréval, aus der Taufe gehoben wurde, zu vernehmen ist.

Die CD wechselt zwischen allzu Bekanntem wie Nessun dorma und noch nie Eingespieltem wie der Cabaletta nach der Arie des Faust aus Gounods Oper. Letzteres ist hochwillkommen und interessant wie auch die meisten französischen Tracks sich in der lyrischen, weichen und geschmeidigen Tenorstimme gut ausnehmen, während die italienischen Titel weniger gut gelingen, sei es Macduffs Klage um die ermordete Familie, die eher weinerlich als tragisch klingt, oder Rodolfos Che gelida manina, dem es an Poesie und dem Aufblühen in der Höhe  mangelt, während der Sänger als Kalaf versucht, durch ein Übermaß an Agogik zu frappieren, was aber auf Kosten einer einheitlichen Stimmung geht.

Eine  Reihe von Nummern stammt aus Donizetti-Opern in französischer Sprache, so aus La Favorite die Arie des Fernand „Ange si pur“, dem ein empfindsam gesungenes Rezitativ vorangeht und die die eigentliche Domäne des Tenors dokumentiert. Auch Dom Sébastiens „Seul sur la terre“ gehört zu den mit Geschmack, guter Diktion und schöner Stimmentfaltung vorgetragenen Stücken. Vielleicht wäre die Lucie interessanter gewesen als die italienische Lucia, aus der die Arie des Edgardo im letzten Akt zwar ein bewegtes Rezitativ, aber eine eintönig wirkende Arie aufweist.

Die Domäne des Tenors dürfte weiterhin das französische Fach bleiben, wo in Fausts Arie ein gut tragendes Piano, eine farbige mezza voce, ein empfindsamer Vortrag erfreuen, allerdings ein verhangener Spitzenton irritiert und in der Cabaletta die Stimme nicht in allen Lagen gleich gut anspricht. Massenets Des Grieux wehrt sich mit schöner vokaler Empfindsamkeit gegen die Verführungskünste Manons, Werthers Klage ist von zunächst zarter,  Art, aber das Timbre passt sehr gut zur Partie,  die einer so schnellen Folge von Kontrasten, wie sie sich zunehmend häufen, eigentlich nicht bedarf. Auch der Berlioz-Faust mit seiner Anrufung der Natur dürfte bald zum Kernrepertoire des Tenors von der Südseeinsel Samoa gehören wie der Éléazar, und für die kurze Bekanntschaft mit Ernest Guirauds Frédégonde ist man auf jeden Fall dankbar, auch wenn die Begegnung mit ihr eine einmalige sein dürfte.

Garant für eine angemessene Begleitung ist wie bei der ersten CD das Orchestre de l’Opéra National de Bordeaux unter Emmanuel Villaume (Warner Classics 5064197897702). Ingrid Wanja

Handel mit Händel

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Hätte Barrie Kosky die Inszenierung von Händels „dramatic oratorio“ Saul an der Komischen Oper nicht einem Kollegen überlassen, dann hätte es den auf der Bühne am Harmonium agierenden Komponisten wahrscheinlich nicht gegeben, war er doch bereits, wenn auch nicht sich drehend, sondern in den Wolken thronend, in Harry Kupfers Produktion von Giustino zu sehen gewesen. In Glyndebourne allerdings war er 2015 noch nicht bekannt und konnte neben dem Kerzenmeer zu Beginn des zweiten Teils den mit Abstand heftigsten Beifall einheimsen in einer Aufführung, die auch sonst bemerkenswert durch Opulenz glänzte und mit sorgfältiger, einleuchtender Personenführung überzeugte. Überwältigend ist auch auf der Blu-ray die im ersten Teil quietschbunte, im zweiten düster dunkle Kostümierung von Solisten und Chor vorwiegend in leicht karikierendem Rokoko mit nur schüchtern hin und wieder auftauchender barocker Allongeperücke, die naturalistische Gestaltung abgeschlagener Köpfe, sei es der Goliaths oder der Sauls, sind es die reichlich Milch spendenden Brüste der Hexe von Endor, und allein schon die festlich gedeckte Tafel am Hofe Sauls mit dekorativem Schwan ist einen Applaus wert (Katrin Lea Tag). Wie von ihm gewohnt ist die Führung des Chors durch Kosky phänomenal, und auch die unverzichtbaren Tillerboys (Choreographie Otto Pichler) mit lasziven Bewegungen dürfen am Hof von König Saul nicht fehlen. Es sind ihrer sechs, und sie bieten, vom Kaiser Rotbart bis zum südländischen Beau, alles, was das weibliche oder männliche Auge begehrt.

Dass die ausufernde Optik die Musik nicht erschlägt, dafür sorgt schon einmal Ivor Bolton, der mit dem Orchestra oft he Age of Enlightenment akustischen Glanz, Straffheit und Eleganz zaubert, für barocke Authentizität sorgt und selbst den viel strapazierten Trauermarsch wie frisch komponiert erscheinen lässt.

Erfreulich kompetent sind auch die Sänger, angefangen mit dem der Titelpartie, Christopher Purves, der, optisch eine Art Talleyrand, mit machtvoller Stimme, die auch zu brillanten Koloraturen fähig ist, neben dieser auch den Samuel singt. Frisch und glockenrein singt Iestyn Davies den Sympathieträger David, dessen apathisch wirkende Verstörtheit er auch darstellerisch vermitteln kann. Als irrer Pierrot mit Krallen entspricht Benjamin Hulett optisch wenig dem Abner, weiß aber akustisch nicht nur diesem, sondern auch dem High Priest und zwei weiteren kleinen Partien gerecht zu werden. Einen schönen lyrischen Tenor mit auch guter Mittellage hat Paul Appleby für den unglückseligen, hochsympathischen Jonathan. Die Töchter Sauls sind die zunächst hochnäsige, später Sympathien weckende Merab, für die Lucy Crowe einen eher herben Sopran mit guter Mittel-, aber schwächelnder tiefer Lage einsetzt, in ihrer Arie im zweiten Teil jedoch voll überzeugen kann. Die liebliche Michal ist Sophie Bevan mit klarem, kühlem, instrumental eingesetztem Sopran. Der Chor scheint wie der der Komischen Oper Berlin aus Chorsolisten zu bestehen. Und die Engländer haben halt die angemessenen Stimmen für den Hallenser Komponisten, den sie sich als einen George Frideric Handel zu eigen zu machen suchen (Opus arte 807205D). Ingrid Wanja             

Gut gemeint

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L’Arlesiana, Adriana und Gloria sind die drei Geschöpfe, die der  Komponist Francesco Cilea als seinen Beitrag zum Italianismo ansieht, der sich in der schlichten, flüssigen und eleganten Melodie manifestiert und dem die italienische Sopranistin Lenny Lorenzani nicht nur in den drei genannten Opern, sondern auch in den Canzoni und geistlichen Stücken, die der Komponist hinterlassen hat, nachspürt. Bei Komponieren der späteren Werk könnte er, der auch Lehrer war, an seine Schülerinnen Ebe Stignani und Maria Caniglia gedacht haben, die zu vergleichen mit der Interpretin auf der CD recht vermessen wäre.

Es handelt sich um eine Romanze des erst 17jährigen, der damals noch seinem Vorbild Bellini verpflichtet war, um eine seiner Tante gewidmete Serenata sowie die Arie Alba novella, der Arie des Federico aus der letzten Version der Arlesiana, bei der die Harmonik stark an Debussy oder Ravel erinnert. Ein Wiegenlied wurde in ein Liederbuch der Faschisten aufgenommen, in Opernbereiche geht es  bei der abschließenden Fuge über das Thema der Umile ancella aus Adriana Lecouvreur

Über die Solistin ist im Internet wenig zu erfahren, und auch das Booklet gibt sich verschwiegen, erwähnt nur das Studium und die Beschäftigung mit den ganz großen Opernkomponisten ohne Zeit und Ort, und stutzig macht, dass die wichtigste Mitteilung die über eine Lehrtätigkeit der Sängerin ist, von der ansonsten nur eine Berta aus dem Barbiere in Florenz die Rede ist. Bebildert ist das Booklet mit wohl Portraits der Sängerin im Kostüm einer Operndiva des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, während im Hintergrund ein distinguierter Herr, wohl der Pianist, als vielleicht sogar der Komponist in Frack und mit Zylinder ist.

In der Romanza wird mit den ersten Tönen offenbar, warum man bisher nichts von der Existenz einer Sängerin namens Lenny Lorenzani wusste: Der Sopran klingt scharf und schnarrend, worüber das Bemühen um eine einfühlsame Interpretation nicht hinweghören lässt. Im Il mio canto werden die Höhen sehr vorsichtig angesetzt, das Vibrato erscheint als ein übermäßiges, und die Textverständlichkeit ist nur eine recht mäßige. Scharf und zittrig ergeht sich die Stimme in Alba novella, sanft und schmeichelnd versucht das Piano etwas gut zu machen, was die Stimme versäumt. Vor allem in der Mittellage bewegt sich das Ninna nanna und kann somit etwas mit der stimmlichen Gesamtleistung versöhnen, während Maria mare geschliffen scharf klingt, die Stimme corpo vermissen lässt. Gravierende Höhenprobleme werden besonders im Ave Maria da Tilda offenbar, und in der Bionda larva kann nur die reizvolle Klavierbegleitung Defizite ausgleichen.  Der Pianist versucht zu retten, was zu retten ist, und verschafft der CD mit Au village und Pensiero spagnolo einigen Glanz, aber für das Liedgut Cileas kann diese CD den Hörer nicht gewinnen (Brillant classics 96734). Ingrid Wanja   

Megan Kahts

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Als Mezzosopranistin hat man es in Sachen Liebe auf der Bühne nicht immer leicht: Die großen Romanzen werden den Sopranistinnen zugeteilt, und wenn die liebende prima donna dann doch mal Mezzo ist, wird sie am Ende der Oper verlassen oder – eterni dei! – umgebracht (Ausnahmen bestätigen wie immer die Regel). Die südafrikanische Mezzosopranistin Megan Kahts und ihr Ensemble, das Carestini Ensemble Wien, haben dieser Liebe ohne Happy End ihr neues Album gewidmet: In dolce abbandono heißt es (SM 459, 4260123644598).

Im Mittelpunkt des Albums stehen, eingerahmt von den Händel-Arien Ombra mai fu und Verdi prati, zwei beliebte Opernstoffe, hier aber im Gewand zweier dramatischer Solokantaten: Armida abbandonata von Händel und Arianna a Naxos von Haydn (nicht in der bekannteren Fassung für Hammerklavier und Gesang, sondern in einer Bearbeitung für Gesang und Instrumentalensemble eines Haydn-Zeitgenossen). Zweimal geballte Verzweiflung zweier vom Liebsten verlassenen Frauen – typisch Mezzo könnte man sagen.

Die Sängerin Megan Kahts war selbst übrigens nicht immer Mezzosopran. Nach ihrer Laufbahn als Klavier spielendes und singendes Wunderkind in Pretoria studierte Sie Gesang in Wien und begann ihre Karriere als Sopranistin. Wenn man sie heute hört, ist das kaum vorstellbar. Sie hat eine voluminöse Mittellage, eine klangvolle Tiefe und insgesamt sehr wenig sopranhaftes Timbre. Die tiefen Register liegen ihr mit Abstand am besten: Wenn sie als Armida mit viel Pathos ihrem abgängigen Geliebten alles an Meeresungeheuern an den Hals wünscht, was der Ozean so zu bieten hat (O voi dell’incostante e procelloso mare), ist das durchaus eindrucksvoll – mit dieser Armida würde ich mich nicht anlegen. Als Arianna, die gar nicht weiß, welche Enttäuschung ihr bevorsteht, umschmeichelt die Sängerin mit samtiger und klarer Stimme den Liebsten, der da leider schon längst das Weite gesucht hat (Teseo mio ben). (Quelle no-te)

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Elegante Megan Kahts/Foto Xavier Saer

Zu dieser interessanten Neuaufnahme gibt es ein Gespräch der Sängerin mit der Journalistin Ruth Wiedwald. Thematik und Relevanz der Werke: Sie widmen sich in „In dolce abbandono“ den großen Verlassenen der Musikgeschichte. Was hat Sie zu dieser thematischen Auswahl inspiriert? Eigentlich einfach die Liebe zu der Musik dieser zwei Kantaten, muss ich ehrlich gestehen. Die Haydn-Kantate Arianna a Naxos hatte ich schon öfters gesungen und die Händel-Kantate Armida abbandonata wollte ich auch unbedingt noch lernen. Händel und Haydn sind zwei meiner Lieblingskomponisten und bei großen dramatischen Solokantaten für eine weibliche Sängerin muss es ja um große Gefühle gehen – das Verlassensein ist ein Katalysator für eine emotionale Achterbahnfahrt und bietet natürlich die Möglichkeit zu einem tollen dramatischen Monolog und zu fantastisch berührenden musikalischen Vertonungen an. Also habe ich die Musik, nicht unbedingt das Thema, ausgewählt. Außerdem haben diese Frauen Erlösung, Erneuerung, neue Zukünfte gefunden… die Szenen, die wir interpretieren, sind nicht das „Ende der Geschichte“ – nur ein kurzer Fokus auf die Verzweiflung. Ich werfe Licht auf harte menschliche Emotionen – das, was vor dem Happy End eigentlich passiert ist.

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Warum denken Sie, dass diese antiken Geschichten und Emotionen immer noch relevant sind für heutige Zuhörer? Weil wir Menschen sind, genauso wie sie es waren, und auch große Gefühle empfinden. Auch heute werden wir immer noch auf unterschiedliche Arten und Weisen verlassen. Ja, wir Frauen sind vielleicht nicht mehr so hilflos und es passiert uns vielleicht nicht mehr so, wie bei Arianna und Armida, dass wir im Wald im Schlaf plötzlich von dem Geliebten, der auf einem Schiff geflüchtet ist, im Stich gelassen werden – aber emotional, im übertragenden Sinne, passiert es uns Menschen auch heute immer wieder, dass unsere Freunde oder Partner oder Familie uns, aus welchen Gründen auch immer, sitzen lassen und das kann genau so stark weh tun. Wir können uns emotional mit diesen Frauen identifizieren und erleben denselben emotionalen Prozess nach dem Schock der Verlassenheit. Ich bin aber schon sehr froh, dass wir heute generell nicht mehr langfristig so hilflos bleiben müssen. Darum kämpfen Frauen aus manchen Kulturen ja immer noch.

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Megan Kahts fotographiert von Carolyn Gregorowski (Kleider von Immagika Creative Designs) 

Welche universellen menschlichen Themen und Konflikte finden Sie besonders stark in den Geschichten von Armida und Arianna verkörpert? Besonders stark und eindrucksvoll sind die seelischen Konflikte dieser Frauen und wie sie aus schweren Herausforderungen herauswachsen und Erneuerung finden. Armida findet einen neuen Weg, nachdem sie beim ersten Versuch mit Rinaldo gescheitert ist. Nachdem Theseus sie verlassen hat, wird Ariadne von Dionysos gefunden und erhoben – Hoffnung gibt es immer, selbst in den dunkelsten Momenten des Lebens. Durch ihr Leid und ihren Schmerz haben sie sich selbst erkennen und transformieren können.

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Was können wir aus diesen antiken Geschichten über die Natur von Liebe, Verlust und menschliche Stärke lernen, die heute noch so relevant sind? Zur Liebe gehören Verlust und Verlassenheit – das sind Emotionen, die jeder Mensch im Laufe seines Lebens durchmacht, unabhängig von der Epoche oder den Umständen. Diese Geschichten sprechen eine universelle Sprache, die tief in unser Menschsein eingreift. Sie zeigen uns, dass die Herausforderungen und Gefühle, denen wir heute gegenüberstehen, schon immer Teil der menschlichen Erfahrung waren. Indem wir uns mit diesen alten Erzählungen auseinandersetzen, können wir Parallelen zu unserem eigenen Leben ziehen und erkennen, dass wir nicht alleine in unseren Gefühlen und Erfahrungen sind. Großes Leid und große Verwirrung gab es in der Liebe immer schon und wir werden gestärkt, indem wir den Mut haben, auf diese schweren emotionalen Zustände einzugehen und zuzulassen, dass die uns transformieren.

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Megan Kahts fotographiert von Carolyn Gregorowski (Kleider von Immagika Creative Designs)

Musikalische Interpretation und Vorbereitung. Wie haben Sie sich stimmlich und emotional auf die Interpretation von Händels „Armida abbandonata“ und Haydns „Arianna a Naxos“ vorbereitet? Für mich ist der Ausgangspunkt beim Einstudieren eines neuen Werks, dass man sich in die Musik verliebt, und dann kommt der Text dazu – in den verliebt man sich vielleicht auch. Man soll sich so sehr mit der Musik identifizieren können, dass die Zuhörer den Eindruck bekommen, man improvisiert und komponiert die Musik in genau dem Moment selbst.

Ich arbeite zuerst technisch und stelle sicher, dass alle Phrasen gut, flexibel und frei im Hals und im Körper „sitzen“ – oder vibrieren. Dann gehe ich auf den Text und auf den Harmonien ein und spüre in die verschiedenen vorhandenen Farben rein, um alle Ausdrucksmittel zur Geltung zu bringen. Mit dem Stil der unterschiedlichen Komponisten Händel und Haydn und mit der italienischen Sprache hatte ich schließlich auch noch gute Unterstützung.

Rein stimmlich, also rein stimm-technisch, sind die zwei Kantaten ziemlich unterschiedlich, weil die Komponisten der zwei Kantaten unterschiedlich für die Stimme geschrieben haben. Erstens liegt die Tessitura der Händel-Kantate etwas höher als die der Haydn-Kantate. Und zweitens ist Händel energetisch – da kann man sich vokal eher „reinschmeißen“ – wo man sich beim Haydn, nach meinem Gefühl, eher etwas zurückhält, um eine saubere klassische Linie zu führen. Beide Kantaten sind sehr exponiert und man muss die Stimme schön führen, aber Händel ist immer sportlicher – deshalb auch mein Lieblingskomponist zum Singen.

Haydn klingt vielleicht „simpler“ in der Gesangslinie, aber es gibt so viele Schichten in seiner Musik und es braucht Zeit, die Musik in sich reifen zu lassen und Haydns Aussage völlig zu verstehen. Die Phrasen müssen schön, fein, elegant geführt werden, aber sie sind besonders ausdrucksstark, denn die Musik enthält viel Ironie hinter diesem „Süßen“. Sie ist theatralisch – Haydn öffnet uns den Vorhang und wir gleiten langsam in Ariannas Welt ein. Bei Händel sind wir sofort mitten im Geschehen.

Megan Kahts fotographiert von Carolyn Gregorowski (Kleider von Immagika Creative Designs)

Ich bin generell äußerst selbstkritisch und es passiert mir häufig, dass ich selber von einem Stück so ganz berührt bin, dass ich erstmal kaum singen kann oder kaum wagen kann, diese Perfektion auszudrücken. So war es auch bei diesen wunderbaren Stücken. Vor allem war am Ende das Musizieren mit meinen Kollegen im Ensemble die pure Freude. Da kann man noch weiter mit der emotionalen Interpretation gehen, mit so guten Musikern und mit so vielen instrumentalen Farben um sich herum.

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Ihr Mezzosopran wird als tendenziell hoch beschrieben. Wie beeinflusst diese stimmliche Charakteristik Ihre Interpretation der barocken Werke? Wir Mezzosoprane sind Chamäleons. Ich passe mich der Partie an. Aber, dass meine Stimme hoch liegt (und ich auch eine gute Tiefe habe) ist meistens wirklich zu meinem Vorteil, denn ich kann auch manche Sopran- und Zwischenfachpartien singen. Es öffnet mir viele Türen, so dass ich nicht in einer Fach-Schublade stecken bleibe.

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Wie haben Sie Ihre stimmliche Flexibilität entwickelt, um mühelos zwischen hellen und dunklen Nuancen zu wechseln? Ich hatte mehrere fantastische LehrerInnen, und genieße technische Arbeit an die Stimme sehr – immer schon. Und es geht auf lange Zeiten in Übungszimmern zurück, in denen ich sorgfältig über viele Jahre an allen Elementen gefeilt habe. Ich bin eine Malerin und suche Farben in meiner Stimme.

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Megan Kahts/Foto Xavier Saer

Wie gelingt es Ihnen, die Balance zwischen historischer Authentizität und zeitgenössischer Relevanz in Ihrer Interpretation zu finden? Auch wenn ich mal einen „geraden“ Ton singe, muss die Stimme immer im Körper bleiben. Ein Klang ohne Körper dahinter ist nichts für mich. Man versucht, alle Aspekte der historischen Aufführungspraxis miteinzubeziehen, aber letztendlich lebt man in der realen Welt mit einer realen Stimme und arbeitet mit dem, was man hat und mit den Einflüssen, die um einen herum sind – wir haben keine Aufnahmen der originalen Händel- oder Haydnsänger. Natürlich lese und studiere ich die originalen Quellen darüber, wie diese Musik aufzuführen ist, und baue eine sehr starke Fantasie auf – ich weiß genau, wie ich möchte, dass eine Phrase erklingt – aber auch da wird die Phrase von alleine so rausfließen mit einem Hauch des aktuellen „Zeitgeists“ denke ich.

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Historische Aufführungspraxis: Inwiefern beeinflusst die historische Aufführungspraxis Ihre Herangehensweise an die emotionale Tiefe der Stücke? Durch das Lesen der Quellen über die Aufführungspraxis dieser Stücke und die Auseinandersetzung mit den historischen Kontexten, in denen die Musik komponiert wurde, wird meine ganze interpretatorische Welt neu bemalt. Man versteht die Musik plötzlich sehr viel besser und die Strukturen und Figuren fühlen sich plötzlich sinnvoll und authentisch an. Das Studieren der alten Quellen hat mich sehr stark inspiriert – a breath of fresh air. Man kann emotional viel tiefer in ein Stück reingehen wenn man von einigen Fragen befreit ist und vieles besser versteht. Der Zugang zu dieser Musik ist viel offener, weil man näher an die „Wahrheit“ herankommt.

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Welche Herausforderungen stellt die Zusammenarbeit mit einem Ensemble auf historischen Instrumenten an Sie als Sängerin? Bei einem Barockensemble ist die Stimmung immer ein großer Aspekt der Aufführung. In diesem Fall liegt die Stimmung etwas tiefer und angenehmer als unsere Moderne. Für mich ist das Musizieren mit Barock-Instrumentalisten sehr befriedigend, erstens weil der Klang der Instrumente mir sehr gut gefällt und zweitens, weil wir uns alle mit dem Stil und der Aufführungspraxis dieser Werke besonders stark beschäftigt haben – daher fühlen wir uns alle auf derselben „Wellenlänge“ sozusagen. Die einzigen Herausforderungen, würde ich sagen, wäre, dass die Instrumente sich schnell verstimmen und nicht so stabil sind wie moderne Instrumente – bei einer Aufnahme muss man daher für das Stimmen extra Zeit einbauen.

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Megan Kahts fotographiert von Carolyn Gregorowski (Kleider von Immagika Creative Designs)

Wie sehen Sie die Rolle der historischen Aufführungspraxis in der heutigen Musiklandschaft? Welche Bedeutung hat sie für zeitgenössische Hörer? Sie ist sehr wichtig und betrifft jede Epoche… die historische Aufführungspraxis ist ein Weg, den man mit einem Werk geht, ein Annähern an die ursprüngliche Idee, ein Hinterfragen der Traditionen. Zuerst lang überlegen, sich mit den relevanten Kontexten auseinandersetzen, und dann musizieren – „conscious music making“. Das bringt Frische, etwas Neues, mehr Sinn in die Sache rein. Ich finde, dass das die Zukunft des Musizierens ist – wir werden „woke“ und flexibel.

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Wie beeinflusst die historische Aufführungspraxis Ihre Herangehensweise an klassische Opernrollen, auch jene außerhalb der Barockära? Ich gehe bewusster an den Stoff heran, denn ich suche, woher die Ursprünge des Werkes kommen. Man sollte nie oberflächlich arbeiten – das hat wenig Sinn und wird auch langweilig. Je tiefer man gräbt, desto höher kann man dann fliegen. Wenn die Basis gut erforscht ist, kann man ruhiger und freier musizieren.

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Megan Kahts fotographiert von Carolyn Gregorowski (Kleider von Immagika Creative Designs)

Carestini Ensemble und künstlerische Vision.  Sie haben das Carestini Ensemble Wien selbst gegründet. Welche künstlerische Vision stand hinter dieser Entscheidung? Ich arbeite viel mit meinem Cembalisten Reinhard Führer, und wir wollten ein Ensemble bauen, das die Werke auf „unsere“ Art interpretieren kann, bzw. aus Kollegen, mit denen wir schon arbeiten und uns gut verstehen. Wir wollten eine harmonische und reibungslose Zusammenarbeit, und das entsteht durch die richtige Balance von Persönlichkeiten – darauf sind wir stolz. Unsere Vision ist es, im Ensemble ein musikalisches Zuhause zu finden, und Werke aufzuführen, die wir gerne spielen wollen. Jedes Ensemblemitglied spielt absolut solistisch und kammermusikalisch – wir sind kein Orchester und daher ist jeder auch viel selbständiger und präsenter als in einem größeren Ensemble.

Man kann sich als Sängerin oft ziemlich einsam fühlen und so schaffe ich es, „like-minded“ Musikerkollegen um mich herum zu haben, denen es auch sehr viel Spaß macht, miteinander und mit mir zu arbeiten. Wir möchten eine freudige und positive Zusammenarbeit genießen, die uns als Künstler aufbaut, und wir wollen selbständig bestimmen, was wir spielen und was für uns passt. Es ist mein eigenes Baby und ich finde, wir sind stark und haben Potenzial – das wollen wir zur Geltung bringen.

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„In dolce abbandono“ Was möchten Sie mit dieser Aufnahme beim Publikum bewirken? Erstens möchte ich mich einem breiteren Publikum, als jenem, das es bei einem Livekonzert gibt, präsentieren. Dann möchte ich die Menschen ein reichhaltiges Hörerlebnis anbieten und ihre Gefühle berühren. Deswegen kann man sich das Album auch mit Dolby Atmos anhören. Ich lade die ZuhörerInnen ein, mit uns auf eine emotionale Reise zu kommen. Ich möchte sie von ihrem sonstigen Alltag für einen Moment entführen, und einen positiven Einfluss auf ihren emotionalen Zustand haben. Das Publikum soll mit uns „grooven“ und sich inspirieren lassen.

Megan Kahts/Foto Damian Posse

In der Haydn-Kantate gibt es in einem der Rezitative eine Zeile, wo Arianna erkennt, dass Theseus wirklich weg ist: „e qui mi lascia in abbandono“. Man erkennt es – und was macht man damit? Das ist der Ausgangspunkt für alle Bewegung. Aber wie Haydn diese Zeile so „süß“ vertont hat ja auch eine gewisse ironische Aussage, meiner Meinung nach. Sie wurde verlassen: aber sie ist auch frei. Das Wort „abandonment“ auf English heißt sowohl Verlassenheit als auch Hingabe. Also für mich ist der Titel zweideutig: „sweet creative abandonment“ – also Hingabe, und seiner Kreativität freien Lauf zu geben – und natürlich eine Beschreibung der zentralen Thematik: Verlassenheit, Verlust, und alle Emotionen, die dadurch erweckt werden.

Ich glaube auch, dass es dabei eine dritte Ebene gibt, und zwar, dass ich mich meiner kreativen Berufung hingegeben habe – dafür bin ich weit weg von meinem Heimatland gezogen und habe viel geopfert. Diese Wahrheit existiert für mich auch im Titel meines ersten internationalen Albums.

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Persönliche Entwicklung und Zukunftsperspektiven.  Wie haben die unterschiedlichen kulturellen Einflüsse von Südafrika bis Wien Ihre musikalische Entwicklung geprägt? Ich sage immer, ich bin unter der Sonne aufgewachsen – ich meine das sowohl tatsächlich als auch im übertragenen Sinne. Südafrika ist auch ein „Melting Pot“ für mehrere Kulturen und musikalisch habe ich das vor allem im Schulchor gespürt. Als wir in China auf Tournee waren, haben die Mädels, oder wir alle (ich war in einer Mädchenschule) überall auf der Straße einfach frei afrikanische Volkslieder gesungen, harmoniert, und dazu improvisiert – dieses seelische Jubeln hat mich geprägt und ich habe auch diesen „Spirit“ in mir. Das ist die Basis, auf die meine ganze wundervolle Ausbildung aufgebaut wurde. Ich habe mich dann in Wien sofort wohl gefühlt. Meine ganze Sozialisierung ins erwachsene Leben hat in Wien und an der (sehr internationalen) Universität für Musik und darstellende Kunst stattgefunden.

Megan Kahts fotographiert von Carolyn Gregorowski (Kleider von Immagika Creative Designs)

Deswegen fühle ich mich ziemlich österreichisch – als ob ich eine doppelte Kultur habe: halb Südafrikanerin und halb Österreicherin. Die ersten Jahre in Wien hatte ich das Gefühl, ich leben einen Traum und konnte es kaum glauben, denn schon mit 11 war ein Headline in einem Zeitungsartikel über mich als Kindersängerin “Megan aims for Vienna”. Ich war bzw. bin sehr oft an der Staatsoper oder im Musikverein und habe fast täglich meine Idole und große Stars der Klassikwelt teilweise hautnah erlebt. Außerdem hatte ich Spitzenlehrer und war umringt von Leuten, auf deren Kultur klassische Musik aufgebaut wurde, so mein Gefühl. Das alles hat eine riesige Auswirkung auf mich gehabt. Das Zugehörigkeitsgefühl, das ich in Wien wegen der musikalischen Verbindung habe, war immer schon ausschlaggebend und stark. Denn in Südafrika gibt es keine große Begeisterung für klassische Musik, aber in Wien fühlte ich mich sofort verstanden und konnte meine Interessen seriös ausüben und ausleben.

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Welche Projekte und künstlerischen Herausforderungen stehen in Ihrer Zukunft? Ich möchte gerne, dass mein Ensemble und ich immer weitere Konzerte bekommen und immer mehr Bühnen betreten und dass wir die Möglichkeit haben, zu wachsen und unser Repertoire immer auszubreiten. Ein großes und tolles Projekt mit Martin Haselböcks Wiener Akademie Orchester freut mich ganz besonders. Nächstes Jahr singe ich meine erste Rosina und tauche somit zum ersten Mal richtig in die Rossini-Welt ein. Auch in der Welt der zeitgenössischen Musik gibt es für nächstes Jahr in einer Zusammenarbeit mit dem Komponisten Nuno Côrte-Real tolle Entwicklungen, auf die ich mich freue – ich halte alle, via meine Website, Instagram, Facebook und LinkedIn, auf dem Laufenden! Ruth Wiedwald (oben: Megan Kahts fotographiert von Carolyn Gregorowski/ Kleider von Immagika Creative Designs)

Urlaub auf der Insel

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Mit der Veröffentlichung der Tragédie en musique Télémaque & Calypso von André Cardinal Destouches ist das Label Château de VERSAILLES wieder ganz in seinem Stammrepertoire angekommen. Die Aufnahme entstand Anfang Oktober des letzten Jahres in Puteaux und wurde auf zwei CDs mit wie stets gediegener Ausstattung veröffentlicht (CVS128).

Das Libretto von Simon-Joseph Pellegrin beschreibt eine Episode, in der Télémaque, Sohn des Ulysse, vor der Insel der Nymphe Calypso Schiffbruch erleidet und von dieser begehrt wird. Er jedoch ist in die Nymphe Eucharis verliebt, die von Calypso gefangen gehalten wird und in Wirklichkeit Idoménées Tochter Antiope ist.

Das Stück wurde 1714 an der Académie royale de musique in Paris uraufgeführt, erlebte 1730 eine Wiederaufnahme in veränderter Fassung, welche für diese Weltersteinspielung genutzt wurde. Musikalisch gilt Destouches als Nachfolger Lullys, bemüht, den Stil seines großen Vorgängers fortzuführen. Die Figur der Calypso steht in der Tradition einer Armide, Médée, Circe und Didon. Die Neufassung 1730 zeichnet sich durch Verbesserungen in der Orchestrierung und Harmonie aus, gestaltet die Dialogszenen lebendiger und emotionaler. Bestimmte Szenen, wie Calypsos Traum im 1. oder die Chaconne im 3. Akt, beweisen Originalität und Erfindungsreichtum, zeigen alles andere als ein Epigonentum zu Lully.

Die Aufnahme glänzt durch eine exzellente Besetzung, angeführt von Isabelle Druet als Calypso mit substanzreichem Sopran und gewichtiger Autorität. Höhepunkte ihrer Interpretation sind ihr Solo mit atemloser Erregung zu Beginn des 5. Aktes („Haine. dépit, fureur“) und die packende Schluss-Szene („Quels sifflements affreux“). Auch der männliche Titelheld ist in der Darstellung von Antonin Rondepierre eine ideale Besetzung. Sein klangvoller Tenor durchmisst eine plastische Entwicklung der Figur vom introvertierten Beginn („Dieu des mers“) bis zum lebhaften Finale. Emmanuele de Negri gibt der Antiope leuchtenden Umriss, setzt mit ihrem innigen, von der Flöte begleiteten Monolog zu Beginn des 4. Aktes, „Lieux sacrés“, einen Glanzpunkt. Als Adraste, König von Thrakien und Verehrer Calypsos, überzeugt David Witczak mit sonorem Bariton und dramatischem Nachdruck, hinterlässt vor allem im 3. Akt und in seiner Sterbeszene starken Eindruck. In mehreren Rollen besetzt, gefallen Adrien Fournaison, Hasnaa Bennani und Marine Lafdal-Franc.

Das Ensemble Les Ombres, entstanden durch die Zusammenarbeit von Sylvain Sartre und Margaux Blanchard, die auch dieses Projekt künstlerisch verantworten, musiziert mit hinreißender Vitalität, aber auch bestechender Präzision. Wieder eine Aufnahme von VERSAILLES, die das Siegel des Singulären verdient. Bernd Hoppe (3. 8. 24)

Und noch eine „Rusalka“

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Vom Glyndebourne Festival des Jahres 2019 stammt die Inszenierung von Antonin Dvořáks Rusalka und eröffnet interessante Einblicke in die Welt der märchenhaften Waldwesen, angefangen mit einem Hasen mit abnehmbarem Ohrenpaar und Wassergeistern mit ebensolchen Schwänzen, wobei das nur für Rusalka, nicht für ihre Gespielinnen üble Folgen hat, und der Wassermann darf zu Beginn sogar mit einem erigierten Penis protzen, ehe ihm dieser von einer der Nixen abgerissen wird. Regisseurin Nelly Still vermischt märchenhafte Elemente wie flirrende Irrlichter, einen Jägersmann mit Pfeil und Bogen oder Anklänge an die Walpurgisnacht oder eine Art Wolfsschlucht mit der Gegenwart zuzuordnenden wie das recht zügellose Leben im Schloss, wo beim schroff unterbrochenen Liebesakt schon mal der Slip Rusalkas durch die Luft fliegt. Es geht also wüst zu auf beiden Ebenen, nur dass die kreatürliche Wildheit der Waldbewohner im Vergleich zur kalten Grausamkeit der des Schlosses weit eher gewisse Sympathien erringen kann. Die Regie weiß gut mit den Chormassen umzugehen, so in der Szene, in der sich die Hochzeitsgesellschaft immer gewaltsamer zwischen die beiden Brautleute schiebt, so dass schließlich kein Kontakt zwischen den Liebenden mehr möglich ist. Als Choreograph ist Rick Nodine dafür verantwortlich, dass Nixen, Waldtiere wie Hofgesellschaft sich durch angemessene Bewegungen charakterisieren.

Die Bühnenbilder von Rae Smith sind äußerst phantasiereich und aussagekräftig, die ebenfalls von ihr stammenden Kostüme charakterisieren die Figuren eindrucksvoll, werfen aber auch manche Frage auf wie die, warum die Nymphen Strickjacken tragen und die Fremde   ausgesprochen spießig und libidotötend gewandet und frisiert ist.

Das London Philharmonic Orchestra unter Robin Ticciati begleitet (nach dem vorausgegangenen Konzert in Berlin, bei dem Klaus Florian Vogt  sehr eindrucksvoll in letzter Minute als Prinz eingesprungen war) einfühlsam, breitet akustischen Mondesglanz über Rusalkas große Arie und zeichnet sich auch sonst durch die Naturstimmungen behutsam ausmalendes und durch die Sänger unterstützendes Musizieren aus.

Hochzufrieden sein kann man mit den Mitwirkenden, die fast sämtlich sich die tschechische Sprache so sehr zu eigen gemacht haben, dass auch akustisch der Eindruck von Muttersprachlern entsteht. Sally Matthews ist eine attraktive Rusalka mit auch im Piano alle Stimmfarben bewahrendem, üppigem und rundem Sopran, der geschmeidig aufblühen kann, und auch optisch entspricht sie der Vorstellung, die man von der schönen Nixe hat. Einen angenehmen  lyrischen Tenor setzt Evan Leroy Johnson für den Prinzen ein, dem für die stellenweise durchaus dramatische Partie auch die stählerne Höhe nicht abgeht. Weder optisch noch akustisch mit eher strengem Mezzosopran ist Zoya Tsererina so verführerisch, dass die Abtrünnigkeit des Prinzen nachvollziehbar wird. Da macht die wie eine böhmische Bäuerin gewandete Hexe Ježbaba von Patricia Bardon mit schlankem, eindringlichem, in der Höhe stark und farbig bleibendem Mezzo viel eher einen positiven Eindruck. Nicht mehr und nicht weniger als solide waltet der Wassermann von Alexander Roslavets mit etwas fahler Extremtiefe seines Amtes.   Colin Judson und Alix Le Saux wird auf der Suche nach Rettung für den Prinzen viel darstellerischer Einsatz abverlangt, worunter die Gesangsleistung kaum leidet. Alles in allem ist das eine Aufnahme, die durch gute Sängerleistungen und eine behutsam modernisierende, dabei das Märchenhafte respektierende Regie und eine beachtliche Harmonie zwischen Bühne und Graben erfreuende Produktion, die Augen wie Ohren Freude bereitet (Opus arte 13020). Ingrid Wanja     

Barockes Grusel-Kabinett

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Baroque Arias from the Shadows hat die Berliner Mezzosopranistin Laila Salome Fischer beim Randlabel Perfect Noise eingespielt. Scenes of Horror ist der Titel des Albums. Die Aufnahmen dafür entstanden im Dezember 2022 im Schloss Köthen (PN 2023). Die Komponisten sind Händel, Ariosti, Graun und Vivaldi. Die Sängerin wird inspirierend begleitet vom Ensemble Il Giratempo unter Leitung von Max Volbers.

Als Auftakt erklingt die dramatische Szene der Storgé aus Händels Jephta, welche der Platte den Titel gab: „Scenes of Horror, Scenes of Woe“. Die Gattin Jephtas wird hier von dunklen Vorahnungen über das Schicksal der Tochter heimgesucht, die geopfert werden soll. Laila Salome Fischers Mezzo wirkt für diese Szene etwas leicht, entbehrt der Fülle in der Tiefe und des expressiven Nachdrucks.

Von Händel finden sich noch drei weitere Titel im Programm – allesamt berühmt und als cavalli di battaglia vieler renommierter Händel-Interpretinnen legendär. Ariodantes „Scherza infida“ aus der gleichnamigen Oper ist eine Herausforderung für jede Sängerin wegen der emotionalen Abgründe, die in diesem Stück durchmessen werden. Dem Suizid nahe, schildert der Titelheld hier seinen unermesslichen Schmerz im Glauben, dass seine geliebte Ginevra ihn betrogen habe. Die Interpretin hinterlässt hier stärkeren Eindruck durch eine reiche Farbskala mit auch fahlen Momenten. Eine Bravour-Nummer für jeden Mezzo (oder Countertenor) ist Ruggieros „Sta nell´ Ircana“ aus Alcina. Die Arie ist von heroischem Zuschnitt, muss der Held doch gegen das Heer der Zauberin Alcina kämpfen. Fischer kann hier ihr virtuoses Vermögen demonstrieren, zudem die Verve, welche das Orchester vorgibt, aufnehmen und mit einer schwungvollen Interpretation aufwarten.

Mit Dejaniras Recitativo accompagnatoWhere shall I fly!“ aus dem Oratorium Hercules markiert eine Komposition Händels auch das Finale der Anthologie. Hercules´ Gattin  verfällt in den Wahnsinn, als sie erfährt, dass sie ungewollt schuldig ist am Tod ihres Mannes. Zwar fehlt auch hier (wie bei Storgé im ersten Titel) die Substanz in der Tiefe, doch wartet die Sängerin mit einer Fülle von Vokalverfärbungen und Ausdrucksnuancen auf, welche das Stück zu einer plastischen und lebendigen Szene werden lassen.

Zwei Arien des Montezuma aus Grauns gleichnamiger Oper schildern die existentielle Situation des Aztekenkönigs vor seiner vom Konquistador Cortés angeordneten Hinrichtung. „Ah, d´inflessibil sorte“ ist eine Klage über sein Schicksal, in „Sì, corona, i tuoi trofei“ hat er sich damit abgefunden und ist willens, erhobenen Hauptes in den Tod zu gehen. Das erste Solo wird durch ein erregtes Rezitativ eingeleitet, welches die Sängerin beeindruckend formt, und mündet dann in einen flehentlichen, kultiviert vorgetragenen Gesang. Der zweite Titel wird bestimmt durch einen energischen Duktus und beherzte Koloraturen.

Weniger bekannt ist der Komponist Attilio Ariosti, der von 1666 bis 1729 lebte. Aus seiner in Berlin uraufgeführten Oper La fede ne´ tradimenti erklingt die Arie des Fernando „Questi ceppi“, in welcher der Inhaftierte seiner geliebten Anagilda beteuert, dass die Ketten für ihn alle Schrecken verloren haben. Hier ist ein inniger Ton gefordert, den die Sängerin perfekt einbringt.

Das Programm wird ergänzt von zwei Instrumentalnummern aus der Feder Vivaldis. Die dreisätzige Sinfonia aus der Oper L´Olimpiade ist ein Klanggemälde, welches die dramatischen Szenen der Handlung – ein Mordkomplott, ein Suizidversuch, ein Todesurteil – vorweg nimmt. Das Ensemble Il Giratempo entfesselt hier Sturmgewalten mit den aufgewühlten Streicherfiguren und gezielt gesetzten Affekten. Schreckgespenster der Nacht beschwört der Prete rosso im viersätzigen Concerto „La Notte“ g-Moll herauf. Das Ensemble setzt auch diese plastisch um – sei es mit den stockenden Akkorden im einleitenden Largo, dem sich fast überschlagenden Presto-Tempo in Fantasmi oder den Dissonanzen im finalen Allegro. Bernd Hoppe

Festspielwürdig

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Hätte er doch auf Holzhammer plus erhobenen Zeigefinger in Form von orangefarbenen Schwimmwesten und buntkarierten Plastetaschen und damit auf eine plumpe Aktualisierung verzichtet, dann wäre Simon Stone eine rundum gelungene Inszenierung von Bohuslav Martinǔs Oper The Greek Passion  vollauf gelungen. So aber bleibt ein schaler Beigeschmack, wenn nicht Vergleichbares mit einander verglichen, wenn Geschichtsverfälschung zugunsten von Agitprop betrieben wird und von vornherein Gut und Böse kontrastreich einander gegenüber gestellt werden mit einer frömmelnden Gruppe kalkgesichtiger, einförmig kalkweiß gekleideter kinderloser Pseudofrommer gegen eine farbenfroh gewandete ( Kostüme Mel Page) und von einer fröhlichen Kinderschar umgebene Schar freundlicher Schutzsuchender.

Um was geht es eigentlich in Nikos Kazantzakis‘ Roman Christus wird wiedergekreuzigt, der die Grundlage für das Libretto für Martinus Oper darstellt? Es handelt sich um die nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zerfall des Osmanischen Reiches stattgefunden habenden Umsiedlungen von Moslems in die türkischen und von Christen in die griechischen Gebiete, nachdem besonders die Türken bereits einen großen Teil der Christen vertrieben, die Armenier sogar fast ausgerottet hatten. Es kommen also nicht vorwiegend junge Männer mit vorwiegend nicht christlichem Glauben und teilweise befremdlichen Sitten, sondern Menschen, die sich in nichts außer dem Verlust ihrer Heimat von den bereits Ansässigen unterscheiden. Trotzdem entfacht sich der Zorn der Ansässigen, die gerade ein Passionsspiel einzustudieren, an der Tatsache, dass sich einige von ihnen für die Zugezogenen einsetzen, ihnen ihr Vieh (Esel, Zicklein und Lämmlein erfreuen mit ihrem Anblick den Zuschauer) schenken, und einige von ihnen gehen so weit, den Fürsprecher für die Fremden, der seine Rolle als Jesus so sehr verinnerlicht hat, dass er für diese eintritt, zu erschlagen. Die Flüchtlinge ziehen weiter, zwei Frauen, die Geliebte des Ermordeten und ihre Freundin, bleiben trauernd bei dem Leichnam zurück. Ein böses blutrotes „Refugees out“ bleibt als Zeugnis der Unmenschlichkeit auf der weißen Mauer stehen.

Die Oper wurde vom in die USA geflüchteten und nach dem Krieg in der Schweiz lebenden Komponisten zunächst für London geplant, eine überarbeitete Fassung 1959 fertiggestellt und 1961 posthum in Zürich von seinem Freund und Gönner Paul Sacher uraufgeführt. Sie war so erfolgreich, dass zahlreiche Aufführungen in Europa und den USA folgten.

Bei den Salzburger Festspielen des Jahres 2023 galt die Aufführung in der Felsenreitschule als der Höhepunkt einer ansonsten eher mit negativer Kritik bedachten Saison. Der genius loci des Orts wird allerdings wenig genutzt, nur die obersten Arkaden schauen oberhalb einer riesigen weißen Kiste hervor, die man in die Tiefe fahrend verlassen oder aus der man auch sonst durch allerlei kleine Pforten gehen und in sie  kommen kann  ( Bühne Lizzie Clachan). Die Szene kann auch, um Stimmungen zu vermitteln, in ein romantisches Blau oder eine andere Farbe getaucht werden.

Hervorragend ist das Ensemble, das sich mit wahrnehmbarer Hingabe seiner Aufgabe gewidmet hat. Gábor Bretz ist mit seinem Falschheit verschleierndem machtvollem Bass der Priest Grigoris, sein Gegenpol bei den Flüchtlingen ist Fotis, der von Lukasz Golinski mit prachtvollem Bariton und viel Charisma ausgestattet wird. Jesusdarsteller und Opfer des Fremdenhasses ist Manolios, dem Sebastian Kohlhepp eine Sympathie weckende Darstellung und einen strapazierfähigen Tenor zuteil werden lässt. Mit einer zwingenden Darstellung und einem technisch versierten Tenor lässt Charles Workman dem gütigen Yannakos Aufmerksamkeit zukommen. Eine frappierende, die Zuneigung der Zuschauer erzwingende Bühnenpersönlichkeit besitzt Sara Jakubiak für die Katerina, deren Sopran aus einem Guss ist, auch im Forte weich und im Piano farbig bleibt. Ihre Freundin und zeitweise Nebenbuhlerin ist Lenio, die Christina Gansch mit einem einen lieblichen Sopran zum Bühnenleben erweckt. Viele kleinere Partien sind ebenfalls rollengerecht und unverwechselbar besetzt. Maxime Pascal und die Wiener Philharmoniker bringen Sakrales wie Volkstümliches, individuelles Gefühlsleben wie die Massen Bewegendes gleichermaßen stilsicher und bewegend zu Gehör . Ein Sonderlob verdienen die Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor und der Salzburger Festspiele und Theater Kinderchor.  Videodirektor Davide Mancini lässt Individuelles zur Freude des DVD-Betrachters hervortreten  und setzt ebenso die Volksmassen ins rechte Licht (Unitel 811104). Ingrid Wanja          

Sardous „Tosca“ als Vorlage

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Am 14. Januar 1900, ein Jahr vor Verdis Tod, wurde in Rom die Oper Tosca uraufgeführt. An der Schwelle eines neuen Jahrhunderts, das an Grausamkeit alle früheren übertreffen sollte, konfrontierte Giacomo Puccini sein Publikum mit einem Werk, dessen Brutalität ebenso schockierte wie seine musikalische Leidenschaft entzückte. Die Verwirrung, die Tosca ausgelöst hat, war seitdem mehrfacher Wandlung unterworfen. Aber sie ist geblieben bis zum heutigen Tage: ‚Tosca‘ wird unausstehlich“, schrieb Oskar Bie in seinem Standardwerk „Die Oper“, und er änderte seine Meinung auch nicht in den späteren Auflagen, die nach dem ersten Weltkrieg erschienen. „Die Sensation schlägt durch. Ein ekelhafter Text, blutig nicht bloß im Stoff, auch in der Behandlung. Eine Musik, Glocken, Chöre, Konzerte, heimliche Tänze, ekstatische Phrasen, Schlächterarbeit im Kleide des Liebenswürdigen, lächelnder Mord. Zehn verstreute Schönheiten, im Liebesduett, in den beiden großen Arien, geopfert dem Moloch der Kinodramatik. Aber man merkt es nicht gleich. Die Musik überwältigt, sie ist raffiniert. Nachdem der Butterfly der Staub von den Flügeln gewischt war, kam die schreckliche Erkenntnis, und diese Attraktion von Europa stand in ihrer Nacktheit da.“

Der Dichter und Theaterschriftsteller Victorien Sardoiu/Wikipedia

Giacomo Puccini  komponierte seine Tosca nach dem italienischen Libretto von Luigi Illica und Giuseppe Giacosa. Sie wurde am 14. Januar 1900 am Teatro Costanzi in Rom uraufgeführt. Das Werk, das auf dem französischsprachigen Theaterstück La Tosca von Victorien Sardou aus dem Jahr 1887 basiert, ist ein melodramatisches Stück, das im Juni 1800 in Rom spielt, wo die Kontrolle des Königreichs Neapel über Rom durch den Einmarsch Napoleons in Italien bedroht ist. Es enthält Darstellungen von Folter, Mord und Selbstmord sowie einige von Puccinis bekanntesten lyrischen Arien.

Puccini sah Sardous Stück, als es 1889 in Italien auf Tournee war, in italienischer Übersetzung und erwarb nach einigem Zögern 1895 die Rechte, das Werk in eine Oper umzuwandeln. Die Umwandlung des wortreichen französischen Stücks in eine prägnante italienische Oper dauerte vier Jahre, in denen sich der Komponist wiederholt mit seinen Librettisten und seinem Verleger stritt. Die Uraufführung von Tosca fiel in eine Zeit der Unruhen in Rom, und die erste Aufführung wurde aus Angst vor Unruhen um einen Tag verschoben. Trotz der gleichgültigen Kritiken der Kritiker war die Oper ein sofortiger Publikumserfolg.

Aber wer kennt eigentlich die Vorlage zu Puccinis Erfolgsoper, das vor allem durch die große Sarah Bernhardt berühmte Theaterstück La Tosca von Victorien Sardou? Die Bernhardt war zu ihrer Zeit die bedeutendste Schauspielerin der Welt, mit ausgedehnten Tourneen durch Europa und Nord- wie Südamerika, auch als Tosca. Ganz sicher hat kaum, jemand außerhalb Frankreichs das Stück von Sardou gelesen, in Paris wurde es sehr vereinzelt nach dem letzten krieg aufgeführt. Wir bringen zum Puccini-Jahr 2024 Auszüge aus dem Stück in deutscher Sprache in der Übersetzung von Martha Feist.

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(A1: Die Kirchenszene in Sant‘ Andrea della Valle mit dem berühmten „Te Deum“ Scarpias plus Chor sieht bei Sardou ganz anders aus – es fällt aus. Dafür gibt es eine Audienz bei der neapolitanischen Königin Marie-Caroline, während der sich die andernorts geschilderte Begegnung zwischen Tosca und Scarpia ereignet. Die im 1. Akt der Tosca Puccinis dargestellte Eifersuchtsszene zwischen Tosca und Cavaradossi findet bei Sardou auf einer Soiree Toscas statt.)

Sc.: Und worin Sie sich täuschen sollten?

FL: Ich mich täuschen? Sie werden sehen! (zum Grafen Attavanti) Marquis! Auf zwei Worte. ich bitte. Kennen Sie diesen Fächer?

Attavanti: Diesen Fächer? (…) Ja, er gehört meiner Frau. (…) Aber die Marquise ist nicht hier, sie ist noch in di Frascati“

Fl. (zu Scarpia): Oh, Frascati. Das gibt sie nur vor… Ich verstehe, sie ist bei ihm, dem Abscheulichen. Dort unten, um gemeinsam zu soupieren und die Nacht miteinander zu verbringen.

Sc.: Dort unten – wo dennn?

Fl. (zu Scarpia): Oh, Frascati. Das gibt sie nur vor… Ich verstehe, sie ist bei ihm. dem Abscheulichen. Dort unten, um gemein- sam zu soupieren und die Nacht mit- einander zu verbringen. Sc.: Dort unten – wo denn?

Akt 2, Szene IV (Prunksaal. Die Königin IVIarie-Caroline von Neapel, der Prinz von Aragon, Generäle, neapolitanische und österreichische Offiziere, der Graf Attavanti, der Herzog von Ascoli, der Komponist Paisiello. der Polizeichef Scarpia, die Sängerin Floria Tosca) (…)

Marie-Caroline: Guten Tag meine Liebe, ich hoffe, Sie sind heute bei Stimme?

Tosca: ich werde alles tun, damit Majestät nicht allzu unzufrieden mit Ihrer untertänigen Dienerin ist.

Victorien Sardou: „Tosca“/Sarah Bernhardt/Foto Nadar/BNF

M-C.: Ist diese Kantate wenigstens geglückt? Paisiello hat genügend Dummheiten gemacht, um sich entschuldigen zu müssen. (zu Attavanti) Guten Abend, Marquis! (zu Scarpia) Ach, bist Du es Scarpia? Was gibt es für Neuigkeiten über Angelotti?? Sei vorsichtig, Du hast Feinde. Man stellte fest, dass Angelotti bereits acht Tage nach Deiner Ankunft entkommen ist.

Scarpia: Man klagt mich an?

M-C.: Seine Schwester ist reich und schön. (Rufe von draußen) Hörst Du. Scarpia? Sie fordern den Kopf von Angelotti – und den Deinen! (Die Hofgesellschaft lacht.)

Scarpia (für sich; betrachtet stolz die Gruppe der höhnisch Lachen-den): Natürlich, das römische Gesindel wäre das schlimmste von allen, wenn es nicht auch noch das neapolitanische gäbe. Nun, wenn Angelotti entkommt, bedeutet das schnelle Ungnade, man macht sich bereits auf meine Kosten lustig. (…) (erblickt Tosca, die mit Paisiello plaudert) Mindestens gegen die Attavanti hätte ich eine Waffe: dieser Fächer, aber hier – hier? Warum nicht sie selbst? Vielleicht… vielleicht… eine überaus verliebte, leidenschaftliche Frau… mit dem Taschentuch hat Jago seinen Erfolg erzielt… entweder sie weiß etwas und ich bringe sie zum Reden, oder sie weiß nichts… und bei Gott: Dann wird sie ihn finden, finden für uns. Eine eifersüchtige Frau ist ein ehrgeiziger Polizist. (lehnt sich über das Canapee und über Floria, nimmt ihre Hand und drückt sie leicht mit seinen beiden eigenen Händen, lächelnd) Wissen Sie, Signorina, dass ich um dieses hübsche Handgelenk eigentlich Handschellen legen und Sie auf das Schloss Saint-Agathe in Verwahrung schicken könnte?

Floria (ganz ruhig, mit ihrem Notenblatt beschäftigt, ohne ihre Hand zurückzuziehen): Mich festnehmen?

Sc.: Ja!

Fl.: Warum?

Sc.: Wegen des Tragens aufrührerischer Farben! Das Kleid, dieses Armband… Rubine, Diamanten und Saphire: die Tricolore, ohne weiteres. (…) Niemand außer mir hat davon Notiz genommen. Sie sind ja bekannt für Ihre Ergebenheit gegenüber der Kirche und der Königin. Ich hätte aber zu gerne das Vergnügen, Sie als meine Gefangene zu sehen. Mit dreifachen Riegeln, um Sie an der Flucht zu hindern. Bis Sie mich lieben würden. Die Frauen verabscheuen ein wenig Gewalt keineswegs.

Fl.: Das ist wahr, es kursieren genügend schlimme Gerüchte, was mit Frauen dort unten geschieht.

Sc.: Ach was sagt man nicht alles… Ist diese Kantate von Paisiello gut? Fl.: Er hätte sie ebenso gut der Romanelli geben können…

Sc.: Und Sie nicht bei Ihrer Andacht in der Kirche von Sant‘ Andrea stören sollen.

Fl.: Oh, Sie wissen? Das ist auch kein großes Kunststück, ich verberge mich kaum.

Sc.: Das ist wahr. Er ist ja auch sehr charmant, dieser Franzose.

Fl.: Franzose? Er ist Römer!

Sc.: Wie können Sie da (als loyale Tochter Neapels) drei Worte mit diesem Voltaire-Anhänger wechseln, ohne ihm die Augen auszukratzen?

Fl.: Weil diese drei Worte heißen: Ich liebe Dich!

Sc.: Aber man liebt sich doch nicht die ganze Zeit. Schließlich plaudern Sie doch auch ein wenig, und er mit seinen revolutionären Ideen… Fl.: Die Liebe denkt anders darüber. (Und) er ist mir völlig ergeben.

Sc.: Sind Sie sich da ganz sicher?

Fl.: Warum fragen Sie das? Sie wissen etwas. Was? Was wissen Sie? So reden Sie doch. (…)

Sc.: Ich bin selbst so sehr von seiner Ergebenheit gegen Sie überzeugt, dass ich nicht mehr zögere, Ihnen diesen Fächer hier zurückzugeben. Der Zufall führte mich vorhin in die Kirche, der Herr war gerade gegangen; auf dem Gerüst mit der Staffelei… Ich nahm ihn an mich, um ihn an Sie zurückzugeben. Ich zögerte zwar, aber Sie sind sich seiner ja sicher… Oh, mein Gott, Signorina, was haben Sie denn?

Victorien Sardou: „Tosca“/Film mit Rosanno Brazzi und Cecile Perrin/FilmeCin

Fl. (inzwischen wieder mit Fassung): Aber dieser Fächer gehört mir gar nicht. Wem kann er gehören? Eine Marquisenkrone .. Marquise … Marquise.. Die Attavanti! (wieder außer sich) Er gehört der Attavanti! Sie ist es, sie ist es… Ich ahne es, ich fühle es in meinen Fingerspitzen. Sie kam, als ich gegangen war, wie gestern!

Sc.: Wie gestern?

Fl.: Oder nein: Sie war dort, als ich kam, sie hatte sich versteckt. Und sein Zögern, mir zu öffnen, das Geflüster, seine Verlegenheit, sein Drängen mich fortzuschicken. Ach, zum Teufel, sie war dort, sie hat mich gesehen. Und als ich fort war, hat sie sich in seine Arme geworfen und über mich gelacht. Über mich, mit ihm, in seinen Armen. Dieser Schurke, ich reiße dir dein Herz heraus…

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Victorien Sardou: „Tosca“/Theaterszenen 1887/Victrola Book of Opera

Seitdem hat Tosca die Attribute „Kinodramatik“. „Schauerballade“ und „Hinter-treppenromantik“ nicht mehr verloren, mit denen ja auch Manon Lescaut, La Bohème und Madama Butterfly verziert worden sind. Puccini müsste, hätten die Opernhäuser nur den Kritikern und Experten geglaubt, längst vergessen sein, und doch steht Puccinis Werk heute noch unangefochten auf der ganzen Erde in der Spitzengruppe der erfolgreichsten Musiktheater-Komponisten. Mag sein, dass Puccini, ohne es zu wissen und zu wollen, dazu beigetragen hat, den Typ des in unserer Zeit modern gewordenen reflektierenden, reproduzierenden Autors zu begründen. Wagners Leitmotivik bewunderte er, also bediente er sich ihrer, wenn auch etwas oberflächlich. Um für seine Butterfly die japanische Klangfarbe zu studieren, nahm er die Hilfe der jungen Schallplattentechnik in Anspruch. Aber er hatte Substanz genug, um jede Entlehnung in eigener Ausdrucksweise zu formulieren. Es ist nicht unberechtigt, ihn als einen der letzten großen Opernkomponisten zu bezeichnen. Hier wird der Verismus, so könnte man sagen, überwunden. Cavalleria rusticana und Pagliacci, die berühmten Vorreiter einer Gattung, die die „schaurige Wahrheit“ auf die Bühne bringen wollten, die Darstellung des Lebens, „wie es wirklich ist“, und damit die Anprangerung einer brüchigen Gesellschaftsordnung, sind nicht zufällig Mascagnis bzw. Leoncavallos einzige wesentliche Werke geblieben. Die Reaktion auf die Themen der weltfremden Romantik und der idealistischen „Erlösungsoper“ war nicht revolutionär genug, war kürzer, als es zunächst den Anschein hatte. Im Fahrwasser der Bahnbrecher schwammen mindere Talente, auch fehlte es am Mut zur konsequenten Steigerung des Verismo. Und Puccinis Wahrheits-Fanatismus erschöpfte sich in der Schilderung des traurigen Loses einer Mimì, ohne die soziale Bestandsaufnahme zur Anklage werden zu lassen. Stefan Lauter

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Den Sardou-Text stellte Curt A. Roesler (renommierter Musik- und Opernkenner und -Autor und ehemaliger Chefdramaturg der Deutschen Oper Berlin) zur Verfügung. Die Textredaktion hatte Geerd Heinsen auf der Grundlage der Fassung von Martha Feist.

Carl Roesler schreibt uns dazu: Martha Feist (die ND-Journalistin, die über Befreiungsbewegungen in Afrika und über die sich ab 1975 verbreitende Anerkennung der DDR berichtete) hat die Übersetzung vermutlich für Götz Friedrichs erste Tosca 1965 an der Komischen Oper angefertigt. Der zugrundeliegende Schreibmaschinendurchschlag hat somit wohl Mitte der 70er Jahre die schwerbewachte deutsch-deutsche Grenze passiert, ehe er in München wieder zurate gezogen wurde. Dank an Carl Roesler, Martha Feist und Sabine Sonntag!!!

Und noch eine …

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Die Verheißung im Programmheft der Deutschen Oper zur Neuproduktion von Wagners Ring des Nibelungen in Corona-Zeiten und kurz danach hatte davon gesprochen, dass wir „durch kollektive Kunsterfahrung zu Göttern werden“, eine Erfahrung, die nicht jedem der Besucher des Sechseinhalbstundenereignisses  der Götterdämmerung im Herbst 2021 zuteil geworden sein mag, eher die der Erschöpfung . Dem Betrachter der Blu-ray vom letzten Abend des Zyklus werden im Booklet dazu durch die Wiedergabe eines Interviews zwischen Regisseur Stefan Herheim und dem Dramaturgen der Deutschen Oper, Jörg Königsdorf, ähnlich wundersame Erkenntnisse versprochen, wenn davon die Rede ist, dass Rheingold, Walküre und Siegfried  sich im mythischen Bereich bewegen, während die Götterdämmerung in eine „säkularisierte Öffentlichkeit“ führt. Die Wagner-Götter glänzen ja bekanntlich in der Götterdämmerung durch Abwesenheit, soweit macht die Aussage über Säkularisierung also Sinn, nicht aber wenn sie bei Herheim einschließlich aller Walküren  entgegen Wagners Absicht auf der Bühne präsent sind, mit den Flüchtlingen aus Rheingold und Walküre die Liebe zu Schiesser-Feinripp teilen(Kostüme Uta Heiseke) , und noch immer oder wieder  füllen wie bereits zuvor in Rheingold und Walküre und im später nachgereichten Siegfried Berge von Hunderten von Fluchtkoffern die Bühne, obwohl die Flüchtlinge, wenn nicht gerade zu Göttern, dann doch  zu Besuchern der Deutschen Oper mutiert  sind, die im auf die Bühne versetzten Parkettfoyer samt seinem Mobile, dieses allerdings außer Funktion, mit Sektgläsern in der Hand flanieren. Und dank der Regie haben sich auch die Chordamen, allerdings stumm bleibend, die Götterdämmerung erobert. Das Gebäude scheint eine große Anziehungskraft und Nachahmungssucht auf Regisseure und ihre Bühnenbildner auszuüben, denn im „Rigoletto“ sah sich der Besucher des 1. Rangs seinem Spiegelbild auf der Bühne gegenüber, und in „Aida“ wurde gar der gesamte Zuschauerraum bespielt, und der arglose Besucher staunte, wenn sein Nachbar plötzlich zu singen anfing.

Nicht nur was die Anwesenheit von Damen, abgesehen von den von Wagner konzipierten, betrifft, ist Herheim schöpferisch tätig geworden, auch in der Behauptung, Hagen würde zu seinen Untaten nicht von Alberich, sondern von Wotan, der auch mal am viel, so als Scheiterhaufen,  beanspruchten Flügel sitzen und wie die anderen in die Tasten hauen darf, der Deckel des Vielseitigen spiegelt auch einmal Pornographisches wider.  Ähnlich vielseitig ist der Einsatz von riesigen weißen Tüchern, natürlich als Brautschleier, Leichentuch, Betttuch, Zudecke, Fanggerät und des Rheines Fluten.  Sehr oft hat man den Eindruck, die Inszenierung erstarre in der Ausstellung des Dekorativen (Mitbühnenbildnerin Silke Bauer) , statt dass Interaktion zwischen den Figuren stattfindet. Und wenn Alberich, Siegfried und Gunther mit Clownsmasken auftreten ( Gunther auch bei der Überwältigung Brünnhildes dabei ist   und die Nacht mit ihr verbringt, dann fragt man sich, wie der Verdacht aufkommen kann, Siegfried habe nicht Nothung zwischen sich und die Braut des Blutsbruders  gelegt), dann reiht sich eine Ungereimtheit an die andere. Es gibt viele Gründe, warum man nach wie vor dem Friedrich-Ring, der dem Herheims weichen musste, nachtrauert,  und einer davon ist die Gestaltung der Szene mit dem Vergessenstrunk. Während im alten Ring eine wundersame Verwandlung Siegfrieds ins Wesenlose stattfand, stürzt der sich nun auf Gutrune, um ihr sofort an die Wäsche zu gehen. Viele alte Regiehüte werden noch einmal ausgekramt, so die Lichtkegel ins Publikum, das Abgehen des Chors, der, was die Damen betrifft, keiner ist, durch die Saaltüren, die Benutzung der Rampen seitlich über dem Orchestergraben für Aktionen, das Platzieren eines Solisten unter den Zuschauern, alles schon gehabt und nie für gut befunden. Und wenn Hagen Siegfried nicht nur ersticht, sondern ihm auch noch den Kopf abschlägt, dann setzte es doch sehr in Erstaunen, dass der abgeschlagene Kopf eine andere Frisur hat als der kurz zuvor noch auf dem Rumpf befindliche, ganz abgesehen von Assoziationen mit Salome, wenn die Damen sich des Hauptes annehmen. Der Schluss, der eine den Bühnenboden reinigende Putzfrau zeigt, ist ebenfalls wenig originell. Den Anspruch, den der Text im Programmheft und das Interview im Booklet erheben, löst die Aufführung nicht ein, die am besten gelingt, wenn all der erwähnte Schnickschnack entfällt wie in der Szene mit Waltraute oder der mit den Rheintöchtern.  Generell kann man feststellen, dass die Aufnahme erträglicher ist als das Live-Erlebnis, weil oft nur ein Ausschnitt, die jeweils singende Figur, zu sehen ist und nicht durchgehend die zugemüllte Bühne in ihrer scheußlichen Gesamtheit. Dann hat diese Produktion wahre Größe, aber auch die nicht kollektive, sondern einsame häusliche Kunsterfahrung lässt den Genießer kaum das in Aussicht gestellte Zum- Gott-Werden erreichen.

Keine bessere Brünnhilde als die von Nina Stemme konnte sich ein Haus wünschen, und auch an dieser Aufnahme erfüllt sie alle hochgespannten Erwartungen mit einem dunkel strahlenden, unermüdlichen Sopran der unangefochtenen Höhensicherheit und mit einer der Wotanstochter würdigen Darstellung trotz des schlichten Flatterhemdchens, das ihr für die gesamte Aufführung verordnet worden ist . Fast zu einer Karikatur haben Regie und Kostümierung den Siegfried von Clay Hilley gemacht, von Kopf bis Fuß oder Flügelhelm bis Wadenbändern das Klischee eines germanischen Helden erfüllend, dann aber auch im Frack und, angesichts der Körperfülle des Sängers grenzwertig, ebenfalls in Schiesser-, ja Feinripp. Voll entschädigen für die verstörende Optik kann der Sänger mit einem nimmermüden, nie matt werdendem Heldentenor, der sich unterschiedslos großzügig nie verausgabt, so aber auch zu keiner Steigerung mehr für Brünnhilde, die heilige Braut, fähig ist, sondern sein bemerkenswertes Stimmmaterial unterschiedslos verschwendet. Im Gegensatz dazu lässt der Hagen von  Gidon Saks kaum mehr als einen Schatten von Bassgewalt vernehmen, brüchig und unausgeglichen und auch optisch nicht die Erfüllung. Mit einem sonoren Bariton und mit der besten Diktion der Aufführung erfreuend, ist Thomas Lehman ein vorzüglicher Gunther, Aile Asszonyi gibt das Dummchen von Gutrune mit schönem lyrischem Sopran. Jürgen Linns Bariton ist fast zu klangvoll für den bösen Alberich. Okka von der Damerau glänzt durch eine eindringliche, klangvolle Bittstellerin Waltraute. Schöne junge Stimmen aus dem Ensemble kann die Deutsche Oper für Rheintöchter ( Meechot Marrero, Karis Tucker, Anna Lapkovskaja) und Nornen (Anna Lapkovskaja, Karis Tucker, Aile Asszonyi) aufbieten, die sich optisch übrigens nicht voneinander unterscheiden. Der Herrenchor lässt sich durch die Anwesenheit der Damen nicht irritieren, sondern  die Mannen so machtvoll wie kultiviert schmettern (Jeremy Bines) . Im schimmernden, glanzvollen Orchesterklang,  kann man genussvoll baden, ohne zu überhören, wie fein und nuancenreich im Orchestergraben ausgelotet wurde, was auf der Bühne oft in allgemeiner Betriebsamkeit unterging. Generalmusikdirektor Donald Runnicles hatte aus seinem Klangkörper ein wunderbares Wagnerorchester gemacht (Naxos NBDO160V). Ingrid Wanja

Der reiche Klang

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Wann, wenn nicht jetzt? Warner hat im Bruckner-Jahr 2024 dessen Sinfonie drei bis neun mit Sergiu Celibidache und den Münchner Philharmonikern neu aufgelegt (5021732248558). Bruckner wurde vor 200 Jahren, nämlich am 4. September 1824 in Oberösterreich geboren. Es handelt sich um Stereo-Mitschnitte zwischen 1982 und 1995 aus der Philharmonie am Münchner Gasteig. Sie waren nach dem Tod des Dirigenten zunächst bei EMI erschienen. Und zwar mit seiner testamentarischen Billigung. Platteneinspielungen hatte er zu Lebzeiten grundsätzlich abgelehnt. Als Teile einer umfangreichen Edition gab es auch Werke anderer Komponisten. Bruckner aber ragte mit insgesamt zwölf CDs wie ein Gebirge heraus. Um ihn drehte sich das gesamte geistige und musikalische Wirken von Celibidache. Für ihn war er der „größte Symphoniker aller Zeiten“. Niemand sei so weit wie ermit seiner klangbezogenen Korrelationsfähigkeit in den Kosmos eingedrungen“, wird Celibidache in dem Buch Stenographische Umarmung (ConBrio Verlagsgesellschaft 2002) zitiert. Entsprechende Denkanstöße liefert auch das Booklet. Doch die Besonderheit der neuen Ausgabe ist technischer Natur. Wer sich auskennt, entdeckt das Super-Audio-CD-Logo schon auf der Vorderseite der Box. „Newly remastered for Hybrid SACD by Astuo Fujita“, ist im Innern zu erfahren. Das komplizierte technische Verfahren wird in nicht eben einfacher Sprache erläutert. Dass der „reiche Klang, die Weichheit und der Hall des Saals bewahrt oder verbessert“ worden seien, versteht auch der Laie und dürfte von jenen Konzertbesuchern mit Erleichterung aufgenommen werden, die mit der Akustik am Gasteig seit jeher fremdelnden. In der Tat können sich die Aufnahmen hören lassen. Für den Dirigent aber sind „breite Tempi die unabdingbare Voraussetzung“ um die „Vielfalt der Stimmen und Klangphänomene zum Aufblühen zu bringen“. Sie bleiben vom Remastering unberührt und haben dem Dirigenten viel Kritik eingebracht. Selbst noch so geglückte Mitschnitte wie in der Warner-Box können das Phänomen Celibidache und seine Einzigartigkeit nicht vollständig erfassen. Man muss ihn auch gesehen, gespürt haben. Betrat er das Podium, war die Stimmung im Saal plötzlich eine andere. Während er sich etwas umständlich vor dem Orchester positionierte, übertrug sich eine fast unerträgliche Spannung bis in die letzte Reihe. Stille. Der hartnäckigste Husten verstummte. Ging es dann endlich los, war es wie eine Erlösung. In der Hamburger Laeiszhalle hatte ich mir ganz bewusst einen Rangplatz neben dem Proszenium gesichert, um sein Gesicht zu sehen, auf dem sich ganz genau abbildete, was aus den Instrumenten kam. Es war mir bis dahin nicht bewusst gewesen, dass ein Antlitz so viele unterschiedliche Regungen zeigen kann. Er dirigierte immer aus dem Kopf. Eine gedruckt Partitur hätte ihn womöglich gestört, denn er hatte sie in sich. Sozusagen immer dabei.

Mir fällt Knappertsbusch ein, der einst auf die Frage, warum er nicht auch auswendig dirigiere, antwortete: „Weil ich Noten lesen kann.“ Für diesen konservativen Kapellmeister alter Schule war die Partitur auf dem Pult wohl auch ein Sinnbild des Respektes, der dem musikalischen Kunstwerk und seinem Schöpfer zu zollen war. Dennoch hielt Celibidache nicht allzu viel von ihm. In dem bereits erwähnten Buch wird er mit den Worten zitiert: „Ein schlechter Musiker und nicht so schlechter Dirigent. Die wenigen Proben, die er brauchte, das Orchester noch zusammenzuhalten, das war schon eine Leistung.“ Dabei sind sie sich so unähnlich nicht. Sie hatten in München ihren Lebensmittelpunkt gefunden, trafen sich in ihrer abgöttischen Liebe zu Bruckner, hielten Distanz zu Aufnahmestudios und ließen Musik erst im Moment der Aufführung entstehen. Der gravierende Unterschied war, dass sich Knappertsbusch wohl stärker als sein Kollege von der Inspiration des Augenblicks tragen und mitreißen ließ. Bei Celibidache war alles bis ins Allerkleinste kalkuliert und vorbereitet. Auch wenn dasselbe Werk immer etwas anders klang. Wie die Coda von Bruckners 4. Sinfonie in ihrer kolossalen Steigerung, die sich in einem anderen Mitschnitt aus München noch monumentaler entlädt als in der Aufnahme der klanglich verbesserten neuen Ausgabe. Für derartige aufschlussreiche Vergleiche sind Tondokumente unerlässlich. Für Celibidache begann die Bruckners Meisterschaft erst mit der dritten Sinfonie. Daraus erklärt sich, dass nicht alle einschlägigen Werke aufgeführt wurden was schade ist. Andererseits wirft diese Praxis auch ein Licht auf den Dirigent, der sich offenkundig nicht in der Lage sah, einen etwaigen Mangel in der Komposition durch eigenes Zutun am Pult auszugleichen.

Ergänzt wird das CD-Programm durch eine Probe der unvollendeten 9. Sinfonie sowie das Te Deum und die Messe Nr. 3 in f-Moll. Margaret Price wirkt in beiden Werken mit. Im Te Deum singt Christel Borchers die Altpartie. Doris Soffel ist damit in der Messe besetzt. Einmal mehr behauptet sich diese Sängerin in ihrer enormen Vielseitigkeit, die sie mit allen bedeutenden Dirigenten zusammenführte. Die Tenöre sind Claes H. Ahnsjö und Peter Straka, die Bassisten Karl Helm und Matthias Hölle. Rüdiger Winter

Schöner Rücken…

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Völlig überraschend während der Proben zur Münchner Manon und mit nicht einmal fünfzig Jahren viel zu früh verstarb der Dirigent Marcello Viotti, der sich besonders verdient um die Oper gemacht hatte, als er als Generalmusikdirektor im Venezianer Teatro Malibran, nach dem Brand des Fenice vorübergehend das Opernhaus Venedigs, viele fast vergessene französische Oper aufführte. Nicht nur die Erinnerung an diese wunderbaren Aufführungen hat er hinterlassen, sondern auch vier Kinder, die allesamt dem Vater, der selbst Sohn eines Schmieds gewesen war, in ihrer Berufswahl folgten: der Sohn Lorenzo ist Dirigent, der Sohn Alessandro Hornist wie auch die Tochter Milena und Marina Viotti hat bereits eine bedeutende Karriere als Mezzosopranistin „alle spalle“.

Jetzt hat sie eine CD mit Mozartarien aus des Komponisten Opern, aber auch Konzertarien und solche aus geistlichen Werken eingespielt mit Gli Angeli Genéve unter Stephan Macleod. Das Erstaunen des Hörers über die Zusammenstellung vorausahnend, begründet sie die fächerübergreifende Wahl, die sich in Susannas Rosenarie im Verein mit Cherubinos Voi che sapete ausdrückt, mit ihrem Unwillen über die heutige strikte Fächereinteilung, die es so zu Mozarts Zeiten nicht gab, beruft sich zudem auf der Landsmännin Elsa Dreißigs Vorhaben, gleich alle drei Partien aus Le Nozze di Figaro in einem Programm miteinander vereint zu haben. Auch das Esultate, eigentlich sonst von einem leichten Sopran gesungen, sieht Viotti nicht zuletzt wegen des viel beanspruchten Mittelregisters als für ihre Stimme geeignet an. An den Anfang ihres Programms allerdings stellte sie Dorabellas Smanie implacabili, einmal weil es ihre erste Mozartpartie überhaupt war, aber auch weil die Arie die Gabe hat, die Aufmerksamkeit des Hörers auf sich zu ziehen. Einen Einblick bekommt der Leser auch in den Arbeitsprozess der Aufnahme, wenn ihm davon berichtet wird, welche Unterschiede es in der Auffassung vom richtigen Tempo für eine Arie geht. Interessant dürfte es auch für ihn sein zu erfahren, dass Marina  Viotti die italienische Gesangstechnik, die für den Belcanto entwickelt wurde, für anwendbar auch bei Wagner hält, allerdings müsse die Stimme bei Mozart „lighter“ sein.

Bereits bei Dorobellas Arie aus Così fan tutte fällt auf, dass die Sängerin die Extreme, was Tempi und Lautstärke angeht, auslotet, was dem Gemütszustand der neapolitanischen Dame durchaus angemessen ist. Die Sicherheit bei den Intervallsprüngen fällt ebenso auf wie in der folgenden Konzertarie Non temer, amato bene das wunderschön ersterbende morire oder die anmutige Koketterie der gespielten Naivität. Recht flott geht Susanna im Rezitativ vor, aber sie hat es ja auch eilig, endlich ihren Figaro umarmen zu können, poetisch und von leichter Melancholie überschattet erklingt die Arie. Aus Mitridate stammt die Arie des Farnace, für einen Kastraten komponiert, in der die weit gespannten Bogen und die Präsenz des tiefen Registers erfreuen. Sehr schön moduliert werden die Töne in der Arie Cara, lontano ancora, die Diktion ist hier etwas verwaschener, die Koloraturen könnte man sich noch nachdrücklicher denken. Einen wunderschönen Jubelton kann Marina Viotti für das Esultate einsetzen, die instrumental geführte Stimme glänzt auch in der Höhe, kann am Schluss noch einmal schön auftrumpfen. Ein eher schüchtern erscheinendes Leuchten zeichnet Cherubino aus, der Ramiro aus der Finta Giardiniera hat die begehrte lacrima nella voce, und Sestos sanfte Seele offenbart sich in wunderschöner Ebenmäßigkeit. Von harmonischer Zusammenarbeit mit dem Orchester und seinem Dirigenten spricht durchgehend diese vielseitige, die mit dem Booklet geweckten Erwartungen voll erfüllende CD, deren Titel Mezzo Mozart auch ein wenig trotzig klingt und deren Cover darüber rätseln lässt, ob das Tattoo auf dem Rücken den Sängerin ein gefallener Engel oder eine Meerjungfrau ist (Aparté Music AP 350/ 27.07.24). Ingrid Wanja           

Siegfried Lorenz

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Namentlich Besucher der Berliner Staatsoper werden sich an den Sänger Siegfried Lorenz (30. 8. 1945)  erinnern, der am 24. 8. 2024 verstarb. Ein Beitrag bei Wikipedia fasst seine Lebensdaten zusammen.

Siegfried Lorenz studierte von 1964 bis 1969 an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ Berlin Gesang und war dort Meisterschüler von Alois Orth. Nach mehreren internationalen Wettbewerbspreisen wurde er 1969 von Walter Felsenstein an die Komische Oper Berlin verpflichtet. Bis 1973 war er dort als lyrischer Bariton engagiert. 1973 wurde er von Kurt Masur, der für Lorenz die Stelle eines „ersten Gesangssolisten“ am Gewandhaus schuf, an das Leipziger Gewandhaus verpflichtet. Lorenz machte sich vor allem auch als Bach-Interpret und Liedsänger einen Namen. Seine Einspielungen der Lieder Franz Schuberts sind mehrfach preisgekrönt.

Von 1978 bis 1992 war Lorenz als erster lyrischer Bariton an der Staatsoper Unter den Linden in Berlin engagiert. Dort erzielte er unter anderem mit dem Wolfram aus „Tannhäuser“, dem Grafen aus der „Hochzeit des Figaro“, Marquis von Posa aus „Don Carlos“ sowie dem Borromeo aus Pfitzners „Palestrina“ große Erfolge.

Zu seinen CD-Einspielungen gehören Mahlers „Kindertotenlieder“ mit dem Gewandhausorchester unter Kurt Masur, die Schubert-Lieder mit Norman Shetler, die EMI-Einspielung der „Meistersinger von Nürnberg“ (in der Lorenz den Beckmesser singt) unter Wolfgang Sawallisch, die Bach-Solokantate „Ich will den Kreuzstab gerne tragen“ und „Ich habe genug“ mit dem Collegium Musicum Leipzig unter Max Pommer, Mahlers „Lieder eines fahrenden Gesellen“ unter Günther Herbig sowie „Fünf Lieder nach Friedrich Rückert“ mit der Staatskapelle Berlin unter Otmar Suitner.

Lorenz gastierte mit namhaften Orchestern und Dirigenten in Europa, den USA und Japan. 1979 wurde er zum Kammersänger der Deutschen Staatsoper Berlin ernannt und 1982 zum Professor berufen. Von 2001 bis 2003 war er Professor für Gesang an der Musikhochschule Hamburg, seit Oktober 2003 war er Professor für Gesang an der Universität der Künste Berlin. Wikipedia

Bezaubernd

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Sind vier Opernhäuser für eine Stadt wie Berlin nicht genug? Offensichtlich nicht, denn neben der Deutschen Oper, der Staatsoper, der Komischen Oper und der Neuköllner Oper gibt es schließlich noch die Berliner Operngruppe, die einmal im Jahr eine italienische Oper aufführt und dazu hat sich, allerdings sich nicht auf die Gattung beschränkend, auch noch der Klangkörper Eroica Berlin unter seinem Dirigenten Jakob Lehmann gesellt und hat 2022 Gioacchino Rossinis Oper L’Italiana in Algeri halbszenisch aufgeführt. Davon gibt es seit kurzem eine 2-CD-Aufnahme, die dem Hörer viel Freude bereiten kann.

Das Ensemble hat sich erst 2015 gegründet, spielt Musik teilweise auf historischen Instrumenten und zwar meistens im Kino Delphi in Berlin Weißensee, ist aber auch bereits in der Hamburger Elbphilharmonie, dem Linzer Brucknerhaus und der Berliner Philharmonie aufgetreten. Die Musiker halten mehrere Programme, die man buchen kann, bereit, man kann zwischen Bach, Mozart und einem Wagner-Beethoven-Konzert wählen und eventuell Lioba Braun oder Mojca Erdmann hören. Dabei ist nicht nur ein Hörgenuss garantiert, sondern im Eintrittspreis von 20 Euro für die Kammerkonzerte ist jeweils auch ein Getränk inbegriffen.

Die bei PanClassics erschienene Aufnahme ist, wie der Beifall nach den einzelnen Musiknummern beweist, der Mitschnitt von einem Konzert und vereint eine prominente Sängerbesetzung mit einer hochprofessionellen Orchesterbegleitung. Das Zusammenspiel von modernen Holzbläsern und Streichern mit Darmsaiten ist effektvoll und die Begleitung der Rezitative nicht nur mit einem Tasteninstrument , sondern mit Cello, Kontrabass und Hammerklavier macht Sinn.

Bereits in der Sinfonia werden, was Lautstärke und Geschwindigkeit betrifft, alle Kontraste ausgereizt, blitzt Ironie auf, und die Finali werden geschickt in ständiger Steigerung aufgebaut. Die Frische des Spiels, das harmonische Miteinander mit den Sängersolisten versetzen den Hörer zunehmend in gute Laune. Der Neuer Männerchor Berlin ist zwar klein, aber fein.

Von der Lindenoper her bekannt ist der Säger des Mustafa, David Oštrek, der den sexgierigen Herrscher mit einem süffigen „me la voglio goder“ charakterisiert, der die notwendige Agilität für Rossini besitzt und sich nicht nur mit „già d’insolito ardore“ noch einmal zu steigern weiß. Einen stilsicheren, sensiblen Lindoro singt Miloš Bulajić, weiß seinen Tenor in  beachtliche Höhen zu schrauben und ist mit „Languir per una bella“ in seinem vokalen Element. Nur hin und wieder ist die Registerverblendung noch nicht perfekt. Zwei tadellose Baritone sind mit Adam Kutny als Haly und mit Manuel Walser als Taddeo zu hören, sehr sonor der eine in seiner Charakterisierung der italienischen Frauen, geschmeidig der andere in „Ho un gran peso“.

Auch noch in der Höhe  eine schöne Mezzofarbe hat die Stimme von Hannah Ludwig als Isabella, viele warme, weiche Töne, ihre Stimme kann Ironie ausdrücken und in „Per lui che adoro“ ist die Stimme wie aus einem Guss, was bei Intervallsprüngen nicht durchweg der Fall ist, aber bei einer raffinierten Wiederholung mit schönen Verzierungen kaum ins Gewicht fällt. Mit leichter Emission der Stimme und angenehmer Frische erfreuen die Elvira von Polly Ott und die Zulma von Laura Murphy. Was man auf diesen beiden CDs zu hören bekommt, hätte auch an einem der großen Opernhäuser der Stadt kein Missfallen erregt (PanClassics PC 10455). Ingrid Wanja