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Nach längerer Zeit gibt es zur Jahreswende 2024/25 eine Massenet-Renaissance, wie nun eine neue Hérodiade bei Naxos und eine Grisélidis beim Palazzetto Bru Zane (der dem Vernehmen nach ebenfalls eine Hérodiade plante, allerdings auch weiteres von Saint-Saens in der Pipeline hat). Angesichts der fabelhaften Grisélidis möchte man nicht murren, aber es gibt so viele andere unbekannte Werke des französischen Repertoires, dass man bei bekannten Titeln wie Hérodiade doch angesichts der CD-Konkurrenz etwas eingeschränkter urteilt, selbst wenn das Naxos-Ergebnis eine Berliner Sternstunde der Deutschen Oper festhält (in der Fassung von 1884, wie es dem Programmheft zu entnehmen war und nun auf der CD-Hülle zu lesen ist). Zu besagter Konkurrenz dann nachstehend mehr, auch zu den Fassungen, denn da herrscht Verwirrung, auch bei der Quellenlage. G. H.
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Nun also die neue Naxos-Aufnahme: Konzertante Opernaufführungen gehören zum Standardprogramm der Deutschen Oper Berlin, und zumeist zählen sie zu den Höhepunkten einer Saison. So auch am im Juni 2023, als das Publikum Jules Massenets Hérodiade in einer Maßstab setzenden Wiedergabe unter Enrique Mazzola erleben konnte und frenetisch feierte und wie sie nun (eigens aufgenommen und ohne Beifall) bei Naxos auf der CD zu erleben ist. Der italienische Dirigent ist Spezialist für das ausgefallene Repertoire und damit regelmäßig zu Gast an der Deutschen Oper. Gespielt wurde die vieraktige Fassung Werkes „von 1884“, das 1881 in Brüssel seine Uraufführung erlebte. Mazzola breitet die vielfältige Musik in aller Pracht und mit der gebotenen schwülen Sinnlichkeit aus, scheut weder den großen schwelgerischen Rausch noch die exzessiven Klangblöcke. Das reiche Spektrum an Farben und Stimmungen kommt unter seiner Leitung zu faszinierender Wirkung – von den Préludes und Ballets bis zu den dramatischen Tableaus und packenden Finali. Der Chor und Extra-Chor der Deutschen Oper (Einstudierung: Jeremy Bines) haben mit differenziertem Gesang großen Anteil am fulminanten Gesamteindruck.
Hervorragend ist die Besetzung der fordernden Solopartien, angeführt von Clémentine Margaine in der Titelrolle mit einem Mezzo von dunkler Glut, satter Tiefe und umwerfendem Aplomb in den Spitzentönen. Furios in ihrem rasenden Zorn auf den Propheten Jean, von dem sie sich beleidigt glaubt, ist sie in der Szene „C’est sa tête que je réclame!“ im existentiellen Ausnahmezustand. Zudem wird sie gequält von der Eifersucht auf ihre Tochter Salomé, die sich in Jean verliebt hat, aber selbst von Hérode umschwärmt und begehrt wird. Die australische Nicole Car gibt der zweiten weiblichen Hauptrolle starke Kontur mit einer ausgeglichenen, perfekt geführten Stimme ohne Brüche und mit reichen Valeurs. Gleich in ihrem Auftritt kann sie bei „Il est doux, il est bon“ mit flirrenden Tönen ihre Zuneigung zu dem Propheten bekunden und am Ende des 1. Aktes im Duett mit ihm die gesteigerte Leidenschaft ausdrücken. Mit Matthew Polenzani steht eine zutiefst glaubwürdige Besetzung für die Tenorpartie zur Verfügung. Nach Mozart-Rollen und dem Belcanto-Repertoire hat sich der Amerikaner nun die Zwischenfach-Partien zu eigen gemacht. In den französischen ist er besonders erfolgreich, was auch diese Interpretation beweist, welche die derzeit auf Dokumenten erhältlichen stilistisch oft überragt. Mit exquisit geführter Stimme, dem Einsatz der kultivierten voix mixte und glanzvollen Spitzentönen erfüllt er alle Ansprüche der Partie in blendender Manier. Auch Etienne Dupuis ist ein renommierter Vertreter für das französische Fach. Sein Hérode ist prägnant differenziert zwischen dem schwärmerischen Verlangen nach Salomé („Reviens, je te veux“), der verzehrenden Leidenschaft für diese Frau („Oui, je n’aime que toi!“) und schließlich dem Hass auf sie, weil sie sich verweigert und ihre Liebe zu Jean offenbart („Je châtierai tes funestes amours!“). Glanzstück der Partie ist seine fiebrige Vision („Vision fugitive“), nachdem er den von einer jungen Babylonierin (Sua Jo mit apartem Sopran) gereichten Liebestrank eingenommen hat. Der Kanadier kann sich hier von einer träumerischen Stimmung bis zur Ekstase steigern und bewältigt diese Herausforderung mit Glanz. Auch die anderen Partien sind kompetent besetzt. Der Bassbariton Marko Mimica gibt den Astrologen Phanuel mit Autorität und profunder Tiefe, Dean Murphy den römischen Prokonsul Vitellius mit resonanten Tönen und Kyle Miller den Grand prêtre mit jugendlicher, auffallend schöner Stimme. Bernd Hoppe
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Dazu doch ein Wort: Es drängt sich bei der Ankündigung „Vieraktfassung von 1884“ doch ein fragendes Runzeln auf die Stirn, denn die lakonische Auskunft der Musikabteilung der Deutschen Oper zu ihrem Konzert machte stutzig: „Wir haben die einzige gängige, überlieferte Fassung verwendet: Das ist die 4-aktige von 1884.“ Aber es gibt keine Vierakt-Fassung von 1884 in Französisch! In Paris wurde in diesem Jahr Hérodiade als Erodiade in Italienisch aufgeführt! In der Scala-Originalfassung von 1882.
Und nun geht´s los. Die Oper wurde am 19. Dezember 1881 im Théâtre de la Monnaie (Brüssel) uraufgeführt (in einer 3-aktigen Version in italienischer!!! Sprache). Die endgültige Fassung gab es am 2. Oktober 1903 im Théâtre de la Gaîté-Lyrique (Paris), in Französisch nun endlich. Das ganze nach Hérodias von Gustave Flaubert.
Der antike Stoff von Flauberts Geschichte, der tatsächliche religiöse Ereignisse in einen Rahmen orientalischer Anständigkeit stellte, lieferte Material, das sich ideal für die Komposition einer großen Oper eignete. Obwohl Salomé ihren berühmten Tanz der sieben Schleier nicht aufführt (wie später in Mariottes und Strauss‘ Opern), nimmt sie in dieser Oper eine zentrale Stellung ein. Sie ist leidenschaftlich in Jean-Baptiste verliebt und bereit, mit ihm zu sterben, während Hérode außer sich vor Eifersucht den Befehl gibt, den Propheten zu enthaupten.
Obwohl die Handlung kurz gefasst ist, wurde sie mehrfach überarbeitet, während das Werk gleichzeitig für die Pariser Oper (in französischer Sprache) und die Mailänder Scala (in italienischer Sprache) vorgesehen war. Angelo Zanardinis (ein bekannter italienischer Librettist, der auch für Verdi arbeitete ) ursprüngliche Handlung wurde von Claude Milliet (Paris) mit Unterstützung von dem Verleger Georges Hartmann überarbeitet, damit der Komponist das original italienische Libretto auf Französisch bearbeiten konnte. Massenet überwachte die dramatische Konsistenz des Werkes und stärkte seine Einheit durch die Verwendung häufig wiederkehrender Motive. Die klare Struktur der Partitur, die funkelnde, raffinierte Musik, die großartigen Chorszenen, die stimmlichen und dramatischen Anforderungen der vier Hauptrollen waren alles Elemente, die dem ursprünglichen Auftrag entsprachen. Obwohl Massenet mit diesem Werk den Höhepunkt seines Schaffens erreicht hatte, wurde es durch ein überarbeitetes Libretto untergraben, das der Titelrolle nach und nach die Substanz entzogen hatte.
Der Verlag Ricordi zog sein Angebot zurück (Hartmann übernahm es) und der Pariser Intendant Vaucorbeil lehnte das Werk in der vorliegenden Form ab, sodass Hérodiade als Erodiade statt in Mailand oder Paris in Brüssel uraufgeführt wurde. Massenet überarbeitete das Gesamtwerk viele Male. Die italienische Premiere am 23. Februar 1882 an der Mailänder Scala in italienisch („,I ballabili sono composti dal signor Cesare Coppini“) statt, die französische Premiere fand am 29. März 1883 in Nantes statt (in 3 Akten, so die Info vom Palazzetto Bru Zane) und die 4-Akt-Version (in italienisch!!!) dann am 1. Februar 1884 am Théâtre-Italien in Paris und (erneut in Italienisch) an der Scala 1886. Erst 1903 bzw. 1911 legte man (wer? Der Verlag? Massenet?) sich auf eine endgültige französische Vier-Akt-Version fest (die nun wohl als „gängige Fassung“ gilt).
Das ist ebenso überraschend wie kaum bekannt. Leider hat der Verlag Hartmann bislang nicht auf Fragen geantwortet, und da bleibt man eben bei der „gängigen Fassung“ in vier Akten und eben Französisch (mit Ausweitung der Akte zwei und drei auf einen vierten). Die ursprüngliche Struktur der Oper bestand aus drei Akten und fünf Tableaus, wobei die heutigen ersten Szenen des zweiten und dritten Aktes später hinzugefügt wurden. Die letzte Szene des zweiten Aktes war ursprünglich die letzte des ersten Aktes, wobei Salomés Arie in Akt 3, Szene 2 am Anfang von Akt 2 steht und der letzte Akt in beiden Versionen identisch aufgebaut ist. Diese zusätzlichen Szenen tragen nicht gerade zur Handlung bei, sondern erschweren eher das Verständnis, da in beiden Szenen eigentlich nichts passiert. Auch musikalisch bringen sie nicht viel, da die beste Musik in den ursprünglichen fünf Tableaus konzentriert ist. Soweit die Sachlage.
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Kaum etwas erklingt zum ersten Male, und im Falle der Hérodiade schon gar nicht. Abgesehen von den unendlich vielen antiken und modernen Einzelstücken für Sopran, Mezzo und Bariton und den doch recht reichlichen Aufführungen namentlich im francophonen Raum (Liége, Lille, Lyon, Marseille etc.) gibt es auch einige CD-Dokumente von Rang. Die Standardaufnahme (von 1963) war jahrzehntelang der große Querschnitt bei Pathé-EMI/Warner mit Régine Crespin, Rita Gorr (brrrr), Albert Lance und Michel Dens unter Georges Prêtre, bis auf die zu placide Gorr top besetzt und kaum zu überbieten.
Aber es gibt weiteres. Vom Niederländischen Rundfunk kommt ein Mitschnitt bei Malibran mit der etwas stumpfen Andréa Guiot als Salomé, dazu sehr tapfer Mimi Arden als ihre Mutter (nur Wallonen werden jubeln), dazu recht marzialisch Guy Fouché als Jean und sonor Charles Cambon als etwas rauher Hérode sowie Germain Ghislain (qui est?) als Phanuél (youtube hat manches von ihm, eine interessante Stimme), Jos Burcksen und Cornelius Kalkman. Albert Wolff dirigiert 1957. Der Sound ist gutes Radio-Mono (auch bei youtube)
Aus La douce France erklingt weiteres, denn trotz nicht ganz so glamouröser Technik ist der Radiomitschnitt (CQR Èditions) von 1963 unter Altmeister Pierre Delvaux mit der leuchtenden Suzanne Sarrocca, der auftrumpfenden Lucienne Delvaux und natürlich mit meiner All-Time-Liebe Robert Massard (zudem mit Paul Finel und Jacques Mars) ziemlich das Beste, was ich kenne. Gleich danach kommt die dto. Radio France-Übernahme von 1985/6 mit der grandiosen Nadine Denize in der Titelrolle, dazu Ernest Blanc und dem weniger bekannten, aber strammen Jean Brazzi. Die kurzfristig für Régine Crespin eingesprungene Muriel Channes ist eben keine Crespin, aber sie schlägt sich mehr als tapfer. Und über Diktion brauchen wir auch hier nicht reden. David Lloyd-Jones dirigiert machtvoll in gutem Stereo (bei vielen Firmen, von MRF-LP ehemals zu Rodolphe bis INA Opera). Ein Konzert der American Opera Society von 1963 in der New Yorker Carnegie Hall bei Opera Depot hält eine Hérodiade mit Regine Crespin, Rita Gorr und Guy Chauvet unter Alain Lombard fest. Die angebliche Drei-Akt-Fassung aus Marseille/Saint Etienne von 2018 bei youtube entpuppt sich als vieraktig.
Die folgende „offizielle“ CBS/Sony-Aufnahme kann da gar nicht mithalten, trotz des Breitwandsounds live aus San Francisco 1995 unter Valery Gergiev, denn weder Renée Fleming noch Placido Domingo haben irgendetwas mit dem Werk zu tun, auch wenn sie es auf den Bühnen der Welt gesungen haben (gruselig ist sein Wiener Abend 1995 mit Agnes Baltsa in Erinnerung, der bei RCA als Live-Erlebnis festgehalten wurde). Dolora Zajic verwechselt die Hérodiade mit Azucena, Thomas Hampsons Hérode macht zwar seine lüsternen Absichten auf Salomé kaum glauben, aber er hat seine maniriert-grüblerischen Momente, Juan Pons gibt einen gutgelaunten Phanuel ohne Profil. Touts pas trop francais. Auch bei der EMI/Warner-Aufnahme mit Cheryl Studer und Ben Heppner unter Michel Plasson kommt keine Freude auf, trotz José van Dam und Nadine Denize (1995 nicht mehr in so guter Form und vielleicht vom Mikro nicht begünstigt): Die beiden amerikanischen Kräfte torpedieren die francophonen. Irgendwie ist das wieder so eine Vertragsgeschichte, deren Teile nicht zusammen passen, trotz eben…
Gruselig wird´s dann bei Gala mit Grace Bumbry und Leona Mitchel in Nizza 1987, was Georges Prêtre verantwortet. Guilbert Py bölkt sich mal wieder durch den Jean, und Jacques Mars klingt desinteressiert (Nizza war berühmt für gute Gagen). Ach ja, diese Franzosen, spätestens ab den Achtzigern wurd´ es eben dünn mit großen einheimischen Stimmen. In andere Abgründe steigt man in Barcelona 1984, wo Montserrat Caballé Verführung vorgibt und Dunja Vejzovic sich hoffnungslos mit der Titelrolle überfordert. „Monzis“ Fans wird´s nicht rühren, und José Carréras ist immer ein Listen-in wert, aber dies ist keine Tenoroper (Legato und andere).
Insofern ist die neue Aufnahme bei Naxos ein absoluter Gewinn, denn Etienne Dupuis (mir persönlich zu weich und zu hell für den Hérode) und die fulminante Clémentine Margaine in der Titelpartie garantieren neben den übrigen für einen weitgehend idiomatisch-französischen Abend der Extraklasse, auch wenn das Ballett mal wieder (bis auf eine kurze Nummer) fehlt (das findet sich auf einer Naxos Massenet-Opern-Ballett-CD 8.573123/ Foto oben Emma Calvé als Salomé) . Geerd Heinsen
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