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Wilhelm Furtwängler, einer der wichtigsten Dirigenten des 20. Jahrhunderts, starb am 30. November 1954 in Ebersteinburg (Baden-Baden). Trotz eines anhaltenden Interesses an seinen Interpretationen und Aufnahmen blieb sein 70. Todestag im öffentlichen Bewusstsein weitestgehend unbeachtet. Den bedeutenden künstlerischen Institutionen, mit denen Furtwängler gearbeitet hatte – allen voran die Berliner Philharmoniker, aber auch die Staatsoper Unter den Linden, das Gewandhausorchester Leipzig, die Wiener Philharmoniker, das Philharmonia Orchestra London oder die Salzburger Festspiele – war die Erinnerung an Furtwängler anlässlich seines 70. Todestags 2024 keine Erwähnung oder Würdigung wert. Sicher kann man darüber streiten, ob ausgerechnet der 70. Todestag ein besonderes „Jubiläum“ ist. Doch anderseits werden auch alle möglichen „krummen“ Geburts- oder Todestage von Musikern beachtet. Es lohnt sich jedenfalls der Frage nachzugehen, was uns Furtwängler 70 Jahre nach seinem Tode noch zu sagen hat, warum seine Interpretationen immer noch und immer wieder faszinieren und sogar jüngere Hörer anziehen, wie zum Beispiel das Interesse des Publikums in Japan, Korea und sogar China zeigt.
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Aufmerksamen Beobachtern des Musiklebens dürfte nicht entgangen sein, dass es entgegen der vorherrschenden Tendenz doch einige Furtwängler-Würdigungen gab: Die „Süddeutsche Zeitung“ brachte am 29. November, ein wenig versteckt, nicht in ihrer Printausgabe, sondern ausschließlich digital, einen lesenswerten Zweispalter von Wolfgang Schreiber. Der Geiger Daniel Hope erinnerte am 1. Dezember im WDR anderthalb Stunden lang in Wort und Ton an Furtwängler – auf eine Art, die auch Nicht-Experten diesen Ausnahmekünstler nahebringen konnte. Der Musikjournalist Kai Luehrs-Kaiser widmete sich in seiner Sendung „Meine Musik“ am 3. Dezember 2024 im rbb (radio 3) ausführlich Furtwängler – mit markanten Beispielen von dessen Interpretationskunst. Beide Sendungen sind noch eine Weile nachzuhören in der ARD Mediathek. Schließlich erinnerte der englische Musikjournalist Norman Lebrecht – der zwar immer wieder scharf Furtwänglers Haltung und Rolle während der NS-Zeit kritisiert hat, gleichzeitig aber keine Zweifel daran ließ, für wie bedeutend er den Dirigenten hält – auf seiner Website „Slipped Disc“ mit mehreren Beiträgen an Furtwängler (mit hilfreichen Links zu Texten oder Bild-Ton-Dokumenten). Und da erfuhr man denn auch, wie an Furtwängler in China erinnert wurde.
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Die verdienstvolle deutsche Wilhelm-Furtwängler-Gesellschaft (WFG), die das Ziel verfolgt, die künstlerische Leistung des Dirigenten, Komponisten und Schriftstellers Wilhelm Furtwängler lebendig zu erhalten, trug auf besondere Weise zur Erinnerung und Vergegenwärtigung des Künstlers bei. Der schon erwähnte Musikautor Wolfgang Schreiber hielt Mitte September in einer Matinee in der Berliner Universität der Künste einen Vortrag zur Bedeutung und Aktualität Furtwänglers: „Was können wir von Wilhelm Furtwängler 70 Jahre nach seinem Tod lernen?“ (nachzulesen hier).
Fast genau zum Todestag des Dirigenten erschien dann die vorliegende Box „Insight – Wilhelm Furtwängler in audiovisual documents“. Sie entstand in enger Zusammenarbeit zwischen musicas.de Hamburg und der Wilhelm-Furtwängler-Gesellschaft. Die Anregung kam von Mitgliedern der WFG und japanischen Furtwängler-Freunden, die vorschlugen, das vorliegende bzw. zugängliche audiovisuelle Material über den berühmten Dirigenten zusammenzutragen und in möglichst besserer Form zu veröffentlichen.
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Die Box enthält drei Blu-Ray-Discs. Auf BD 1 finden sich Ausschnitte von Proben, Konzerten und Ereignissen aus den Jahren 1940 bis 1963. Das sind zum einen kurze bis kürzeste Videos: z. B. der Ausschnitt eines Konzerts, das die Berliner Philharmoniker im November 1940 im Deutschen Opernhaus in Prag gaben, Schlusstakte der Probe des Brahms’schen Violinkonzertes mit dem Solisten Yehudi Menuhin (Salzburg 1947) und, sehr temperamentvoll, die Probe des Endes von Brahms‘ Vierter Symphonie in London (1948) oder der Beginn einer Probe des „Till Eulenspiegel“ von Richard Strauss in Berlin (1950). Zum anderen gibt es Ausschnitte mittlerer Länge. Für Konzerte, die in den Jahren 1939 bis 1945 stattfanden und natürlich auch der Propaganda der Nazis dienten, betrieb man schon einen größeren Aufwand, bis hin zur effektvollen Inszenierung auch des Publikums. Das zeigt das „Werkpausenkonzert“ in der AEG-Fabrik in Berlin-Wedding im Februar 1942 mit der Ouvertüre zu Wagners Oper Die Meistersinger von Nürnberg und die Aufführung von Beethovens Neunter in einem Festakt am Vorabend von Hitlers Geburtstag im April 1942 (an dessen Ende ein sichtlich indignierter Wilhelm Furtwängler dem Propagandaminister Joseph Goebbels die Hand reichen muß!). Vollständig sind allein die Aufführungen der Meistersinger-Ouvertüre und des Till Eulenspiegel. Weiteres filmisches Material war nicht aufzufinden und wird sich wohl auch nicht noch finden lassen.
BD 2 enthält Furtwängler-Erinnerungen von Zeitgenossen, die ihn selbst erlebt oder mit ihm gearbeitet haben – dem Dirigenten Claudio Abbado, einem seiner Nachfolger in Berlin (der Furtwängler in Wien erlebte und ihn für den bedeutenderen Dirigenten als seinen Landsmann Toscanini hielt!), dem auch komponierenden Philosophen und Soziologen Theodor Adorno (der als junger Mann schon überaus von Furtwängler begeistert war), dem Geiger Yehudi Menuhin (der von Furtwängler schwärmt und vor allem dessen Einfühlungsvermögen und Kunst zu begleiten lobt), dem Komponisten und langjährigen Solo-Paukisten der Berliner Philharmoniker Werner Thärichen (der 1987 das sehr lesens- und bedenkenswerte Buch „Paukenschläge – Furtwängler oder Karajan?“ veröffentlichte) sowie anderen. Alle fremdsprachigen Beiträge sind deutsch untertitelt.
Auf BD 3 ist eine Rarität veröffentlicht: die ungewöhnliche Filmdokumentation „Wilhelm Furtwängler“ vom Neffen des Dirigenten Florian Furtwängler aus dem Jahre 1968.
Das Bild- und Tonmaterial wurde aufwendig restauriert und auf den neuesten technischen Stand gebracht. Die Box ist für den internationalen Markt konzipiert. Deshalb kommt sie in Deutsch und Englisch heraus, für den japanischen Markt gibt es einen Einleger mit den Texten in japanischer Sprache.
Die Edition wurde möglich durch das Engagement der WFG und ihres Vorsitzenden Helge Grünewald. Der Musikpublizist hat dokumentarisches Material aus den Archiven der Furtwängler-Gesellschaft und der Berliner Philharmoniker, seiner umfangreichen eigenen Sammlung sowie privaten Quellen erschließen können. Er ist auch Autor und Redakteur des reichhaltigen, 123-seitigen, zweisprachigen Begleitbuchs. Der Textteil wird illustriert mit umfangreichem, teilweise auch neuem, bisher noch unveröffentlichtem Fotomaterial.
Statt eines Vorworts liest man kluge, bedenkenswerte und Furtwängler und seine interpretatorischen Eigenheiten sehr gut charakterisierende Bemerkungen von Daniel Barenboim unter dem Titel „Warum uns Furtwängler bis heute bewegt“, ursprünglich zu Furtwänglers 60. Todestag, dem 30. November 2014 verfasst. Barenboim hatte Furtwängler noch als Jugendlicher in Salzburg erlebt, er wurde ihm sogar vorgestellt. Furtwängler äußerte sich sehr positiv über das musikalische „Wunderkind“. Daniel Barenboim ist – wie der jüngere Christian Thielemann – einer der wenigen heurigen Dirigenten, die in ihren Interpretationen an Furtwängler anknüpfen.
Man wünscht dieser auch graphisch ansprechend gestalteten Veröffentlichung, eine große Verbreitung. Editionen wie diese wünscht man sich öfter, sie sind jedoch eine absolute Rarität auf dem Markt der Ton- und auch Bildtonträger. Musicas.de, die produzierende Firma und ihr rühriger Inhaber Markus Steffen, haben sich bereits mit ähnlichen Produkten einen Namen gemacht – zum Beispiel mit drei Otto-Klemperer-Editionen. Wenn man sich auf dem Markt umsieht, findet man zwar im immer wieder in dem doch als aussterbend bezeichneten CD-Bereich Sammeleditionen, die Solisten, Dirigenten, Orchestern gewidmet sind, häufig aber in liebloser „Konfektionierung“ und fragwürdigem Mastering erscheinen. Es geht dann zumeist um die x-te Wiederverwertung von vorhandenem (historischem) Material.
In Zusammenstellung, Aufmachung, Gestaltung ist die vorliegende Edition gewiss ein Ausnahmeprodukt. Sie bietet nicht nur den Blick auf den Interpreten Furtwängler, sondern auch Einblicke in sein Denken und Arbeiten. Nicht zuletzt erfährt man, dass Furtwängler zu seiner Zeit ein „Star“ war, aber ohne Star-Allüren auskam. Peter Heissler
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Insight – Wilhelm Furtwängler in historischen audiovisuellen Dokumenten (Box mit 3 Blu-Ray Discs, Begleitbuch, gebunden, 123 Seiten mit zahlreichen Abbildungen,; Texte Deutsch und Englisch; Musicas.de GmbH, Hamburg in Zusammenarbeit mit der Wilhelm-Furtwängler-Gesellschaft, Berlin; Gesamtdauer 275 Minuten, Sound Format PCM Stereo; ISBN 4 260213 919209/ Abbildung oben: Ausschnitt aus dem ARD-Film Klassik unterm Hakenkreuz: Der Maestro und die Cellistin von Ausschwitz.