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Der Titel liest sich einfach zu gut, als dass der Bariton Arnaud Marzorati und sein Gesangs- und Instrumentalensemble Les Lunaisiens darauf verzichten mochten: La Comédie Humaine. Chansons Balzaciennes (CD Alpha Classics 1105). Dabei handelt es sich schlichtweg um Lieder, die in der Epoche zwischen Ende der napoleonischen Ära und Proklamation des Zweiten Kaiserreichs entstanden und in den Salons der Kurtisanen oder einfältigen Emporkömmlinge in den Romanen Balzacs erklungen sein könnten. Die 16 Chansons sind alles andere als eine menschliche Komödie in Liedern, denn die Bezüge zu einzelnen Romanen und Figuren erscheinen mir doch sehr hergeholt. Aber das soll nicht stören. Mit Ausnahme des geschätzten Tenors Cyrille Dubois nähern sich die wenig bekannten Interpreten wie die Mezzosopranistin Lucile Richardot, der Bariton Arnaud Marzorati und der Bass Jérôme Varnier einem guten halben Dutzend noch weniger bekannter Komponisten. Einzig Daniel-Francois Esprit Auber ragt heraus. Sein Chanson „Amour et Folie“ singt Lucile Richardot mit herber, nicht unbedingt gefälliger Stimme und deftigem Zugriff, die auch „Madame Barbe-Bleue“ von Alexandre Pierre Joseph Doche (1801-49) und Joseph-Philippe Simons (1803-91) kennzeichnen. Umrahmt wird das Programm von zwei Liedern des Marc-Antoine-Madeleine Désaugiers (1772-1827); es handelt es sich um zwei hübsche Miniaturen, deren sprechende Titel eine hinreichende Beschreibung der idyllischen Szenen sind, wie sie durchaus bei Balzac vorkommen könnten: „Tableau de Paris à cinq heures du matin“ und „Tableau de Paris à cinq heures du soir“. Die vier Sänger haben die kurzen Strophen unter sich aufgeteilt, so dass die Bilder wie kleine Liederspiele wirken. Einige der Lieder sind für zwei oder mehr Stimmen konzipiert, darunter schlichte Reihengesänge von Pierre Dupont (1821-70) und Émile Debraux (1796-1831). Cyrille Dubois singt Duponts größten Erfolg „Les Louis d’Or“ und „Les quatre âges historique“ von Pierre-Jean de Béranger (1780-1857), stets mit dem hauchzart-süßen und geschmeidigen Ton, den man an ihm liebt. Vanier macht mit knorrigem Bass Bérangers „Le corps et l’ame“ zu einem kleinen Kabinettstück und widmet sich in „L’Or“, ebenfalls von Béranger, dem Stoff, den Balzac in seinen Pariser Romanen geradezu mythisch überhöht, denn „nach Golde drängt, am Golde hängt“ alles und alle. Soigniert singt Mazorati das schlicht „Chanson“ genannte Lied von Eugène-François Vidocq (1775-1857). Sehr apart das Stück für drei Männerstimmen „Ne poursuivons plus la gloire“ von Jean Anthelme Brillat-Savarin (1755-1826). Ausgesprochen ausdrucksstark die Begleitung durch Christian Laborie, Christophe Tellart, Patrick Wibart, Ètienne Galletier und Daniel Isoir.
Mit der nächsten Veröffentlichung französischer Chansons machen wir einen Sprung aus den Salons der Pariser Innenstadt hinauf in die Künstlerszene des Montparnasse, wo Kiki de Montparnasse als Sängerin und Schauspielerin, vor allem aber als Muse und Königin residierte; Königin von Montparnasse stand auch auf ihrem Grabstein. Kiki à Paris heißt das in Mons aufgenommene Programm (Cyprès 8623), mit dem die Mezzosopranistin Albane Carrère, die Geigerin Elsa de Lacerda und die Gitarristin Magali Rischette an Jane Birkin, Juliette und die Piaf, an France Gall, Dalida und Barbara erinnern. Dazwischen eingestreut – Kiki lebte von 1901 bis 1953 – Musik von Debussy (Trois chansons de Bilitis), Reynaldo Hahn, Poulenc und Lili Boulanger. Toll ist das Cover, das Rays berühmtes Foto mit Kikis Rückenansicht in Form eines Cellos zeigt: Le violon d‘Ingres: 1921 wurde Alice Ernestine Prin das bevorzugte Modell des amerikanischen Fotokünstlers und legte sich den Künstlernamen Kiki zu. Das Programm ist für irgendeine der Künstlerlokalitäten, die es auf dem Montparnasse noch geben muss, oder als Nachprogramm auf einem der Festivals, bei denen Carrère auftrat (2024 als Kate Pinkerton in Aix), sicherlich ganz hübsch ausgedacht, aber auf der CD haben der gleichförmige Ausdruck und das monoton damenhafte Timbre etwas durchaus Einlullendes. Die Chansons klingen zu einförmig, wenngleich Carrères Absicht zu spüren ist, den Liedern sowie den Arrangements von Jean-Luc Fafchamps etwas Eigenes einzuhauchen und ihre Opernerfahrung einzubringen, wie am dramatischen Affekt in Juliette Noureddins „Tueuses“ oder der keuschen Höhe in Piafs „Mon Dieu“ erkennbar ist. Die sanfte Reinheit der Stimme nehmen Dalidas „Mourir sur scène“ und Galls „Résiste“ viel von ihrem aufgeregten Pathos. Aufregend die Begleitung. Etwas für Liebhaber (18. 01. 24). Rolf Fath