Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Auf eigenem Label

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Für ein Zurück-zu-den-Anfängen wie zugleich für ein Zu-neuen-Ufern steht die neueste CD von Juan Diego Florez, denn eine kleine Partie in der Zarzuela Luisa Fernanda vertraute der Tenor Luigi Alva einst dem gerade Neunzehnjährigen an, und die jetzt erschienene Zarzuela-CD ist die erste im neuen Label Florez Records. Ein handliches Büchlein dient als CD-Hülle und enthält gleich drei Texte, der erste einen des Sängers, der „Glück und Stolz“ darüber ausdrücken will, dass er die Aufnahme zusammen mit dem Orquestra y Coro Juvenil Sinfonia por el Perú bewerkstelligen konnte, eine segensreiche Einrichtung, die es auch jungen Künstlern aus mittellosen Familie ermöglicht, eine musikalische Laufbahn einzuschlagen. Außerdem enthält der Text Danksagungen an alle, die an der Verwirklichung des Unternehmens beteiligt waren. Im zweiten Beitrag, von Gonzalo Lahoz, wird dem Leser ein Einblick in die Geschichte der Zarzuela gewährt, ihre Bedeutung für die Identitätsstiftung zwischen den Spanisch sprechenden Völkern erwähnt, ihre Blüte auf die Zeit zwischen 1884 und 1936 festgelegt. Im dritten Beitrag, dem von Miguel Molinari,  wird  besonders auf die Zarzuela in Lima, der Heimat des Sägers, eingegangen, auf die Geburt der Gattung im Palast La Zarzuela, was Brombeere bedeutet, auf den nicht unbekannten ersten Librettisten Calderon della Barca und die erste, 1701 in Lima aufgeführte Zarzuela mit dem Titel La púrpera della rosa.

Florez wurde in Europa zuerst durch sein Mitwirken bei den Rossini-Festspielen in Pesaro bekannt, beginnend 1996 mit Matilde di Shabran. Inzwischen hat er sein Repertoire nach der Eroberung des italienischen Belcanto auch mit französischen Partien erweitert, so dem Raoul, Hoffmann, Faust und Des Grieux. An seinem Ausflug zu Verdi (Duca, Alfredo) und Puccini (Rodolfo) scheiden sich die Geister. Die Rückwendung zur Zarzuela allerdings dürfte unangezweifelte Freude bereiten und zugleich diejenigen verstummen lassen, die sie mit der opéra comique oder dem deutschen Singspiel zu vergleichen versuchen.

Es beginnt mit Serranos El Trust de los Tenorios, in dem einer der Herren beteuert, für die schwarzen Augen seines Mädchens sterben zu müssen, was ungemein rasant und ausgesprochen tänzerisch bewegt dargeboten wird, in der Arie aus Luisa Fernanda hingegen besticht der Tenor durch die leichte Emission der Stimme, das Durchmessen der Registersprünge mit einer Stimme wie aus einem Guss und einer sicheren Höhe. In den drei Arien aus Zarzuelas von Serrano begeistert die Eleganz der Stimmführung,  durchweg in allen Tracks die anscheinende  Mühelosigkeit des Singens, die aristokratische Haltung, das perfekt gestützte Piano. Die Emigrantes von Barrera zeigen in besonderem Maße die reiche Agogik, zu der die flexible Stimme fähig ist, in El Guitarrico vereinen sich häufige Wiederholung mit einer ständigen Steigerung des Ausdrucks. Die leidenschaftliche Arie des Leandro aus La Tabernera del Puerto schließlich lässt eher an Oper als an Operette denken.

Vielseitig zeigt sich das Orchester unter Guillermo Garcia Calvo, in Deutschland ausgerechnet durch seine Wagnerinterpretationen  und als Generalmusikdirektor in Chemnitz bekannt, und hier die jungen Musiker zu temperamentvollem und dabei präzisem Spiel führend (2024 Florez Records). Ingrid Wanja

Carlo Coccias „Matilde“

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Opera Southwest in Albuquerque, New Mexico, ist in vielerlei Hinsicht ein ungewöhnliches Unternehmen. Unter der Hand des künstlerischen Leiters Anthony Barrese spielt es nicht nur Standards wie Madama Butterfly, sondern hat auch mehr Rossini-Opern produziert als jedes andere amerikanische Unternehmen, darunter viele seltene. Es hat auch Raritäten von mehreren anderen Komponisten aufgeführt, darunter Franco Faccio (Amleto), Giovanni Bottesini (Alì Babà), Louise Bertin (Le loup-garou) und jetzt Carlo Coccias Una fatale supposizione ovvero Amore e dovere  (oder eben im Kurztitel nach der Heldin: Matilde). Selbst die Standardwerke bieten manchmal eine überraschende Wendung: Aufgrund der großen spanischsprachigen Bevölkerung in New Mexico wurde im vergangenen Frühjahr Bizets Carmen in einer spanischen Übersetzung aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert aufgeführt, und später in diesem Monat wird der New Mexico Symphonic Chorus Mesías, Händels Messias auf Spanisch, darbieten.

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Carlo Coccia/Wikipedia

Während die meisten von uns während der Covid-Pandemie nur eingeschränkt oder gar nicht aus dem Haus gehen konnten und Opernhäuser auf der ganzen Welt geschlossen waren, verbrachte der Musikwissenschaftler und Dirigent Anthony Barrese viel Zeit damit, sich mit unbekannten Partituren aus der kurzen Zeit in der Musikgeschichte Venedigs zu beschäftigen, als kurze Einakter, die als farse bekannt waren, populär waren (ca. 1790-1820). Diese 80- bis 90-minütigen Werke wurden in der Regel in kleineren Theatern wie dem San Moisè und dem San Benedetto aufgeführt, und das Format verbreitete sich bald auch in anderen Städten Italiens. Es war eine gute Möglichkeit, preiswerte Unterhaltung anzubieten, für die eine begrenzte Besetzung und ein kleines Orchester, in der Regel ohne Chor und mit einer einfachen Kulisse, ausreichten. Es war auch eine gute Möglichkeit, aufstrebenden Komponisten einen Weg in den Opernmarkt zu ebnen und jungen Sängern die Möglichkeit zu geben, ihre Kunst zu perfektionieren, ohne den Druck, in einer großen Produktion aufzutreten.

Rossinis erste inszenierte Oper war eine Farsa (La cambiale di matrimonio, 1810), und in den nächsten drei Jahren produzierte er vier weitere Beispiele. Rossini war jedoch nicht der Einzige, der Farses schrieb, und in den Spielzeiten 2001–2005 würdigte das Rossini Opera Festival in Pesaro die Bedeutung des Genres, indem es mehrere Farses von Rossinis Zeitgenossen unter dem allgemeinen Titel Il mondo delle farse aufführte. Eine von ROF produzierte Oper war damals Carlo Coccias Arighetto, die 1813 einen großen Erfolg hatte (und die es auf die DVD gebracht hat).

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Anthony Barrese, Musikwissenschaftler, Musikarchäologe und Dirigent an der Opera Southwest von Aluquerque/NM/ Flavia Loreto Fotografia/ operalounge-Lesern bekannt durch die vielen Berichte über seine Opernausgrabungen wie Faccios „Amleto“

Maestro Barrese, der sich durch die Partituren dieser Kurzopern arbeitete, um eine davon in einer Welt nach Covid auf die Bühne zu bringen, stieß auf Carlo Coccia und seine einaktige Farsa Una fatale supposizione ovvero Amore e dovere. Wie Rossini hatte Coccia fünf Werke geschrieben, die als Farse für den venezianischen Markt klassifiziert waren, und zwar zur gleichen Zeit, als der junge Rossini dort arbeitete. Barrese sah sich mehrere frühe Coccia-Partituren an, darunter eine Carlotta e Verter, die auf Goethes Die Leiden des jungen Werthers basiert. Eine Online- und persönliche Suche in Archiven ergab mehrere Libretto-Kopien und eine zugängliche Partitur von Una fatale supposizione im Konservatorium von Neapel. Das Autograf im Ricordi-Archiv erforderte einen persönlichen Besuch, den Barrese nach dem Abklingen der Pandemie antreten konnte. Aus diesen Quellen erstellte er eine Aufführungsausgabe, die er vom 12. bis 14. September 2024 in Albuquerque einstudierte.

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Wer war Carlo Coccia? Er wurde am 14. April 1782 in Neapel geboren und starb am 13. April 1873 in Novara. Als Knabensopran studierte er in seiner Heimatstadt Musik und ging schließlich an das Conservatorio di Santa Maria di Loreto. Obwohl er nicht bei Paisiello studierte, förderte der ältere Maestro seine Karriere und sorgte dafür, dass er als Begleiter für Konzerte ernannt wurde, die für Joseph Bonaparte, den damaligen König von Neapel, veranstaltet wurden. Coccias erste Oper, Il matrimonio per lettera di cambio, wurde 1807 am Teatro Valle in Rom aufgeführt und war ein Misserfolg. Coccia war entmutigt und wollte das Theater aufgeben, aber Paisiello ermutigte ihn, weiterzumachen, und sein zweiter Versuch im folgenden Jahr in Florenz, Il poeta fortunato, war erfolgreich.

Ritratto di Carlo Coccia Medaglione, 1890- 1899 (in Novara)/ Wikipedia

Coccia ging dann nach Venedig und schloss sich dort den Komponisten an, die an farse arbeiteten, mit La verità nella bugia. Nach einer Mischung aus Erfolgen und Misserfolgen und zunehmend unfähig, mit Rossini zu konkurrieren, nahm er 1820 eine Stelle in Lissabon als Direktor des Teatro São Carlos an. Nachdem er vier Opern zu alten Libretti für dieses Theater und eine Kantate (Il lusitano) geschrieben hatte, zog Coccia im Januar 1824 nach London, wo er Direktor des King’s Theatre in Haymarket und Lehrer an der Royal Academy of Music wurde. In London produzierte er eine Oper, Maria Stuarda, regina di Scozia (1827), die von der Kritik gefeiert wurde, aber trotz einer Besetzung mit Giuditta Pasta und Filippo Galli kein Kassenerfolg war.

1828 kehrte er nach Italien zurück und änderte seinen Stil, um ihn an die Romantik von Donizetti und Bellini anzupassen. Es gab Erfolge (L’orfano della selva, Edoardo in Iscozia, Caterina di Guisa), aber auch einige Misserfolge (darunter eine Rosmonda d’Inghilterra mit demselben Libretto von Felice Romani, das Donizetti fünf Jahre später verwendete). 1836 wurde Coccia Direktor der Accademia Filarmonica in Turin und 1840 Kapellmeister an der Kathedrale von Novara. Seine letzte Oper – Il lago delle fate wurde 1841 in Turin uraufgeführt, war jedoch kein Erfolg. Danach widmete er sich der Kirchenmusik. 1868/69 wirkte er an der von Verdi zu Ehren Rossinis geplanten Totenmesse mit einem Lacrimosa für den A-cappella-Chor mit. Er starb 1873, einen Tag vor seinem einundneunzigsten Geburtstag.

Wie so viele andere bemühte sich Coccia, im Schatten Rossinis zu überleben, aber zumindest in seinen frühen Tagen war keineswegs klar, welcher Komponist triumphieren würde. In gewisser Weise konkurrierten sie in den Jahren 1810–1813 direkt miteinander, insbesondere bei der venezianischen Farsa, und so kann ein Werk wie Una fatale supposizione Licht auf Coccia selbst und auch auf Rossini werfen.

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Carlo Coccia: „Matilde“;  Bühnenbild 2. Akt von  di Antonio Basilo 1821/ Archivio Storico Ricordi

Zunächst einmal haben Coccias erste Oper, die 1807 aufgeführt wurde, und Rossinis erste inszenierte Oper (1810) dieselbe Quelle, Camillo Federicis La cambiale di matrimonio viel gemeinsam. Da Coccia bereits in Venedig war, als Rossini 1810 ankam, und da Una fatale supposizione etwa einen Monat nach La cambiale di matrimonio im San Moisè uraufgeführt wurde, ist es wahrscheinlich, dass Rossinis Librettist Gaetano Rossi von Coccias Oper aus derselben Quelle wusste.

Das Genre der Farsa folgte demselben Muster mit einigen Variationen. Alle endeten glücklich, aber einige waren wirklich Opern semiserie, während andere eher eine Farce waren. Una fatale supposizione nähert sich dem Genre Semiseria, ebenso wie Rossinis L’inganno felice – beide mit demselben Librettisten, Giuseppe Foppa, und beide mit demselben Topos: eine unschuldige Ehefrau, die von einem abgewiesenen Verehrer fälschlicherweise beschuldigt wird, mit den daraus resultierenden Turbulenzen. Normalerweise, wie in L’inganno felice, befiehlt der Ehemann, dass die von Verleumdungen betroffene Ehefrau getötet wird, aber ein mitfühlender Gefolgsmann überlässt sie stattdessen sich selbst in einer wilden Umgebung; schließlich kommt die Wahrheit ans Licht, das Paar versöhnt sich und der Ankläger wird bestraft.

Carlo Coccia: „Matilde“;  Bühnenbild 1. Akt von  di Antonio Basilo 1821/ Archivio Storico Ricordi

Coccia selbst komponierte La donna selvaggia, eine Oper in zwei Akten mit genau diesen Zutaten (die der Librettist Foppa auf der Grundlage seines eigenen Prosadramas von 1800 verwendete). In dieser Variante wird der „wilden Frau“ des Titels vom Diener die Kleidung als „Beweis“ für ihren Tod abgenommen, sodass sie gezwungen ist, Tierfelle zu tragen, und für ein wildes Tier gehalten wird. In Una fatale supposizione sind jedoch die Kinder die Leidtragenden der Verleumdung: der Sohn des Verräters und die Tochter der fälschlicherweise beschuldigten Ehefrau.

Die Struktur der Farsa sah vor, dass die Oper mit einer ausgedehnten Introduzione beginnt, die manchmal eine Arie für eine Hauptfigur enthielt. Es folgen ein oder zwei Arien und ein Duett, die zu einem großen Ensemble führen (ein Trio, das in Una fatale supposizione zu einem Quartett wird). Diese Nummer ist wie ein Finale des ersten Aktes, aber in einer Farsa geht die Handlung weiter, oft mit einer Aria di sorbetto für eine Nebenfigur, gefolgt von weiteren Arien und/oder Duetten, einschließlich des letzten formellen Stücks für den Sopran; eine abschließende Auflösung bringt alle Figuren auf der Bühne für das Finale zusammen. Alle fünf Einakter farse von Coccia (obwohl nicht alle offiziell als farse bezeichnet wurden) folgen diesem Muster, ebenso wie die fünf farse von Rossini, die etwa im gleichen Zeitraum komponiert wurden.

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Carlo Coccia: „Matilde“;  Bühnenbild 3. Akt von  di Antonio Basilo 1821/ Archivio Storico Ricordi

Zur Handlung: In Una fatale supposizione ossia Amore e dovere (Eine fatale Vermutung, oder Liebe und Pflicht) ist Dolibanos Frau Sofia kürzlich gestorben und Dolibano ist in den Besitz eines Briefes seines alten Freundes Guglielmo Vodmar gelangt, aus dem hervorgeht, dass Guglielmo eine Affäre mit Sofia beendet hat und dass Matilde in Wirklichkeit sein Kind ist und nicht das von Dolibano. Matilde kann nicht verstehen, warum ihr Vater versucht, Guglielmos Sohn Federico, der ihr Verehrer ist, von ihr fernzuhalten, und sie drängt den treuen alten Diener Pantarotto, zu verraten, dass ihr Vater glaubt, seine verstorbene Frau sei untreu gewesen. Obwohl sie es nicht glaubt, stimmt sie zu, das Geheimnis für sich zu behalten. Als Dolibano darauf besteht, Matilde fortzuschicken, ist Federico wütend und versucht, dies zu verhindern. Matilde verteidigt jedoch ihren Vater und stimmt zu, zu gehen, womit sie ihre Unterwerfung unter die Pflicht (das „Dovere“ des Untertitels) bestätigt. Dennoch verhindern Federicos Männer Matildes Abreise und alle kehren zu Dolibanos Schloss zurück. Hier enthüllt Federico, dass auch er einen Brief von seinem Vater hat, der auf dem Sterbebett geschrieben wurde und in dem er gesteht, dass seine Anschuldigungen der Untreue falsch waren und Matilde in Wirklichkeit Dolibanos Tochter ist. Der Weg für ein Happy End ist frei.

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Coccias „Matilde“: Cast Opera Southwest 2024

Musikalisch bewegt sich die Partitur zwischen Musik, die im 18. Jahrhundert zu Hause wäre, wie die Sinfonia, und Musik, die viele als „Rossini-ähnlich“ bezeichnen würden, außer dass Rossini unbekannt war, als Coccia seine Partitur schrieb. Es gibt sogar Passagen mit Phrasen, die denen ähneln, die wir in späteren Rossini-Partituren hören werden. In diesem frühen Stadium ihrer Karriere klingt Coccia nicht so sehr wie Rossini, sondern Rossini manchmal wie Coccia. Was der Partitur fehlt, ist ein charakteristisches Rossini-Crescendo. Coccias Partitur enthält jedoch Neuerungen, wie die Verwendung von Blasinstrumenten allein als Begleitung für einen Teil des Quartetts, und die Musik folgt dem Text genauer als es Rossinis Musik oft tut. Coccia wusste auch, wie man eine einprägsame Melodie schreibt: Selbst die Arie für Fiammetta, das Dienstmädchen, hat eine Ohrwurm-Melodie.

Die Oper scheint in Venedig ein Erfolg gewesen zu sein, denn sie erlebte auch in mehreren anderen Städten ein respektables Nachleben, darunter Neapel, Turin, Padua, Palermo und Barcelona. Der wohl bekannteste Sänger bei der venezianischen Premiere war Nicola de Grecis, ein Bass, der Pantarotto sang. In Neapel (Teatro del Fondo, Sommer 1812) wurde die Tenorrolle jedoch von dem jungen Domenico Donzelli übernommen, der seit vier Jahren in Neapel sang. Er war bereits so bekannt, dass Coccia eine neue, formellere Arie für ihn schrieb.

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Opera Southwest in Albuquerque, New Mexico

Opera Southwest in Albuquerque brachte die Oper vom 12. bis 14. September 2004 als Matilde zur modernen Uraufführung, ein Titel, der für das amerikanische Publikum leichter zu merken ist als Una fatale supposizione. (Tatsächlich wurde sie nach ihrer Premiere in italienischen Städten als La Matilde oder La Metilde aufgeführt.) Die Besetzung bestand aus den Nachwuchskünstlern Will Kellerman (Dolibano), Alexandra Wiebe (Matilde), Eric Botto (Federico), Kim Stanish (Fiammetta) und Joshua Hughes (Pantarotto). Anthony Barrese dirigierte und Martha Collins führte Regie. Das Unternehmen plant, die Aufführung in naher Zukunft über iTunes oder YouTube der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Wie ein Indiana Jones der Oper hat Maestro Barrese einen weiteren Schatz gehoben, und weit weg von Venedig war Coccias kleine Farsa nach zweihundert Jahren des Schweigens wieder ein Hit. Charles Jernigan/DeepL

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Auf Dokumenten ist Carlo Coccia eigentlich ganz gut repräsentiert: Die tapfere Firma Bongiovanni hat seine Caterina di Giusa aus Savona von 1990 unter Massimo de Bernart im Programm, auch seine Clotilde von 2003 unter Fabrizio Dorsi.   Ebenfalls bei der Firma gibt es aus Savona (2005) als DVD den Arrighetto erneut unter Fabrizio Dorsi.

Und wie Charles Jernigan schreibt, hat Opera Southwest vor die Matilde in naher Zukunft über iTunes oder youtube der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Bei youtube gibt es zudem auch einiges: eine Alicia „Ash“ Hurtado steuert eine Arie aus der Matilde bei; es finden sich ein Requiem aus Bologna von 2017, natürlich Coccias Anteil aus der Messa per Rossini (8. Lacrimosa – Amen), eine Sinfonia in Sol Maggiore, Einzelstücke aus den Opern La donna selvaggia und Maria Stuarda (Opera Rara), Kammermusik und Lieder und schließlich eine etwas bizarre Hino constitucional von 1820 aus Lissabon (2024). G. H.

Jungfrau in der Anstalt

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Das badische Heidenheim hat knapp 50 000 Einwohner, eine Fußballmannschaft in der  Ersten Bundesliga und seinen Namen tragende Opernfestspiele. Die haben sich, seit der Dirigent Marcus Bosch mit seinem Orchester Cappella Aquileia dafür verantwortlich ist, zu einem Hort der Verdi-Pflege entwickelt, in den letzten Jahren kontinuierlich Frühwerke des Italieners aufgeführt und in der Spielzeit 2023 sogar neben Giovanna d’Arco im Congress Centrum noch Don Carlo im Rittersaal der Burgruine.

War man einige Jahrzehnte lang bei Sommer-Festspielen noch relativ sicher vor Auswüchsen des Regietheaters, gab es nur sporadisch eine kiffende Mimi in Macerata oder eine Maria Devia als Violetta im Miniröckchen in der Arena di Verona, so hat sich spätestens mit dem Freischütz in Bregenz gezeigt, dass sein Siegeszug in die letzten Winkel des Opernerlebens wohl unvermeidlich ist.

Weiß die Regie mit einer Handlung, und sei sie noch so stark an eine Zeit, in einen Raum gebunden, nichts anzufangen, dann kann diese als Traum, besser noch als Wahnvorstellung, hier der Jungfrau von Orléans, dargestellt werden, die bei Regisseur Ulrich Proschka in einer Nervenklinik allerlei medizinischen Prozeduren unterworfen wird, um sie vor den Wahnvorstellungen zu befreien, sie habe den  göttlichen Auftrag erhalten, Frankreich gegenüber den Engländern zu verteidigen. Letztere stellen das medizinische Personal und die himmlischen Stimmen, Talbot ist der Chefarzt, der Chor betätigt sich als sehr, sehr viele Ober-, Stations- und Assistenzärzte, zu denen sich noch Krankenschwestern in strenger Tracht mit Häubchen und Schürze gesellen. Ach, wie oft hat man dieses Personal in den letzten Jahren bereits auf Opernbühnen gesehen!

Pfähle säumen das einschließlich Bettpfanne naturalistisch gestaltete Krankenzimmer ein, außerhalb desselben treibt eine wohl nur in der Phantasie Giovannas vorhandene  Hofgesellschaft, die zugleich die Dorfbewohner darstellt,  ihr Unwesen, zum Teil phantasievoll, zum Teil abscheulich, so mit Monsterbrillen verunstaltet, gekleidet( Bühne und Kostüme Lena Scheerer). Wie bei Schiller (Kurz ist der Schmerz, und ewig ist die Freude), von dem Verdi auch das von der historischen Wahrheit abweichende Ende auf dem Schlachtfeld übernommen hat,  gibt es am Schluss die versöhnende Verklärung,  aber nur im Gesang, während auf dem Krankenbett bereits der gut verschnürte Leichnam der Jungfrau liegt.

Musikalisch eine reine Freude sind der Czech Philharmonic Choir of Brno (Petr Fiala) und die Cappella Aquileia unter Marcus Bosch, die das Brio, den Drive und den dauernden Eindruck von Spontaneität für den jungen Verdi haben. Die Gesangssolisten sind mit Miniports ausgestattet, die natürlich auf dem Bildschirm nicht zu übersehen sind. Sophie Gordeladze ist eine optisch attraktive Giovanna mit rotem Haarschopf. Ihr Sopran ist leicht, hell, meistens höhensicher und eher eine Gilda oder Violetta, kann mit „Ah, son guerriera“ punkten, für das sie die notwendige Agilità hat, ist in der Extremhöhe aber manchmal recht spitzig.  In der tieferen Lage wünscht man sich mehr Substanz. Héctor Sandovals Tenor hat für den Carlo wenig Glanz, klingt trocken, streckenweise belegt, mit unüberhörbaren Problemen beim passaggio. Um die Voraussetzungen für den Verdi-Gesang weiß der Giacomo von Luca Grassi, dem eher die kraftvollen, verdammenden Töne gelingen als die mitleidsvollen.  Machtvoll äußert sich Martin Piskorski in der kurzen Partie des Delil, düster Rory Dunne als Talbot.

Das Publikum zeigt sich begeistert und geizt auch nicht mit Szenenapplaus, allerdings stellt sich das Regieteam dem Urteil des Auditoriums nicht (Coviello COV92419). Ingrid Wanja

Tüchtiger Fabio Biondi

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Von seinem Erstling bis zu seinem Schwanengesang hat Fabio Biondi das gesamte Theater Verdis aufgeschlagen. Un giorno di regno, die unglückselige Buffa von 1840, hat er im Rahmen des Warschauer Festival „Chopin and his Europe“ im August 2022 im Warschauer Teatr Wielki dirigiert, den Falstaff, die Commedia liricia, mit der sich Verdi 53 Jahre später von der Bühne verabschiedete, in diesem September beim Verdi Festival in Parma. Der König für einen Tag liegt nun auf CD vor, in einer dieser umfangreichen signalroten Hardcover-Boxen, mit denen vor allem Biondis Warschauer Moniuszko-Aktivitäten dokumentiert werden (2 CD NIFCCD 096-097). Lange war Biondi ausschließlich Italiens Mann für die Alte Musik, spielte als Geiger in allen relevanten Formationen, bevor er 1990 sein eigenes Ensemble, Europa Galante, gründete und sich ab den 2010er Jahren auch verstärkt dem klassischen und romantischen Repertoire zuwandte.

Beim Warschauer Festival widmete er sich beispielsweise Bellinis Norma und den Capuleti e i Montecchi ebenso wie Verdis Macbeth und Il Corsaro. Bei den Aufnahmen in Warschau muss eine ausgezeichnete Stimmung geherrscht haben. Zumindest vermittelt Biondi auf Anhieb eine ansteckende Spiellust und –Freude. Er macht klar, dass es sich bei dem Stück um eine lange zu Unrecht geächtetes Werk Verdis handelt und dieser für das, milde ausgedrückt, konventionelle Komödienlibretto, das man ihm aufdrückte, nichts konnte und aus Formeln und Schablonen das Beste machte. Die lustvoll gespielte Ouvertüre versprüht Esprit und Leichtigkeit, zugleich Draufgängertum und Leidenschaft. Das verführerische Fluidum und eine polacca-tänzerische Leichtigkeit durchziehen die zwei kurzen Akte um den Cavaliere Belfiore, der im Auftrag des Hofes die Rolle des polnischen Königs Stanislaus Leszczyński spielt und für allerlei Turbulenzen auf dem Schloss des Barons Kelbar in der Nähe von Brest sorgt. Immerhin bringt er die jungen Liebenden, Edoardo und Giulietta, unter die Haube, bevor er seine wahre Identität und die Heirat mit der Marchesa del Pioggio bekannt gibt.

Die feinsinnige Begleitung der Europa Galante-Musiker, ihre instrumentale Eleganz und rhythmische Alertheit sowie Biondis offenkundige Lust am kokettierenden und sich umschmeichelnden Spiel der Stimmen kreieren eine elegant beschwingte Komödienstimmung und verleihen selbst den schwächeren Nummern musikalische Güte und Einheitlichkeit. Der Podlasische Opern und Philharmonische Chor steuert die wenigen prägnanten Chorweinwürfe bei. Die Rezitative freilich ziehen sich ein wenig, doch die Cavatinen der Marchesa, wenig individuell und scharfkantig Tina Gurina, und der Giulietta, als welche Vivica Genaux immer noch eine ausgesprochen gute Figur macht, sind ausgesprochene Schmankerl im ersten Akt. Dazu gehören das Terzett der Damen mit Edoardo, in welchem sie den jungen Offizier umgarnen, den Giulio Pelligra mit Charme und der Erfahrung singt, die er sich in vielen Partien des jungen Verdi erworben hat, wenngleich nicht ohne Anstrengung, wie die Arie zu Beginn des zweiten Aktes zeigt. Zu den Höhepunkten des ersten Aktes gehören zudem das Sextett mit dem betörenden Rossini-Drive und das Duett des Barons Kelbar mit dem Tesoniere La Rocca, in dem Ugo Gualiardo und Riccardo Olivera gekonnte Buffonistenlaune und Witz vermitteln. Wie ein lächelnder Monarch inmitten: Germán Olivera als zurückhaltend kultivierter Belfiore.    Rolf Fath

 

Wilfried Hösl: „Through the Looking Glass“

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Es ist eine seltsame Welt, die Wilfried Hösl über dreißig Jahre lang mit seinen Fotografien einfing. So seltsam, wie die Welt, die Alice durch einen Spiegel über dem Kamin ihres Wohnzimmers betreten kann. Der Originaltitel Through the Looking Glass von der Alice im Wunderland-Fortsetzung Alice im Spiegelland passt also ganz ausgezeichnet zu der Arbeit des Bayerischen Staatsopern-Theaterfotografen Wilfried Hösl, der Ende 2024 seine Tätigkeit beendet. Auf der Basis einer Retrospektive hat Hösl eine Auswahl getroffen, die von dem dafür prädestinierten Verlag Schimer/Mosel zu einem prächtigen und äußert gewichtigen Fotoband zusammengebunden wurde. Through the Looking Glass vereint auf 232 Seiten 185 Farbtafeln und dokumentiert die Ära Jonas/Mehta, die Hösl vom Bayerischen Staatsschauspiel an die Oper holten, sowie die Arbeiten mit und unter Kent Nagano, Nikolaus Bachler und zuletzt Serge Dorny, wobei die Umschlagbilder mit Rinaldo auf der Titelseite und Les Troyens auf der Rückseite den ästhetischen Aufbruch der legendären Jonas-Zeit feiern (ISBN 978-3-8296-1026-1-6). Im Lauf der Dezennien sind Hösls Fotos „eigenständige Kunstwerke“ geworden, wie ihnen Dorny attestiert, denn „Hösl Theaterfotografie ist weit mehr als nur die bloße Abbildung einer Aufführung. Sie fängt die Essenz einer Inszenierung ein, die Dynamik des Augenblicks, das Zusammenspiel von Licht, Bewegung und Emotion. In jedem Bild spiegelt sich ein feines Gespür für den richtigen Moment wider“. Keine Schnappschüsse, sondern „tief durchdachte Kompositionen“. In einem kurzen Gespräch, das bereits in einer Publikation der Bayerischen Staatsoper zu den Opernfestspielen 2006 veröffentlich wurde, macht Hösl klar, dass er als Theaterfotograf die Wünsche seiner Auftraggeber zu erfüllen sucht: „Der erste Auftrag des Hauses ist es, eine Inszenierung zu dokumentieren. Für das Marketing ist es wichtig mit bestimmten Bildinformationen – berühmte Sängerinnen oder Sänger, Dynamik oder Modernität einer Szene, Schlüsselsituationen des Stücks oder der Inszenierung etc. – zu werben. Dann gibt es den Auftrag, Bilder für das Programmbuch zu liefern. Für die Presse müssen es Bilder sein, die der Druckqualität von Zeitungen entsprechen usw.“. Es ist erstaunlich welche künstlerische Qualität die Fotos von Hösl besitzen, die offenbar diesen vielen Anforderungen gerecht wurden. Vor allem der Hauptteil des Bandes, der die Jahre an der Staatsoper von 2024 bis 1993 zurückblättert ohne eine Chronologie zu ersetzen, zeigt schöne und berührende Momente, die für sich stehen, ohne zu viel über die Aufführung zu verraten. Umrahmt wird er von kurzen Kapiteln über das Bayerische Staatsballett und das Residenztheater, an dem Hösl bereits 1983 begonnen hatte, und den Kapiteln „Proben“ und „Persönlichkeiten mit bestechenden Porträts von Moreau bis Abramovic. Manchmal scheint die Momentaufnahme besser als die Aufführung.  Rolf Fath

Indien-Oper aus Polen

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„Nel tenebror notturno, mio duce, cupo ed oppresso, turbato in cor, Fuor delle mura che l conduce, Qul forza occulta guida il tuoi passi“. Unweit der heiligen Gräber von Benares fragt Ratef seinen Freund Idamor, weshalb sie diesen nächtlichen Ausflug unternehmen. Idamor gesteht, dass er die Priesterin Neala liebt und sie bei ihren Gebeten zu sehen hofft, mit denen sie die aufgehende Sonne begrüßt. Das Italienisch ist nicht das Eleganteste, doch der sich andeutende Konflikt zwischen dem Dienst im Heiligtum und der weltlichen Liebe, wurde mehrfach behandelt. Intensiviert wird er durch die Tatsache, dass Idamor, der einen Paria, einen Ausgestoßenen, vor seinen Verfolgern in Sicherheit bringt, selbst ein Paria ist, der sich zum Helden hochkämpfte. Wüsste man es nicht besser, würde man den im Dezember 1869 in Warschau uraufgeführten Paria des Stanislaw Moniuszko nach einem französischen Drama, für das er sich schon als junger Mann begeisterte – und das die Vorlage zu Donizettis Il paria lieferte –  für eine etwas altmodische Seria eines weniger bekannten Italieners halten.

Denn auf der Neuaufnahme singt David Astorga den Auftritt des Idamor und die anschließende Cavatine in Italienisch (!), und das mit der Eleganz der alten Schule und dem stürmischen Impetus des jungen Verdi, mit einem klaren und tonschönen Tenor und gewinnendem Vortrag. Nach dem DUX-Mitschnitt vom April 2019 in Poznań im originalen Polnisch steht jetzt mit der von Fabio Biondi im August 2023 im Teatr Wielki in Warschau dirigierten Aufnahme eine italienische Alternative für Moniuszkos letzte vollendete Oper zur Verfügung (2 CD NIFCCD 093-094).

Die Ausstattung des poln. /engl. Beiheftes, das beispielsweise den zweisprachigen Bios der Mitwirkenden drei bis vier Seiten und für Biondi natürlich sechs Seiten einräumt, ist konkurrenzlos. Wenig über den Warschauer Bassisten Wladyslaw Miller, der 1850 in Warschau sein Debüt in Belisario gab, ab 1862 an zahlreichen italienischen und südamerikanischen Bühnen wirkte und u.a. 1872 den Philip in Neapel sang, wofür ihm Verdi das kleine Duetto mit Posa („Restate“) schrieb. Dieser Miller verfasste eine italienische Übersetzung, die einer internationalen Verbreitung des Werkes förderlich sein sollte. Vergebens.

Wie Moniuszkos Opern, die häufig ein bestimmtes Polenbild der ländlichen Güter und adretten Dörfer idealisierten, blieb auch das indische Kasten-Drama Paria, dessen Chören etwas steifleinen wirken, eine lokale Angelegenheit, mit der sich die polnischen Bühnen erst nach 1945 regelmäßig befassten. Nun also die durchaus befeuernde und stellenweise mitreißende Aufführung unter Fabio Biondi, wobei Lukasz Borowicz, der bei DUX das Werk mit dem Poznań Philharmnic Orchestra einstudiert hat, nicht unterschätzt werden darf. Fabio Biondi bringt nochmals eine Priese mehr Italianità mit, die dem Stück und den geschmeidig ineinandergreifenden Szenen einen gewaltigen Drive gibt, der beispielsweise nach der wirkungsvollen Arie des Brahmanenpriesters Akebar des charaktervoll gegerbten Bass des Aleksey Bogdanov im packenden ersten Finale gipfelt. Die Musiker von Europa Galante und des Philharmonic Choir folgen dem Meister mit bedingungsloser Hingabe. Leidenschaft und Hingabe kaschieren die Dürftigkeit mancher handwerklicheren Artigkeiten Moniuszkos, die ohne bemerkenswerterweise exotische Couleurs auskommt. Marta Torbidoni, eine gefragte Abigaille und Odabella, bringt für die Priesterin Neala einen klangvoll lodernden Sopran mit, der mexikanische Bariton Germán Olivera als Idamors Vater und der brasilianische Tenor Matheus Pompeu als sein Vertrauter runden das sehr gut besetzte Ensemble ab.   Rolf Fath

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PS.: Etwas verärgert liest der Opernfreund nicht ein einziges Wort zur befremdlich-italienischen Fassung der hier eingespielten Oper (wie auch der italienischen Halka bei NIFF) . Sicher, Herr Miller wollte Moniuszkos Oper auf die internationalen Sprünge helfen, aber wir Hörer in moderner Zeit hätten doch gerne irgend etwas zu eben dieser Version gelesen. Wo und ob ist sie überhaupt aufgeführt worden? Wo hat Biondi sie gefunden? Das ist doch recht schlampig, so etwas nicht zu erwähnen. Ganz sicher gewinnt der etwas steife Paria durch die glattere italienische Sprache,. aber dennoch … Exotisch allein ist nicht genug, caro Maestro. (Zur Oper s. Die vergessene Oper 57) G. H.

 

Verdienstvoll

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Alles andere als ein Grand Seigneur, so der Titel der CD mit dem Bariton Nicola Alaimo, ist der bekannteste aller Donizetti-Baritone, Enrico, der seine Schwester Lucia di Lammermoor mit einer erzwungenen Ehe in den Wahnsinn treibt. Auch den wesentlich unbekannteren Herren, denen sich der Italiener widmet, würde man nicht unbedingt Grandezza zubilligen, allerdings sind sie teilweise aus nachvollziehbaren Gründen auf einem Rachfeldzug oder aus dynastischen Erwägungen heraus gezwungen, sich von der zwar geschätzten, aber unfruchtbaren Gattin zu trennen.

So geht es auch dem Conte in Gemma di Vergy, der befürchtet, die verstoßene Gattin sei durch seine Schuld ums Leben gekommen und der dem Sänger die Möglichkeit gibt, ein angenehmes Timbre, das sich weder eindeutig dem des Brunnenvergifters noch dem des baritono nobile eindeutig zuordnen lässt, zu demonstrieren, dazu viel Brio für die Cabaletta aufzubringen und mit einer schönen Fermate zu prunken. Allerdings wird auch bereits hier deutlich, dass die Extremhöhe deutlich an Farbe und Fülle verliert. Als Alahor in Granata, womit Granada gemeint ist, kommt er als Rächer des Vaters und Befreier der Schwester in die Heimat zurück und beweist sich als Sänger raffinierter Koloraturen und einer ebensolchen Kadenz. Auch aus dem Rezitativ weiß der Sänger viel zu machen. Noch dazu mit dem eigenen Sohn aus erster Ehe sieht sich Azzo in Parisina d’Este betrogen, allerdings noch nicht im ersten Akt, wo die farbige Mittellage im „tutto spiri gioia e pompa“ sich entfalten kann, die Kontraste wirkungsvoll herausgestellt werden. Nicht um den Titelhelden Marin Faliero, sondern um den Galeerenbauer Israele geht es in „Oh miei figli! Oh dolce il canto della forte età primiera!“, wo die fröhliche Stimmung nach der Kränkung durch den Patrizier schnell zu einem  „…vili voi, superbi ingrati!“ führt und der Sänger die Gegensätze scharf herausarbeitet, mit einer generösen Phrasierung erfreut.

Auch Dom Sebastian ist nicht selbst auf der CD vertreten, sondern der glücklich vom Kreuzzug nach Lissabon zurückgekehrte Poet Camoena, der eine sanfte Klage anstimmt. Der Gatte der untreuen Maria di Rohan ergeht sich in schöner Melancholie, so in „è tomba il suol per me“, während er für „voce fatal di morte“ machtvoll auftrumpft und für „di sangue un rio“ eine schöne vokale Entschlossenheit zeigt.

Eigentlich für einen Tenor gedacht war die Titelpartie von Torquato Tasso, der auf der CD mit seiner großen Schlussszene nach der Entlassung aus dem Kerker vertreten ist. Wunderschön korrespondiert die Stimme mit dem sie sanft umspielenden Blasinstrument, konsequent wird auf ein machtvolles „Roma immortal mi fa“ hingearbeitet, und insgesamt hat die CD nicht nur das Verdienst, eine beachtliche Stimme zu dokumentieren, sondern auch das, mit fast unbekannten Werken Donizettis bekannt zu machen. Orchestra e Coro del Maggio Fiorentino unter Giacomo Sagripanti leisten dabei kompetente Schützenhilfe.

Übrigens sollte man Nicola Alaimo nicht mit dem wesentlich älteren Bass Simone gleichen Namens verwechseln! (Dynamic CDS8042I). Ingrid Wanja

Hübscher Kitsch

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Ist das Zeffirelli, Wien 1978? Nein. Dort ging es viel lebendiger, theatralischer und packender zu, auch wenn der Regisseur jede Spitzenapplikation an den Mantillas persönlich überwachte und sich in Details verspielte. Das ist Rouen, 2023. Originaler geht es nicht. Der Palazzetto Bru Zane präsentiert die originale Carmen, wie sie 1875 an der Opéra-Comique ausgesehen hat. Oder ausgesehen haben soll. Entsprechend üppig und im ausladenden Querformat präsentieren die Herausgeber ihr Kunstwerk im festen Hardcoverbuch mit zusätzlicher Papphülle (2 DVD BZ 3001). Romain Gilberts historisch informierte Regiearbeit sieht zuerst einmal ganz hübsch aus, so wenn die schmucken Soldaten mir ihren sauber gestutzten Bärten, darunter Bariton Yoann Dubruque als Moralès und später Bass Nicolas Brooymans als Zuniga, mit der neckischen Micaela schäkern oder eine Episode mit einer jungen Schönen kommentieren, der ein alter Verehrer folgt, während ihr junger bäuerlicher Freund das Nachsehen hat. Ein bisschen wie die konservierten Bournonville-Ballette oder Choreographien aus der Glanzzeit des Mariinsky-Balletts.

Die Verantwortlichen haben viel Mühe darauf verwendet, was sie in englisch-, französisch- und deutschsprachigen Texten ausgiebig erklären, haben jahrelang Bühnen- und Kostümentwürfe, kolorierte Tafeln, Skizzen für Bühnenaufbauten, Pläne für Bewegungsabläufe, Regiebücher und entsprechenden Kritiken und Beschreibungen gesammelt, haben Berichte, Fotos, Posen studiert und daraus eine Vorstellung gefiltert, wie es möglicherweise am 3. März 1875 in der Operá-Comique aussah, als die 38jährige Célestine Galli-Marié erstmals ihre spätere paraderolle sang. Carmen war bei der Uraufführung ein mäßiger Erfolg, der in einen „internationalen Triumph“ mündete. Der Erfolg setzte erst langsam ein. Die Galli-Marié sang zehn Jahre später noch die hundertste Aufführung an der Opéra-Comique, wo bereits 1904 die tausendste Aufführung gefeiert wurde. Wir können uns nur schwer vorstellen, weshalb das Werk nicht auf Anhieb einschlug. An der fehlenden szenischen Opulenz der vier Schauplätze, der Pracht der Kostüme kann es nicht gelegen haben. Auch wenn man solchen Rekonstruktionen skeptisch gegenübersteht, hat die zahme Aufführung aus Rouen mit dem Orcheste de l‘Opéra de Rouen Normandie und dem Choeur accentus/Opéra de Rouen Normandie und einem Kinderchor des Konservatoriums unter dem damals 29jährigen und mittlerweile zum Musikdirektor der Wiener Volksoper berufenen Ben Glassberg eine liebevolle Betulichkeit und einen provinziellen Touch. Es wurde übrigens bewusst darauf verzichtet, auf historische Instrumente zurückzugreifen, Kürzungen zurückzunehmen und die gesprochene Dialoge zu verwenden, da die Initiatoren beweisen wollten, „dass eine solche Wiederaufführung in jedem heutigen Theater funktionieren kann, das Carmen ins Programm nimmt, mit einem modernen Orchester, mit seinen Sängern, die mit der üblichen Fassung vertraut sind, und sogar mit ausländischen Künstlern, deren Französisch vielleicht nicht präzise genug ist, um alle gesprochenen Dialoge erfolgreich wiederzugeben“.

Wir wissen, dass es zur Zeit der Uraufführung die Funktion des Regisseurs nicht gab, „Die Opéra-Comique hatte einen régisseur général, einen allgemeinen Regisseur – im Jahr 1875 Charles Ponchard -, dem es oblag, für den reibungslosen Ablauf der Aufführung zu sorgen: Er protokollierte die verschiedenen Bewegungsabläufe der Künstler und die Platzierung der Bühnenbilder, aber er war nicht für die Inszenierung zuständig“. Dennoch war alles sorgfältigst und ausführlich vorbereitet. Seit Oktober 1874 wurde für die Uraufführung geprobt. Die Proben wurden in zahlreichen Exemplaren des Regiebuchs festgehalten. Dieses diente neben den vier kolorierten Lithografien als Grundlage für diese Rekonstruktion. Die Lithografien halten Momentaufnahmen von jedem Akt fest.: „die fünfte Szene im Akt, das Vorspiel zum zweiten Akt, die Kartenszene im dritten Akt und das Ende der ersten ersten Szene im vierten Akt (nachdem die Quadrilla vorbeigezogen ist)“.

Wie Zinnsoldaten treten die Soldaten auf, wie Kinder aus dem Dickens-Museum marschieren die Kinder, puppig wirken die gezierten Gesten der Verkäuferinnen, wie Ballett-Pantomimen die übertrieben lebhaften Gesten der Männer und die Koketterie der Fabrikarbeiterinnen, artig der Auftritt des Escamillo im Operettenrokoko der Taverne. Alles wie von einem Zuckerguss überzogen, von einer marzipanfarbenen Glasur, wobei über den porzellanzarten Gesichtern ein zusätzlicher Weichzeichner zu liegen scheint, so dass jede geschneckelte Haarlocke der Carmen wie aufgemalt wirkt – natürlich war die Beleuchtung 1875 eine ganz andere, viel intimere. Antoine Fontaine, der auch die Bilder des unbekannten Bühnenbildners nachbaute, sagt dazu; „1875 beleuchtete man die Bühne mit Gaslampen, deren Licht viel gedämpfter war als unser aleketrisches Licht, vor allem ohne die Scheinwerfer (die es natürlich noch nicht gab). Die Sänger waren sehr stark geschminkt und mussten sich, um sichtbar zu sein, auf der Bühne so weit vorn wie möglich platzieren. Wir haben mit … zusammengearbeitet, um das Bühnenlicht nach den Bühnenskizzen von Daumier oder Degas zu erschaffen, unterstützt durch Standleuchten von schwacher Intensität, platziert hinter jedem Spannrahmen, um die passende Lichtstimmung zu rekonstruieren“. Die im Osman geborene, in Los Angeles ausgebildete Deepa Johnny ist eine  mehr als ordentliche Carmen. Der sich vom lyrischen zum Heldentenor mausernde Stanislas de Barbeyrac verkörpert mit Geschmack den naiven José, der sich von Micaela anschmachten – herrlich ihre steif angewinkelten, ihn auf leichten Abstand haltenden Hände – und Carmen verführen lässt. Die Rumänin Iulia Maria Dan ist eine stimmlich rundere Micaela als man in einem kleinen Haus erwarten würde. Faustine de Monès und Floriane Hasler sowie Florent Karrer und Thomas Morris treffen als Zigeunerinnen und Schmuggler den rechten leichten Comique-Ton und werfen sich am Ende des Schmuggler-Quintett herrlich in Pose, Palazzetto-Hauskraft  Nicolas Courjal ist ein robuster Escamillo.

Interessanter sind vielfach ihre Kostüme. Couturier Christian Lacroix nennt seine Mitarbeit, „die Erfüllung eines meiner ältesten Träume“. Etwas jedoch lässt sich trotz aller Akribie nicht herstellen, denn „ein letztes delikates Thema für mich war die Patina, die ich immer sehr schätze und einsetze, um den Kostümen ein wenig mehr Seele und Epochenbezug zu geben… Aber paradoxerweise geht es hier darum, Bühnenbild und Kostüme in ihrem Glanz und ihren Farben an jenem Abend des 3. März 1875 zu zeigen, auf die Gefahr hin, dass sie ein wenig kitschig glamourös erscheinen“. Rolf Fath (Fotos Marion Kerno & Julien-Benhamou, Rouen 2024).

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Und als PS.: Um obiges aufzugreifen: Es wurde übrigens bewusst darauf verzichtet, auf historische Instrumente zurückzugreifen, Kürzungen zurückzunehmen und die gesprochene Dialoge zu verwenden, da die Initiatoren beweisen wollten,„dass eine solche Wiederaufführung in jedem heutigen Theater funktionieren kann, das Carmen ins Programm nimmt, mit einem modernen Orchester, mit seinen Sängern, die mit der üblichen Fassung vertraut sind, und sogar mit ausländischen Künstlern, deren Französisch vielleicht nicht präzise genug ist, um alle gesprochenen Dialoge erfolgreich wiederzugeben“.

Was für eine armselige Kapitulation! Warum nahm der Palazzetto – der sich angeblich die Wiederbelebung der französischen Oper auf die Fahne geschrieben hat – nicht die Chance wahr, statt der an jedem Stadttheater gespielte und absolut jedem Schulkind bekannte bekannte Version der Carmen 1885 nicht die viel, viel spannendere Urfassung (!) von 1884 zu präsentieren, wie sie jüngst (2024) René Jacob in der Hamburger Elbphilharmonie so außerordentlich überzeugend gezeigt hat (Link zum youtube Video-Stream der Hamburger Aufführung vom 25.3.2024)? Zumal mit einer sehr (!) viel aufregenderen Besetzung und eben vielen, vielen Unterschieden zur spätere Fassung von 1875, mit mehr und anderer Musik und vor allem dem kompletten Dialog, der interessante Aufschlüsse über die handelnden Charaktere gibt, namentlich Carmen und Don José. Ein weiterer Beitrag zu eben der Originalfassung folgt bei uns/operalounge.de in Kürze. Aber das hätte man sich vom Palazzetto Bru Zane doch wirklich erwartet. Geb´s der Himmel, dass der Jacobs-Mitschnitt zumindest als CD erscheinen wird.  G. H.

Ausnahme-Mezzo

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Schlicht Aigul nennt sich die neue Platte der russischen Mezzosopranistin Aigul Akhmetshina. Sie ist das erste Ergebnis eines Exklusivvertrages der Sängerin, die mit ihren 28 Jahren bereits die wichtigsten Zentren der Opernwelt erobert hat, bei DECCA. Und die man bereits als „Stütze“ auf der CD Freddie de Tommaso – Il Tenore bewundert hatte. Ihre Visitenkarte ist die Carmen, die sie an der Met, am Royal Opera House London und bei den Festspielen in Glyndebourne gesungen hat. Die Arienauswahl beginnt dann auch mit Ausschnitten aus Bizets Opéra-comique. Die Habanera, Seguidilla und die Kartenszene zählen zu den bekanntesten Nummern des Werkes und gehören zu den Lieblingsarien aller renommierten Mezzosoprane. Entsprechend zahlreich sind die vorhandenen Aufnahmen, was die Messlatte hoch setzt.

Mit ihrem aparten, sinnlichen Timbre kann sich Aigul mühelos gegen die Konkurrenz behaupten. Sie führt die Stimme schlank und verzichtet auf vulgäre Effekte, ohne an erotischer Wirkung einzubüßen. In der Seguidilla assistiert ihr Freddie De Tommaso als Don José. Dessen kurze Einwürfe von einem solch prominenten Tenor singen zu lassen, spricht für die seriöse Besetzungspolitik der Firma. In der Kartenszene sind es die Sopranistin Elisabeth Boudreault als Frasquita und die Mezzosopranistin Kezia Bienek als Mercédès. Auch das Royal Philharmonic Orchestra unter Daniele Rustioni ist erste Wahl als engagiert begleitender Klangkörper. Der Carmen folgt die Charlotte aus Massenets Werther mit deren Briefszene und der Arie „Va! laisse couler mes larmes“. Vielleicht ist die Stimme für diese Partie zu dunkel gefärbt, aber keineswegs fehlt ihr die Empfindsamkeit für die Rolle. Nach Auftritten in der Partie in London wird sie diese im Mai 2027 auch an der Deutschen Oper Berlin vorstellen. Als Romeo in Bellinis I Capuleti e i Montecchi hatte die Sängerin einen spektakulären Erfolg bei den Salzburger Festspielen. Drei Ausschnitte aus diesem Werk belegen ihre besondere Eignung für die Partie. Romeos ersten Auftritt mit der schwelgerischen Kavatine „Se Romeo t´uccise un figlio“, absolviert sie mit voluminösem, generös strömendem Mezzo. Die satte Tiefe, die strahlende Höhe in der Sopranregion, das sinnliche Vibrato und der energische Aplomb sind auch für die Cabaletta „La tremenda ultrice spada“ ideale stimmliche Voraussetzungen. Die Apollo Voices, auf dem Album mehrfach im Einsatz, überzeugen hier besonders. Berührend die letzte Szene an Giuliettas Grab mit der wehmütigen Kavatine  „Deh! tu, bell’anima“ von berückend schönen Tönen.

Paradenummern aus zwei populären Opern Rossinis komplettieren das Programm. Als Angelina in der Cenerentola war Akhmetshina erfolgreich am Teatro Real in Madrid aufgetreten und kann in der Schlussszene neben ihrer Virtuosität auch Anmut und Charme zeigen. Die Rosina im Barbiere di Siviglia verkörperte sie bereits in London und Paris. Mit der Paradenummer „Una voce poco fa“ zeigt sie sich als gewitzte und temperamentvolle Interpretin. Am Schluss stellt die Sängerin mit baschkirischen Wurzeln nach all den bekannten Titeln noch ein Volkslied aus ihrer Heimat vor: „The Nightingale“, arrangiert für Stimme und Orchester von Kamil Yusufovich Rakhimov. Damit gibt es immerhin eine Novität – und diese setzt durchaus einen attraktiven Schlusspunkt.

Die CD, aufgenommen im November 2023 in London (487 02629), hat alle Chancen für einen OPUS KLASSIK. Ärgerlich ist allein die Gestaltung des Booklets, dessen Seiten durchgängig von roter Farbe triefen und dessen Text in winziger Schriftgröße kaum lesbar ist. Bernd Hoppe

Von Rittern und anderen Helden

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Nach seinem gelungenen Rossini-Album stellt der französische Bariton Florian Sempey bei Alpha Classic nun eine weitere, sehr originelle Platte vor, die im Februar 2024 in Bordeaux aufgenommen wurde (ALPHA 1104). Ihr Titel Ferrum splendidum (Glänzendes Metall) verweist auf die Vorfahren des Sängers, die im französischen Périgord als Schmiede arbeiteten. Er spricht aber auch von Sempeys Affinität zu Mittelalter-Burgen und Ritter-Romantik. Der Bariton widmete sich statt der Familientradition jedoch dem Schmieden seiner Stimme, die es inzwischen zur Weltgeltung gebracht hat. Im Programm der CD werden dann auch Helden aller Art vorgestellt, beginnend mit Blondels „Ô Richard! Ô mon roi!“ aus Grétrys Richard Coeur de Lion. Das ist ein schwungvoller Einstieg, der die Qualitäten des Sängers sogleich deutlich herausstellt – das männlich-markige Timbre, die sichere Höhe, die Emphase des Ausdrucks. Es folgen zwei Szenen aus Donizettis Lucia di Lammermoor, jedoch in der französischen Fassung, so dass der Titel Lucie de Lammermoor korrekter wäre. Die Fassung wurde 1839 in Paris uraufgeführt. Zu hören sind Ashtons „D´un amour qui me brave“ und „À moi viens, ouvre tes ailes“. In beiden ist ein grimmiger Duktus zu vernehmen, was die Gefährlichkeit der Figur kennzeichnet. Auch die Spitzennoten werden nicht als Glanztöne verstanden, sondern als Zeichen der Macht. Die kleinere Tenorrolle des Gilbert nimmt Yoann Le Lan zuverlässig wahr.

Ein kühner Sprung wird mit zwei Nummern aus Orffs Carmina Burana vollzogen: „Estuans interius“ und „Ego sum abbas“/„In taberna quando sumus“ aus „In Taberna“. Vom Orchester rasant eingeleitet, sind sie Glanzstücke in ihrem stimmlichen Prunk und der Vehemenz des Vortrags.

Aus Thomas´ Hamlet hat der Bariton zwei Szenen ausgewählt – das Trinklied des Titelhelden „Ô vin, dissipe la tristesse“, wo das Orchester den gebührenden Schwung vorgibt, den der Sänger effektvoll aufnimmt, und seine betroffene Szene nach Ophéiies Tod „Comme une pâle fleur“. Weitere französische Komponisten sind mit

Gounod und Meyerbeer vertreten. Von Ersterem erklingt Mercutios Chanson „Mab, la reine des mensonges“ aus Roméo et Juliette mit ironischen Untertönen, von Zweitem „Ô puissante magie“ aus Le Pardon de Ploërmel als groß angelegte Szene in der Manier der Grand opéra. Wolframs „O du mein holder Abendstern“ aus Wagners Tannhäuser in beeindruckend sensibler Ausdeutung und die dramatisch aufgewühlte Finalszene des Prinzen aus Tschaikowskys L´Enchanteresse zeugen von der idiomatischen Vielseitigkeit des Sängers. Sogar eine Uraufführung gibt es mit Romain Dumas´ Les mirifiques aventures du chevalier d´Éon von 1985, aus der die Szene „De Bourgogne. je suis un fruit“ vorgestellt wird – ein lebhaftes Stück mit Melismen und hastigen Passagen.

Das Orchestre National Bordeaux Aquitaine ist unter Victor Jacob der Garant für eine stimmige und farbige Begleitung. Darüber hinaus trägt es mit vier Instrumentalnummern – vom Prélude zu D´Indys Fervaal über Ausschnitte aus Tschaikowskys La Belle au Bois Dormant bis zum Vorspiel zu Wagners Lohengrin – sehr zur Attraktivität der Platte bei (08. 12. 24).  Bernd Hoppe

 

Grandios

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Auch ohne den vom Librettisten und Komponisten Arrigo Boito nicht mehr fertiggestellten fünften Akt ist man beinahe  erschlagen von den  mit Hilfe von Freunden des Musikers fertiggestellten vier Akten der Monumentaloper Nerone, deren Titel fast nicht mehr der zutreffendste ist, denn das Werk würde  mit einer ausgedehnten Liebesszene zwischen den beiden Christen Rubria und Fanuél enden, käme nicht noch ganz zum Schluss der römische Kaiser auf die Bühne, wenn auch nur, um den ihn stets begleitet habenden wunderschönen Jüngling zu erstechen.  

Jahrzehntelang  am Werk abgearbeitet hatte sich der auch als Verdis Librettoschreiber bekannte Boito an dem komplexen Stoff, wie bereits bei dem ungleich erfolgreicheren Mefistofele einen Bösewicht in den Mittelpunkt der Handlung stellend, aber anders als bei diesem nicht mit Schlagern wie „Dai campi, dai prati“ oder „L’altra notte in fondo al mare“ den Ohren schmeichelnd, sondern eher einen deklamatorischen Stil bevorzugend, erst in besagtem Liebesduett werfen Erinnerungen an das frühere Werk geweckt. Neben den Antagonisten Nerone und Fanuél tritt als dritte männliche Figur der erste Häretiker  des Christentums, Simon Mago, auf, auf den bekanntlich der Begriff Simonie für Ämterkauf zurückgeht, die weiblichen Protagonisten sind die Nero in Liebe zugetane Asteria, die zum Christentum übertritt,  und die von Nerone einst vergewaltigte Vestalin Rubria, die diesen Schritt ebenfalls vollzieht. Den Hintergrund bildet die hier von Simon veranlasste, von Nerone aber gebilligte Vernichtung Roms durch den bekannten Brand. Der Diktatur will zum Gründer eines noch prächtigeren, noch gewaltigeren Roms werden. Akustisch endet die Aufführung mit einem auch aus einer anderen, weit bekannteren Oper vertrauten „Pace, pace, pace“, gesungen von der Nun-auch-Christin Asteria.

War man bereits seit Jahren von Bewunderung erfüllt für den Mut des Opernhauses von Cagliari, unbekannte Werke nicht nur aus dem italienischen Repertoire dem Publikum vorzustellen, zuletzt Cileas Gloria mit Anastasia Bartoli in der Titelpartie, so kann man zusätzlich noch hoch erstaunt darüber sein, welchen ungeheuren Aufwand das Haus mit aufwändigsten Kostümen, Kulissen, Personal betreibt, so dass man stellenweise an Hollywood denken könnte, wäre nicht alles auch von einem exquisiten Geschmack  bei aller überborenden Üppigkeit (Bühne Tiziano Santi, Kostüme Claudia Pernigotti). Da schreckt man weder vor Bellezza noch vor Grandiosità zurück, wagt einen eindrucksvollen Kontrast zwischen Antikisierung und Modernität, so dass Nero links nach altrömischer, rechts nach Art des Risorgimento gekleidet ist, und wahrt doch eine sängerfreundliche Inszenesetzung  (Regie Fabio Ceresa) für die Interpreten anspruchsvollster Partien. Das inszenatorische Augenzwinkern mildert auch das teilweise unangenehme Pathos des Librettos etwas.

Auch in Italien und für ein dort heimisches Werk kommt man nicht mehr mit nur einheimischen und damit muttersprachlichen  Sängern aus, so dass die Titelfigur mit Mikheil Sheshaberidze besetzt ist, einem optisch den Vorstellungen von einem Nero entsprechenden Tenor, dessen Stimme nicht schön, leicht gepresst klingend, aber durchdringend und strapazenresistent ist. Zwei gestandene italienische Baritone nehmen sich der  beiden anderen Protagonisten an. Franco Vassallo bewährt sich als böser Visionär Simon Mago mit dunkel dräuender Stimme, auch vokal schlanker, aber nicht weniger eindrucksvoll und farbig ist Roberto Frontali, optisch eher eine Vater- als eine Liebhaberfigur, als die er sich im Schlussduett outet. Eine bemerkenswert schöne, tiefste Tiefen auslotende Bassstimme besitzt Dongho Kim für den getreuen Tigellino. Mit extremer darstellerischer Hingabe und schonungslos eingesetzten kraftvollen Stimmmitteln ist Valentina Boi eine eindrucksvolle Asteria, während die  sanfte Rubria mit geschmeidigem, warmem Mezzosopran rollengerecht von Deniz Uzun verkörpert wird. Auch die kleineren Partien sind rollendeckend besetzt, teilweise ist ein Solist für deren mehrerer zuständig.

Dem Label Dynamic kann man gar nicht dankbar genug dafür sein, dass es ein so selten gespieltes Werk und immer wieder die Arbeiten des verdienstvollen Teatro Lirico di Cagliari einem breiten Publikum zugänglich gemacht hat und hoffentlich auch in Zukunft machen wird (Dynamic 38047). Ingrid Wanja

     

Lieder meines Urgroßvaters 

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Was für eine großartige Entdeckung: Viele Jahre lang hatten einige Lieder-Manuskripte des Schweizer Komponisten Willy Heinz Müller in den Regalen der Urenkelin, der Sängerin Mélanie Adami, Staub angesetzt. Erst während der Corona-Pandemie fand sie endlich die Zeit, sich mit dieser Musik zu beschäftigen. Und siehe da: Die Manuskripte entpuppten sich als wahrer Schatz! Nun hat Adami die Werke ihres Urgroßvaters auf CD bei Propero) aufgenommen (dazu unsere Rezension). Ein Herzensprojekt – und die weltweit erste Aufnahme dieser Werke. Darüber sprach sie mit Ruth Wiedwald für operalounge.de

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Was waren die entscheidenden Momente in Ihrer Kindheit, die Sie dazu gebracht haben, Sängerin zu werden? Als Vierjährige bekam ich meinen ersten Violinunterricht bei meiner Großmutter. Ab sieben Jahren folgte der Klavierunterricht. Zuhause hatten wir nur drei Schellackplatten, und die konnte ich in- und auswendig. Eine davon war «Die Zauberflöte». Mit fünf sagte ich: «Wenn ich groß bin, werde ich die ‚Königin der Nacht‘ singen.» Nach meinem Stimmbruch – ja, Mädchen haben das auch – kam ich allerdings nicht mehr ganz so hoch hinauf, aber Sopranistin bin ich trotzdem geworden. Vor allem hat mir die Bühne gefallen. Ich hatte das Glück, in der Schule jedes Jahr ein Stück aufführen zu können, Texte auswendig zu lernen und auf der Bühne zu stehen. Mit 17 durfte ich dem Theaterchor in St. Gallen beitreten und in «Faust» von Gounod singen. Ich habe die Theaterluft förmlich aufgesogen, mir einen Klavierauszug zum Geburtstag gewünscht und die CD gekauft. Jeden Takt kannte ich in- und auswendig, und während der Aufführungen stand ich am Bühnenrand neben dem Inspizienten. Dort wurde ich von David Maze und Inva Mula gefördert, die mich ermutigten, Gesang zu studieren, und mir auch meinen ersten Gesangsunterricht gaben. Als ich bei einer Theaterführung die Gelegenheit hatte, auf einer großen Bühne zu stehen und in den leeren Saal zu schauen, habe ich in mich hineingefühlt: «Kann ich diesen Raum mit meiner Präsenz füllen, und will ich das?» Da habe ich die Entscheidung getroffen, Sängerin zu werden.

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Wann und wie haben Sie zum ersten Mal die Kompositionen Ihres Urgroßvaters Willy Heinz Müller entdeckt? Es war im Frühjahr 2020, als alles stillstand und meine Konzerte gerade abgesagt wurden. Ich saß auf dem Boden meines Musikzimmers, und mein Blick fiel auf eine Kiste mit einem Stapel Noten, den ich nie genauer angeschaut hatte. Diese Noten hatte ich schon einige Jahre, nachdem ich sie von meiner verstorbenen Großmutter bekommen hatte, aber sie hatte nie etwas darüber erwähnt. Der Stapel bestand aus Liedern und Duetten, von denen die meisten gar nicht mehr verlegt werden. Darunter befanden sich auch unvollendete und fertige Arrangements für Streichorchester, alle mit der Unterschrift meines Urgroßvaters. In einem Couvert stand in Omas Handschrift: «Lieder von Willy Müller».

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Wie sind Sie bei der Recherche und Sammlung der Werke von Willy Heinz Müller vorgegangen? Zuerst habe ich die Werke transkribieren lassen und ein Notenbuch erstellt, damit ich sie einem Pianisten vorlegen konnte, um sie richtig zu hören und zu lernen. Danach habe ich mit der Pianistin Judit Polgar die Lieder erarbeitet, und wir haben sie gemeinsam kennengelernt. Im Frühjahr 2023 konnte ich die Schweizer Musikhistorikerin Verena Naegele für das Projekt begeistern. Ihr verdanke ich die schönen Texte im Booklet und auf der Homepage. Vor allem hat sie Willys Leben und seine Liedkompositionen so sichtbar gemacht und in einen Kontext eingebettet. Die gemeinsame Recherche mit Verena in den Archiven war nicht nur spannend, sondern gibt auch ein interessantes Zeitbild ab.

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Mélanie Adami, Äneas Humm und Judith Polgar: «Vergessene Lieder, vergessene Liebe», Lieder von Müller, Dohnányi, Ries, Hildach und Gotze bei Prospero/ Foto Peggy Meese

Was waren die schönsten Momente während der Arbeit an diesem Projekt? Eine Idee hörbar zu machen und zum Leben zu erwecken, war unglaublich. Am letzten Aufnahmetag, nach dem letzten Lied «Ich habe gegraben», sind die Emotionen über mich hereingebrochen. Es hat mich tief berührt, wie eine musikalische Idee auf Papier 100 Jahre lang warten konnte, bis sie wieder mit Leben gefüllt und hörbar wurde.

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Haben Sie eine persönliche Lieblingskomposition auf der CD, und wenn ja, warum? «Ich habe gegraben» hat eine besondere Melancholie und wunderschöne Gesangslinien, die mich sehr berühren. Auch «Erkenntnis» liegt mir sehr am Herzen, aber eigentlich sind mir alle Lieder ans Herz gewachsen, und ich freue mich schon darauf, sie bald wieder singen zu dürfen.

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Wie würden Sie den musikalischen Stil und die Kompositionen Ihres Urgroßvaters beschreiben? Die Kompositionen sind sehr textnah. Wenn die Sterne aufgehen, spiegelt sich das auch in der Musik wider. Der kleine Mensch, der beschrieben wird, wird sichtbar, und man erkennt, wie groß er sein möchte. Drei Takte später schwebt man schwerelos im All. Alles ist sehr einfühlsam und detailliert.

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Wie hat dieses Projekt Ihre Sichtweise auf Ihre eigene künstlerische Arbeit und Ihren musikalischen Weg beeinflusst? Meine Herangehensweise an ein neues Stück hat sich definitiv verändert. Ich verbringe viel mehr Zeit am Klavier, um die Harmonien und die gesamte Komposition zu erfassen, anstatt nur meine Gesangslinie zu lernen. Was meinen musikalischen Weg betrifft, so kann ich das nicht genau sagen, da sich in den vier Jahren seit dem Lockdown ohnehin ein großes „Crescendo“ entwickelt hat. Ich bin musikalisch erwachsen geworden und viel selbstsicherer. Dieses Projekt hat definitiv einen großen Einfluss darauf gehabt.

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Wie haben Sie sich darauf vorbereitet, die Lieder Ihres Urgroßvaters zu interpretieren und aufzuführen? Ich wollte die Musik meines Urgroßvaters so authentisch wie möglich interpretieren, was natürlich auch einen gewissen Druck erzeugt hat. Aber mir war klar, dass ich sie in einem Jahr oder in fünf Jahren vielleicht anders singen und verstehen werde. Es ist ein dynamischer Prozess, und ich hoffe sehr, dass auch andere Musikerinnen und Musiker diese Lieder für sich entdecken und interpretieren werden. Ich freue mich schon darauf, zu sehen, wie das geschieht.

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Warum sind Ihnen die Lieder Ihres Urgroßvaters so wichtig, und was möchten Sie mit deren Aufführung erreichen? Da bin ich sehr pragmatisch – ich denke, diese Lieder haben mich aus einem bestimmten Grund gefunden. Sie sind nicht dazu bestimmt, im Kantonsarchiv zu verstauben oder nur gesammelt zu werden. Sie wollen wiederentdeckt werden, und ich habe diese Aufgabe angenommen. Wer weiß, vielleicht berühren sie jemanden. Vielleicht berührt die Geschichte jemanden und vielleicht bewegt es auch jemanden dazu, seinen eigenen Wurzeln nachzugehen oder noch schöner: Zeit mit den Großeltern und Eltern zu verbringen, ihnen Zeit schenken und sie einfach erzählen zu lassen.

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Hat die Entdeckung der Lieder Ihres Urgroßvaters Ihre Verbindung zu Ihrer Familiengeschichte verändert oder vertieft? Ja, auf jeden Fall. Wir wussten nur sehr wenig über Willy, aber jetzt hat er eine Geschichte bekommen, Gefühle, und Gründe, warum er zum Beispiel nach St. Gallen kam und dort lebte. Ohne ihn gäbe es mich gar nicht. Danke, Willy!

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Sehen Sie musikalische oder thematische Einflüsse Ihres Urgroßvaters in Ihrer eigenen Arbeit? Ja, ich glaube schon. Das Wienerische und Ungarische spüre ich in mir, genauso wie die Liebe zur Operette – ich darf bald die «Gräfin Mariza» singen – aber auch zur ernsten Musik. Vielleicht auch die philosophische oder spirituelle Denkweise. Es wäre fantastisch gewesen, mit ihm gemeinsam Musik zu machen.

 

Inwiefern fühlen Sie sich mit den melancholischen Themen und der spätromantischen Musiksprache Ihres Urgroßvaters verbunden? Planen Sie, die Lieder Ihres Urgroßvaters regelmäßig in Ihr Repertoire aufzunehmen? Damit fühle ich mich sehr verbunden. Und ja, ich werde einige davon bestimmt in mein regelmäßiges Repertoire aufnehmen. Aber nicht alle Lieder passen in jeden Liederabend. Mit Judit Polgar und Verena Naegele haben wir ein Liederprogramm zusammengestellt, das die Lieder meines Urgroßvaters in die Musikgeschichte einbettet. Es ist ergänzt durch Werke von Mahler, Lehár, Ries und Tischhauser.

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Wie haben Sie die Werke der Zeitgenossen ausgewählt, die auf der CD zu hören sind? Die CD erzählt auch eine Geschichte. Die Lieder von Franz Ries, die schon meine Ur-Ur-Großmutter gesungen hatte, führen uns zurück in die Zeit. Der wunderbare Bariton Äneas Humm und ich singen auch Lieder von Dohnányi, unter dem Willy Violine im Orchester spielte. Die drei Duette sind Funde aus Willys Notenarchiv – übrigens, mit Ausnahme der Lieder von Dohnányi, sind es alles Weltersteinspielungen. Es sollte eine Verbindung geben und eine Geschichte erzählen, die Willy in der Musikgeschichte verankert.

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Wie hat Ihr Publikum auf die Lieder Ihres Urgroßvaters reagiert? Die Reaktionen waren natürlich sehr schön, aber das hat auch viel mit meiner persönlichen Geschichte zu tun, die ebenfalls mitschwingt. Jetzt bin ich gespannt, wie das Publikum und die Hörer auf die Lieder reagieren. Das Echo in den Medien war jedenfalls sehr interessiert und positiv, was mich – und hoffentlich auch Willy – freut. Ruth Wiedwald./ Fotos Peggy Meese

Auf Abwegen

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Was tun, wenn man als Tenor der Welt und darüber hinaus natürlich der Nachwelt seine Stimme vorstellen bzw. erhalten will? Zum hundertsten Mal La donna è mobile und Nessun dorma auf eine CD bannen? Gerade in letzter Zeit gab es eine Fülle solcher Aufnahmen, die auch auf Operalounge ihre Spuren hinterlassen haben. Da gebe es aber noch das Ausweichen auf Canzoni und Populäres aus dem spanischen und  südamerikanischen Raum, von dem die jüngste CD von Jesús Leȯn kündet. Oder aber man besinnt auch auf besonnte Kindheitserinnerungen als begeisterter Hörer und Jugenderinnerungen als Mitglied einer Band und wendet sich der Musik seiner Kindheit zu, so dokumentiert von Gregory Kunde.

Seine dritte CD nach einer mit populärer Musik, betitelt Respiro im Jahre 2012 und einer solchen mit Belcanto ebensolchen Titels im Jahre 2015 legt der Mexikaner Jesus Leon nun eine dritte mit Passione vor, auf der viele spanische bzw. südamerikanische und wenige italienische Canzonen zu finden sind. Die drei Tenöre sollen seine Vorbilder sein, und populärer als mit Besame mucho, dem absolut meistgespielten Titel in spanischer Sprache, kann man kaum beginnen, für den der Sänger ein süffig viriles Timbre einsetzt, zarte colpi di glottide kaum vermuten lässt und mit diesem ursprünglich aus einer Oper stammenden Titel einen angenehmen Einstand findet. Amaneci otra vez wird den Ohren schmeichelnd gesungen, wobei die Stimme von Orchesterwogen quasi umspült wird. Aus dem Rumbarepertoire stammt Amapola, die Mohnblume, von Nino Rota aus La Strada der folgende Titel, und verinnerlicht wird Te espero von Guzman dargeboten. Nicht zuletzt das Royal Liverpool Philharmonic Orchestra unter Toby Purser sorgt dafür, dass das unverzichtbare Granada rhythmisch straff und raffiniert dargeboten wird, ehe man zum unverzichtbaren Paolo Tosti mit A vucchella übergeht, dem Ergebnis einer Wette um das Vermögen, als aus den Abruzzi Stammender Neapolitanisches zustande zu bringen. Nicht die allseits bekannte, sondern eine von E.A. Mario stammende ist die hier zu hörende Santa Lucia, nach Argentinien zurück geht es mit Ay,Ay, Ay, über Mexikos „zweite Nationalhymne“ Cielito lindo schließlich zu Te quiero von Serrano, das Anlass für das Präsentieren einer strahlenden Höhe sein kann. Von zärtlicher Intimität ist Tostis Non t’amo più, hier im Vergleich zu italienischen Interpreten mit leichter Schärfe in der Stimme. Der italienische Teil fällt also etwas ab im Vergleich zum südamerikanischen, besonders im abschließenden Non ti scordar di me vermisst man die Dolcezza (Rubicon 1122).

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Sollte die CD Then and now einen neuen Karriereabschnitt für den amerikanischen Tenor Gregory Kunde einläuten, dann wäre es der dritte, wenn nicht der vierte, denn nach einer glänzenden Karriere mit Rossini einschließlich dessen Otello und einer akzeptablen mit Verdi und Co einschließlich ebenfalls des Otello wendet er sich nun der Musik zu, die er als Knabe aus der Jukebox vernahm und als Heranwachsender selbst ausübte. Fotos auf der CD-Hülle zeigen einen blonden Jungen, allerdings beim Grillen, aber auch einen nunmehr Siebzigjährigen im Aufnahmestudio, wo wahrscheinlich die neueste CD unter Mitwirkung  von Piano, Bass, Saxophon Trompete, Posaune und Schlagzeug entstand.

In eine schummerige Bar, ein Glas mit Hochprozentigem in der Hand, fühlt sich der Hörer versetzt, wenn ihm zu Ohren kommt, was der kleine Gregory als Hörer, der Halbwüchsige als Ausübender im „Then“ genoss und nun im „Now“ wieder aufleben lässt. Das ist Josef Myrows You make me feel so young, das eher baritonal als tenoral klingt, Gershwins Our love is here mit vorzüglicher Diktion, geschmeidig  vorgetragen, so wie auch Millers  For once in my live unagestrengt die Stimme in die Höhe klettern lässt. Kommunikativ und wie beiläufig gesungen klingt My kind of town, Atmosphäre schaffend, Time after time profitiert vom Einsatz des Saxophons, und Where or when fordert auch einmal zur Nachdenklichkeit auf. Insgesamt erfordern die Stücke nicht die ungeteilte Aufmerksamkeit des Hörers, sondern faszinieren auch durch die Beiläufigkeit, mit der sie dargeboten werden, gestatten sich hin und wieder das Abdriften in Frivolität oder Sentimentalität wie Can’t take my eyes off you. Die Instrumente umspielen die Stimme zärtlich in How do you keep the music playing, und I left my heart in San Francisco beweist, dass Heidelberg einen ernst zu nehmenden Rivalen hat. Schmusesängergeschmeidigkeit erfordert und erhält When i fell in love von Victor Young, die populäre Funny Valentine von Rodgers gefällt durch die Vermittlung einer Leichtigkeit des Seins, die uns gerade abgeht (Delos DE 3606). Ingrid Wanja        

Spyridon Samaras: „Tigra“

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Umfangreich und tiefgründig hat sich operalounge.de bereits mit dem griechischen Komponisten Spyridon Samaras, insbesondere mit seinem Opernschaffen, befasst. Nun ist bei Naxos noch der erste Akt seiner unvollendet gebliebenen Oper Tigra veröffentlicht worden, zusammen mit nach der Rückkehr des  Komponisten in sein durch zwei Balkankriege 1912/1913 von den Osmanen befreites Heimatland entstandenen Songs of Victory in griechischer Sprache und einem Konzertstück, einer Chitarrata.

Spyridon Samaras, Benakis Museum Athen/Samara-Archive

Das Booklet befasst sich in griechischer und englischer Sprache mit der Geschichte der unvollendeten Partitur, die es dem Dirigenten Byron Fidetzis verdankt, dass sie überhaupt zur Aufführung gelangte, in italienischer Sprache, in der das Libretto vorlag, und mit bulgarischen Kräften, abgesehen vom abschließenden  Orchesterstück, das von Schülern einer Musikschule Korfus musiziert wird.   

Die Oper heißt Tigra, ein orientalischer Frauenname, und auf dem Cover räkelt sich eine schöne Odaliske mit Wasserpfeife auf einem Diwan. Im vorhandenen ersten Akt spielt diese Tigra nur eine recht untergeordnete Rolle, ist die Gefährtin des Tenors, der sich blitzschnell in die venezianische Maria, Gespielin aus vergangenen Kindheitstagen, verliebt, so dass der erste Akt und damit das vorhandene Material mit seinem einsamen Liebesgeständnis „Testimone m’è la notte odorosa“ endet. Nun kann der erfahrene Opernfreak natürlich vermuten, dass es mit viel Eifersucht und Ränken, in denen auch ein bisher nur kurz einmal aufgekreuzter Bariton eine Rolle spielt, weitergeht, mit Konflikten zwischen Christentum und Islam, denn besagte Tigra zeigte sich bereits widerspenstig beim Abendgebet.  Vielleicht ist ihre Rolle auch gar nicht so bedeutend, wie der Titel vermuten lässt, denn der Komponist äußerte, dass die Oper eigentlich Maria heißen müsste,  diesen Namen zu gebrauchen, er sich aber scheue. 

Samaras, der zunächst unter französischem Einfluss stand, in Paris auch Anerkennung fand, so soll ihn Gounod nach der Aufführung der Chitarrata begeistert umarmt haben, wandte sich bald Italien und dem italienischen Verismo zu, wovon Tigra mit mediterraner Daueraufgeregtheit und geschmeidigem Melodienfluss Zeugnis ablegt. Byron Fidetzis hat mit dem Sofia Amadeus Orchestra einen vollmundig begleitenden Klangkörper zur Verfügung, der Sofia Metropolian Golden Voices Mixed and Children’s Choir unter Sofia Bardarska lässt die frommen Gesänge wohltuend erklingen. Ein Auftritt bulgarischer Sänger ist selten ein enttäuschender, und so kann auch der Sopran Lenia Safiropoulou mit zarter Lieblichkeit, sanft aufblühend, rein und klar, erfreuen. Mit ebenmäßig koloriertem, geschmeidigem Mezzosopran macht Marissia Papalexiou auf mehr Tigra-Auftritte neugierig, Maria Vlachopoulou ist die herb mahnende Donna Palma, Angelo Simos‘ Tenor hat für den Adoaldo eine solide Mittellage angenehmen Timbres, solide scheint der im 1. Akt kaum auftretende Dionysios Sourbis die Baritonlage zu vertreten, in der sich der Brana beweg, recht grummelig ist der Old Sailor von Dimitri Kavrakos. Sehr schön musiziert werden die beiden Interludes.

Für die heroischen Gesänge auf Texte von Georgios Drosinis hat man mit dem Mezzosopran Vavara Tsambali eine angemessen vollmundige, weich und geschmeidig ihre Stimme einsetzende Interpretin gefunden und die Chitarrata ist an mitreißendem Schwung kaum zu überbieten (Naxos 8.574358.). Ingrid Wanja 

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Wie Ingrid Wanja oben anführt, haben wir uns bei operalounge.de viel um griechische Opern und namentlich um Spyros Samara gekümmert (namentlich seine Opern Rhea, La Biondinetta, La Mademoiselle de Belle-Isle/Naxos und La Martire). Er und sein Vorgänger Pavlos Carrer haben ganz entscheidend zur Installation von Oper in Griechenland beigetragen, im Zuge der Befreiung von den Osmanen zuerst auf den Inseln und dann auf dem Festland.

Niemand hat sich mehr Verdienste um die Wiederbelebung und Anerkennung von der Griechischen Oper in moderner Zeit verdient gemacht als der Dirigent und Musikwissenschaftler Byron Fidetzis, der zahllose Opern ausgegraben, ediert, vervollständigt und aufgeführt hat. Die inzwischen leider eingegangene griechische Firma Lyra hatte viele seiner Werke herausgegeben (die weitgehend bei youtube zu hören sind), zahlreiche Konzerte und Aufführungen tragen seine Handschrift. Jüngst stellte er, wie bei youtube nachzusehen/-hören, Samaras´ Lionella vor (dazu später ein Artikel bei uns). Und als neueste Nachricht: Die Oper Medge wird demnächst nach der kürzlichen Uraufführung komplett bei youtube erscheinen.

Eines seiner Lieblingsprojekte war Samaras´ Tigra, unvollendet und zum damaligen Zeitpunkt vom Material her möglich ergänzt/ediert auf der Naxos-CD verfügbar. Fidetzis hatte bereits vorher einen Artikel zu seiner Entdeckung von Samaras´ Tigra verfasst, den wir nun (in unserer Übersetzung) nachstehend wiedergeben. Danke Maestro Fidetzis!  G. H.

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Foto von Samaras mit Widmung 1913/ Samaras Archive/Lyra

Byron Fidetzis: Wege zu Samaras Tigra. In der zweiten Hälfte des Jahres 1983 gab es zwei Ereignisse, die ich als Wiederbelebung von Samaras‘ Werk bezeichnen würde.
Das erste ereignete sich irgendwann zu Beginn des Herbstes im Haus des großen griechischen Komponisten George Sicilianos in der Lykavitos-Straße 1.
Ich erinnere mich, dass Sicilianos in seinem Arbeitszimmer saß und allgemein über griechische Komponisten sprach. Als wir auf das Thema Samaras und seine verlorenen Werke kamen, zeigte Sicilianos auf die Straße, die man von seinem Fenster aus sehen konnte, und sagte: „In dem Wohnblock, den du dort drüben sehen kannst, Byron, in der Alexandros-Soutsou-Straße, lebte Samaras‘ Witwe. Dort muss auch sein Archiv aufbewahrt worden sein. Wenn Sie den Hausmeister fragen, der jetzt in einem bestimmten Alter sein sollte, kann er Ihnen sicher einige Informationen geben.“
Ich ging zu dem Haus und fand den Hausmeister. Er sagte mir, dass die Person, die den Besitz von Samaras‘ Witwe geerbt hatte, ihre Nichte war, Nena Michelaki, die in der Spefsippos-Straße 4 in Kolonaki lebte.
Das als Kolonaki bekannte Viertel in Athen hat sich historisch gesehen als eine Art „Fundgrube“ für Werke der neugriechischen Literatur erwiesen, die nur darauf warten, entdeckt zu werden. Dort gelang es mir, Werke von Komponisten wie Riadis, Lavragas, Varvoglis, Petridis, Lialios und Skalkotas auszugraben. 1983 waren auch die Werke von Samaras hier zu finden.
Die verstorbene Nena Michelaki war eine liebenswürdige Persönlichkeit des alten Athener Bürgertums. 
Samaras‘ Archiv war ziemlich umfangreich. Nicht so sehr in Bezug auf das musikalische Material, sondern eher in Bezug auf die Informationen, die es über das Glück dieser musikalischen Werke nach dem Tod ihres Schöpfers enthielt. Unter den wenigen Musikstücken befanden sich auch die handschriftlichen Kurzpartituren der Oper mit dem Titel „Tigra“ sowie das maschinengeschriebene Libretto von „Corriere della Sera“, das in einem Umschlag steckte. Nach einem kurzen Durchblättern kam mir plötzlich der Gedanke, dass dieses Werk eines Tages orchestriert werden könnte. Abgesehen von einigen erwarteten Auslassungen und Streichungen, die ich entdeckte, schien das meiste (zumindest für ein geschultes Auge) klar genug und im Großen und Ganzen ziemlich effektiv, um die Absichten des Schöpfers zu vermitteln. Ich behielt eine Fotokopie des Manuskripts und um sicherzustellen, dass ein so wertvolles Archiv nicht verloren geht, überzeugte ich Frau Michelaki, es zusammen mit Samaras‘ Schreibtisch im Benaki-Museum zu hinterlegen. Der Schlüssel für die Schreibtischschublade wurde versehentlich verlegt, aber als ich ihn Jahre später in einem kleinen Umschlag fand, gab ich ihn Irene Geroulanou, damit sie ihn wieder an seinen Platz zurücklegte.

Das zweite Ereignis, das 1983 stattfand und die jüngste Wiederbelebung von Samaras‘ Werken markierte, war die Zustimmung, die ich für einen bestimmten Vorschlag erhielt, den ich den damaligen Verantwortlichen des Korfu-Festivals unterbreitet hatte: K. Nikolakis – Mouhas und S. Bogdano sowie dem damaligen Direktor des Kulturministeriums, Herrn N. Zoroyiannidis. Sie alle stimmten schließlich einer Konzertaufführung von „Rhea“ während des Korfu-Festivals im September 1984 zu.

Somit stellt das Jahr 1983 aus zwei Gründen einen historischen Meilenstein für Samaras und seine Werke dar. Erstens, weil wir es geschafft haben, den Ariadnefaden zu finden, dem wir später folgen würden, um an die vollständigen Partituren der größten erhaltenen Werke des Komponisten zu gelangen. Zweitens, weil wir 1983 den Grundstein dafür legten, dass diese Werke später die Ohren und (was am wichtigsten ist) das Bewusstsein ihrer natürlichen Empfänger erreichen konnten: das Publikum.

Spyridon Samaras: Terrazzo negli appartamenti di Medgè, bozzetto di Carlo Ferrario per Medgè (1887) – Archivio Storico Ricordi ICON012212/Wikipedia

Eine Weile später – etwa 1987 – wandte ich mich an einen alten Freund meines Vaters (über die Hellenic Broadcasting Corporation), um Unterstützung bei der Orchestrierung von „Tigra“ zu erhalten. Es handelte sich um George Platon (1910–1993), den brillanten Pianisten, Komponisten und Musiker, mit dem ich bereits 1984 bei der Wiederaufnahme von „Rhea“ zusammengearbeitet hatte.

Zu diesem Zeitpunkt hatte G. Platon bereits Josef Mastrekinis (1892–1903) Oper „Eleasar“ (1889) orchestriert, deren vollständige Partituren bei einem Brand zerstört worden waren. Die Klavier- und Gesangsnoten waren jedoch zusammen mit einigen von Totis Karalivanos aufgenommenen Auszügen gerettet worden. Platon, der sich als Komponist weigerte, sich harmonisch weiter als die Form von C. Franck zu entfernen, lehnte die Orchestrierung von „Tigra“ höflich ab. Er betrachtete es dennoch als ein überwiegend „modernes“ Werk. Daher erklärte er sich zumindest bereit, „Tigra“ neu zu lesen, indem er es klar und deutlich niederschrieb und gleichzeitig seine Interpretation aller unleserlichen Stellen lieferte. Platon füllte auch die wenigen fehlenden Teile der Harmonie aus den Takten aus, die Samaras harmonisch exponiert oder in Kurzschrift geschrieben hatte. Dies gelang ihm, indem er sich auf einen vergleichbaren (in der Regel früheren) musikalischen Übergang bezog. Er führte auch eine nicht poetische, aber äußerst nützliche Übersetzung des Librettos der Oper durch.

Spyridon Samaras: Ricca sala nel castello d’Orèbro, bozzetto di Carlo Ferrario per Flora Mirabilis (1886) – Archivio Storico Ricordi ICON012152/Wikipedia

Seitdem sind viele Jahre vergangen, in denen ich die meisten der als Partitur verfügbaren Werke des Komponisten aufgeführt habe: „Rhea“ 1984, „La Martyr“ 1990, „La Biondinetta“ 1995, „Mademoiselle de Belle-Isle“ 1995, „Epinikia“ 1987 usw. Durch diese praktische Verbindung mit einigen der bedeutendsten Opern aus Samaras‘ Ära („Cavaleria“, „Pagliacci“, „Manon Lescaut“, „La bohème“, „Tosca“, „Butterfly“ usw.) gelang es mir, mich mit dem Stil dieser Zeit vertraut zu machen, zumindest was die Orchestrierung betraf. Ich weiß nicht, warum, aber im Juli 2009 hatte ich dieses unkontrollierbare Verlangen, intensiv an „Tigra“ zu arbeiten, um es zu orchestrieren. Ich erinnere mich, dass ich am 15. Juli ein Konzert im Odeon des Herodes Atticus mit dem Athener Staatsorchester gab und dann gleich am nächsten Tag in die Region Argiraiika in Pilion aufbrach, wo ich mich auf „Tigra“ konzentrierte. Trotz der unvermeidlichen kleinen Unterbrechungen arbeitete ich ziemlich intensiv und schaffte es, einige Monate später, am 20. Dezember, die vollständigen Partituren der Oper vor mir zu haben.

Ich muss übrigens auch erwähnen, dass ich um das Jahr 2000 herum die Kopie, die Platon angefertigt hatte, meinem bulgarischen Kopistenkollegen gegeben hatte, der daraus eine Klavier-Gesangsausgabe erstellte, die für jede Form der Aufführung von unschätzbarem Wert ist. Nach einer gründlichen Überprüfung und einem ständigen Vergleich mit Samaras‘ Archiv wurde diese Klavier-Gesangsausgabe zur Grundlage, auf der Solisten und der Chor die Oper einstudierten. Die Übertragung der vollständigen Partituren und Orchesterstimmen in einen Computer wurde von einem jungen Komponisten namens Antonis Anestis durchgeführt. Antonis arbeitete unglaublich hart daran, diese anspruchsvolle und komplexe Aufgabe zu bewältigen, und ich denke, dass das Endergebnis die Mühe rechtfertigt, die wir beide in dieses Projekt gesteckt haben.

Samaras´ „Mademoiselle de Belle-Isle“ hatte auch in Deutschland nach der italienischen Uraufführung 1905/Genua Verbreitung, hier ein Theaterzettel zu einer Würzburger Aufführung als „Gabrielle von Belle-Isle“ in Deutsch/ Würzburger Theaterzettel

Ich habe die Uraufführung dieses Werkes dem Orchester meiner geliebten Heimatstadt anvertraut – dem Staatlichen Symphonieorchester Thessaloniki. Die Uraufführung fand am 29. April 2010 in der Athener Konzerthalle im Rahmen des sechsten Zyklus der Griechischen Musikfeste statt. Ich möchte diese Gelegenheit ergreifen, um all den Menschen zu danken, die hart daran gearbeitet haben, Samaras‘ Meisterwerk zum Leben zu erwecken – und auch für meinen Beitrag. Sie alle haben ihr Bestes gegeben, und dafür bin ich ihnen wirklich dankbar.
Diese Studie ist dem Andenken an Christos Dimitri Labrakis (1934–2009) gewidmet, einem großen Liebhaber und Förderer der griechischen Musik.

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Im Wesentlichen: „Tigra“ gehört als Werk zu Samaras‘ reifer Schaffensphase. Meiner Meinung nach verkörpert dieses Werk den Triumph eines großen Meisters des lyrischen Theaters und der Komposition. Dank der Recherchen von George Leotsakos können wir mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass es zwischen 1908 und 1911 geschrieben wurde. Stilistisch ist es seinem unmittelbaren Vorgänger mit dem Titel „Rhea“ (uraufgeführt 1908) sehr ähnlich. Die in diesen beiden Opern verwendete Musiksprache unterscheidet sich deutlich von der frühen Verismo-Sprache, die „Martire“ (1984) charakterisiert, und noch mehr von der typisch romantischen Sprache, die in „Flora Mirabilis“ (1886) zu finden ist. Nachdem Samaras nach und nach viele Elemente des modernen französischen lyrischen Dramas in eine einzige, sich stetig weiterentwickelnde Sprache (die sich durch einen romantischen Charakter und eine Ästhetik sowie eine Orientierung an der Verismo-Bewegung auszeichnet) integriert hatte, leitete er einen neuen Trend ein. Während er diesen neuen Trend entwickelte, assimilierte und vermischte er funktional viele griechische kirchliche und traditionelle (auch als demotisch bekannte) Teile. Dieser Trend sollte die ideologischen (wie auch technischen) Grundlagen für die Entstehung der Griechischen Nationalen Musikschule einläuten und legen. Die besondere Beziehung der Franzosen zum Orient – eine Beziehung, deren Überreste sich auch in der außergewöhnlichen Neigung zum musikalischen Orientalismus finden, der die Musik des 19. Jahrhunderts kennzeichnet – war für Samaras ein Anlass zum Nachdenken und eine Quelle intellektueller Anregungen. Ich bin sicher, dass dieser eigentümliche Orientalismus in der französischen Musik eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung von Samaras‘ kreativen Anfängen spielte – d. h. die Grundlagen, auf denen der Komponist sein Klanguniversum aufbaute.

Spyridon Samaras´ „Mademoiselle de Belle-Isle“: Der Bariton Antonio Paoli sang den Richelieu in der Uraufführung von 1905 in Genua/ OBA

Da seine Psyche sowohl auf der Insel Korfu während der Blütezeit der Ionischen Musikschule als auch im postrevolutionären Athen (einer Zeit, in der sich in Griechenland eine romantisch-wissenschaftliche nationale Ideologie herauszubilden begann) geprägt wurde, bewahrte Samaras die Vorstellung des „Griechischen“ als das wichtigste – und vor allem existenzielle – Element in seinem Werk. In diesem Sinne erinnert Samaras an Komponisten wie Händel oder Meyerbeer, die sich eine Reihe von Elementen aus verschiedenen europäischen Musikschulen aneigneten und diese kreativ verarbeiteten, um so allmählich ihren eigenen persönlichen Stil zu entwickeln. Für mich ist das vorherrschende französische Element in den Werken von Samaras in seiner harmonischen Sprache zu finden. Die ausgefeilte und bemerkenswert persönliche Harmonik des Komponisten ist vielleicht der Hauptunterschied zwischen ihm und seinen italienischen Kollegen, mit denen er in ihrem eigenen Land konkurrierte, die er aber gleichzeitig als Basis für seine Karriere wählte. In seinen Werken finden wir eine Reihe innovativer Harmonien, selbst in denen, die er in seinen Anfängen komponierte. Doch selbst die kühnsten harmonischen Resonanzen, die wir in seinen früheren Opern finden, werden in seinen Werken eher dazu verwendet, seine harmonische Sprache „aufzupeppen“, als dass sie als Hauptbestandteil fungieren. Im Gegensatz dazu offenbart die innovative harmonische Sprache, die in „Rhea“ und „Tigra“ verwendet wird, einen Charakter, der durch verschiedene kühne Akzente bereichert wird, die dank ihrer systematischen Verwendung die funktionale Rolle der Definition von Samaras‘ reifem Stil übernehmen. Die Mischung dieser kühnen harmonischen Akzente mit einer Reihe von Kirchentonarten und einer Ganztonskala schafft oft die verführerische Atmosphäre eines umfassenderen musikalischen Orientalismus.

Auf diese Weise wird dieser orientalistische Stil nahtlos in die allgemeine Sprache integriert, ohne dass zu irgendeinem Zeitpunkt der Eindruck entsteht, dass in der Harmonie ein Fremdkörper existiert. In beiden Werken, die seine kompositorische Reife ausmachen, schafft Samaras musikalisch Kontraste zwischen Ost (dem Orient) und West (dem Okzident), die alle im Namen der dramatischen Wirkung stehen. In „Rhea“ wird der Kontrast zwischen Ost und West beispielsweise auf einer oberflächlichen Ebene durch die Wahl der (typisch) griechischen Charakternamen im Gegensatz zu den westlichen Namen symbolisiert. Auf der theatralischen Ebene scheinen die Charaktere durch die Wahl ihrer Kleidung visuell kontrastiert zu werden. Die tieferen dramatischen Kontraste zwischen Wahrnehmungen oder Ideologien werden uns durch den Einsatz von Musik präsentiert. Samarastakes nutzt diese Gelegenheit voll aus und überträgt dem Publikum die Rolle, an seinen kreativen Ansätzen und innersten Gedanken zum Hauptthema seiner Epoche teilzuhaben: dem griechischen musikalischen Ausdruck. In ähnlicher Weise wird in „Tigra“ der Kontrast zwischen Ost und West auf allgemeinere Weise dargestellt, da das Herkunftsland der Heldin in der gleichnamigen Oper nie eindeutig definiert wird.

Samaras: Olympische Hymne aus „Rhea“/ Wikipedia

In diesem Fall besteht einer der tieferen Zwecke der Verwendung von Musik nicht darin, sich nur auf die musikalische Skizzierung einer bestimmten Figur zu konzentrieren, um einen dramatischen Effekt zu erzielen. Vielmehr geht es darum, durch den Einsatz von Musik eine ferne und traumhafte Welt zu vermitteln: einen geliebten, aber für immer verlorenen Osten. Das rätselhafteste Element dieses undefinierbaren Ostens wird durch die Verwendung des typisch orthodoxen Hymnus mit dem Titel „Christos Anesti“ nachdrücklich hervorgehoben – wenn nicht sogar noch verstärkt. Die Verwendung dieser Hymne während des musikalischen und theatralischen Höhepunkts der Oper stellt eine morphologische Entdeckung dar, die durch ihre Positionierung im Zentrum des Aktes ein Gleichgewicht zwischen dem vorangehenden theatralisch bewegten Abschnitt voller Intensität und dem nachfolgenden statischen Abschnitt von geringerer Intensität und idyllischem Charakter, der die Oper abschließt, herstellt.

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Ein interessantes Element, das sich durch die Entwicklung von Samaras‘ Schaffenskraft zieht, ist der Einfluss der französischen Musikschule auf die Orchestrierungsfähigkeiten des Komponisten. Seine solide, sichere und konservative Herangehensweise an das Komponieren in Kombination mit seiner Art, Instrumentalklänge zu verwenden und zu organisieren, spiegelt eine klassisch klingende Ästhetik sowie die italienisch klingenden Standards von Xindas und Stancampiano wider. Darüber hinaus können wir auch die theoretischen Konzepte griechischer Komponisten wie Matzaros und Katakouzinos in Samaras‘ Werk erkennen. Dies deutet darauf hin, dass all diese Komponisten während der Studienzeit des jungen korfiotischen Komponisten am Athener Konservatorium eine führende Position in der Theorie und Praxis innehatten. Gleichzeitig scheint die praktische Erfahrung, die Samaras als Geiger durch die Teilnahme an verschiedenen Athener Orchestern in dieser Zeit sammelte, seine instrumentale Denkweise nicht (zumindest nicht in einem definitiven Sinne) bereichert zu haben.

Die Gründe dafür sind zum einen das begrenzte Repertoire dieser Orchester und zum anderen das fragwürdige Niveau ihrer professionellen Musikstandards. Ich glaube daher, dass sein unmittelbarer Kontakt mit der Französischen Musikschule und ihrem Orchestrierungsstil ebenfalls ein Schlüsselfaktor für die endgültige Gestaltung seines persönlichen Klanguniversums war. Ich denke, dass ein Hinweis auf die Art der Beziehung, die Komponisten zu Wagner haben – und mehr noch für Opernkomponisten aus Samaras‘ Zeit –, eine unabdingbare Voraussetzung für das Verständnis des wagnerschen Einflusses auf Samaras‘ eigenes kreatives Schaffen ist. Auf allgemeiner Ebene lässt sich dieser Einfluss in dem Kontakt erkennen, den der Komponist mit den vorherrschenden postwagnerischen Musik- und Theaterkonzepten hatte, in die er sich nach und nach und auf natürliche Weise vertiefte. Ein Beweis dafür ist die Verwendung des Leitmotivs und sein allmählicher Widerstand gegen die Verwendung von Strukturformen, die als autonom und nicht voneinander abhängig definiert sind (wie Arien und verschiedene phonetische Ensembles). Auch die erweiterte Bedeutung, die der Rolle und Größe eines Orchesters beigemessen wird, ist ein Beweis dafür. Es scheint jedoch, dass Wagner-Konzepte, die bereits einer „Filterung“ durch den französischen Geist unterzogen wurden (dem sie als Konzepte auch viel verdanken), Samaras und seine Arbeit nur auf einer sekundären Ebene beeinflussten, wenn es um spezifischere Elemente ging (wie die Erweiterung des harmonischen theoretischen Denkens sowie die Art der Orchestrierung).

Samaras´ „Rhea“: Dimitria Theodossiou sang die Titelpartie in Athen 2004/filmora

Durch die Wahl des französischen musikalischen Weges macht sich der korfiotische Komponist die massive Anziehungskraft zu eigen, die in der wagnerianischen mythischen Figur der Einheit liegt, die darin besteht, klar definierte musikalische Parameter (wie Harmonie und Orchestrierung) auf die Logik eines ganzheitlichen dramatischen Konstrukts anzuwenden. In Übereinstimmung mit dem französischen Metrum ist diese Umarmung offensichtlich, aber qualitativ und niemals quantitativ. Diese metrische Umarmung beinhaltet auch eine kritische Haltung gegenüber dem Wagnerismus, zu einer Zeit, als allgemeine Reaktionen, die hauptsächlich aus Südeuropa kamen, auch neue ästhetische und künstlerische Bewegungen hervorriefen – die bekannteste davon war die Verismo-Bewegung.

Die Anziehungskraft, die von der Subtilität des französischen harmonischen theoretischen Denkens sowie von seinem delikaten Orchestrierungsstil in einer Zeit intensiver (und vielfältiger) Umwälzungen am europäischen Musikhorizont ausging, stellte für Samaras und seine hauptsächlich melodische Natur auch die „Gefahr“ dar, dass er genau diese Natur von sich ablehnen könnte. Sein Instinkt und seine italienische Erfahrung bewahrten ihn jedoch vor dieser „Gefahr“. In einem Interview, das er um 1910 einer Athener Zeitung gab (d. h. während der Kompositionsjahre von „Tigra“), stellte Samaras die Bedeutung der Melodie, wie sie von der zeitgenössischen französischen Musikschule vertreten wurde, nachdrücklich in Frage, indem er seine Ablehnung gegenüber dieser Art von ästhetischer Richtung betonte.

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Spyridon Samaras´“Mademoiselle de Belle-Isle“/ Szene der Aufführung in Athen 1997 mit Martha Araois und Angelos Simos/ youtube

An dieser Stelle möchte ich kurz auf die Orchestrierung von „Tigra“ eingehen. Ich denke, dass die oben genannten Punkte die Affinität zwischen „Rhea“ und „Tigra“ verdeutlichen. Aufgrund dieser Affinität kam ich auf die Idee, mich bei der Orchestrierung von „Tigra“ auf die Orchestrierungskonzepte zu stützen, die in „Rheas“ Partitur allgegenwärtig sind, und dann auch Werke wie „Epinikia“, „Mademoiselle de Belle-isle“, „La biondinetta“ und „Kritikopoula“ als zusätzliche Inspiration zu berücksichtigen. Die von mir angewandte Instrumentenverteilung war die, die in „Rhea“ zu finden ist. Dabei habe ich mich eng an Samaras‘ Beispiel gehalten, mit einer Ausnahme. Ich habe mich entschieden, ein Kontrafagott speziell in der Prozessionsszene einzusetzen, während ich es aus Gründen der instrumentalen Ökonomie auch durchgehend verwendet habe. Soweit ich weiß, handelt es sich dabei um ein Instrument, das Samaras nie verwendet hat. Ein weiterer subtiler Unterschied zwischen meinem und Samaras‘ instrumentellem Ansatz (den er auch mit anderen Musikern seiner Zeit, insbesondere in Italien, teilte) bestand darin, dass ich die schnellen Übergänge bei den Ventil-Posaunen vermied. Wie wir aus „Rhea“ und der in „Lionella“ verwendeten Ungarischen Rhapsodie schließen können, scheint Samaras es vorgezogen zu haben, dass die Posaune mit Klappen gespielt wird.

Der Autor: der Dirigent und Pionier der griechischen Musik, Byron Fidetzis/Lyra

Um das Schlüsselproblem im Zusammenhang mit der Beziehung zwischen den Gesangs- und Instrumentalstimmen anzugehen, habe ich mich wieder so eng wie möglich an Samaras‘ Ansatz gehalten. Ich habe die Gesangsstimmen daher ohne instrumentale Unterstützung für sich allein stehen lassen. Ich habe dies so gehandhabt, es sei denn, die Dichte des Stücks erforderte das Gegenteil, um die Klangbalance zu erhalten. Darüber hinaus habe ich diese Strategie sowohl für die Gesangsparts der Protagonisten als auch für den Chor befolgt. Gemäß den kurzen Partituren habe ich es bewusst vermieden, die Pause der Chorstimmen während des Höhepunkts der Oper, wenn „Christos Anesti“ einsetzt, aus zwei Hauptgründen auszufüllen. 1) Obwohl der Komponist die Zeilen der betreffenden Metren vorgibt, lässt er sie dann leer, was meiner Meinung nach keineswegs zufällig war. 2) Ich glaube, dass Samaras das Geschehen auf der Bühne musikalisch (und in gewisser Weise rätselhaft) kommentieren wollte, indem er eine bekannte Hymne verwendete, ohne jedoch einen ihrer Texte zu verwenden.

Teile in den Partituren, die ich als Fehler erachtete, wurden korrigiert und in den beigefügten Anmerkungen des Herausgebers/Orchestrators ausführlich erläutert. Diese Fehler scheinen entweder aufgrund von Eile oder sogar aufgrund einer schlechten Handschrift entstanden zu sein, die das Löschen und die umfassende Korrektur von Fehlern erforderlich machte. Es liegt an zukünftigen Lesern – Interpreten von Samaras‘ Manuskript –, meine Entscheidungen zu überprüfen und weitere notwendige Überarbeitungen vorzunehmen. Byron Fidetzis/ DeepL/G. H. (Abbildung oben: Odalisque mauresque,  Georges Bretegnier, 1863 – 1892)/ Wikipedia commons. Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge in der Reihe Die vergessene Oper findet sich auf dieser Serie hier.)

Hochbesetzte Schlangengrube

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Johann Adolf Hasse schrieb sein biblisches Oratorium Serpentes ignei in deserto für das berühmte Ospedale degli Incurabili in Venedig, wo es 1733 oder 35 uraufgeführt wurde. Das Werk fußt auf dem lateinischen Libretto von Bonaventura Bonomo und vermittelt die Botschaft, dass der Mensch nicht am göttlichen Wohlwollen zweifeln solle. Erzählt wird der Auszug des hebräischen Volkes aus Ägypten in das von Gott verheißene Land. Während der langen Durchquerung der Wüste beklagt sich das erschöpfte Volk und lehnt sich gegen Gott auf. Dieser schickt als Strafe giftige Schlangen, die vielen Menschen den Tod bringen. Moses bittet Gott um Vergebung, die gewährt wird. Eine eherne Schlange auf Moses´ Stange wird zum Symbol des Lebens und der Hoffnung.

Nach der Papierform hatte die Aufnahme das Zeug zu einer Sensation, denn nicht weniger als vier namhafte Countertenöre und ein Ausnahme-Sopranist sind in der Besetzung versammelt, ergänzt um einen gleichfalls renommierten Sopran. Sechs hohe Stimmen also und kein Tenor, kein Bass. Erato, derzeit neben Château de Versailles konkurrenzlos aktiv in der Einspielung von Werken Alter Musik, hat die Aufnahme im Juni des vergangenen Jahres in Paris produziert und eine Phalanx renommierter Interpreten des Genres verpflichtet (5021732399045). Weniger bekannt ist das Ensemble Les Accents, das unter seinem Gründer und Leiter Thibault Noally aber einen glänzenden Eindruck hinterlässt, die Musik in ihrer Bravour und belkantesken Lyrik mit frischem, unkonventionellem Zugriff interpretiert.

Der Beginn der Einspielung ist ernüchternd, denn der schwedische Counter David Hansen lässt es als Eliab in seiner vehementen Eingangsarie „Incerta vivendo“ zwar nicht an der gebotenen Virtuosität fehlen, irritiert aber mit enervierend heulenden Tönen. Die zentrale Partie des Moyses wird von Philippe Jaroussky wahrgenommen und auch er hat in seiner ersten Arie „Coelo turbido et irato“ Probleme, lässt eine unausgewogene Stimmführung hören. Besser gelingt ihm der finale Auftritt mit „Ara excelsa“, kann er doch in diesem ruhig-getragenen Stück seine Stimme unangestrengt und ausgewogen fließen lassen. Der Sopranist Bruno de Sà als Josue offeriert in „Spera, o cor“ Töne von mirakulöser Vollendung. Julia Lezhneva sorgt als Angelus für den ersten bravourösen Höhepunkt mit ihrer langen Arie „Caeli, audite“, welche zunächst und am Ende in getragenem Duktus erklingt, aber im Mittelteil ein furioses Koloraturfeuerwerk erfordert. Nicht weniger anspruchsvoll  ist die zweite Arie, „Aura beata“, mit schier endlosen Koloraturläufen, welche die Sopranistin in phänomenaler Manier absolviert und darüber hinaus mit jauchzendem Klang begeistert. Ihr fällt mit „Ecce conversus Israel“ der Exodus zu – ein Recitativo accompagnato, welches das Werk überraschend schlicht enden lassen würde, hätte der Dirigent nicht die Fugue aus der Introduzione angefügt.

Der Beginn der 2. CD markiert den Auftritt Nathanaels in Gestalt von Jakub Józef Orlinski, der die aufgewühlte Arie „Furit grando procellosa“ mit Entschlossenheit angeht, dessen larmoyantes Timbre jedoch nicht jedermanns Geschmack ist. Ihm folgt Carlo Vistoli, ein neuer Stern am Counter-Himmel, mit der Partie des Eleazar. Er lässt zweifellos die schönste Counterstimme hören. Die Arie „Dolore pleni“ ist eine Perle der Komposition und in seiner Wiedergabe mit warmem, innigem Ton beglückend. Mit de Sà hat er ein Duett zu singen („Moesto corde“), welches zu den wunderbarsten Momenten der Aufnahme zählt, vereinen sich beide Stimmen doch in schönster Harmonie.

Das Ensemble mit seinem Dirigenten und einige der Solisten werden im Mai des kommenden Jahres das Werk in der Berliner Philharmonie aufführen – ein Fest für alle Freunde der Alten Musik. Bernd Hoppe