Archiv des Autors: Rüdiger Winter

Christa Ludwig

 

Sie hatte eine der schönsten und vielseitigsten Mezzosopran-Stimmen ihrer Zeit. Sie war eine der führenden Sängerinnen ihres Fachs und stand fast ein halbes Jahrhundert auf der Bühne der Wiener Staatsoper, an der sie 43 Partien sang. Am 16. März 1928 wurde sie in Berlin geborenen. 1994 hatte die Ludwig als Klytämnestra mit ihrem 769. Auftritt in der Wiener Staatsoper ihren Bühnenabschied genommen.
1994 verabschiedete sie sich von der Bühne: die Mezzosopranistin Christa Ludwig. Nun ist sie mit 93 Jahren gestorben. Ein Weltstar der Oper.
Und doch war sie nie eine Primadonna. Obwohl sie auf allen großen, um nicht zu sagen ersten Bühnen der Neuen und der Alten Welt zuhause war, auch bei den internationalen Opernfest. Sie hatte mit den großen Dirigenten gearbeitet, mit Otto Klemperer (unvergessen und nie wieder erreicht ist die Einspielung des „Lieds von der Erde mit Fritz Wunderlich) und Karl Böhm, Herbert von Karajan, Georg Solti und Leonard Bernstein, sie wurde umjubelt und feierte einen Triumph nach dem anderen. Und doch blieb sie immer ganz „normal“, eine „Primadonna“ ist sie nie geworden, auch wenn der ironische Titel ihrer 1994 erschienenen Autobiographie den Wunsch danach suggerierte: Mir sagte sie einmal: „Ah… das ist mir viel zu viel Arbeit, ich bin ja von Hause aus faul und eine Primadonna zu sein, das ist ja eine furchtbare Anstrengung.“
Sie war ein Naturtalent. Ihre Stimme und ihre Musikalität wurden ihr gewissermaßen in die Wiege gelegt, denn sie war die Tochter des Sängerpaares Anton Ludwig und Eugenie Besalla. Von ihr erhielt sie Gesangsunterricht. Sie wuchs in Aachen und Hanau auf und versuchte sich unter der Obhut der Mutter schon bald an Koloraturarien.

Schon mit Siebzehn trat sie ihr erstes Engagement in Gießen an. Nach Frankfurt, Darmstadt und Hannover wurde sie 1955 an der Wiener Staatsoper engagiert, und von dort aus eroberte sie die internationale Opernwelt, sowohl als Mozart-, wie als Verdi-, als Wagner- und als Richard Strauss-Sängerin, aber auch als gefragte Konzert- und Liedinterpretin.

Christa Ludwig hatte alles, was man von einer Sängerin verlangt: Eine kerngesunde, große, schöne und ausdrucksfähige Stimme, eine psychologisch intelligente Nuanciertheit im Sängerischen und absolute Wortverständlichkeit. Sie hatte auch die Chuzpe, sich schon sehr jung auf die Bühne zu stellen, enorme Bereitschaft zu Fleiß, den festen Willen, sich nie unterkriegen zu lassen, immer Neues zu wagen und auszuprobieren, aber sich zu nichts ihrer Stimme Abträglichem überreden zu lassen. Das waren Ihre Qualitäten.

Christa Ludwigs Repertoire umfasste die wichtigsten Alt- und Mezzosopranpartien von Mozart bis Bela Bartok, aber auch zahlreiche dramatische Sopranpartien. Sie sind gottlob alle auf Tonkonserven dokumentiert Zu ihren Glanzrollen zählen etwa die Marschallin im „Rosenkavalier“ von Richard Strauss, die Kundry Richard Wagners und die Leonore Beethovens oder Giuseppe Verdis Lady Macbeth. Daneben erwies sich Ludwig zunehmend als glänzende Liedinterpretin, insbesondere der romantischen und spätromantischen Werke von Schumann, Brahms und Mahler und war später auch als Lehrerin Inspiration für Generation nachfolgender Sängerinnen und Sänger.

Raumgreifende Christa Ludwig/ Foto Scholz

Sie sie trat im Vollbesitz ihrer Stimme ab und bekannte nach Ende ihrer Karriere: „Sängerin möchte ich nie wieder sein!“, vor allem ihr Privatleben wurde immer hintan gestellt für die Gesangskunst. Sie opferte weitgehend dem Schönklang ihr Leben.
Das Motto der Marschallin aus dem Rosenkavalier war ihr Altersmotto: „Leicht muss man sein, mit leichtem Herzen und leichten Händen, halten und nehmen, halten und lassen“, diese Worte hat sie mir auch bei einem denkwürdigen Interview mitgegeben.
Nun ist sie von der Bühne des Lebens abgetreten. Ganz leise, bis zuletzt hatte sie sie Charisma, Witz und Humor. Sie war eine gefragte Gesangspädagogin bei vielen Masterclasses. Aber sie nahm sich die Freiheit, die Sängerausbildung an den Hochschulen scharf zu kritisieren. Vor allem monierte sie, dass die heutigen Gesangsstudenten vor lauter Theorie die Praxis vernachlässigen und zu spät mit dem Singen beginnen und dann oft der Verlockung erliegen, am Beginn ihrer Laufbahn mit viel zu großen Partien zu singen. Dieter David Scholz
Und nun eine Hommage und ein Blick auf wichtige Dokumente der Ludwig von Rüdiger Winter: Der Zufall wollte es, dass Christa Ludwig und Jessye Norman im Osten Berlins kurz hintereinander in Liederabenden auftraten. Das war in den späten 1980er Jahren. Die Mauer war noch nicht gefallen. Die Norman glamourös. Phantastisch gewandet, rauschte sie herein und flog förmlich in die Arme des Publikums.  Anders die Ludwig. Im schlichten klassischen Abendkleid betrat sie das Podium. Selbstbewusst, würdevoll und diskret zugleich. Sich ihrer und ihrer Kunst absolut sicher. Ich würde mich wohl nicht so genau erinnern, hätten beide Sängerinnen mit mehr zeitlichem Abstand zueinander gastiert.

Wer nun in beiden Vorstellungen gesessen hatte, fühlte sich (eigentlich überflüssiger Weise) zu einem Vergleich genötigt. Die Ludwig oder die Norman? Im Freundeskreis wurde damals heftig darüber gestritten. Ich entschied mich für die Ludwig. Sie verkörperte nach meinem Empfinden die hohe Schule des Liedgesangs, den bleibenden Wert. Während die Norman mich mehr enthusiasmierte, lehrte mich die Ludwig, genau zuzuhören, mich einzulassen. Meine Liebe zu Liedern habe ich in einem hohen Maße ihr zu verdanken. Während ich selten zu den Liederplatten von Jessye Norman greife, werden die mir wichtigen Aufnahmen von Christa Ludwig gar nicht erst weggeräumt. Sie sind stets griffbereit, stapeln sich gleich neben dem Player. Bei der Menge ist es allerdings nicht einfach, die Übersicht zu behalten.
Eine Box der alten EMI-Bestände, nun von Warner, kommt mir da allein unter praktischen Gesichtspunkten gerade recht. Denn sie reduziert den CD-Turm ihrer vielen Aufnahmen  beträchtlich. Christa Ludwig – The Complete Recitals on Warner Classics (0190295690205). Die Box war eine Würdigung zum 90. Geburtstag der Sängerin, die am 16. März 1928 in Berlin zur Welt kam. Die Aufnahmen sind zwischen 1957 und 1969 von der EMI meist im legendären Abbey Road Studio No. 1 produziert worden. Für mich sind diese Jahre die besten in der langen Karriere der Ludwig. Und es erweist sich im Nachhinein als eine sehr weitsichtige Entscheidung der EMI, das Hauptaugenmerk bei Recitals auf den Liedgesang zu legen. Einzelne Arien konnten auch viele ihrer Kolleginnen exzellent singen, die Begabung für Lieder war – wie bei Elisabeth Schwarzkopf oder Dietrich Fischer-Dieskau – ein kostbares Alleinstellungsmerkmal. Und noch etwas fällt auf. Nach so langer Zeit klingen die Aufnahmen, zumal schon meist in Stereo und durchweg gut aufgefrischt, überhaupt nicht historisch. Ihr Alter ist ihnen auch deshalb nicht anzuhören, weil der Stil der Sängerin jenes klassische Ebenmaß hatte, das kein rasches Verfallsdatum kennt. Schallplattenaufnahmen als Masterklasse. Junge Sängerinnen und Sänger können viel aus diesen Dokumenten lernen, wenn sie sich denn darauf einlassen.

Es gibt da noch keinerlei Verschleißerscheinungen. Die Ludwig muss nichts kaschieren. Ruhig und pastos fließt die Stimme dahin. Sie schöpft aus dem Vollen ihres farbenreichen ins Dunkle gehenden Mezzo. Alle Register sind perfekt verblendet. Sie singt immer mit einer Stimme. Immer wieder drängt sich der Gedanke an Vollendung auf. Weil sie technisch offenbar mit keinerlei Problemen zu kämpfen hat, kann sie so viel Sorgfalt und Phantasie in den Ausdruck legen. Ich kenne kein Lied, das mal eben mit links so runtergesungen ist. Immer vermittelt sich eine Botschaft, eine Mitteilung. Sie ist sehr gut zu verstehen. Routine hat bei ihr nicht die geringste Chance. Ihre Mutter, selbst eine erfolgreiche Sängerin, war ihr Lehrerin und strenge Kritikerin. Obwohl Christa Ludwig viele Opernpartien und Oratorien gesungen hat und noch mit der Callas bei der Norma im Studio war – für mich hat sie ihre bedeutendsten Leistungen als Liedsängerin erbracht.

Für jede einzelne Nummer wird akribisch belegt. Nach der Übernahme der EMI durch die Warner hat man gelernt, das zu erwartren. Zumal sich viele Sammler noch an die originalen Schallplattencover erinnern, die nun auf den CD-Hüllen im verkleinerten Format nachempfunden werden. Denn das Auge hört mit. Der künstlerische Vorteil besteht daran, dass das Konzept der einzelnen Recitals in ihrer ursprünglichen Anlage bewahrt bleibt. In dieser Zuordnung bildet sich auch die stimmliche Leistungsfähigkeit zum jeweiligen Zeitpunkt des Entstehend der Platten ab. In den meisten Fällen wurden die originalen Langspielplatten eins zu eins auf CD übernommen. Deshalb ist zwar viel Platz verschenkt. Doch besser so, als den Freiraum mit irgendwelcher Füllmasse zu schließen. Also bleibt die berühmte von Geoffrey Parsons begleitete Brahms-LP von 1969 mit etwas mehr als dreiundvierzig Minuten erhalten. Mein Lieblingslied „Von ewige Liebe“ ist dabei. Ich scheue mich nicht, es meinen Brahms’sche Tristan zu nennen. Diese schier endlose Melodie zieht einen hinein, so dass man nur schwer wieder herausfindet. Auch das ist eine Ähnlichkeit mit Wagner, die ich nicht gesucht habe. Sie drängte sich mir auf. Komplett ist das Lied von der Erde mit Fritz Wunderlich unter Otto Klemperer – eine der schönsten Musikaufnahmen, die ich kennen – übernommen, ergänzt um drei der Sieben frühen Lieder von Alban Berg mit Orchesterbegleitung durch Charles Mackerras. Sie waren wie der ebenfalls von Mackerras begleitete Gesang „An die Hoffnung“ von Max Reger und das Wesendonck-Lied „Im Treibhaus“ unter Sir Adrian Boult bisher noch nie an die Öffentlichkeit gelangt. In diese Kategorie fallen auch die Lieder „Um Mitternacht“ von Hugo Wolf, „Im Frühling“, „Dithyrambe“, „Nacht und Träume“, „Wiegenlied“, „Im Abendrot“, „Die junge Nonne“ und „Wandrers Nachtlied“ von Franz Schubert und das Weihnachtslied „Stille Nacht, heilige Nacht“. Woher die unbekannten Stücke, die die Edition so unverhofft bereichern? Sie seien „wohl aus Gründen begrenzter damaliger LP-Spielzeit wie aus Repertoire-Erwägungen des jeweiligen Produzenten“ nicht veröffentlicht worden, ist aus dem Booklet zu erfahren.

Brahms kehrt noch auf weiteren Zusammenstellungen wieder. Den früheren von Gerald Moore begleiteten Zigeunerliedern von 1959 aus dem Studio wird – was nahe liegt – der hochexpressive Livemitschnitt aus dem Jahr 1972 aus dem Wiener Konzerthaus gegenübergestellt, bei dem Leonard Bernstein den Flügel fast zum Bersten bringt. Mit dem Lied von der Erde hat sich Mahler nicht erschöpft. Es gibt auch die Lieder eines fahrenden Gesellen, die Kindertotenlieder sowie diverse Rückert– und Wunderhornlieder aus unterschiedlichen Aufnahmesitzungen, in Teilen auch mit Orchesterbegleitung. Ihr musikalischer Leiter Otto Klemperer dirigiert auch die Wesendonck-Lieder, Isoldes Liebestod aus Tristan und Isolde sowie mit der Alt-Rhapsodie noch einen Brahms. Das üppige auf mehrere CDs verteilte Schubert’sche Kontingent überragt mit seinen fast zwölf Minuten „Der Hirt auf dem Felsen“.

 

Im Gegensatz zu Warner hat sich die Deutsche Grammophon in ihrer Christa Ludwig Edition aus dem selben  Anlass für einen umfassenden Überblick ihres Wirkens aus dem eignen Katalog und ein paar Zukäufen entschieden (00289 479 9707). Reichlich Lieder auch hier. Die neunundzwanzig Schubert-Lieder mit Erwin Gage am Klavier sowie die von James Levine begleitete Winterreise sind ebenso berücksichtigt wie die Mignon-Lieder von Wolf, die Kindertotenlieder und die Rückert-Lieder mit den Berliner Philharmonikern unter Herbert von Karajan. Aus Wolfs Italienischem Liederbuch unter Daniel Barenboim sind nur ihre Titel ausgewählt. Dietrich Fischer-Dieskau wird als Partner schlicht unterschlagen. Das geht nicht, weil der Zyklus, der komplett auf CD vorliegt, erst im Wechselspiel zwischen beiden Solisten seine Wirkung und seinen Zauber entfalten kann. Nun ist es so, als würde aus einem Duett eine der beiden Seiten herausgeschnitten. Noch unglücklicher ist die Entscheidung, den Liederkreis op. 39 von Robert Schumann auf nur sechs Lieder – „Waldgespräch“, „Die Stille“, „Mondnacht“, „Schöne Fremde“, „Wehmut“ und „Im Walde“ zu stutzen. Warum? Da es im Booklet keine Erklärung dazu gibt, liegt die Vermutung nahe, dass der Liederkreis nicht vollständig eingespielt wurde. Bereits in früheren Alben war immer nur die Auswahl erschienen. Der entscheidende Hinweis findet sich in der Walter-Berry-Biografie von Elisabeth Birnbaum (Henschel) auf Seite 220: „Mit Christa Ludwig zusammen gibt es noch eine Liederplatte mit Schumanns Liederzyklus op. 39, der schon als Werk an sich wunderbar ist und in der Aufteilung der Lieder noch interessanter wird.“ Soll heißen, Berry, der damalige Ehemann der Ludwig, sang die restlichen Titel. Komplett ist der Zyklus bislang nur auf einer LP zu finden. Schon deshalb hätte es sich angeboten, ihn nun erstmals auf CD zu veröffentlichen. Unbenommen davon, ob die Aufteilung wirklich Sinn macht. Überhaupt neigt die Edition zum scharfen Schnitt. Auch bei Opern und Oratorien. Abgesehen von einigen Liedgruppen und Sammlungen sowie der von Karl Böhm dirigierten Alt-Rhapsodie von Brahms, wird auf Szenen aus Gesamtaufnahmen zurückgriffen, die alle aktuell zu haben sind und Sammler im Schrank haben dürften. Was nützen an die fünfzehn Minuten aus dem berühmten Bayreuther Tristan (Brangäne) von 1966, der erst kürzlich in zweifacher Ausführung wieder auf den Markt gelangte – nämlich als Remastering der originalen Bänder und als Blu-ray-Audio-Disc. Ohne Seltenheitswert sind die Szenen aus Cosi fan tutte (Dorabella), Le nozze die Figaro (Cherubino),  Rosenkavalier (Marschallin/alle unter Karl Böhm).

Interessanter sind da schon die Alt-Arien und Rezitative aus Bachs Matthäus-Passion. Die von Herbert von Karajan geleitete Gesamteinspielung könnte eine Neuauflage vertragen, während das Weihnachtsoratorium aus München mit Karl Richter am Pult nun wirklich zur Grundausstattung selbst der bescheidensten Sammlung gehört. Auch wegen der Ludwig. Für mich gehört es zu ihren besten Aufnahmen, weil sie sich von diversen Vorgängerinnen löst, indem sie ihre Szenen mit einem dezenten erotischen Touch versieht. Als Wagner-Sängerin tritt Christa Ludwig auch in Szenen hervor, die aus Decca-Produktionen ausgeliehen und ebenfalls weit verbreitet sind: als Fricka in der Walküre und Waltraute in der Götterdämmerung (beide unter Georg Solti) sowie ebenfalls unter diesem Dirigenten Kundry im Parsifal. Als seien eine Fricka und eine Waltraute nicht genug, werden die gleichen Szenen zusätzlich aus der Met-Produktion unter James Levine und aus dem Karajan-Ring wiederholt. Warum? Für diese Großzügigkeit wird an anderer Stelle drastisch gespart, indem sich beispielsweis ihre grandiose Judith in Bela Bartoks Blaubart auf nicht einmal zehn Minuten zusammengedampft wiederfindet. Dieser dicht gestrickte Einakter ist nun am wenigsten dazu geeignet, zerpflückt zu werden. Neugierig auf das gesamte Werke macht ein Ausschnitt aus Carl Orffs De temporum fine Comoedia (Das Spiel vom Ende der Zeiten) in der Produktion der Salzburger Uraufführung von 1973 unter Herbert von Karajan, mit der übrigens Anna Tomowa-Sintow als eine der Sibyllen ihre internationale Karriere startete. Vielleicht ist es das, was die Edition will, Neugierde wecken auf Christa Ludwig, Anstöße geben, sich wieder mit ihrer Kunst zu beschäftigen. Etwas setzt sich immer fest. Ich kann mir vorstellen, dass das scheinheilige „Reverenza!“ der Mrs. Quickly aus dem dritten Akt von Verdis Falstaff zur Anschaffung der Gesamtaufnahme führt. Und dieses „O Röslein rot“ erst, das so genannte „Urlicht“ aus der 2. Sinfonie von Gustav Mahler. Keine andere Sängerin hat das nach meiner festen Überzeugung so perfekt und sicher aus dem Stand, aus dem Nichts hervorgeholt wie die Ludwig. Hätte ich sie nicht vorrätig, ich würde umgehend zur Anschaffung der kompletten Sinfonie schreiten.

Die Edition der Deutschen Grammophon gewinnt durch die Gespräche, die der Musikautor und Stimmenkenner Thomas Voigt mit Christa Ludwig führte. In gedruckter Form steuert Voigt auch ein Interview für die Warner-Sammlung bei. Foto: Facebook

Der unschlagbare Vorteil, der letztlich auch die Anschaffung dieser Geburtstagsedition lohnt, sind die Gespräche, die der Musikautor und Stimmenkenner Thomas Voigt mit der Sängerin führt. Man findet sie zwischen Musikaufnahmen. Wie ein roter Faden ziehen sie sich durch die Sammlung, geben ihr inhaltlichen Halt und Zusammenhang. Wer so kenntnisreich fragt wie Voigt, bringt vieles heraus. Man hört auch ihm gern zu, er aber lässt der Diva immer den Vortritt. Die Ludwig dankt es mit großer Offenheit, selbstkritischen Erkenntnissen und vielen anekdotischen Geschichten. Aus dem Interview, das sich in englischer Übersetzung abgedruckt auch im Booklet findet, wird ein Austausch unter Gleichgesinnten. Zusätzlichen Lesestoff bietet ein übersetztes Interview mit James Jolly, das auch einen Zusammenhang zwischen beiden Geburtstags-Editionen herstellt. Christa Ludwig: „Als ich bei EMI exklusiv unter Vertrag war und ein Angebot von der Deutschen Grammophon bekam, war da immer ein Gerangel darum mich freizubekommen.“ Und dann habe Karajan gefragt, warum sie, die Ludwig, eigentlich exklusiv bei der EMI sei. „Nun, sie holen mich mit einer großen Limousine vom Flughafen oder Hafen ab.“ Ob sie es sich denn nicht selbst eine Taxi oder eine Limousine leisten können, habe Karajan wissen wollen. Und sie dachte: „Er hat recht, ich bin so abhängig von EMI und Walter Legge, aber ich könnte das selbst zahlen.“ Und dies sei der Grund, „warum ich von diesem Moment an – ich war vielleicht 35 damals – stets tat, was immer ich wollte.“ (Foto oben: Fayer, Wien, im Booklet der Warner-Edition, Ausschnitt). Rüdiger Winter

 

Zum 90. Geburtstag Christa LKudwigs gab es ein Buch im Wiener Amalthea Verlag: Das Motto von Hofmannsthal/Strauss‘ Marschallin zu eigen gemacht hat sich Christa Ludwig, und dazu gehört auch, nicht in der Vergangenheit verhaftet zu bleiben, sondern so sehr in der Gegenwart zu leben, dass in dem zu ihrem 90. Geburtstag  (16. März 2018) erschienenen Buch bereits auf die Me-Too-Bewegung Bezug genommen , der manchmal forciert wirkenden Empörungswelle eine schöne Gelassenheit entgegengestellt wird, ja ein Bedauern darüber, dass es nun wohl verpönt sein werde, mit den „Waffen einer Frau“ Männer dazu zu bringen, auch Karrierewünsche zu erfüllen. Nicht nur gegen die „Empörungskultur“, auch gegen jede Sentimentalität, jedes Trauern um Vergangenes wendet sich die Sängerin, schildert stattdessen sehr beeindruckend das Gefühl der Befreiung, das sie befiel, als sie zum ersten Mal kalte Winterluft tief einatmete in dem Bewusstsein, nie mehr Rücksicht auf ihre Stimme nehmen zu müssen. Zu dieser hat sie ein sehr besonderes Verhältnis, das in einem Dialog seinen Ausdruck findet, ein von Ehrfurcht vor dem Geschenk, das Christa Ludwig gewährt wurde, geprägte, auch von einer Art Hassliebe bestimmte Auseinandersetzung mit ihrer Kunst, die gleichzeitig Erfüllung und dauernde Einschränkung bedeutete. Immer wieder wird das Singen als gleichermaßen Traum wie Albtraum beschrieben.

Wer sich für Christa Ludwigs Buch interessiert weiß natürlich, dass es bereits ihr zweites ist, das das erste den Titel „—ich wäre so gern Primadonna gewesen“ hat. In ihm konnte sie über ihre Karriere berichten, nach ihm passierte in dieser Hinsicht nichts mehr, beschränkt sich die künstlerische Tätigkeit auf das Lehren, das Rezitieren, auf öffentliche Gespräche. Aus dem Dilemma, sich wiederholen zu müssen, befreit sie die Zweiteilung des Buches in Abschnitte in der Ich-Form und solche in der dritten Person, für die die Autoren Erna Cuesta und Franz Zoglauer verantwortlich sind. Während die von Christa Ludwig selbst verfassten Abschnitte den Leser durch ihre Spontaneität, ihre Unmittelbarkeit und ihre offensichtliche „unerschrockene Ehrlichkeit“ direkt ansprechen, erscheinen die der beiden Autoren streckenweise klischeehaft und sich beim Leser anbiedernd. Auch ist einiges schon allzu bekannt wie die Sexverbote für Tenöre und den Unterschied zwischen der Berliner Busenquetsche und dem Wiener Brustleiberl. Das mindert den Wert des Buches aber kaum, denn es gibt viel zu erfahren, so über den Konkurrenzkampf zwischen der Ludwig und ihrem ersten Ehemann Walter Berry, den angeblichen oder tatsächlichen zwischen Karajan und Bernstein, dreistündige, zur Stimmkrise führende Kundry-Schreie für die Schallplatte, Kritikerstimmen, die Bedeutung der Sopranrollen Ariadne oder Fidelio für die Gesundheit der Stimme, das Eingeständnis, dass trotz der Bekanntschaft mit Carmen  bereits im Mutterleib die ihre mit einigem Recht als „Trotzköpfchens  Zigeunerhochzeit“ kritisiert wurde.

Zu Herzen gehen die Worte der Ludwig über den Liedgesang, schmunzeln kann man, wenn sie Wieland Wagner als „radikalen Regisseur“ bezeichnet, nachdenklich macht ihre Behauptung, eine „spießige Verbürgerlichung“ habe zur Ausrottung der Gattung Paradiesvogel unter den Opernsängern geführt.  Unter den Politikern will sie immerhin in Silvio Berlusconi einen solchen erkannt haben.  Das verwundert etwas, da sie selbst doch frei von den dazu gehörenden Starallüren war. Natürlich fehlt auch nicht eine nur allzu begründete Kritik am modernen Regietheater.

Warum der Untertitel „Erinnerungen an die Zukunft“ heißt, erklärt die Ludwig im Vorwort zu ihrem zweiten und vielleicht nicht letzten Buch: “Ich fühle mich immer noch auf dem Weg.“

Ein wahrer Schatz sind die aus dem Privatbesitz von Christa Ludwig stammenden zahlreichen Fotos. Als nicht minder wertvoll erweisen sich die Biographische Zeittafel, das Rollenverzeichnis, das Literaturverzeichnis und das Namenregister (Amalthea Verlag 2018; ISBN 978 3 99050 122 1). Ingrid Wanja      

Einbruch in Frauendomäne

 

Besitzer von Aufnahmen mit Schwarzkopf, Jurinac, Grümmer, Della Casa und vielen, vielen, vielen anderen Sopranen gehen die Augen über: Im Abendrot! Unter eben diesem Titel legt der Bariton Matthias Goerne seine neue CD bei Deutsche Grammophon vor (486 0274). Sollte auch er sich das getraut haben? Er hat. Mit dem gleichnamigen Lied ist er in eine Frauendomäne eingebrochen. Es ist ja der Abschluss der Vier letzten Lieder von Richard Strauss, die am 22. Mai 1950 in der Royal Albert Hall in London von Kirsten Flagstad unter der Leitung von Wilhelm Furtwängler uraufgeführt wurden – acht Monate nach dem Tod Komponisten. Der BBC-Mitschnitt hat sich erhalten ist bei Testament veröffentlicht worden. Unmittelbar auf die Flagstad folgte Sena Jurinac, zwei Jahre später setzten Elisabeth Schwarzkopf und Lisa Della Casa mit ihren Interpretationen Maßstäbe, die bis in die Gegenwart nachwirken. Unter den mehr als achtzig offiziellen Einspielungen ist kein Mann zu finden. Goerne ist nicht der erste, der nach dem berühmten Zyklus greift. Jonas Kaufmann ließ sich damit bereits vor einigen Jahren in Wien hören. Und das war gewöhnungsbedürftig genug.

Einem Bariton aber, der den Wotan singt, sind die Ausdrucksmittel für diese subtilen und äußerst fein ziselierten Kompositionen nicht in die Wiege gelegt. Er muss sie sich hart erkämpfen. Erschwerend kommt die Klavierbegleitung hinzu. Kann ein Orchester gewisse Defizite gnädig verhüllen, vermag ein Pianist diese Hilfestellung nicht zu geben. Der Sänger ist auf sich gestellt. Goerne hat den Mut aufgebracht, sich darauf einzulassen. Seine Fans, und die sind bekanntlich zahlreich, werden ihn dafür den nötigen Respekt zollen. „Wir sind durch Not und Freude gegangen Hand in Hand.“ Sprachlich gesehen ist der Auftakt für Interpreten eine Prüfung. Goerne besteht sie nur eingeschränkt, denn er haucht den Konsonanten W des Wörtchens „wir“ an, um ihn dann doch nicht wirkungsvoll zu Klingen zu bringen. Zwischen den erste Buchstaben und das darauf folgende I schiebt er ein H. Ein gestandener Profi wie er sollte eigentlich ohne diesen Griff in die Trickkiste auskommen. Wer ihm das nicht ankreidet, wem es gelingt, das Lied ohne seinen zyklischen Bezug vereinzelt wahrzunehmen, wird durchaus Freude daran finden. An Atmosphäre fehlt es nicht. Goerne nimmt die Stimme zurück, dass sie sogar zu schweben beginnt. Er weiß um die Wirkung von mezza voce. Und in seinem Flügel lässt der Pianist Seong-Jin Cho die letzten Takte so verhauchen als seien sie nie mit einem Orchester in Berührung gekommen. Es bleibt nicht beim Strauss’schen Abendrot. Vorangegangen sind Traum durch die Dämmerung, Morgen!, Ruhe, meine Seele und Freundliche Vision – allesamt ebenfalls originäre Orchesterlieder. Ich bekenne freimütig, auch sie lieber mit einer Sopranistin zu hören. In seinem Element ist er beim grüblerischen Hans Pfitzner. Acht seiner Lieder bilden den zentralen Block des Programms der im Studio produzierten CD. Sehnsucht und Wasserfahrt verlangen nach dem Heldenbariton Goerne. Und dem hört man denn auch die strapaziösen Wotane an. In sich gekehrten Titel wie An die Mark, die depressive Zustände streifen, gelingen stimmlich und darstellerisch am besten.

Man hat sich bereits daran gewöhnt, dass Männer auch Richard Wagners Wesendonck-Lieder beanspruchen. Ungeachtet dessen, dass es sich nach Text und Empfindung um klassische Frauenlieder handelt. Dafür muss nicht einmal der konkrete biografische Entstehungsbezug ins Feld geführt werden. Es scheint kein Zufall, dass solche diametralen Repertoire-Aneignungen in eine Zeit fallen, in der Genderfragen mit Macht auf die Tagesordnung rücken. Traditionelle Geschlechtertrennungen und Rollenverteilungen werden in infrage gestellt – ohne Rücksicht darauf, ob der Inhalt eines konkreten Kunstwerken solches Verfahren hergibt. Welcher Tenor, Bariton oder Bass wird sich als erster über Schumanns Frauenliebe und -leben hermachen oder in die Rolle des Gretchen am Spinnrade schlüpfen? Man darf gespannt sein. Dieses CD-Programm selbst ist nur durch die Zusammenstellung ungewöhnlich, nicht aber durch die berücksichtigten Lieder, die oft gesungen und eingespielt werden. Es fällt auf, dass Goerne mit Atemproblemen zu kämpfen hat. Er muss oft ganz tief und sehr hörbar Luft saugen, um eine Phrase durchhalten zu können. Bei Pfitzner weniger als bei anderen Programmteilen. Ich frage mich, ob man da mittels Aufnahmetechnik nicht hätte etwas abmildern bzw. ausgleichen können. Rüdiger Winter

Die Suche nach „ihr“

 

„Aber was ist mir IHR?“ Diese Frage stellte sich Joyce DiDonato, nachdem sie Yannick Nézet-Séguin dazu überredet hatte, mit ihm gemeinsam Franz Schuberts Winterreise aufzuführen. Davon später. Nézet-Séguin ist nur im Nebenjob Pianist. Hauptberuflich bekleidet er gleichzeitig die Funktion als Musikdirektor der Metropolitan Opera in New York, des Philadelphia Orchestra und des kanadischen Orchestre Métropolitain. Viel mehr geht nicht. Nézet-Séguin ist gebürtiger Kanadier und sechs Jahre jünger als seine 1969 geborene Kollegin. „Du musst dich aber wirklich angesprochen fühlen“, hatte er gedrängt. „Du musst dich stark dazu berufen fühlen, diese Welt zu betreten und einige Zeit darin zu leben“, wird er von der Mezzosopranistin weiter zitiert. Nachzulesen sind seine sehr berechtigten Mahnungen im Booklet des Mitschnitts eines Konzerts vom 15. Dezember 2019 in der New Yorker Carnegie Hall, der bei Erato erschienen ist (01995284145). Es sei ihr trotz großer Anstrengungen nicht gelungen, in die Welt des Protagonisten hineinzufinden. „Es war keine Frage des Geschlechts“, so die Sängerin. Schließlich sei sie daran gewöhnt, auf der Bühne Hosen zu tragen. Stattdessen habe sich ihr die Frage aufgedrängt, die am Beginn dieses Textes steht: „Aber was ist mir ihr?“

Auf der Suche nach „ihr“: Joyce DiDonato und ihr Begleiter am Klavier Yannick Nézet-Séguin/ Foto Chris Lee/Erato

Gemeint ist das Mädchen, welches gleich im ersten Lied der Winterreise von Liebe, die aber Mutter gar von Eh‘ und damit wohl auch für ehrbare gesellschaftliche Verhältnisse spricht. Seine Spur verliert sich im Voranschreiten des Liederzyklus. Dichter Wilhelm Müller lässt das Schicksal des Mädchens, dessen Profil immer mehr verschwimmt, offen. Und es darf die Frage erlaubt sein, ob es sich überhaupt um eine Gestalt mit literarischem Wirklichkeitsbezug handelt in dieser Geschichte aus „schauerlichen Liedern“, wie Schubert seine Winterreise selbst bezeichnet hatte? Oder dient das Mädchen mehr als Projektionsfläche, auf der der Wanderer sein inneres Elend, das Leiden an seiner Zeit abbilden kann? Müller, gerade mal sechsundzwanzig, war 1819 von einer langen Reise durch Italien, diesem Sehnsuchtsort deutscher Künstler, in die Heimat zurückgekehrt. Ohne Aussicht auf einen festen Broterwerb. Auf die Befreiungskriege waren die Karlsbader Beschlüsse gefolgt, mit denen die maßgeblichen Staaten des Deutschen Bundes liberale und nationale Bewegungen zu unterdrücken trachteten. Müller: „Das Vaterland hat mich mit Reif und Schnee und Nebel begrüßt …“ Das sei noch zu ertragen, „aber die Philisterei …“ Mit diesen Äußerungen ist seine Winterreise fest umrissen. Ihre Verse entstanden zwischen 1821 und 1822. „Aber was ist mir IHR?“ Schauen wir genauer hin. In zehn von vierundzwanzig Liedern kommt eine junge Frau vor. Im zweiten Lied spielt zunächst der Wind „mit der Wetterfahne auf meines schönen Liebchens Haus“. Im heutigen Sprachgebrauch hat Liebchen – wenn es denn überhaupt noch Verwendung findet – eine ins Negative gehende Konnotation. Zu Müllers Zeiten dürfte das anders gewesen sein. Die Brüder Grimm, Zeitgenossen von Müller, vermerkten in ihrem großen Wörterbuch einen zunehmend allgemeinen Gebrauch des Wortes. Goethes Faust nennt Margarethe Liebchen und in Bürgers berühmter Ballade Lenore fragt der als Toter heimkehrende Wilhelm die Braut: „Schläfst, Liebchen, oder wachst du?“ Und Luther nannte sich in einem Brief an seine Frau scherzhaft selbst Liebchen.

Das namenlose Mädchen in träumerischer biedermeierlicher Pose, gemalt von Ludwig Richter, der die Verse von Wilhelm Müller illustrierte. Foto: OBA

Im Lied Erstarrung sucht der Wanderer „nach ihrer Tritte Spur“, die von Eis und Schnee verweht sind. Die süßen Träume unter dem Lindenbau sind unbestimmter Zuordnung: „Ich schnitt in seine Rinde / So manches liebe Wort; / Es zog in Freud’ und Leide zu ihm mich immerfort.“ Wenn aber das Posthorn „von der Straße her klingt“, macht sich alsbald bittere Enttäuschung breit. Die Post bringt keinen Brief aus der Stadt, „wo ich ein liebes Liebchen hatt‘“. Und wieder fällt manche Trän‘ in den Schnee, die im Frühling zum Bache anschwellen, der an einer ganz bestimmten Stelle die Stadt erreicht: „Da ist meiner Liebsten Haus.“ Der Wanderer ist Auf dem Flusse angelangt. Der Fluss, symbolträchtig und bedeutungsschwer in Mystik und Literatur. Er führt Leben und Fruchtbarkeit mit sich, zugleich aber auch totbringende Gefahr. Menschen lassen sich in seine Tiefen fallen, um ihrem Leben ein Ende zu setzen. In der Winterreise ist der Fluss zugefroren, wie „mit harter, starrer Rinde … überdeckt“. Der Wanderer gräbt „mit einem spitzen Stein“ den Namen seiner Liebsten und Stund‘ und Tag hinein: Den Tag des ersten Grußes, / Den Tag, an dem ich ging, / Um Nam‘ und Zahlen windet / Sich ein zerbrochner Ring“. Der Rückblick fällt bitter aus für unseren Wanderer. Immer und immer wieder ruft er sich – einer Hoffnung gleich – die Bilder aus besseren Tagen herauf. „Wie anders hast du mich empfangen / Du Stadt der Unbeständigkeit. – Die runden Lindenbäume blühten, / Die klaren Rinnen rauschten hell, / Und ach, zwei Mädchenaugen glühten / Da war’s geschehen um dich, Gesell.“ An dieser Stelle verlässt er die Perspektive des Ich-Erzählers. Er, der Gesell, wird zur zweiten Person. Dadurch gewinnt er Abstand und Distanz. Die Folge ist, dass in den nächsten fünf Liedern – Der greise Kopf, Die Krähe, Letzte Hoffnung, Im Dorfe und Der stürmische Morgen – das Mädchen selbst keine Rolle spielt. Es kommt nicht vor. Plötzlich taucht „ein helles, warmes Haus“ auf – „Und eine liebe Seele drin“. Es sollte sich aber wieder als Täuschung erweisen. Erst sechs Lieder weiter – im Frühlingstraum – kehrt das Bild „von einer schönen Maid“ zurück. Jetzt träumt der Wanderer nur noch „von Lieb‘ um Liebe… / Von Herzen und von Küssen, / Von Wonn‘ und Seligkeit“, als habe er derlei nie selbst erfahren. Noch zwei Lieder trennen ihn vom Leiermann „drüben hinterm Dorfe“, den keiner hören und sehen will, den die Hunde anknurren. „Wunderlicher Alter, / Soll ich mit dir gehen? Willst zu meinen Liedern / Deine Leier drehn?“

Joyce DiDonato dürfte von vornherein klar gewesen sein, dass es schwer würde, ihren ambitionierten Ansatz singend darzustellen. Und doch unternimmt sie den hörenswerten Versuch. In jenen Momenten, in denen dieses Mädchen direkt oder indirekt in Erscheinung tritt, passt sie Stimme und Ausdruck den jeweiligen Situationen an. Dies geschieht aber äußerst diskret und nie vordergründig. So zeigt sich das Bild dieses Mädchens mal in zarten Umrissen, mal als Gedanke, mal wie in einen unbestimmten Sehnsuchtsschimmer eingehüllt. Der Wanderer ist dann nicht mehr allein. Sein Schicksal teilt sich weniger erbarmungslos mit – auch wenn sich die Interpretin nicht davor scheut, dramatische Härten auch schon mal veristisch deutlich zu machen. Wer in den konzeptionellen Ansatz der Sängerin nicht eingeweiht ist, ihre schriftlich dargelegten Gedanken nicht zur Kenntnis nahm, dürfte der betont lyrisch-weibliche Ansatz mit der Hinwendung zu der namenlosen jungen Frau nicht entgehen. Nézet-Séguin lässt sich am Flügel auf das Konzept ein. Er hält sich mit auffälligen eigenen Ambitionen und Akzenten zurück, lässt stets der Sängerin den Vortritt. Er dürfte – ganz Künstler und Gentleman – akzeptiert haben, dass sich seine singende Kollegin dem Liederzyklus am Ende doch ganz anders angenähert hat als er es ihr zu Beginn der Zusammenarbeit geraten hatte. Insofern spielt er seine Rolle als professioneller klassischer Begleiter sehr gut.

Wilhelm Müller (1794-1827), der Dichter von Schuberts Liederzyklus. Der Stich stammt von Johann Friedrich Schröter. Foto: Wikipedia

Mit der Neuerscheinung stelle sich die alte Frage, ob es überhaupt Sinn macht, dass Frauen beim Liedgesang in die Männerrollen schlüpfen und umgekehrt. Joyce DiDonato hat eine ganz neue Möglichkeit aufgetan, indem sie den berühmtesten aller Liederzyklen nicht einfach nur so darbot, wie es ihre Stimme hergibt. Sie bot mehr, indem sie ein eigenes inhaltliches Konzept entwickelte, das Werk auf eine so überraschende wie naheliegende Weise befragt: „Aber was ist mir ihr?“ Schon frühzeitig haben sich Sängerinnen der Winterreise bemächtigt. Lotte Lehmann ist das älteste Beispiel, 1950 trat die Afroamerikanerin Inez Matthews mit ihrer in Europa wenig bekannt gewordenen Einspielung bei Period Records hinzu. Zu den prominentesten Interpretinnen der Neuzeit gehören Christa Ludwig (Deutsche Grammophon), Brigitte Fassbaender (EMI), Margret Price (Forlane) und – man möchte es nicht glauben – Barbara Hendricks (Arte Verum). Rosemarie Lang spielte ihre Aufnahme bei DS/WDR ein, Lois Marshall bei CBC Records Canada, Mitsuko Shirai bei Capriccio. In der akustischen Hinterlassenschaft von Kirsten Flagstad stößt man auf die Krähe, die Post und den Wegweiser. Die im Liedschaffen sehr bewanderte Elisabeth Schwarzkopf – auch das ist eine Information – hat aus gutem Grund auf Lieder aus der Winterreise gänzlich verzichtet.

Winterreise mit Frauenpower verbreiten jüngst in der Produktion von Et’Cetera gleich fünf Solistinnen auf einmal: Wendeline van Houten, Merlijn Runia, Jannelieke Schmidt, Nikki Treurniet und Ellen Valkenburg, die sich am Königlichen Konservatorium Den Haag kennenlernten und zum Ensemble Coco Collektief zusammengeschlossen haben. Sie treten auch einzeln in Opern und mit Liedprogrammen auf. Ihr Pianist ist Maurice Lammerts van Bueren, der die Bearbeitung für diese ungewöhnliche Besetzung geschaffen hat. Er ist sich über das Risiko im Klaren. Wenn man die Winterreise, die „für viele Musikliebhaber mehr oder weniger heilig ist, arrangiert“, habe man das Gefühl, sich aufs Glatteis zu begeben. „Doch es geht beim Arrangieren selten um ein Verbessern des Originals. Vielmehr geht es um neue Ansätze, um eine Fassung, die neben dem Original bestehen kann.“ Daran sind Zweifel angebracht. Wenn Schubert seine Winterreise mehrstimmig hätte haben wollen, hätte er sie so komponiert. Durch die Bearbeitung wird die Struktur ohne jeden Mehrwert zerstört. Der gut gemeinte Versuch, der live noch eher vorstellbar ist als im Studio, wird zur formalen Spielerei, zumal die Stimmen der Solistinnen in ihrer dissonanten Unterschiedlichkeit, die gewollt zu sein scheint, dem Zyklus keinen Halt geben. Die Winterreise ist durch die Vielzahl von Aufführungen womöglich überstrapaziert. Überfluss verführt zu Experimenten, die schnell ins Leere laufen. Wenn aber die Neuerscheinung zur Beschäftigung mit dem Original anregt, dann hat sie auch einen Zweck erfüllt.

Die französische Altistin und Dirigentin Nathalie Stutzmann ist die einzige Sängerin, die nicht davor zurückschreckte, gleich alle drei Zyklen von Schubert, nämlich WinterreiseDie schöne Müllerin und Schwanengesang einzuspielen. Die Aufnahmen, die zwischen 2003 und 2008 entstanden, sind gebündelt bei Erato herausgekommen, wunderbar und sehr präsent im Klang. Für die Begleitung ist Inger Södergren zuständig, der die Sängerin nach eigenem Bekunden sehr viel zu verdanken hat. Ohne die Begegnung mit ihr, hätte sie „vielleicht niemals die Liederzyklen von Schubert aufgezeichnet“, sagt sie in einem Interview, das im Booklet abgedruckt ist. Darin wird sie auch gefragt, „ob auch andere Altistinnen Schubert aufgezeichnet haben“. Antwort: „Ich habe danach gesucht, ohne Erfolg …. Kathleen Ferrier hätte es hervorragend machen können, doch vielleicht wagte sie es nicht; schließlich sprechen wir von einer Zeit, in der es für Frauen nicht zum guten Ton gehörte, Lieder mit männlichen Erzählfiguren zu singen.“ Und weiter im Interview: „Die Dinge haben sich seither ein wenig geändert, auch wenn es immer noch einige hartnäckige Frauenfeinde gibt! Doch würde man sich um die kümmern, wäre das solistische Repertoire der Frauen überaus beschränkt.“ Nathalie Stutzmann gibt sich kämpferisch. Das ist ihr gutes Recht. Nur hat sie nicht so ganz Recht. Wer würde schon den Frauen ihr Repertoire streitig machen wollen? Die vielen mit Sängerinnen eingespielten und aufgeführten Winterreisen – bei weitem nicht alle sind weiter oben aufgeführt – sprechen dagegen. Und jetzt auch noch Joyce DiDonato. Rüdiger Winter

Zwischen Wagner und Strauss

 

Eine Lücke, die den meisten Klassikfreunden gar nicht bewusst sein dürfte, schließt die über 800-seitige Monographie Alexander Ritter. Leben und Werk eines Komponisten zwischen Wagner und Strauss, welche vom Autor Michael Hofmeister zugleich als Dissertation an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main eingereicht wurde. 1833 im seinerzeit kaiserlich russischen, heute estnischen Narva geboren, stand Ritter von Kindestagen an, die er in Dresden verlebte, im Banne des zwanzig Jahre älteren Richard Wagner. Später, 1854, sollte er Wagners Nichte Franziska heiraten. Ritters Mutter Julie ermöglichte Wagner mittels ihrer pekuniären Zuwendungen gar zeitweise sein Auskommen im notwendig gewordenen Exil in der Schweiz. Den späteren Bayreuther Meister lernte Ritter persönlich erst 1861 kennen. Er verkehrte im Kreise von Franz Liszt, Hans von Bülow und Peter Cornelius und wurde zu einem frühen Förderer von Richard Strauss. Seit seinem Tode im Jahre 1896 in München verblasste sein Nachruhm indes zusehends, so dass er mittlerweile nur mehr Insidern überhaupt etwas sagt.

Das vorliegende Buch könnte das endlich ändern. Die Monographie untergliedert sich in drei Großkapitel. Bei den Voraussetzungen wird auf den Forschungsgegenstand Ritter eingegangen, die primären und sekundären Quellen sowie den Werkbestand und die Überlieferung. Das Gros des Buches macht freilich das zweite Großkapitel Alexander Ritter – Stationen seines Lebens und Schaffens aus, beinahe 650 Seiten stark. Eine knappe Schlussbetrachtung beschließt den eigentlichen Text. Sehr nützlich das angehängte, gut 70-seitige Alexander-Ritter-Werkverzeichnis (ARWV). Abgerundet wird diese Fleißarbeit durch eine minutiöse Auflistung der Editionen (Artikel und Notizen, unveröffentlichte Briefe) und Verzeichnisse (Abkürzungen, Abbildungen, Quellen, Sekundärliteratur, Personenregister).

Der Hauptteil orientiert sich chronologisch am Leben Ritters. Sein Weg zur Musik und die ersten Kontakte zu Liszt und Wagner gehen von der Kindheit in Narva (1833-1841) über die Jugendzeit in Dresden (1841-1849) bis hin zu seinem Wirken als „Conservatorist“ in Leipzig (1849-1851). Auf eine Rückkehr nach Dresden (1851-1854) folgte die fruchtbare Weimarer Episode (1854-1856) inmitten des Kreises um Franz Liszt; hier entstanden Ritters erste Kompositionen. Über Stettin (1856-1858) ging es abermals nach Dresden (1858-1860) und Leipzig (1860-1863). Bereits hier deutete sich eine Rastlosigkeit an, die Ritters Leben auch später bestimmen sollte. Wiederholt musste er sich trotz zeitweiliger Erfolge das eigene Scheitern eingestehen, versuchte sich in Würzburg zu etablieren, wo er die Jahre 1863-1867, 1870-1872 und 1873-1882 zubrachte. Diese fast zwei Jahrzehnte wurden immer wieder unterbrochen durch glücklose Bestrebungen, sich andernorts niederzulassen. Ob München, Berlin oder besonders als „Stadtmusikdirector“ in Chemnitz (1872/73) – es wollte nicht gelingen. Die späten Meininger Jahre (1882-1886), wo er an der Seite Hans von Bülows wirkte, bereicherten Ritters eigenes Œuvre. Hier traf er auch auf den blutjungen Richard Strauss, den er zeitweise durchaus beeinflusste. Nicht ausgespart wird Ritters Antisemitismus, der sich etwa im schwierigen Verhältnis zum Dirigenten Hermann Levi zeigte.

Als Wagner-Vermittler und Wegbegleiter von Strauss verbrachte Ritter sein letztes Lebensjahrzehnt in München, wo er in der sogenannten „Ritterschen Tafelrunde“ neben der Wagner- auch Liszt-Pflege betrieb. Obwohl sich Ritter für den jungen Strauss mächtig ins Zeug legte, u. a. nachträglich das programmatische Gedicht zu dessen Tondichtung Tod und Verklärung verfasste und ihm den Stoff für dessen erste Oper Guntram nahebrachte, kam es zum Zerwürfnis. Indes setzte sich Strauss seinerseits postum wiederum für Ritter ein, nannte sogar seinen Sohn ihm zu Ehren Franz Alexander und bekundete, dass er Ritter geliebt habe. In seiner Zeit als Wiener Staatsoperndirektor erwog Strauss noch Mitte der 1920er Jahre, eine Ritter-Oper aufzuführen; freilich kam es niemals dazu. Es ist ein Jammer, dass sich die Tonträgerindustrie bis zum heutigen Tage der Werke Alexander Ritters nicht angenommen hat (mit Ausnahme von Thorofon mit dem Melodram Graf Walther und die Waldfrau für Sprecher und Klavier nach einem Text von Felix Dahn – auch musikalisch mit Tannhäuser-Anklängen). Diese umfassen in erster Linie Klavierlieder, wobei Texte u. a. von Heine, Eichendorff, Cornelius, Rückert und Lenau Pate standen. Daneben gibt es an solistischer Vokalmusik orchestrierte Lieder, geistliche Gesänge und Melodramen. Große Chorwerke wie die Hymne an das Licht stehen neben Orchesterwerken, darunter die sinfonische Dichtung Erotische Legende und die Symphonische Trauermusik Kaiser Rudolfs Ritt zum Grabe. Zwei Opern, jeweils in einem Akt, krönen sein Werkverzeichnis: Der faule Hans nach Felix Dahn, mit Widmung an Liszt, von 1885 sowie Wem die Krone? nach Karl Ferdinand Dräxler-Manfred, Strauss gewidmet, von 1890. Es wäre zu wünschen, dass diese ausgezeichnete Monographie ihren Teil dazu beiträgt, ein Klassiklabel endlich auch auf die Kompositionen von Alexander Ritter aufmerksam zu machen. Daniel Hauser

 

Michael Hofmeister: Alexander Ritter. Leben und Werk eines Komponisten zwischen Wagner und Strauss (= Frankfurter Wagner-Kontexte, Bd. 1), Baden-Baden 2018, Tectum Verlag, 807 Seiten, ISBN: 978-8288-4138-3.

James Levine

 

Er war der bedeutendste US-amerikanische Dirigent seit Leonard Bernstein und doch beherrschte er zuletzt aufgrund von Missbrauchsvorwürfen die Schlagzeilen. James Levine, geboren am 23. Juni 1943 in Cincinnati, Ohio, galt bereits früh als Überflieger. Sein Debüt – allerdings als Pianist – erfolgte schon 1954 mit dem Cincinnati Symphony Orchestra. Es folgte Klavierunterricht bei niemandem Geringeren als Rudolf Serkin. Gleichwohl schlug er nach dem Besuch der renommierten Juilliard School of Music in New York (1961-1964) vornehmlich die Dirigentenlaufbahn ein. Einen ersten Höhepunkt stellte die Lehrzeit beim berühmt-berüchtigten George Szell und „seinem“ Cleveland Orchestra dar, den er zwischen 1965 und 1970 als Assistenzdirigent unterstützen durfte.

Von da an ging es Schlag auf Schlag. Es folgten erste Gastdirigate bei so berühmten Klangkörpern wie dem Philadelphia Orchestra und dem Chicago Symphony Orchestra. Sein Debüt am Metropolitan Opera House in New York City fand im Juni 1971 mit Tosca statt. Bereits 1973 wurde er, gerade 30-jährig, zum Chefdirigenten der Met berufen. 1976 schließlich wurde er dortiger Musikdirektor, was er bis 2016 bleiben sollte, und amtierte von 1986 bis 2004 zusätzlich auch als künstlerischer Leiter, womit seine Macht ins Unermessliche stieg. 85 Opern und über 2.500 Aufführungen leitete er in all den Jahrzehnten bis zu seinem letzten Auftritt im Dezember 2017 an der Met. Trotz seiner Opern-Omnipräsenz blieb Levine immer auch als Konzertdirigent im Geschäft und machte sich gerade als Mahler-Interpret einen Namen.

Der junge James Levine/courtesy of Ravinia Festival

Seine musikalische Beschäftigung abseits der Oper fand in den Chefdirigentenposten bei den Münchner Philharmonikern (1999-2004) und beim Boston Symphony Orchestra (2004-2011) ihren Höhepunkt (zuvor hatte er schon von 1973 bis 1993 das sommerliche Ravinia Festival des Chicago Symphony Orchestra geleitet). Allerdings blieben sowohl seine Münchner als auch seine Bostoner Chefdirigentenzeit vor allem auch wegen seiner häufigen, nicht zuletzt gesundheitlich bedingten Absenzen in Erinnerung. Anfang des 21. Jahrhunderts galt er als der bestverdienende Dirigent Amerikas. Daneben war er gern gesehener Gastdirigent bei den Wiener und Berliner Philharmonikern, bei der Staatskapelle Dresden sowie beim Philharmonia Orchestra in London. Sowohl bei den Salzburger als auch bei den Bayreuther Festspielen und zuletzt beim Verbier Festival gehörte er jahrelang gewissermaßen zum unverzichtbaren Inventar.

In Bayreuth dirigierte Levine unter ganz überwiegenden Lobeshymnen zunächst den Parsifal (1982-1985, 1988-1993) und anschließend den Ring des Nibelungen (1994-1998). Nachdem er sich aus München zurückgezogen hatte, machte er sich rar in Europa. Seine nachlassende Gesundheit zwang ihn bereits von 2011 bis 2013 zu einer Zwangspause. Bald nach seiner kaum mehr für möglich gehaltenen und umso mehr gefeierten Rückkehr auf das Podium beendeten Ende 2017 öffentlich gemachte, freilich schon lange zuvor gerüchteweise kolportierte Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs männlicher Jugendlicher seine aktive Karriere; der ihm 2016 verliehene Ehrentitel des emeritierten Musikdirektors der Metropolitan Opera wurde ihm wieder entzogen. Eine außergerichtliche Einigung zwischen Levine und der Met, deren Details nicht bekannt wurden, kam 2019 zustande (die Rede war von einer Abfindung in Millionenhöhe). Tatsächlich scharte er schon zu seiner Zeit in Cleveland einen fast kultischen Kreis ihm höriger „Leviniten“ um sich. Bis zuletzt wollte der stark angeschlagene Levine weiter dirigieren und hatte auch tatsächlich einen Auftritt beim italienischen Maggio Musicale Fiorentino 2021 in Aussicht. Dazu sollte es nicht mehr kommen. Wie die New York Times berichtet, ist James Levine bereits am 9. März 2021 in Palm Springs, Kalifornien, im Alter von 77 Jahren verstorben.

James Levin, jahrelang an der Met als Chef, dirigierte auch viele Opernaufnahmen, hier die „Adriana Lecouvreur“ mit Renata Scotto, der er zu großem Rum an der Met verhalf/ Sony

Levines Vermächtnis auf Tonträgern sowohl im Opern- als auch im sinfonischen Bereich ist gewaltig. Hervorzuheben ist unbedingt sein Mahler. Die Sinfonien Nr. 1, 3, 4, 5, 6, 7, 9 und 10 spielte er für RCA ein, Das Lied von der Erde (mit Jessye Norman und Siegfried Jerusalem) für die Deutsche Grammophon. Der Zyklus kann durch Live-Aufnahmen ergänzt werden: Eine phänomenale zweite Sinfonie mit den Wiener Philharmonikern sowie Kathleen Battle und Christa Ludwig (Orfeo) ist nach wie vor problemlos erhältlich; ein Mitschnitt der Achten aus Boston war zeitweise zumindest als offizieller Download zu beziehen. Neben je zwei Zyklen der vier Schumann- und Brahms-Sinfonien (RCA und DG) hat Levine eine sehr beachtliche Einspielung sämtlicher Sinfonien von Mozart, die einzige solche Gesamteinspielung durch die Wiener Philharmoniker überhaupt, vorgelegt (DG). Es ließe sich sinfonisch Unzähliges mehr hinzufügen, so auch Le Sacre du printemps und Bilder einer Ausstellung (DG), wo das Met-Orchester seine orchestrale Überlegenheit auch in ungewohntem Repertoire unter Beweis stellen konnte – überhaupt ein Verdienst der Ära Levine, der den einst ziemlich mediokren Klangkörper überhaupt erst zu Weltklasseniveau geführt hat. Im Opernfach fällt eine komprimierte Auswahl aufgrund der schier endlosen Hülle und Fülle noch schwerer. Für Levines Expertise in Sachen Wagner steht zuvörderst der Bayreuther Parsifal von 1985 (Philips), der vor allem wegen des monumentalen Dirigats in jeder Wagner-Kollektion seinen Ehrenplatz haben sollte. Ein mittlerweile legendärer Mitschnitt von Berlioz‘ Les Troyens aus der Met von 1983, bei der DG auf DVD erschienen, sollte hier ebenso genannt werden (es singen u. a. Tatiana Troyanos, Jessye Norman und Plácido Domingo). Wirklich vorzüglich gelungen ist auch die selten gespielte frühe Verdi-Oper Giovanna d’Arco (EMI), wo man mit Fug und Recht bis heute von einer Referenz sprechen darf (in den Hauptrollen Montserrat Caballé, Plácido Domingo und Sherrill Milnes). In die erste Liga gehört auch Rossinis Il barbiere di Siviglia mit Gedda, Sills, Milnes und Raimondi (EMI). Es ließe sich viel ergänzen. Unter einem gewissen Niveau war keine von Levines Einspielungen; krankte es an etwas, dann eher an der Sängerbesetzung. In der vierzigjährigen Ära Levine wurde das Met-Orchester zum ebenbürtigen Begleiter und überstrahlte das Vokalensemble zuweilen gar an Glanz, zumal in den späteren Jahren. Es wäre wünschenswert, erschiene der gebündelte diskographische Nachlass von James Levine bei den diversen Labels abermals in ansprechenden und gut aufbereiteten großformatigen Boxen (Foto oben Tagesschau). Daniel Hauser

Leichte Kost als hohe Kunst

 

Peter Schreier musste sich oft anhören, dass seine internationale Karriere erst nach dem Unfalltod von Fritz Wunderlich so richtig Fahrt aufnahm. Fakten sprechen dafür, die tragischen Umstände aber dürften ihm genauso nahegegangen sein wie dem Rest der Welt. Beide kannten sich. Ein zweiter Wunderlich aber wurde Schreier nie, wollte das auch wohl nicht. Warum auch? In der DDR, wo nichts dem Zufall überlassen blieb, wäre es gewiss sehr gern gesehen worden, wenn die Popularität Wunderlichs nahtlos auf Schreier übergegangen wäre. Beide sangen das gleiche Fach, in Teilen sogar dieselben Partien. Selbst Pfitzners Palestrina gehörte dazu. Von Mozart und Bach ganz zu schweigen. Nur in Operetten und in der so genannten heiteren Muse ganz allgemein war der um fünf Jahre ältere Pfälzer seinem Kollegen aus Sachsen um Längen voraus. Das dürfte auch an ihrer unterschiedlichen biographischen Prägung gelegen haben. Wunderlichs Eltern waren zwar musikalisch gebildet und verdingten sich zweitweise als Gastwirte. Der Sohn entwickelte ein frühes Interesse an Tanzmusik. Schreier Vater war Kantor und legte bei ihm die Grundlagen für die Aufnahme in den Dresdener Kreuzchor. Und doch hat sich auch Schreier an leichter Kost versucht. Dabei ist unter anderen die Eterna-Platte Schöne, strahlende Welt herausgekommen, die nun von Berlin Classics erstmals eins zu eins auf CD übernommen wurde (0301746BC). Um die Kapazität auszulasten, wurden noch fünf Titel des Albums O sole mio dazu gepackt.

„Granada“, „In mir klingt ein Lied“, „Heute Nacht oder nie“, „Grüß mir die süßen, die reizenden Frauen“ aus Kalmans Operette Gräfin Mariza … Technisch ist am Vortrag nicht herumzumäkeln. Schreier singt ungemein genau, mit perfekt verblendeten Registern und mit absolut sicherer Höhe. Die Töne fließen ihm regelrecht aus der Kehle, und er hat auch hörbaren Spaß an diesem Repertoire. Und doch nimmt man es ihm nicht ab. Es klingt zu gewollt, zu eingeübt, zu verklemmt, nicht selbstverständlich genug. Auch nicht frech, und schon gar nicht erotisch. Was er abliefert, ist hohe Kunst. Als verströmten die süßen Frauen ihre Reize in Kirchenbänken. Noch am meisten überzeugen kann er mit der Arie im alten Stil „Vaghissima sembianza“ von Stefano Donaudy. Verstärkt wird der gemischte Eindruck bei der Wiederbegegnung mit den historischen Aufnahmen von 1977 noch durch die klischeebehafteten und verzuckerten Arrangements von Gerhard Kneifel (1927-1992). Der komponierte Operetten und Revuen und wirkte als Chefarrangeur am Berliner Friedrichstadtpalast. Begleitet wird Peter Schreier vom Großen Rundfunkorchester Berlin unter der Leitung von Robert Hanell. Der Klang der CD ist ohne jeden Tadel. Rüdiger Winter

Lieder-Album als Gesamtkunstwerk

 

Wer turnt denn da auf den Bühnen herum, die in schweren Nebel gehüllt sind? So, als ragten sie nicht aus dem Meer hervor, sondern aus einer Schlucht des Hochgebirges. Ein junger Mann setzt ein Bein vorsichtig vor das andere. Als taste er sich nach vorn, mehr entschlossen und neugierig denn ängstlich. Unter ihm der unberechenbare Abgrund. Am Himmel fliegen schwarze Vögel. Unglücksvögel. Alte Bekannte aus Mythen, Liedern und Opernstoffen. Sie verheißen nichts Gutes. Wird der waghalsige Wanderer sein unbestimmtes Ziel erreichen? Die Abstände, die zu überwinden sind, werden von Mal zu Mal größer. Das Basecap auf seinem Kopf scheint der einzige Schutz bei dem gefährlichen Abenteuer über dem Abgrund zu sein. Nicht der Tenor Ilker Arcayürek geht durch das Bild auf dem Cover seines neuen Albums bei Prospero. Es ist der marokkanischen Foto-Künstler Achraf Baznani auf einem wagehalsigen Selbstporträt. Sein Werk wurde mit Bedacht gewählt für das Programm aus Liedern von Franz Schubert. Der Titel des Coverbildes: Das Unvermeidliche (The Inevitable). 

Wie in einer Galerie sind im Innern des Booklets der aufwändig gestalteten Neuerscheinung weitere Kunstwerke von Baznani zu sehen (PROSP 0009). Die CD selbst ist mit The Path of Life überschriebenen. Es handelt sich um eine Limited Edition mit einer Auflage von tausend. Jedes Exemplar ist handschriftlich nummeriert und damit formal einzigartig. Baznani wird mit den Worten zitiert, er mache keine Fotos, sondern erzähle Geschichten. Gerät bei so viel bildender Kunst die musikalische Seite der Neuerscheinung nicht etwas ins Hintertreffen? Die Frage ist falsch gestellt. Das als kleines Buch mit festem Einband gestaltete Album ist der Versuch, beides zusammenzubringen, für Lieder einen optischen Ausdruck zu finden. An sich ist das nicht neu. Neu ist, dass diese Bilder gegenwärtig sind und Gegenwart illustrieren wollen. So soll und kann uns Schubert noch näher rücken. Mittlerweilen trennen uns bald zweihundert Jahre vom Tod des Komponisten, der nicht annährend so alt wurde wie es seine Interpreten sind. Arcayürek zählt siebenunddreißig Jahre, zweiundvierzig sind der britische Pianist Simon Lepper und Baznani, der aus unerfindlichen Gründen auf dem Cover nicht genannt wird, was bedauerlich, wenn nicht gar peinlich ist.

Der in Istanbul geborene Tenor, der in Wien aufwuchs, schon als Kind in namhaften Chören sang, ist Österreicher und lebt mit seiner Familie in Zürich. Arcayürek hat also gut reden, wenn er seinen eigenen Text im Booklet mit dieser Feststellung beginnt: „Die schweizerische Liebe zum Detail, englische Finesse kombiniert mit Wiener Charme und einem Hauch orientalischer Melancholie machen dieses Album zu dem, was es ist – eine Melange an Emotionen, Kulturen und Epochen.“ Aufgenommen wurde im Juli 2020 im Rundfunkstudio Brunnenhof in Zürich, weshalb auch der SRF unter den Produzenten auftaucht und dafür überschwänglich gelobt wird. Bei der Auswahl gibt sich der Sänger nicht eben bescheiden. Selbstbewusst greift er zu den Meisterstücken aus Schuberts Werkstatt, die einzelnen Kategorien zugeteilt sind: Liebe, Sehnsucht, Suche nach innerem Frieden, ResignationErlösung. Zu den einzelnen Kapiteln gibt es auch ambitionierte aktuelle Deutungsversuche von Richard Stokes, dem renommierten Professor für Kunstlied an der Royal Academy of Music in London. Erfreulich großen Wert legt er auf die Texte, über die sich das Konzept für die Neuerscheinung zuerst und vor allem mitteilt. Stokes mäkelt nicht an jenen Vorlagen herum, die es literarisch nicht mit Friedrich Rückert aufnehmen können. Er respektiert die Auswahl des Komponisten. Bei einigen Titeln hält er mehr inne als bei anderen. So ein Fall ist Der Wanderer mit der berühmten Schlusszeile „Dort, wo du nicht bist, ist das Glück!“, in der die Romantik einen ihrer treffendsten literarischen Ausdrücke fand.

Das Gedicht stammt von Georg Philipp Schmidt von Lübeck (1766-1849). Hauptberuflich war er Kaufmann und brachte es in dänischem Staatsdienst zu hohem Ansehen. Er stammte aus Lübeck und liegt im Hamburger Stadtteil Ottensen neben Klopstock begraben. Schriftsteller war er nebenbei. Sein Gedicht überlebte nicht nur durch Schubert, der es leicht veränderte und den ursprünglichen Titel „Des Fremdlings Abendlied“ verwarf. Der Berliner Oberlehrer Georg Büchmann (1822-1884) hatte die Schlusszeile in seine berühmte Sammlung geflügelter Worte übernommen, die 1864 erstmals erschien und bis in die Gegenwart in unzähligen Auflagen und Ausgaben weitergeführt wurde als eines der Deutschen liebsten Bücher. Es ist als habe sich die Zeile von ihrem Verfasser gelöst. Sogar in Christa Wolfs Novelle Kein Ort. Nirgends über die fiktive Begegnung von Heinrich von Kleist mit Karoline von Günderrode, die beiden den Freitod suchten, ging sie ein.

Eines der Werke des marokkanischen Foto-Künstler Achraf Baznani aus dem Booklet des kunstvoll gestalteten Albums in limitierter Auflage bei Prospero. 

Es darf also geschaut, gelesen und schließlich auch gehört werden. Selten dürfte ein Album so anregend gewesen sein wie dieses. Es ist nichts für Nebenbei oder für den Player im Auto. Ein digitales Angebot, so zeitgemäß es auch sein würde, verfehlte die Wirkung. Als Gesamtkunstwerk fordert die Neuerscheinung viel Aufmerksamkeit ein und kommt vielleicht deshalb gerade richtig in einer Situation, die zu Ruhe und Einkehr zwingt und Besuche von Konzerten so gut wie unmöglich macht. Musikfreunde waren selten so auf sich allein gestellt wie jetzt. Produziert und veröffentlicht in der Pandemie. Es braucht keinen gesonderten Aufdruck auf dem Cover. Man wird sich auch so lange daran erinnern. Die Folgen sind noch nicht absehbar: „The Path of Life“.

Arcayürek, der auch auf der Opernbühne aktiv ist, hat Erfahrung mit Franz Schubert. Bereits 2017 hatte er bei Champs Hill Records London eine ausschließlich diesem Komponisten gewidmete CD vorgelegt. Damals schrieb er im Booklet: „Franz Schuberts Musik und auch die Einsamkeit begleiten mich seit meiner Kindheit. Einsamkeit kann aus meiner Sicht durch viele Begebenheiten entstehen – durch Liebeskummer, einen Verlust, aber auch durch Umzug in ein neues Land.“ Die Vielfalt in Schuberts Gefühlswelt und seiner Musik hätten ihn „schon früh in ihren Bann gezogen“. Daran knüpft er nun an: „Wir hatten die Intention, ein Programm zu kreieren, das wie ein langes, durchgehendes Lied zum Erklingen gebracht wird: Dieser emotionalen Aufgabe habe ich mich gestellt, in dem ich jedes Lied persönlich nehme und auf mich beziehe.“ Junge Sänger, die auch gern in den sozialen Medien unterwegs sind, neigen zur Mitteilsamkeit wie es sie früher nicht gab. Sie sind viel offener als jene Künstler es waren, die ihre Groß- oder Urgroßeltern sein könnten. Sie haben kein Problem damit, sich zu ihren Gefühlen und Herzensangelegenheiten zu bekennen. Hohe Kunst des Liedgesangs wird mit ganz konkreter Lebens- und Alltagserfahrung angereichert. So muss man sich um den Fortbestand des Genres nicht sorgen. Nie gab es so viele Lieder auf dem Musikmarkt wie jetzt. Auch wenn Arcayürek seine neue CD mit achtzehn Liedern als fließendes in sich verbundenes Stück verstanden wissen möchte, gelingen die einzelnen Titel auf durchaus unterschiedliche individuelle Weise.

Franz Schubert: So idealistisch porträtierte ihn der Maler Wilhelm August Rieder 1875 nach einer Aquarellvorlage von 1825/ Wikipedia

Der Auftakt mit der sehr bewegten Fischerweise klingt etwas belegt. Bereits beim Liebhaber in allen Gestalten auf Platz zwei verfliegt dieser Eindruck. Nun würde man sich den Aufstieg zur Höhe etwas eleganter wünschen. Obwohl nicht klar wird, in welcher Reihenfolge die Lieder aufgenommen wurden, bleibt der Eindruck, als müsse der Solist erst hineinfinden in seine Aufgabe. Mit Alinde gelingt eine erste Glanzleistung. Unterstützt von seinem Pianisten findet er für die unterschiedlichen balladesken Szenen, in denen mit wörtlicher Rede nicht gespart wird, auch rhythmisch angemessene Ausdrucksformen. Die Geschichte, die bei Sonnenuntergang beginnt und in „schwarzer Nacht“ endet, verlangt nach viel Farbe in der Stimme. Arcayürek hat sie zu bieten – und zwar reichlich. Du bist die Ruh wäre ein Lehrbeispiel für Legato, würde die Steigerung – wie in einigen anderen Liedern auch – etwas weniger forciert ausfallen. Für Ausdruck wird schon mal Schönheit geopfert. Eine Reihenfolge, die nicht die schlechteste ist für einen Liedsänger, der sich abheben will ohne abgehoben zu sein.

Zu den großen Vorzügen dieses Tenors gehört die Klarheit seines Vortrags. Seine auch schriftlich formulierten hohen Ansprüche an die Lieder gingen ins Leere, wäre nicht jedes Wort zu verstehen. Ein Vorzug, der heutzutage nicht immer selbstverständlich ist. Dabei unterstützt ihn Simon Lepper, sein hochsensibler Pianist, der den Sänger nicht vor sich her treibt sondern ihm Halt und Sicherheit gibt. Der Wanderer mit der berühmten letzten Zeile ist nach Des Fischers Liebesglück und Der Unglückliche mit gut fünf Minuten eines der längsten Lieder. Für mich stellt es den Höhepunkt des Programms dar. Es versammelt Begabung, Talent und Individualität des Tenors Ilker Arcayürek wie in einem Brennspiegel. Wer sich ein Bild von ihm machen will, wer herausfinden möchte, was er kann, wird hier fündig. Oder sollte ich mich am Ende nicht doch für die melancholischen Götter Griechenlands entscheiden? Rüdiger Winter

 

Das Foto oben zeigt den Tenor Ilker Arcayürek. Wir entnahmen es als Ausschnitt dem Booklet des neuen Albums „The Path of Life“. 

Mit Lohengrin fing alles an

 

Wagner alla Scala. Das klingt verlockend nach einem erlesenen Gericht auf der Speisekarte eines italienischen Restaurants. Im Italienischen wirkt vieles so als vergehe es auf der Zunge. Wir Deutsche reagieren darauf wie ein Pawlowscher Hund. Dass im Land von Verdi, Puccini, Donizetti und Mascagni Richard Wagner so hohes Ansehen genießt, ist womöglich nur die Umkehrung eines Teils jener Sehnsucht, mit der nördlich der Alpen nach dem Süden geschaut wird. Wagner selbst war Italien verfallen. Eine Leidenschaft, die er mit vielen Künstlern seines Landes teilte. In Italien hat sich sein Leben auf eine fast schon theatralische Weise vollendet. Wer auf dem Canale Grande in Venedig unterwegs ist, kommt zwangsläufig an der Villa Vendramin vorbei, in der er am 13. Februar 1883 gestorben ist.

Elisabeth Schwarzkopf als Elsa und Martha Mödl als Ortrud 1953 in „Lohengrin“. Die musikalische Leistung hatte Herbert von Karajan. Einen Mitschnitt gibt es leider nicht. Foto: Scala

Schon zu seinen Lebzeiten nahmen sich die Opernhäuser des Landes seiner Werke an. Eine herausgehobene Rolle spielte dabei die Mailänder Scala. Skira classica hat diesem Kapitel italienischer Theatergeschichte einen Titel gewidmet, der weit über eine gewöhnliches CD-Album hinausgeht. Im Grunde genommen handelt es sich um einen mit Musikbeispielen versehenen Bildband im handlichen Oktavformat (ISBN 978-88-6544-022-3). Inzwischen ist diese attraktive Memories-Serie zu stattlichem Umfang angewachsen. Es gibt auch noch lieferbare Nummern zu Verdi, der Callas und diversen Opern, darunter Così fan tutte mit der Schwarzkopf, Carmen mit der Simionato und Turandot mit der Nilsson. Sie machen sich hübsch im Regal und sind Fundgruben speziellen Wissens. In der Wagner gewidmeten Folge findet sich auch eine deutsche Textfassung. Sensationen werden nicht enthüllt. Der Mehrwert besteht in der reich bebilderten Konzentration auf Wesentliches.

„Wagner alla Scala“: Buch und CD sind  bei Skira classica herausgekommen und lieferbar (ISBN 978-88-6544-022-3).

In der Geschichte des Teatro alla Scala wurden Werke Wagners in mehr als 140 Jahren etwa tausend Mal in 127 Inszenierungen aufgeführt, ist gleich im ersten Satz des Textes von Enrico Girardi zu erfahren. Vergleichsweise ist das nicht wenig. Zuerst wurde am 20. März 1873 Lohengrin gegeben – dreizehn Jahre nach der Uraufführung unter Franz Liszt in Weimar. „Schon die schiere Zahl dieser Aufführungen bezeugt, dass Wagners Musik an der Scala nicht nur deutlich präsenter als an jedem anderen italienischen Opernhaus“ gewesen ist. Es kämen sogar mehr Vorstellungen zusammen als beispielsweise in den Musiktempeln von Paris, London oder New York. Von den frühen Werken wurde nur Rienzi 1964 in einer Inszenierung des österreichisch-amerikanischen Regisseurs Robert Graft mit Giuseppe di Stefano in der Titelrolle und Raina Kabaivanska als Irene berücksichtigt. Der Adriano war mit einem Tenor, nämlich mit Gianfranco Cecchele besetzt. Eine Praxis, die auch in Deutschland ausprobiert wurde, so 1957 mit Josef Traxel in Stuttgart. Die streng gekürzte Fassung in italienischer Sprache wurde von Hermann Scherchen dirigiert. Er lässt es gewaltig Krachen. Ein Mitschnitt in bescheidener Tonqualität hat sich erhalten, gibt die Wirklichkeit offenkundig nur verzerrt wieder. Er ist in diversen Ausgaben auf CD gelangt, zuletzt 2006 bei Golden Melodram. Wie gnadenlos die Striche ausgefallen sind, wird schon dadurch deutlich, dass auf der zweiten Scheibe noch Platz für zwanzig Minuten aus Verdis Forza übrig war.

Nach der Premiere der „Meistersinger von Nürnberg“ 1952: Wilhelm Furtwängler mit Elisabeth Grümmer (Eva, rechts) und Sieglinde Wagner (Magdalene). Foto: Buch „Wagner alla Scala“:

Lohengrin markiert also den Beginn der Wagnerpflege in Mailand wie auch im restlichen Italien. Er wurde dort auch am häufigsten gespielt und bracht es – gleich der Walküre – auf siebzehn Inszenierungen. Als sich Arturo Toscanini 1900 erstmals dieser Oper annahm, dirigierte er bereits die fünfte. Wobei unter Inszenierung nicht im Entferntesten das gemeint ist, was die Gegenwart darunter versteht. Regisseure gab es noch nicht. Die szenische Einstudierung lag in den Händen der Bühnenbildner, was auch im Buch klargestellt wird. Es dürfte darauf hinausgelaufen sein, eine neue Aufführungsserie aus Vorhandenem zu arrangieren. Kulissen wurden behutsam ersetzt, wenn sie denn verschlissen waren. Textautor Girardi wundert sich, dass nicht auch die anderen früheren Werke des Bayreuther Kanons wie Holländer (sieben Inszenierungen) und Tannhäuser (zehn), die der italienischen Oper näher stünden als die späteren Musikdramen, die gleiche Beliebtheit erfahren hätten wie Lohengrin. Die wortreichen Meistersinger von Nürnberg stehen mit vierzehn Inszenierungen in der Statistik, Siegfried mit dreizehn, Rheingold und Götterdämmerung mit jeweils zwölf.

„Die Frist ist um“: Hans Hotter als Holländer ans Land geworfen. Foto: Buch „Wagner alla Scala“.

Auffällig ist, dass das Interesse des Publikums an Wagner schwankte. So werden – um Beispiele aufzugreifen – die Meistersinger  „in den zwanziger Jahren wieder und wieder gespielt. Der Ring des Nibelungen dagegen in den Dreißigern. Und Parsifal in den Vierzigern. In den fünfziger bis siebziger Jahren wird der gesamte Wagner-Katalog praktisch regelmäßig gegeben, um dann in den Achtzigern (nur dünne zwei Titel) und Neunzigern (nur sechs) deutlich zu schrumpfen“. Danach habe es im 21. Jahrhundert ein fast vollständiges Comeback Wagners an der Scala gegeben. Auf die Gründe dieser Entwicklungen geht der Autor nicht ein. Inwieweit politische Entwicklungen eine Rolle spielen, wäre zu untersuchen. Die längste Auszeit ist Tristan und Isolde, dem charakteristischstem Bühnenwerk des Komponisten, beschieden gewesen. Es erschien nach fast dreißigjähriger Pause erst 2007 wieder auf dem Spielplan, geleitet von Daniel Barenboim, dem damaligen Musikdirektor. Für die Inszenierung war Patrice Chéreau gewonnen worden. Als hohes Paar traten Waltraut Meier und Ian Storey in Erscheinung.

Chéreau galt als sichere Bank für den Erfolg seit er 1976 in Bayreuth mit seiner spektakulären Neudeutung des Ring anlässlich der hundertsten Wiederkehr der ersten geschlossenen Aufführung für Furore gesorgt hatte. Wie damals im Festspielhaus traten auch an der Scala die Medien geballt auf den Plan. Eine einfache Radioübertragung tat es nicht mehr. Vom Fernsehen wurde die Aufführung auch in deutsche Wohnzimmer transportiert. Virgin Classics brachte eine DVD heraus. In der positiven Bewertung des künstlerischen Gehalts ist sich die Kritik weitestgehend einig gewesen, zumal die Kameras nicht nur draufgehalten hatten. Es wurde versucht, das Bühnengeschehen vor allem in den Details genau zu erfassen, ohne die Bühnentotale ganz zu vernachlässigen. Große Distanzen wie sie in Opernhäusern nun mal gegeben sind, wurden so geschickt verkürzt, dass sich die filmische Version als eigenständiges Kunstwerk behauptete. Davor war der Tristan 1964 von Lorin Maazel, 1978 von Carlos Kleiber geleitet worden. Etwas weiter zurückgeblättert in der Aufführungsstatistik, taucht auch Herbert von Karajan auf, der 1959 ans Pult trat, während auf der Bühne Birgit Nilsson und Wolfgang Windgassen, die unangefochtene Bayreuther Traumbesetzung, wirkten. Einen Mitschnitt haben unter anderen Myto und Golden Melodram veröffentlicht. Als Geheimtipp unter Sammler aber gilt seit jeher der gemeinsame Auftritt von Gertrude Grob-Prandl und Max Lorenz im Jahre 1951 (Myto und Archipel), dessen Leitung in den Händen des Italieners Victor de Sabata lag.

Verständigung bei der Probe der „Götterdämmerung“ 1950: Brünnhilde Kirsten Flagstad und Dirigent Wilhelm Furtwängler im Gespräch. Foto: Flagstad-Museum Hamar

Tristan-Dirigent Barenboim sollte dann auch seinen ersten Nibelungen-Ring der Scala medial vermarkten. Als DVD-Box kam er 2015 bei Arthaus heraus, nun sogar im detailversessenen Blu-ray. Vorausgegangen waren Veröffentlichungen der einzelnen Teile. Während die technischen Konservierungsmöglichkeiten rasant an Fahrt aufgenommen hatten, stellten sich unerbittlich Besetzungsprobleme ein. Es wurden drei Wotane für ein Unternehmen gebraucht, das sich über mehrere Jahre hinzog: René Pape für Rheingold, Vitalij Kowaljow für Walküre und Terje Stensvold für den Siegfried-Wanderer. Und Siegfried (durchgehend Lance Ryan) dürfte sich gewundert haben, als ihn in der Götterdämmerung eine andere Brünnhilde, nämlich Iréne Theorin zum neuen Taten in die Welt entließ, als jene, die er auf dem Felsen aus langem Schlag erweckt hatte (Nina Stemme). Auch für Fricka tat es nicht nur eine Sängerin (Doris Soffel und Ekaterina Gubanova), für Mime auch nicht (Wolfgang Albinger-Sperrhacke und Peter Brander).

Angesichts des enormen Aufwands wurde die Tetralogie in ihrer Gesamtheit bislang nur ganze zehn Mal gegeben. Die meisten geschlossenen Aufführungen – drei an der Zahl – gab es in der dreißiger Jahren unter der Leitung von Siegfried Wagner, dem Sohn des Komponisten, der Bayreuther Atmosphäre südlich der Alpen zu verbreiten suchte. Wie mit goldenen Lettern hat sich 1950 Wilhelm Furtwängler in die Annalen eingeschrieben. Sein Ring ist schon deshalb einzigartig, weil sich ein kompletter Mitschnitt erhalten hat, was für diese Zeit nicht selbstverständlich gewesen ist. Es folgte eine Plattenausgabe nach der anderen. Firmen überboten sich bis heute um den besten Klang und das beste Remastering. Und als der Dirigent drei Jahre später bei der RAI noch einen kompletten Ring made in Italia nachlegte, traten beide Produktionen nach dem Motto, dass zwei Ringe besser seien als einer, in eine etwas verwirrende Konkurrenz.

Birgit Nilsson (vorn) und Wolfgang Windgassen als Tristan und Isolde 1959 auf hoher See im ersten Aufzug. Foto: Buch „Wagner alla Scala“

Anders als das Nachkriegs-Bayreuth, das ein Jahr später eröffnen sollte, fühlte sich die Scala 1950 mehr der Tradition verpflichtet. Alten Glanz verbreitete Kirsten Flagstad, die sich nach langer kriegsbedingter Abstinenz noch immer alle drei Brünnhilden zutraute. Entschlossen umschiffte sie die Klippen der kräftezehrenden Partie. Gefährliche Spitzentöne passte die Fünfundfünfzigjährige den ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten an. Ihre Fähigkeit aber, Töne so zu fluten, dass der riesige Zuschauerraum ganz davon erfüllt war, hatte sie nicht verloren. Die Stimme der Flagstad schimmerte wie altes schweres Gold, dem ein paar Kratzer nichts von seinem Wert nehmen konnten. Sie sang ihre deutlich jüngeren Tenorpartner – Set Svanholm im Siegfried und Max Lorenz in der Götterdämmerung – regelrecht an die Wand. Die hatten zu kämpfen, nicht sie. Insofern ist dieser Ring nicht nur ein Denkmal für Furtwängler.

Kaum ein Dirigent, der sich nicht hätte sehen lassen bei Wagner-Abenden in Mailand. Es sei eine so „eindrucksvolle und lange Liste, dass man fast schneller aufzählen kann, wer auf ihr fehlt, als wer dabei ist“, vermerkt das Booklet und nennt auch Namen: Bruno Walter, Otto Klemperer, Dimitri Mitropoulos, Hans Knappertsbusch, Karl Böhm, Georg Solti, Clemens Krauss, Wolfgang Sawallisch, André Cluytens, James Levine, Giuseppe Sinopoli, Bernard Haitink, Leonard Bernstein. Dagegen ist die CD mit ihren neun historischen Dokumenten nur ein Schatten des wirklichen Geschehens. Die Hinwendung zu den Titanen Toscanini (Vorspiel zum dritten Aufzug Lohengrin, Karfreitagszauber, Meistersinger-Vorspiel), Furtwängler (Walkürenritt, Siegfrieds Tod und Trauermarsch), Karajan (Vorspiele zum ersten und dritten Aufzug Tristan) sowie de Sabata mit Isoldes Liebestod, den allerdings die Flagstad singt, ist gewollt. Macht zusammen knapp siebenundsechzig Minuten. Es hätte durchaus etwas mehr sein dürfen. Rüdiger Winter

Siegentrost und Tannhäuser

 

Wer sich mit Liedern und Balladen beschäftigt, gerät schnell in ein Labyrinth mythischer und literarischer Verzweigungen und Verknüpfungen. Da tauchen Gestalten auf, die einem seit Jahrzehnten vertraut sind. Aber auch solche melden sich zurück, die man völlig aus dem Auge verloren hat. Bruder Siechentrost ist so ein Gesell. Siechentröster wurden einst jene Geistlichen genannt, die zu den Kranken und Sterbenden gingen, um ihnen beizustehen. Jener Siechentrost, um den er hier geht, entstammt einer Legende von Paul Heyse (1830-1914), dem ersten deutschen Literaturnobelpreisträger von 1910. Zahlreiche Komponisten bedienten sich bei ihm, darunter Hugo Wolf für sein Italienisches- und sein Spanisches Liederbuch. Auch Max Bruch (1838-1920) kannte sich bei seinem Zeitgenossen Heyse aus. Seine Siechentrost-Lieder op. 54 bilden das Zentrum einer CD, die bei cpo erschien (555 422-2). Maßgeblich beteiligt ist der WDR, womit sich eine schöne Tradition fortsetzt, dass der aus Gebühren finanzierte öffentlich-rechtliche Rundfunk förderungswürdige Projekte produziert und für die Veröffentlichung auf Tonträgern freigibt. Es singt der aus Österreich stammende Bariton Rafael Fingerlos, begleitet von Sascha El Mouissi am Klavier. Das Siechentrost-Opus setzt sich auf zwei Liedern, zwei Duetten und einem Schlussgesang zusammen. Deshalb treten Cornelia Zink (Sopran), Magdalena Rüker (Mezzosopran), Bernhard Berchtold (Tenor) und Benjamin Herzl (Violine) hinzu.

Bei Heyse verbinden sich die Schicksale zweier Männer. Der eine, Gerhard, fühlt sich bei der Rückkehr nach langer Wanderung von seiner Angebeteten verraten, der andere, Bruder Siegentrost genannt, verlor durch die Pest Frau und Kind, trat in ein Barfüßerkloster ein und opferte sich fortan selbst für andere Kranke auf. Seine Mitmenschen aber mieden ihn, weil sie fürchteten, er habe sich angesteckt und könnte die tödliche Seuche weitergeben. Nur der unglückliche Gerhard sucht unerschrocken dessen Nähe, bricht mit seinem bisherigen Leben und schließt sich ihm an. „Da erschienen sie eines Nachmittags in einem kleinen Winzernest in der Nähe von St. Goar, vor einem Haus, aus dem man am Morgen eine junger Todte hinausgetragen hatte, das einzige Kind wackerer Eltern“ heißt es bei Heyse. Die Geächteten werden von „guten Bürgern“ in einen Zusammenhang mit dem traurigen Ereignis gebracht, unter ihnen der Eschenauer, der Vater Gerhards. Schergen werden in Bewegung gesetzt, um den „verlorenen Sohn“ einzufangen. Der ist indessen schwer erkrankt. Als sich Siegentrost von Lager entfernt, um nach heilenden Kräutern zu suchen, wird Gerhard von seinen Verfolgern entführt und auf ein Schiff verfrachtet. Vom Ufer vernimmt er die Stimme des Freundes mit einem „herzstärkendem“ Liede, reißt sich los und stürzt sich in die Fluten, um zu ihm zu gelangen. Doch er ertrinkt. Siegentrostens Lieder aber sind längst im Volksmunde heimisch geworden.

Im Booklet der Neuerscheinung wird nicht gegeizt mit Zitaten aus Heyses Legende, die auf das Jahr 1375 zurückgeht. Eckardt van den Hoogen, der Autor des umfangreichen Textes, präsentiert die einzelnen Lieder und Duette im Kontext. Das macht Sinn. Ohne ihre literarische Umgebung blieben sie weniger verständlich. Heyse, in seiner Zeit sehr populär und viel gelesen, dürften längst nicht mehr in jedem Bücherschrank zu finden sein. Deshalb ist solch dezente Nachhilfe, die nicht belehren will, mehr als angemessen. Mehrfach gehört, kann man sich sogar eine Veranstaltung in kleinem Rahmen vorstellen, bei der sie gemeinsam mit dem Prosatext vorgetragen werden. Mit Unterstützung des Klaviers durch die Violine entsteht eine poetische Stimmung, von der sich auch der Sänger und seine Mitstreiter ergreifen lassen. Fingerlos singt sehr in sich gekehrt, immer um Wortverständlichkeit bemüht. In den beiden Duetten „Gott woll‘, dass ich daheim wär“ und „Wer weiß, woher das Brünnlein quillt“ findet er zu inniger künstlerischer Gemeinsamkeit mit seinem Tenorpartner Berchtold. Der als Terzett angelegte Schlussgesang beschert ein in sich geschlossenes versöhnliches Ende eines Meisterwerkes. Nicht, dass die andere Lieder dagegen etwas abfallen. Hörer müssen aber erst umschalten von der reizvollen Form des kleinen Zyklus auf klavierbegleiteten Sologesang, darunter „Tannhäuser“, „Goldne Brücken“ und das „Klosterlied“. Bruch, in dessen Schaffen Lieder einen beträchtlichen Posten abgeben, ist im Gebrauch der Melodie nicht eben zögerlich. Seine Einfälle sind üppig und sehr bildhaft. Senkt sich die Nacht in einigen der Lieder nieder, erweist sich Bruch als spätromantischer Tonmaler vom Feinsten. Rüdiger Winter

Für Fans des Verstorbenen

 

Ariadne auf Naxos, chronologisch gesehen die sechste Oper von Richard Strauss, war die letzte, die noch zur Zeit der alten Donaumonarchie entstand. Ihre Erstfassung als Abschluss einer Aufführung des Bürgers als Edelmann von Molière fand 1912 in Stuttgart statt; die Zweitfassung, bereichert um ein sogenanntes Vorspiel, welche sich durchsetzen sollte, wurde 1916, mitten im Ersten Weltkrieg also, an der Wiener Hofoper uraufgeführt. Hinsichtlich der Beliebtheit rangiert die Ariadne innerhalb der Strauss’schen Opern weit vorne. Die Diskographie ist ungemein reichhaltig und geht zurück bis ins Jahr 1913 (!). Maßstäbliche Einspielungen erfolgten u. a. unter Herbert von Karajan (EMI, 1954), Rudolf Kempe (EMI, 1968) und James Levine (DG, 1986). Orfeo legt nun einen Mitschnitt aus der Wiener Staatsoper vom Oktober 2014 unter Christian Thielemann auf CD vor (Orfeo C996202). Die Produktion wird zudem auf DVD und Blu-ray erscheinen (Regie: Sven-Eric Bechtolf).

Es handelt sich keineswegs um Thielemanns erste Beschäftigung mit dieser kammermusikalisch angelegten Oper. Bereits 2012 wurde eine Inszenierung von Brian Large aus dem Festspielhaus Baden-Baden mitgeschnitten und als DVD aufgelegt (Decca). Interessanterweise übernahm die auch in Wien mitwirkende Sopranistin Sophie Koch bereits damals die Rolle des Komponisten. Ansonsten wurde in Wien sängerisch aufgeboten, was seinerzeit möglich war. Die international gefeierte finnische Sopranistin Soile Isokoski verkörpert neben der Titelrolle die Primadonna, der allzu früh verstorbene Johann Botha ist als als Tenor und Bacchus zu hören. Als Zerbinetta wurde Daniela Fally eingesetzt. Daneben hört man u. a. Jochen Schmeckenbecher als Musiklehrer, Norbert Ernst als Tanzmeister und den unverkennbaren Peter Matic, leider auch schon verschieden, in der Sprechrolle des Haushofmeisters.

Als Thielemann im Oktober 2014 fünf Aufführungen der Ariadne an der Staatsoper in Wien übernahm, war dies seine erste szenische Strauss-Oper im Haus am Ring, dem Ort der Erstaufführung der zweiten Fassung. Zuvor hatte er dort vor allen Dingen als Wagner-Interpret für Furore gesorgt. Tatsächlich wurde seine Rückkehr als sensationell gefeiert und – heutzutage überhaupt nicht mehr selbstverständlich – auch die Inszenierung von Bechtolf mit viel Lob bedacht. In sängerischer Hinsicht verwöhnt diese Produktion durchaus. Die Reduzierung auf die Tonspur beweist, dass die Aufnahme auch ohne Bild keine Vergleiche mit den großen Interpretationen der Vergangenheit zu scheuen braucht. Thielemann liegt dieses Werk, das den Gegensatz zwischen großer heroischer Oper auf der einen und profaner Komödie auf der anderen Seite zum Thema hat. Neben der damaligen Gegenwart des ausklingenden Fin de siècle kommen zwei weitere zeitliche Ebenen, die Barockära Molières sowie der antike Ariadne-Stoff, zum Tragen, die ja bereits die größten Opernerfolge von Richard Strauss dominierten (das Barockzeitalter im Rosenkavlier, die Antike sowohl in Salome als auch in Elektra). Zwischen dem leichten Vorspiel im Parlando-Stil der Opera buffa und dem deutlich pathetischeren Stil des eigentlichen Opernaktes á la Opera seria besteht ein merklicher, von Strauss intendierter Unterschied. So konnte er gleichsam beide Formen des älteren Operntypus in aktualisierter Form abbilden, ohne es freilich zur reinen Kopie verkommen zu lassen. So gibt es zwar Anlehnungen an ältere Kompositionen von Mozart, Schubert und den Belcanto, doch keine Direktzitate. Eine Neueinspielung, die der Diskographie eine weitere Facette hinzufügt. Daniel Hauser

Flotte Töne aus der Provinz

 

Weimarer Klassik: Das sind nicht nur Goethe, Schiller, Wieland und Herder. Das sind auch Scheinpflug, Krebs, Carl und Koch. Wer, bitte, sind diese Herren? Allesamt waren sie Komponisten und prägten als solche das musikalische Leben, wenn nicht in Weimar selbst, so doch im engeren Umfeld dieser Stadt, die einer kulturellen Epoche den Namen gab. Bei Ars Produktion ist eine CD erschienen, die sich ihren Werken widmet (ARS 38 833). Sie wurde bereits Mitte der 1990er Jahre produziert und war zuerst bei AMU-Records erschienen. Auf den ersten Blick wird aber nicht deutlich, was nur im Kleingedruckten des Booklets zu erfahren ist. Sei‘s drum. Die Aufnahme hat sich ihre Frische bewahrt, und das Programm schließt auch nach mehr als zwanzig Jahren noch Lücken auf dem Musikmarkt. Im Grunde wirkt die CD wie eine Neuerscheinung. Zu hören sind Sinfonien und ein Konzert. Es spielt das Thüringer Kammerorchester Weimar unter der Leitung des inzwischen Mittachtzigers Max Pommer. Er hatte 1979 in Leipzig das Neue Bachische Collegium Musicum gegründet und war damit weit über die DDR hinaus bekannt geworden. Seine Einspielung der Brandenburgischen Konzerte – um nur dieses Beispiel zu nennen – hatten seinerzeit in die DDR eine ähnliche starke und nachhaltige Wirkung wie Harnoncourt im Westen. Den Werken der Weimarer Klassik gibt er große Würde und hebt sie durch seine Interpretation in die Nähe von Haydn, dessen Zeitgenossen sie waren. Bis auf Christian Wilhelm Carl. Der wurde 1804 geboren, war erst fünf, als Haydn starb. Von ihm wurde das dreisätzige Concertino für Flöte (Wally Hase) und Waldhorn (Ralf Ludwig) übernommen. Ein Stück, das bei aller Unfertigkeit eine große Begabung ahnen lässt. Zudem ist die Besetzung mit zwei sehr unterschiedlichen Instrumenten nicht eben häufig. Carl, ein gebürtiger Thüringen, der diesem Landstrich verbunden blieb, wurde nur sechsundzwanzig Jahre alt. Er ertrank bei Rudolstadt in der Saale ohne, dass er sein Talent voll entfalten hätte können.

Am häufigsten auf Tonträgern – vor allem mit Orgelkompositionen – ist Johann Ludwig Krebs (1713-1780) anzutreffen. Von 1756 bis zu seinem Tod 1780 wirkt er als Organist in Altenburg, wo er auch starb. Er stammte aus Buttelstedt in der Nähe von Weimar, begann schon als Halbwüchsiger eine Ausbildung an der Thomasschule in Leipzig, wo er Privatschüler von Johann Sebastian Bach gewesen ist. Der soll ihn scherzhaft als den „einzigen Krebs im Bach“ genannt haben, wie im Text des Booklets von Peter Larsen nachzulesen ist. Orchesterwerke bilden in seinem Werk ehr die Ausnahme, weshalb seine Sinfonie c-Moll einen gewissen Seltenheitswert hat. Heinrich Christoph Koch ist vornehmlich Theoretiker in die Musikgeschichte eingegangen und als solcher noch immer anerkannt. Er hinterließ den Versuch einer Anleitung zur Composition, ein Musikalisches Lexikon und das Handbuch bey dem Studium der Harmonie. „Seine theoretischen Überlegungen lassen sich“ nach Auffassung von Larsen in der Sinfonie auf der CD „durchaus nachvollziehen“. Seine anderen Kompositionen sind hingegen weitgehend unbekannt, so sie nicht in seinen Schriften zitiert werden. Er lebte zwischen 1749 und 1816, wurde in Rudolstadt geboren und ist dort auch gestorben. Reisen führten ihn zu Studienzwecken nach Berlin, Dresden und Hamburg. Obwohl er zum Kammermusikus aufgestiegen sei und die Rudolstädter Hofkapelle leitete, habe er darum gebeten als „1. Vorspieler an der Violine“ ins Orchester zurückzukehren, „um sich stärker seinen theoretischen Abhandlungen widmen zu können“. Koch, der sich auch autodidaktisch bildete, war ein Schüler von Christian Gotthelf Scheinpflug, dem vierten auf der CD gleich zweifach vertretenen Komponisten. In der sächsischen Stadt Zschopau 1722 geboren, brachte auch er es zum Hofkapellmeister in Rudolstadt, wo er Koch begegnete. Zu hören sind zwei Sinfonien von erheblichem Einfallsreichtum. Insgesamt lassen sich dreißig derartige Kompositionen nachweisen, dazu Ouvertüren, Kantaten und das Passionsoratorium Die Pilgrimme auf Golgatha. Rüdiger Winter

Katharina Thalbach in allen Rollen

 

Medea! Diesmal geht es nicht um Cherubini, Pasolini, Christa Wolf oder die Callas. Nicht um antike Reliefs oder Euripides. Es geht um das Melodram von Georg Anton Benda, dem aus Böhmen stammenden Komponisten (1722-1795). Wie kaum ein anderer Mythos hat die Medea-Sage zu allen Zeiten seine Wirkung entfaltete und Künstler inspiriert. Bis in die Gegenwart hinein sind sie ergriffen von dieser Frau, die aus Liebe dem Argonauten-Anführer Jason zum Goldenen Vlies verhilft. Und als der sie verstößt, um die Tochter des Königs Kreon von Korinth zu heiraten, wird Medea von Rache gepackt, dass sie schließlich die gemeinsamen Kinder tötet. Benda nimmt sich das hochdramatische Finale der Geschichte vor, das mit der Rückkehr der verbannten Medea nach Korinth beginnt.

Den Text für sein „mit Musik vermischtes Melodram“ lieferte ihm Friedrich Wilhelm Gotter (1746-1797), der als Hofarchivar in Gotha wirkte und ein breit gefächertes literarisches Werk hinterließ, das auch Goethe im nahegelegenen Weimar sehr schätzte. Bis auf den Text für das Lied „Schlafe mein Prinzchen, schlaf ein“ aus dem Schauspiel Esther, welches zunächst Mozart zugeschrieben wurde, in Wirklichkeit aber von Friedrich Anton Fleischmann vertont wurde, wird er kaum noch wahrgenommen. In der thüringischen Stadt Gotha, seinem Geburts- und Sterbeort, werden ihm auch keine Kränze geflochten. Sein Grab existiert nicht mehr. Es musste schon Ende des 19. Jahrhundert Neubauten weichen. Im beschaulichen Gotha hatte Benda als böhmischer Emigrant freundliche Aufnahme gefunden und wurde 1750 zum Hofkapellmeistert ernannt. Er und sein Dichter kannten sich also. Nach Stationen im Hamburg, Mannheim, Wien und Berlin zog es Benda nach Thüringen zurück, um seinen Ruhestand an wechselnden Orten zu verbringen, bis er 1795 in Köstritz, wo seit 1543 Schwarzbier gebraut wird, starb. Auf seiner abgeräumten letzten Ruhestätte steht ein Denkmal für die toten Soldaten des Ersten Weltkriegs. Mit der Berühmtheit des legendären Köstritzer Bieres kann der Komponist nicht mithalten.

Durch die Produktion des Melodrams Medea in der Version von 1784 bei Coviello Classics kommt auch der einst hoch angesehene Gotter wieder aus der Versenkung hervor (COV 92014), wenngleich er auf dem Cover nicht genannt wird. Was aber wäre ein klassisches Melodram, in dem gesprochener Text mit Musik verbunden ist, ohne seinen Dichter? „Die Stücke konzentrierten sich auf eine einzige, meist weibliche Hauptfigur“, schreibt Jörg Krämer im Booklet. „Diese Fokussierung und das rasche, feingliedrige Wechselspiel von gesprochenem Text und Musik ermöglicht es, konfliktreiche und widerspruchsvolle Figuren-Psychogramme mit einer ungewöhnlichen Intensität zu entwickeln.“ Melodramen seien „gegenüber Opern und Singspielen deutliche einfacher und günstiger“ zu bewerkstelligen gewesen. Sie hätten keine „ausgebildeten Sänger und nur ein Minimum an Bühnentechnik, Dekoration, Ausstattung und Bühnenbild“ erfordert, dafür aber volle Häuser garantiert. Bendas Medea erfreute sich über Jahrzehnte in ganz Europa größter Beliebtheit und gilt als eines der erfolgreichsten Werke der Gattung. Selbst Mozart war davon beeindruckt, wie aus einem von Krämer zitierten Brief an Vater Leopold nach dem Besuch einer Aufführung in Mannheim hervorgeht. „Am Ende seines Lebens überarbeitete Benda das Werk noch einmal tiefgreifend neu und ließ dabei die Summe seiner praktischen Erfahrungen mit der Bühnenwirkung einfließen.“ Krämers Text ist sehr informativ und lesenswert, weshalb an dieser Stelle auch mehrfach darauf zurückgegriffen wird. Er hat gründliche recherchiert und damit auf andere Werke dieser Art neugierig gemacht. Produktionen wie diese ohne solche verschriftlichte Begleitung wären gewiss schwerer zu vermitteln. Einmal mehr wird offenbar, dass gute Booklets auch im digitalen Zeitalter unverzichtbar sind.

Die neue CD ist im Oktober 2018 bei Aufführungen im Heidenheimer Congress Centrum mitgeschnitten worden. Es spielt die cappella aquileia unter der Leitung von Marcus Bosch. Dieses Ensemble hat sich 2011 gegründet. Es setzt sich aus Musikern aus ganz Deutschland und darüber hinaus zusammen, die sich nur für Projekte der Opernfestspiele Heidenheim treffen. Bosch, Chefdirigent der Norddeutschen Philharmonie Rostock und regelmäßig auch in Koblenz tätig, ist künstlerischer Leiter des Festivals. Er setzt starke Akzente und rückt die Musik in die Nähe von Gluck. Mit dem „Marsch von ferne“, der am Beginn des zweiten Auftritts steht, wird eine räumliche Wirkung entfaltet, die auf Anhieb für das ganze Werk einnimmt. Keine Wünsche lässt die Klangqualität offen. Bendas Medea kommt nicht zum ersten Mal als CD auf den Markt, wodurch sich viele Vergleichsmöglichkeiten, auch die Fassungen betreffend, auftun. 1994 hatte Naxos das Werk mit dem Prager Kammerorchester aufnehmen lassen und die Einspielung zwei Jahre später veröffentlicht. Naxos blieb insofern näher an der Vorlage, indem neben der Titelfigur (die österreichische Schauspielerin Hertha Schell) die anderen ehr episodischen Rollen – Jason, die beiden Söhne und die Hofmeisterin einzeln besetzt sind. Bereits 1990 war bei Accord eine Produktion von Radio Suisse Romande mit der auf Genf stammenden Schauspielerin und Sängerin Caroline Gautier in allen Rollen auf CD gelangt.

Man muss ein glühender Verehrer der Schauspielerin und Regisseurin Katharina Thalbach sein, um Gefallen an ihrer Medea zu finden. Auch sie agiert allein, ist gleichzeitig Medea, Jason, der ältere und der jüngere Sohn, die Haushofmeisterin. Da kommt der im Booklet abgedruckte Text gerade recht, um gegen Ende die Figuren besser auseinanderhalten zu können. Diese Künstlerin hat durchaus ein breites Spektrum zu bieten, schwingt sich mal zu antiker Größe auf, um dann wieder wie eine Megäre vor sich hin zu schimpfen oder sich stimmlich als kleines Mädchen zu gefallen. Alles in allem wirkt sie auffällig privat. Man meint sie vor sich zu sehen mit der frechen Ballonmütze des Berliner Zeitungsjungen, die zu einem ihrer äußeren Markenzeichen geworden ist. Wer die Thalbach engagiert, bekommt sie immer zu hundert Prozent. Rüdiger Winter

Carl Loewe: Bibelszenen auf der Orgel

 

Wer sich Löbejün nähert, erblickt zuerst den mächtigen Kirchturm von St. Petri, der über der Stadt zu thronen scheint. So hoch erhebt er sich. Angekommen in dem beschaulichen Ort in Sachen-Anhalt, der seit zehn Jahren mit Wettin und einigen anderen Gemeinden eine Verwaltungsgemeinschaft bildet, scheinen alle Wege und Straßen auf das Gotteshaus zuzulaufen. In direkter Nachbarschaft kam am 30. November 1796 der Komponist Carl Loewe auf die Welt. Sein Geburtshaus existiert nicht mehr. Es wurde zwischen 1886 und 1887 durch einen Neubau ersetzt. Der dient nun als Gedenkstätte für den Komponisten. Dem Museum hat der schottische Historiker und Sammler Ian Lilburn (1927–2013) seine einzigartige Sammlung von Tonträgern mit Werken Loewes einschließlich Diskographie vermacht. Ständig kommen neue Titel hinzu. Das Interesse an dem Komponisten ist ungebrochen – auch dank der Bemühungen der Internationalen Carl Loewe Gesellschaft, die ihren Sitz in Löbejün hat und dort regelmäßig Festtage von starker Ausstrahlung mit Künstlern und Gästen aus aller Welt veranstaltet. Sie werden mit schöner Regelmäßigkeit vom Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) übertragen. Nicht wenige hätten es verdient, auch auf Tonträgern festgehalten zu werden.

Die CD-Neuerscheinung Carl Loewe und die Orgel hat ihren ganz besonderen Reiz. Sie wurde in Löbejün produziert, in St. Petri, Loewes Taufkirche. Dort hat sich der originale Taufstein erhalten, die Orgel von damals hingegen nicht. Sie wurde 1901 durch ein Instrument aus der Werkstatt von Wilhelm Rühlmann aus den nahegelegenen Zörbig ersetzt und von 2017 bis 2018 saniert. Mit „ihrem warmen, grundtönigen Klang und ihrer Ausrichtung am spätromantischen Klang“ hätte sie auch den Romantiker Carl Loewe zugesagt, wird im Booklet gemutmaßt. Die CD ist beim Label Querstrand erschienen (VKJK 2013). Sie dürfte das erst offizielle Tondokument Made in Löbejün sein. Als Solist wurde der französische Organist Irénée Peyrot gewonnen, der sich auch dadurch einen Namen gemacht hat, dass er das gesamte Orgelwerk von Max Reger (Querstand) und von Friedrich Wilhelm Zachow, des Lehrers von Georg Friedrich Händel, einspielte (Fagott Orgelverlag).

Hoch über die Stadt erlebt sich der Turm der Stadtkirche St. Petri in Löbejün, wo die Orgel-CD mit Werken von Carl Loewe eingespielt wurde. Links das Museum für den Komponisten. Foto: Winter

Noch immer wird Carl Loewe vornehmlich als Balladen-Komponist wahrgenommen. Schließlich bildet diese Werkgruppe das Zentrum seines Schaffens. Wurde er noch bis in die 1990er Jahren hinein gern auf Die Uhr oder Die Heinzelmännchen reduziert und damit auch gründlich missverstanden, hat sich das Blatt inzwischen gewendet. Bei cpo wurden sämtliche Lieder und Balladen in modernen Interpretationen mit dem umtriebigen Cord Garben am Klavier vorgelegt. Nicht zuletzt dadurch und durch das segensreiche Wirken der gut vernetzten Loewe-Gesellschaft mit ihrem engagierten Präsidenten Andreas Porsche wurde ein Paradigmenwechsel bewirkt. Aus der Versenkung wurden große Chorwerke, Instrumentalwerke und Kammermusik geholt und auch auf CD verbreitet. Jüngere Sänger wie Konstantin Krimmel, Samuel Hasselhorn, David Jerusalem oder Stéphane Degout entdeckten Loewe für sich. Doch auch die Orgel-CD scheint nicht ohne Balladen auszukommen. Sie mussten schon viele Bearbeitungen über sich ergehen lassen, wurden mit verteilten Stimmen gesungen und auch mit diversen nicht näher bezeichneten Orchesterbegleitungen untermalt, womit sie in die Nähe von Salonmusik rückten. Es finden sich aber auch sehr feinsinnige und respektvolle Instrumentierungen der Klavierstimme durch Komponisten wie Hans Pfitzner, Arnold Schönberg, Leo Blech, Bernd Alois Zimmermann und Felix Mottl sowie neuzeitliche Versionen von Michal Dobrzynski aus Szczecin (Stettin), der einstigen Wirkungsstätte Loewes. Sie waren bei den 6. Carl-Loewe-Festtagen 2016 in Löbejün aufs Programm gesetzt worden.

Die Carl-Loewe-Büste auf dem Oberen Markt in Löbejün, der Geburtsstadt des Komponisten. Im Hintergrund die Turmspitze mit dem mächtigen Dach von  St. Petri. Foto: Winter.

Peyrot ging nun das Wagnis eines Arrangements für Orgel ein. Das sind die Titel: Tom der Reimer, Das Erkennen, Die Mutter an der Wiege, Niemand hat’s gesehen und – last but not least – die unverwüstliche Uhr. Und wie klingt das nun? Wer es nicht besser weiß, könnte die Stücke tatsächlich für Orgelkompositionen halten. So genau und durchaus auch passend sind sie auf das Instrument zugeschnitten. Es offenbart sich ein hohes Maß an musikalischem Einfallsreichtum auch jenseits der menschlichen Stimme. Den Höhepunkt bildet für mich das Lied Niemand hat’s gesehen, dessen Schnellläufigkeit die Orgel mit ihren variablen Möglichkeiten gar noch genauer erfassen, aufnehmen und bis zum Ende durchhalten kann als eine Sängerin, für die es geschrieben ist. Peyrot spielt die Stücke sehr elegant, mit Raffinesse versehen und zieht nicht alle Register. Die bleiben mit entsprechender Wirkung der Programmeröffnung der CD vorbehalten: „Nun danket alle Gott“ aus Musikalischer Gottesdienst. Diese Sammlung von zwanzig Choralpräludien bildet eine der umfänglichen Orgelkompositionen Loewes, mit der er protestantische Orgelmusik-Traditionen aufgreift. Das CD-Finale mit „Lobet den Herrn, alle Heiden“ unter Berufung auf die Nr. 9 des Passionsoratoriums Das Sühneopfer des neuen Bundes wirft die Frage auf, welche Textfassung für diese Angabe zugrunde liegt. In allen drei auf CD erschienen und mit Textbüchern versehenen Aufnahmen (FSM, Oehms und Naxos) beginnt dieser Chor der Apostel mit den Worten „Lobet ihr Knechte des Herrn“ aus dem 113. Psalm der Luther-Bibel. Die Gesamtwirkung wird dadurch nicht beeinträchtigt. Sie beruht auf der Musik, nicht auf dem Wort. Was ist noch im Angebot? Neben weiteren Nummern aus dem Musikalischen Gottesdienst der „Gang nach Emmaus“, „Bethesda“ sowie „Martha und Maria“ aus Biblische Bilder, einer Sammlung von Klavierstücken mit ausgesprochen bildhaften Zügen, die Peyrot für die Orgel adaptiert hat. Ebenfalls für Orgel bearbeitet sind „Herr, bleibe bei uns“ und „Also hat Gott die Welt geliebt“ aus dem Oratorium Die Festzeiten. Auch das Passionsoratorium wird nochmals bemüht, diesmal mit dem Schusschor „Es wird gesät verweslich und wird auferstehen unverweslich“.

Es gehört zu den Auffälligkeiten im Werkverzeichnis Loewes, dass er, der begnadete Organist, nur wenige originäre Werke für diese Königin der Instrumente hinterlassen hat. In Stettin brachte er den größten Teil seines Lebens als Musikdirektor zu. Diese Position schloss auch den Dienst an der großen Orgel in St. Jacobi ein. Sie stammte aus der Werkstatt des bedeutenden Hamburger Orgelbauers Arp Schnitger, wurde 1700 fertiggestellt und im Zweiten Weltkrieg zerstört. Loewes enge Bindungen an das Instrument gingen so weit, dass er testamentarisch verfügte, nach dem Tod sein Herz in einen Pfeiler neben der Orgel einzumauern, wofür es trotz diverser Nachforschungen bisher keine belastbaren Beweise mehr gibt. Im Booklet werden die historischen Hintergründe von der in Halle lehrende Musikwissenschaftlerin Cordula Timm-Hartmann ausführlich dargelegt. Sie zitiert auch aus den Erinnerungen des Theologen Friedrich Wilhelm Lüpke an einen Gottesdient 1851 in der Stettiner Jacobikirche, bei dem Loewe in Erscheinung trat: „So ein Orgelspiel habe ich nie wieder gehört.“ Auch Maximilian Runze, der sich wie kaum ein anderer für die Pflege, Erforschung und Verbreitung von Loewes Werken einsetzte, hat ihn in Stettin noch selbst spielen hören, „was mich stets wunderbar ergriff“.

Als Meister der Kammermusik präsentiert sich Carl Loewe auf dieser CD, die bei cpo herausgekommen ist (555 256-2). Solisten sind Henning Lucius (Piano), Marietta Kratz (Violine), Lena Eckels (Viola), Jakob Christoph Kuchenbuch (Violoncello) und Christian Seibold (Klarinette). Das überbordende „Duo Espagnola“ ist das letzte Instrumentalwerk des Komponisten. Im Booklet wird von Cord Garben zu Recht auf die „motivische Nähe einzelner Wendungen des Viola-Parts“ zur Ballade „Der Nöck“ verwiesen. Eine starke Bildhaftigkeit offenbaren die aus drei Teilen bestehenden Schottischen Bilder mit den Titeln „Die Jungfrau vom See“, „Der Wanderer auf Bothwell-Castle“ und Der Schottenclan“. Für Loewe, der zweimal England besucht hatte, blieb Schottland – wie anderen Komponisten auch – ein Sehnsuchtsort.

Bei wem das Interesse tiefer geht, findet eine Fülle an Informationen in der Schrift Carl Loewe Kirchenmusiker und Komponist von Götz Traxdorf. Sie ist beim Verlag Janos Stekovics in der Reihe der Veröffentlichungen der Internationalen Carl-Loewe-Gesellschaft herausgekommen (ISBN 978-3-89923-403-9). Dokumentation und CD dürfen durchaus als Einheit verstanden werden. Traxdorf war vor seiner Pensionierung als Musikbibliothekar in Halle tätig. Seine Arbeit ist von Kenntnis und Verehrung getragen und wahrt doch stets wissenschaftliche Distanz. Der Autor will seine Leser nicht zu Loewe überreden. Er informiert. Was zählt, sind Fakten und Erkenntnisse. Auf knapp hundert Seiten kommt einiges zusammen. Im Zentrum steht das übersichtlich aufgeschlüsselte Verzeichnis von Loewes kirchenmusikalischen bzw. evident religiösen Kompositionen. „Ein Anspruch auf Vollständigkeit kann nicht bestehen, solange nicht das gesamte, das Thema betreffende Material in den infrage kommenden Archiven differenziert sondiert und lückenlos bekannt gemacht worden ist“, heißt es einschränkend gleich zu Beginn in einer Fußnote. Damit ist das Feld für künftige Forschungen abgesteckt.

Der Text selbst ist ein konzentriertes Porträt des Komponisten mit vielen Facetten. Aufgespürt finden sich die „biographischen Voraussetzungen in Kindheit und Jugend“. Leser werden Zeugen jener ungeahnten Bewerbung des jungen Mannes, die aus Loewe den „Kirchenmusiker und Musikdirektor der Stadt Stettin“ macht. Traxdorf begegnet dem „Balladenmeister unter dem Druck seines Amtes“, porträtiert den Organisten Lowe, der keine Zeit gehabt zu haben schien, „seine freien Improvisationen zu Hause aufzuschreiben“, widmet sich der „Vokalmusik für den gottesdienstlichen Bedarf“ und lässt nicht die „erbauliche geistliche Musik außerhalb eines Sakralraumes“ außer Acht, deren melodische Einfachheit vor allem Laien ansprechen sollte und streift schließlich noch die geistlichen Oratorien.

Ihren Abschluss findet die Dokumentation mit einem üppigen Bildteil, der auch zurück an den Ausgangspunkt dieser Besprechung führt – nach Löbejün. Zu sehen ist die alte Orgel in St. Petri von 1591 wie sie noch Loewe kannte und das Bronzedenkmal auf dem Kirchhof, das 1942 eingeschmolzen wurde, aus dessen Form jener Nachbildung aus Löbejüner Porphyr entstand, die heute auf dem Oberen Markt zu einem neuen Wahrzeichen der Stadt wurde. Rüdiger Winter

 

Oben ist das Gemälde „Jesus im Haus vom Martha und Maria“ des italienischen Manierismus-Malers Alessandro Allori (1535-1607), einem Schüler seines Onkels Bronzino, zu sehen. Die Schwestern bieten Jesus Einkehr. Während Maria lauschend zu seinen Füßen sitzt, ist Martha mit der Bewirtung des Gastes beschäftigt. Als sie sich bei Jesus über die Untätigkeit der Schwester beklagt, antwortet dieser laut Bibel: „Martha, Martha, du machst dir viele Sorgen und Mühen. Aber nur eines ist notwendig. Maria hat das Bessere gewählt, das soll ihr nicht genommen werden.“ Diese Bibelszene, die sich im Neuen Testament bei Lukas und Johannes findet, inspirierte Carl Loewe zu einem seiner Biblischen Bilder, das als Orgelbearbeitung auch ins Programm der neuen CD aufgenommen wurde (Historisches Museums Wien). Foto: Wikipedia

Und nochmal alle Neune

 

Mehr noch als im vergangenen Berlioz-Gedenkjahr wirft 2020 der Klassik-Gigant Ludwig von Beethoven (getauft 17. Dezember 1770 in Bonn, Kurköln, gestorben am 26. März 1827 in Wien, Kaisertum Österreich) seinen gewaltigen Schatten über uns. Und wir werden uns nun der Neuaufnahmen und Wiederauflagen oder Gesamtausgaben nicht erwehren können. Wir richten also ähnlich wie für den Kollegen Berlioz eine Sammelseite für Beethoven ein, auf der wir nach Eingang die von operalounge.de besprochenen Einspielungen vorstellen (die Sinfonien und die Gesamtausgaben-Boxen behandeln wir gesondert): Die Auswahl ist eklektisch, je nach Vorliebe der Redaktion und der Rezensenten. Und gar nicht vollständig, aber das kennen unsere Leser ja. Auf also zum Kampf durch die Fülle.

Dass 2020 das große Beethoven-Jahr hätte werden sollen, trat selbst bei eingefleischten Klassik-Hörern einigermaßen in den Hintergrund. Die Tonträgerindustrie hatte freilich vorgesorgt, so dass der Markt erwartbar mit weiteren Aufnahmen überschwemmt werden konnte, darunter komplette Neueinspielungen, ob einzelne Sinfonien oder gesamte Zyklen. Das Königliche Concertgebouw-Orchester Amsterdam, welches in einem Ranking der weltbesten Orchester auf den ersten Platz gewählt wurde, hat sich anlässlich des Beethoven-Jubiläums zu keiner weiteren Neuaufnahme entschlossen, sondern einen Blick in sein umfangreiches Tonarchiv geworfen. Das Ergebnis ist ein „Patchwork-Zyklus“ der neun Sinfonien, allesamt live im Amsterdamer Concertgebouw im Konzert mitgeschnitten, welcher nun in einer 5-CD-Box im typischen Concertgebouw-Design erscheint (RCO 19005). Es wird ein Zeitraum von über vier Jahrzehnten abgedeckt, nämlich die Jahre zwischen 1978 und 2010. Überraschend ist, dass nur ein einziger Chefdirigent des Concertgebouw-Orchesters, nämlich der im letzten Jahr verstorbene Mariss Jansons, vertreten ist. Ansonsten handelt es sich also ausschließlich um Gastdirigenten, was die Sache im Grunde genommen sogar spannender macht.

Den Anfang macht die aktuellste der enthaltenen Aufnahmen: Ein Konzertmitschnitt der ersten Sinfonie unter dem amerikanischen Dirigenten David Zinman vom 9. Juni 2010. Voranstellen sollte man, dass Zinmans Zyklus für Arte Nova Ende der 1990er Jahre für einiges Aufsehen sorgte, sehr gute Bewertungen einheimste und als vielleicht sogar die Aufnahme fürs nächste Jahrtausend galt. Wenig ist von der Euphorie von vor zwanzig Jahren geblieben. Der Zyklus wurde später zwar bei Sony neu aufgelegt, ist aber auch dort bereits wieder vergriffen. Fast hat es den Eindruck, als spräche heute niemand mehr von Zinman, wenn es um Beethoven geht. Dass dennoch mehr dran war als ein kurzfristiger Milleniums-Hype, beweist diese Live-Aufnahme eindrücklich. Mit einer überzeugenden Mischung aus Frische und Ernsthaftigkeit geht Zinman die Sache an und überzeugt im Ergebnis über die Maßen. Vielleicht sind es gerade diese Interpretationen der frühen Beethoven-Sinfonien, die eben nicht im Zuge einer Gesamtaufnahme gleichsam zwingend entstehen, sondern ganz bewusst aufs Konzertprogramm gesetzt werden.

Es schließt sich auf derselben ersten CD, gleichsam als Kontrast, die älteste inkludierte Einspielung an, Sinfonie Nr. 2 unter dem ebenfalls aus den USA stammenden Leonard Bernstein vom 8. März 1978. Interessehalber sei erwähnt, dass an diesem Tage auch die Eroica gespielt wurde, die hier leider nicht berücksichtigt werden konnte, wohl auch, um keinen der berücksichtigten Dirigenten herauszuheben. Dass Bernstein die Zweite von Beethoven auch außerhalb eines Zyklus aufführte, beweist seine Wertschätzung dieses Werkes, das die konsequente Weiterentwicklung nach dem sinfonischen Erstling darstellt und mittlerweile bereits als großer Schritt in Richtung Eroica aufgefasst wird. So unterstreicht Bernsteins hochromantische Lesart gleichsam diese Einordnung und stellt fraglos eines der absoluten Highlights dieser Kassette dar. Groß angelegt und ohne falsche Zurückhaltung lässt er die zweite Sinfonie erstrahlen und übertrifft womöglich sogar noch seine ungleich berühmtere Einspielung mit den Wiener Philharmonikern (DG).

Hollands Glorie: das ehrwürdige Concertgebouw Orkest/ pressphoto Concertgebouw

Die zweite CD startet sodann mit der tatsächlich enthaltenen Eroica unter Nikolaus Harnoncourt vom 16. Oktober 1988. Man sollte hinzufügen, dass Harnoncourt zu dieser Zeit einer der bevorzugten Gastdirigenten des Concertgebouw-Orchesters war und zahlreiche Einspielungen mit demselben vorgelegt hat, die allesamt ein hohes künstlerisches Niveau auszeichnet. So nimmt es nicht wunder, dass auch die dritte Sinfonie von Beethoven eine eindringliche Wiedergabe erfährt. Freilich ist der Zugang ein völlig anderer als bei Bernstein, nüchterner und klassizistischer, ohne ins allzu Akademische abzugleiten. Es ist erstaunlich, wie problemlos sich das tadellos aufspielende Concertgebouw-Orchester den jeweiligen, häufig sehr unterschiedlichen Vorstellungen der Dirigenten anzupassen in der Lage ist. Andererseits darf man genau dies vom angeblich weltbesten Orchester auch erwarten.

Das Gros der Aufnahmen in der Box entstammt dem ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. So auch der sich ebenfalls auf der zweiten Compact Disc befindliche Mitschnitt der vierten Sinfonie vom 19. September 2003 unter der musikalischen Leitung von Herbert Blomstedt. Dieser legte zwei komplette Zyklen der Beethoven-Sinfonien vor, den ersten in den 1970er Jahren mit der Staatskapelle Dresden (Eterna), den zweiten hochbetagt vor wenigen Jahren mit dem Gewandhausorchester Leipzig (Accentus). Die vorliegende Live-Aufnahme datiert zeitlich also dazwischen, ist interpretatorisch aber schon näher an seiner heutigen Beethoven-Auffassung, die in ihrer Ausprägung etwas Norddeutsches hat, das an Günter Wand seligen Angedenkens erinnert. Stringent und ohne Mätzchen, aber auch nicht in puritanischer Askese verkommend, erzeugt sie Hörspaß.

Bei der fünften Sinfonie schließlich, die sich auf der nächsten Disc befindet, tritt der damalige Chefdirigent Mariss Jansons ins Zentrum. In diesem Mitschnitt vom 29. Mai 2008 bezeugt er abermals , weswegen er seinerzeit zurecht gleich zwei Spitzenorchestern vorstand: neben den Amsterdamern ja auch noch dem Bayerischen RSO in München. Es ist ein Beethoven der Mitte, die Extreme vermeidend und doch nicht zur 08/15-Aufführung degradiert, so dass die Inklusion nachvollziehbar erscheint und diese Aufnahme sicher nicht aus Verlegenheit, sondern mit Überzeugung zum Zuge kam. Gleichwohl, ein Blick ins Konzertarchiv des Orchesters zeigt, dass sich etwa auch ein Mitschnitt unter dem greisen Carlo Maria Giulini vom März 1996 angeboten hätte.

Über Geschmack kann man sich streiten – aber das Concertgebouw zählt zu den besten Tonhallen der Welt/ Wikipedia

Hinsichtlich der Pastorale, die sich die dritte CD mit der Fünften teilt, kommt ein Dirigent zum Zuge, der umstritten ist wie wenige andere: Roger Norrington. Am 7. Oktober 2004 mitgeschnitten, erkennt man die ihm ureigene vibratoarme Interpretation, die starke Einflüsse der historisch informierten Aufführungspraxis zeigt. Trotz aller Einwände hat diese Beethoven’sche Sechste unter Norringtons Dirigat gewiss ihre Momente. Das eindrückliche Schlagwerk kommt im Gewitter-und-Sturm-Satz voll zur Geltung. Es ist immer wieder spannend zu hören, wie sich ein solcher Klangkörper der Weltklasse wie das Königliche Concertgebouw-Orchester wirklich jedem Dirigentenstil anzupassen vermag.

Für manch einen der heimliche Kaufgrund dürfte die siebte Sinfonie unter Carlos Kleiber vom 20. Oktober 1983 darstellen, welche CD Nr. 4 einleitet. Eine wirkliche Ersterscheinung ist es allerdings nicht, handelt es sich doch um die Tonspur eines Unitel-Films, der (zusammen mit der Vierten) bereits auf einer Philips-DVD zu haben war. Nun ist die Erwartungshaltung im Falle des jüngeren Kleiber ungemein hoch. Es handelt sich gewiss um eine tänzerisch-beschwingte Wiedergabe, wie man sie bei diesem Dirigenten erwartet. Sie übertrifft die in gewissen Kreisen zum Maß aller Dinge erklärte, etwas sterile DG-Studioeinspielung, die nicht an die fast zeitgleich entstandene, ganz späte Decca-Produktion unter Leopold Stokowski heranreicht – noch immer ein verkannter Geheimtipp. Kleiber junior baut einen solchen Hochdruck auf, so dass seine Siebente durchgehend rastlos erscheint. Eine mögliche, keinesfalls die allein seligmachende Lesart.

Bei der Achten, die die vierte Disc beschließt, steht mit Philippe Herreweghe ein anerkannter Spezialist für Alte Musik am Dirigentenpult, der indes auch schon bis ins 19. Jahrhundert vorgedrungen ist und sogar eine vollständige Beethoven-Sinfonien-Einspielung vorgelegt hat, die von der Kritik gefeiert wurde (Pentatone). Ein wenig ist man bei diesem Live-Mitschnitte der achten Sinfonie vom 5. Oktober 2003 allerdings enttäuscht, stellt sich der große Aha-Effekt doch nicht unmittelbar ein. Was dieses noch immer unterschätzte Meisterwerk angeht, darf auf die klassische Einspielung des greisen Bruno Walter hingewiesen werden (Columbia), die in gewisser Hinsicht noch immer das A und O darstellt.

Den Abschluss muss die neunte Sinfonie bilden, bei welcher auf einen Mitschnitt unter dem ungarisch-amerikanischen Dirigenten Antal Doráti vom 28. April 1985 zurückgegriffen werden konnte. Wer die Vita Dorátis kennt, wird die Aufnahme als unter die letzten dieses Orchesterleiters einordnen können, der damals bereits im achtzigsten Lebensjahre stand. Von einer Altersmilde ist indes keine Spur, ist sein Zugriff doch beherzt und zeigt keine Ermüdungserscheinungen. Das Solistenquartett ist nicht übermäßig prominent und mehr gediegen als wirklich herausragend: Roberta Alexander (Sopran), Jard von Nes (Mezzosopran), Horst Laubenthal (Tenor) sowie – etwas pauschal – Leonard Mróz (Bass). Unterstützt wird die vokale Seite durch den sehr gut aufgelegten Chor des Concertgebouw-Orchesters. Klanglich handelt es sich allerdings um die vergleichsweise schwächste Aufnahme, die nicht durch übermäßige Brillanz punkten kann, jedoch freilich bereits (wie der Rest) in Stereophonie vorliegt. Insgesamt war es wohl ein Anliegen dieser Veröffentlichung, ausschließlich Stereoaufnahmen zu berücksichtigen.

In der Summe lässt sich also eine starke Empfehlung mit einigen wenigen Einschränkungen aussprechen. Die Box lohnt sich bereits allein aufgrund der enthaltenen Bernstein-Aufnahme, die jede Sammlung bereichert. Unterstrichen wird der positive Eindruck durch die kundigen, gar viersprachig (Englisch, Französisch, Deutsch, Niederländisch) vorliegenden Einführungstexte von Bas von Putten. Daniel Hauser

 

Obwohl das große Jubiläumsjahr anlässlich des 250. Geburtstages – am Ende 2020 gesehen – anderweitig schmerzlich überlagert wurde, herrschte kein Mangel an Neuerscheinungen in Sachen Beethoven-Aufnahmen. Harmonia Mundi denkt in seiner sogenannten 2020/2027 Harmonia Mundi Edition bereits weiter, plant man doch offenbar eine Serie, die sich bis zum 200. Todestag Beethovens, den wir erst 2027 Jahren begehen werden, erstrecken soll. Weitere Neuveröffentlichungen stehen jedenfalls bereit, vom geneigten Hörer in Betracht gezogen zu werden.

Aus Malmö: Beethovens Sinfonien mit Robert Trevino und dem Malmö Symphony Orchestra bei Ondine. Großartiger kann man nicht einsteigen. Nicht auf dem CD-Markt, nicht auf dem Konzertpodium. Nicht einfach nur ein oder zwei Beethoven-Sinfonien, sondern gleich alle neun bildeten den Auftakt der Zusammenarbeit des Malmö Symphony Orchestra und seines im Oktober 2019 neugekürten Chief Conductor Robert Trevino. Die Tinte unter dem Vertrag war kaum getrocknet, als Orchester und Dirigent ihre Partnerschaft im gleichen Monat im Rahmen eines Beethoven-Festivals mit allen neun Sinfonien an vier Abenden besiegelten und im Konserthus live aufnahmen. Für Trevino ist es zwar nicht das CD-Debüt aber immerhin der Einstand bei Ondine, die die fünf CDs in aparter Klappbox und englischem Beiheft samt Interview mit dem Dirigenten herausbrachten (ODE 1348-5Q). Nach Ádám Fischers Aufnahme aus Kopenhagen ist diese von der schwedischen Seite des Öresund stammende Aufnahme der zweite skandinavische Beethoven-Zyklus im Jubiläumsjahr. „The spirit of Beethoven“, den Trevino verspürte, als er erstmals die Fünfte dirigierte, vermittelt sich dem Hörer, der unwillkürlich nach dem Sinn dieser Aufnahme fragen wird, bei den beiden ersten Sinfonien noch nicht. Die erste birgt noch die Welt von Haydn und Mozart, die zweite ist, laut Trevino, „a statement of intent“, doch auf mich wirken die Aufnahmen trotz schöner Momente mit den Holzbläsern und fein empfundenen romantischen Stimmungen, uninteressant, werden im Verlauf immer langweiliger, und das hat nichts mit dem – gegenüber Fischer – durchgehend etwas längeren Spieldauern zu tun (die dritte und vierte auf einer CD mit 85 Minuten Spieldauer). Hier tasten sich Dirigent und Orchester mehr aneinander als an die Welt der Wiener Klassik heran. Der 36jährige Amerikaner mexikanischer Abstammung – eigentlich Treviño  – der neben dem schwedischen Chefposten auch den beim Baskischen Nationalorchester in San Sebastián innehat, Opern am Bolshoi und in Washington dirigierte, kürzlich in Zürich die Carmen machen sollte und bei mehreren bedeutenden Orchestern bereits seine Visitenkarte abgegeben hat, hat im Hinblick auf diesen Zyklus David Zinman, der neben Leif Segerstam und Michael Tilson Thomas  einer seiner Lehrer war und stets eine historische informierte Aufführungspraxis vertrat, und Daniel Barenboim konsultiert und wählte den nicht unüblichen Weg „historically informed in the way we attack some thing but acknowledging that we’re playing modern instruments with a long tradition“. Attacke und Gestaltungswille und der Elan, unbedingt etwas beweisen zu müssen, teilen sich im Scherzo und vor allem im Finale der Dritten mit. Trotz der Stürme, die Trevino gerne entfacht, ist seine Darstellung ungemein klar und lyrisch grundiert. Er gibt den Instrumenten ausgiebig Gelegenheit, sich vorzustellen, den Streicher in Finale der Dritten, Klarinette und Fagott in der vierten, Oboe im ersten Satz der Fünften. Trevino versucht alle Gruppen durchsichtig und dennoch voll klingen zu lassen. Die Technik hat den Konzerthausklang gut eingefangen. Die ihn live hörten, beschreiben Trevino als vor Energie berstenden Dirigenten mit präziser Vorstellungskraft. Das ist im Trauermarsch der  Eroica zu spüren, im Adagio der vierten, mehr im ersten Satz als im Finale der Fünften, in der Sturmszene der Pastorale, doch manchmal übertreibt er Tempo und Effekte, wie in der Siebten und Achten, der neunten fehlt es, wie auch dem Finale der Drittem, an manchen Stellen an Grandeur; die Solisten Kate Royal, Christine Rice, Tuomas Katajala und Derek Walton sind gut, der MSO Festival Chorus klingt etwas entfernt. Kein schlechter Einstand.  Rolf Fath

 

Und nun zu hmf: die konventionellere Doppel-CD mit der neunten Sinfonie sowie der in gewisser Hinsicht als eine Art Vorläuferin zu bezeichnenden Chorfantasie bei harmonia mundi france (HMM 902431.32) Es spielt das Freiburger Barockorchester unter der Stabführung des spanischen Dirigenten Pablo Heras-Casado, der sich längst einen Namen gemacht hat, und zwar gerade auch bei diesem Label. Das Barockorchester aus Freiburg ist längst in die Vorklassik, die Klassik und sogar in die Romantik vorgestoßen. So standen nicht nur die heftig diskutierten Mozart-Einspielungen unter René Jacobs im Fokus (besonders der Don Giovanni), sondern präsentierte man gar auch einen kompletten Zyklus der fünf Sinfonien von Felix Mendelssohn Bartholdy, wiederum unter Heras-Casado. Hörenswert sind die postbarocken Ausflüge des Orchesters allemal, wie sich auch diesmal erweist. Originalinstrumente bei Beethoven sind seit vierzig Jahren keine Besonderheit mehr, so dass auch diesmal das Rad nicht neu erfunden wird. Die sehr flotten, metronomnahen Tempi reißen nicht mehr per se so sehr vom Hocker wie einst. Dass der Kopfsatz und das Scherzo praktisch auf dieselbe Spielzeit (13 und eine halbe Minute) kommen, mag Zufall sein. Ein Gefühl von maestoso will im ersten Satz jedenfalls nicht aufkommen. Das Adagio gerät mit zwölf Minuten beinahe zur Karikatur, wobei man dazu sagen sollte, dass einst schon Sir John Eliot Gardiner dieses recht absurd anmutende Tempo anschlug. Wird jeder Satz dermaßen schnell gespielt, muss dies auf Kosten der inneren Proportionen des Werkes gehen. Mit 61 Minuten Gesamtspielzeit gehört die Neuaufnahme definitiv zu den allerflottesten auf dem Markt. Die beste HIP-Einspielung stellt sie indes mitnichten dar. Diese wurde im Vorjahr ganz unverhofft von Masaaki Suzuki mit dem Bach Collegium Japan und überragenden Solisten bei BIS vorgelegt. Dies liegt nicht nur daran, dass sich Suzuki fünf Minuten mehr Zeit nahm. Auch klanglich kann die HM-Aufnahme nicht ganz mithalten. Mit Christiane Karg, Sophie Harmsen, Werner Güra und Florian Boesch steht Heras-Casado ein sehr adäquates Solistenquartett zur Verfügung, doch vermisst man den gewissen Aha-Effekt, welchen Suzuki erzielte. Die Zürcher Sing-Akademie meistert den schwierigen Chorpart souverän. Das eigentliche Highlight dieser Neuproduktion (Anfnahme: Teldex Studio Berlin, November 2019) ist dann eher die „Beigabe“ auf der zweiten CD: die Chorfantasie, in der Kristian Bezuidenhout den Fortepiano-Part meisterlich beisteuert. Das dreisprachige Beiheft (Französisch, Englisch, Deutsch) mit Einführungstexten von Barry Cooper und Christian Girardin ist vorzüglich.

Die eigentlich interessantere Neuerscheinung stellt die Compact Disc mit Beethovens Sinfonie Nr. 6, der Pastorale, in Verbindung mit dem über zwanzig Jahre zuvor entstandenen Vorläufer, Le Portrait musical de la Nature ou Grande Symphonie, von Justin Heinrich Knecht (1752-1817) dar (HMM 902425). Es zeichnet verantwortlich die Akademie für Alte Musik Berlin unter ihrem Konzertmeister Bernhard Forck. Tatsächlich ist es erstaunlich, welche Parallelen diese beiden Werke, die jeweils eine musikalische Naturschilderung darstellen, aufweisen. Dies beginnt bereits bei der untypischen Fünfsätzigkeit, derer sich Knecht bereits 1785 bediente. Im Mittelpunkt steht da wie dort ein Gewitter, obschon es sich im älteren Werk gleichsam auf die Sätze 2 bis 4 erstreckt, vom Verdunkeln des Himmels bis zum allmählichen Verziehen und Wiederaufhellen, insgesamt gute zehn Minuten, was beinahe die Hälfte der Sinfonie ausmacht. Dies ist bekanntlich anders bei Beethoven, der fast eine Generation jünger war. Hier nimmt das Gewitter nur in etwa ein Zehntel der Pastoral-Sinfonie ein, hier konkret 4 Minuten von insgesamt 41 Minuten Spielzeit. Freilich bediente sich Beethoven bereits einer gänzlich anderen, deutlich expressiveren Tonsprache als sein Vorläufer. Zwischen 1785 und 1808 (Uraufführung der Pastorale) lagen Umwälzungen von einer solchen Tragweite, wie sie die Menschheit selten erlebte – Stichwort Französische Revolution und deren Folgen. Dies musste sich zwangsläufig auch in der Musik ausdrücken. Das soll im Umkehrschluss allerdings nicht bedeuten, dass Knechts „Proto-Pastorale“ belanglos herüberkäme. Zumindest in dieser nagelneuen Darbietung erzeigt sich das Potential dieses zu Unrecht fast unbekannten Werkes, dessen Höhepunkt selbstredend der stürmische, beinahe kriegerische mittlere Satz mit dem eigentlichen Gewitter darstellt. Hier werden die Vorteile einer historisch informierten Aufführungspraxis deutlich, vermitteln die zupackend aufspielenden Pauken doch einen furiosen Eindruck von der Szenerie, fast wie eine Vorahnung auf die noch in der Zukunft liegenden Ereignisse. Hier wurde eine Referenzaufnahme vorgelegt. Die Konkurrenz hervorragender Interpretationen der Beethoven’schen Sechsten ist dem gegenüber geradezu grenzenlos, so dass man mit einem anderen Erwartungshorizont herangeht. Und doch: Forck und den „alten“ Berlinern gelingt das Kunststück, eine der bezwingendsten Darbietungen der Pastorale vorzulegen, die auf Tonträger erschienen sind. Zumal im HIP-Bereich wird man lange suchen müssen, um eine ähnlich überzeugende Einspielung aufzutreiben. Anders als Heras-Casado setzt Forck auf gemäßigte Tempi, wodurch gerade der Gewittersturm gewinnt, der in seiner unbarmherzigen Unmittelbarkeit des Ausdrucks gar einen Hauch Furtwängler in sich trägt – man sollte es nicht für möglich halten. Tontechnisch weiß diese Scheibe völlig zu überzeugen, was wiederum auch für das dreisprachig gehaltene Booklet (Französisch, Englisch, Deutsch) mit Texten von Forck und Peter Gülke gilt. Ohne Einschränkungen ein großer Wurf. Daniel Hauser

 

Der Hype um Teodor Currentzis, den griechisch-russischen Dirigenten-Popstar, ist seit Jahren ungebrochen. Dafür sorgt nicht nur dessen ihm ureigene Exzentrik, sondern freilich auch Sony, sein Hauslabel. Dass die nun veröffentlichte Einspielung von Beethovens fünfter Sinfonie (Sony 19075884972) im Design des legendären Duftes Chanel Nº 5 daherkommt, ist sicherlich kein Zufall. Exklusivität ist das Credo, das auch notwendig ist, will man den potentiell Kaufwilligen, der noch kein Jünger des Maestros ist, dazu animieren, 15 Euro für 30 Minuten Musik auszugeben. Mehr ist tatsächlich nicht auf dieser Compact Disc enthalten. In einer Vorankündigung hieß es, die siebente Sinfonie werde zeitnah nachgereicht – Dekadenz pur, die man sich nicht einmal in der CD-Frühzeit in dieser extremen Ausprägung erlaubt hätte. Zugegeben: Die Cover-Gestaltung bei Currentzis-Aufnahmen ist in den meisten Fällen wirklich ausgefallen. Und auch der Inhalt wusste in der Vergangenheit überwiegend zu überzeugen – ob nun jetzt wegen oder doch eher trotz Currentzis. Freilich: Mitnichten alles liegt ihm, doch für welchen Dirigenten gälte diese Einschränkung nicht. Eigentlich ging ich ernüchtert an diese Neuerscheinung heran, war mir doch ein Live-Mitschnitt desselben Werkes unter diesem Dirigenten von den BBC Proms vom Juli 2018 in unguter Erinnerung. Dass die Sony-Produktion zwischen 31. Juli und 4. August desselben Jahres im Wiener Konzerthaus eingespielt wurde, legte auf dem Papier nahe, dass das nicht viel besser sein würde. Weit gefehlt. Dass man hier, ganz altmodisch, auf eine echte Einspielung im alten Sinne setzte, hat sich eindeutig gelohnt. Ist Currentzis am Ende vielleicht, entgegen des Klischees, gar nicht unbedingt der Live-Klangmagier, sondern erzielt er seine besten Ergebnisse im  klassischen Aufnahmestudio, wo alles bis ins kleinste Detail ausgetüftelt ist und man den Wünschen des Meisters minutiös nachkommen kann? Zumindest haben mich bisher seine offiziellen Platteneinspielungen mehr überzeugt als die gar nicht so wenigen Mitschnitte aus dem Rundfunk und Fernsehen. Klanglich hat Sony hier wirklich Maßstäbliches geleistet. Kein Vergleich mit der ungünstigen Akustik, die bei der BBC damals im Radio herüberkam.

 Ohne Frage: Das Geschäftsmodell, dass Sony hier abzieht, ist unverschämt. Andererseits ist diese Aufnahme auch unverschämt gut. Gewiss nicht die definitive Lesart, wie könnte sie es auch sein. Doch hat der Dirigent etwas mitzuteilen. Die Radikalität seines Ansatzes, frappierend exekutiert von seinem auf ihn eingespielten und bestens aufspielenden Orchester MusicAeterna, ruft, bald ein halbes Jahrhundert nach den ersten HIP-Versuchen, bestimmt keine neue Ära in Sachen Beethoven-Interpretation aus, doch fließt die Musik bei Currentzis in einer Sogwirkung dahin, wirkt alles organisch und nicht zwecks bloßer Effekthascherei aufgesetzt. Genau das werfen seine schärfsten Kritiker Currentzis häufig vor, wagnerisch ausgedrückt: „Effekt ohne Ursache“. Mir stellt sich dieser Eindruck hier nicht ein. Eigentlich exerziert der Dirigent genau das, was Nikolaus Harnoncourt bereits vor Jahren proklamiert hat: Die Beethoven’sche Fünfte als Programmmusik der Französischen Revolution. Harnoncourts hoch umstrittene Werkanalyse, die der Fünften gar als einziger Beethoven-Sinfonie ein solches Programm unterstellte, passt ausgezeichnet auf Currentzis‘ Interpretation: Im Kopfsatz die Darstellung eines unterdrückerischen Regimes, das jeden Aufruhr im Keim erstickt; im langsamen Satz innere Einkehr der Freiheitsliebenden im Sinne eines Gebetes; im Scherzo sodann der erst kaum merkliche, dann aber unaufhaltsam werdende Übergang zum (diesmal erfolgreichen) Aufbegehren; im Finale schließlich der Sieg  der Freiheit über die Tyrannei. Ein zeitloses Plädoyer, das einem Beethoven durchaus zuzutrauen gewesen wäre. Selbst wenn Harnoncourt geirrt haben sollte, so stellt gerade Currentzis diese Hypothese ungemein überzeugend dar – und verzichtet, anders als seinerzeit der greise Altmeister (übrigens auch bei Sony), sogar auf sehr eigenwillige Manierismen.

Abschließend könnte man sagen: Frechheit siegt. Sonys Abzocke macht jetzt schon gespannt auf Currentzis‘ Darbietung der Siebenten. Immerhin: Diese wird dann wohl auch unter Currentzis die CD mit etwas mehr als bloß einem halben Stündlein füllen. Daniel Hauser

 

Und noch ein Beethoven-Zyklus im Beethoven-Jahr. In kurzer Abfolge erscheint jetzt die zweite Gesamteinspielung der neun Sinfonien Ludwig van Beethovens mit dem WDR Sinfonieorchester, dem früheren Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester: Im vorigen Jahr brachte Profil/Hänssler einen Zyklus mit dem seinerzeitigen Chefdirigenten Jukka-Pekka Saraste auf den Markt, nun folgt Pentatone mit einem weiteren, auf fünf CDs verteilten Zyklus unter Marek Janowski (PTC 5186 860). Richtig gelesen. Der mittlerweile 81-jährige, in Warschau geborene und in Wuppertal aufgewachsene Dirigent ist bislang nicht unbedingt als Interpret des Bonner Meisterkomponisten in Erscheinung getreten. Auch kommen einem eher andere Orchester zuerst in den Sinn, denkt man an Janowski, der sich gerade als Wagner-Dirigent einen Ruf erarbeitet hat. Dessen ungeachtet, ist diese Gesamtaufnahme mehr als bloß hörenswert. Das liegt zu einem nicht unerheblichen Teil schon einmal an der sehr guten Tontechnik, die man bei einer nagelneuen Einspielung, die zwischen September 2018 und November 2019 in der Kölner Philharmonie entstand, aber auch erwarten darf. Welchen Preis kann man mit dem gefühlt tausendsten Beethoven-Zyklus noch gewinnen? Diese Frage stellt sich hier mitnichten, braucht Janowski ja niemandem mehr etwas beweisen. Als längst etablierter und in aller (Klassik-)Welt bekannter Orchesterleiter hat er eine solche Profilierung nicht mehr nötig. Die viel bemühte Formulierung der Altersweisheit, wie weiland etwa bei Günter Wand und jüngst bei Herbert Blomstedt, verkommt allzu leicht zur bloßen Phrase, trifft es im Kern aber ganz gut. Weder will Janowski die Beethoven-Interpretation neu erfinden, noch verfolgt er die Imitation eines längst verflossenen Beethoven-Bildes. Die überzeugende Synthese aus großem Sinfonieorchester und nicht übermäßig romantisiertem Orchesterklang ist festzuhalten. Allzu schroffe Akzente und Übertreibungen sind Janowskis Sache nicht. Es handelt sich um eine im besten Sinne hochseriöse Wiedergabe. Ja man könnte soweit gehen und es gar zu einer adäquaten Einsteiger-Einspielung zu deklarieren, ungeachtet der landläufigen Standardempfehlungen, die in aller Munde sind. Gerade die ersten beiden Sinfonien, in konventionellen Gesamtaufnahmen mitunter eher der Vollständigkeit halber mit enthalten, kommen hier durchaus zu ihrem eigenständigen Recht, ohne dass auf Biegen und Brechen das gewiss vorhandene revolutionäre Element übersteigert würde. Erstaunlich frisch, ohne wegen Leichtgewichtigkeit gänzlich abzuheben, erklingt die Eroica, der Janowski das Pathos versagt, welches ihr Dirigenten wie Klemperer, Giulini oder auch der in unseren Breiten viel zu wenig geläufige Asahina angedeihen ließen. Freilich verkommt es nicht zu einer beinahe schon parodierenden Lesart, wie sie diverse „HIPisten“ an den Tag legen. Durch Janowskis Ansatz wird der häufig kolportierte Quantensprung von der zweiten zur dritten Sinfonie relativiert, letztere nicht zum spätromantischen Monstrum aufgebläht. Nur logisch, dass die darauffolgende Vierte, die zu solchen Auslegungen noch nie recht taugte, deswegen auch nicht „abfällt“, wie in der Rezeption bisweilen der Eindruck erzeugt wird. Wohl keine andere der neun Beethoven-Sinfonien wurde von eben dieser Rezeption derart mystifiziert wie die Fünfte, zur deutschen „Schicksalssinfonie“ erklärt. Marek Janowski scheint sich schlichtweg auf die Noten selbst zu verlassen. Das Ergebnis spricht für sich. Mit Fug und Recht kann man von einer der großen modernen Darbietungen dieses „rauf und runter“ exerzierten Meisterwerkes sprechen. Bemühte Überbetonungen werden vermieden, doch wo es sich anbietet, spielt der Dirigent gekonnt mit behutsam eingesetzten dezenten Rubati, ohne dass auch nur entfernt der Eindruck von Willkür aufkäme. Ungemein einnehmend etwa das mit Herzblut dargebotene Scherzo. Die Akribie, mit der im Finalsatz scheinbar nebensächliche, oft überspielte Details beleuchtet werden, überrascht allemal. Der Kopfsatz der Pastorale ist bei Janowski tatsächlich das vom Komponisten deklarierte Erwachen, kein Dahindämmern wie in sehr vielen Einspielungen (so reizvoll dies im Einzelfall auch klingen mag). Wie gewaltig die Dynamik der WDR-Tontechnik ist, lässt sich im Gewitter-und-Sturm-Satz erfahren, der hier zwar nicht zum Weltgericht ausartet, aber doch den notwendigen scharfen Kontrast zu den anderen Sätzen darstellt. In der Siebenten arbeitet Janowski gerade die Zwischentöne heraus, so insbesondere im feurigen Finale. Im Kopfsatz setzt er auf ein gleichmäßiges Tempo und vermeidet im darauffolgenden Allegretto ein Verschleppen. Die Achte versucht in der hier vorgelegten Aufnahme gar nicht erst groß zu erscheinen und kommt so kammermusikalisch herüber wie keine andere der Sinfonien in der Box. Dies irritiert im ersten Moment, rückt das unterschätzte Werk aber auch näher an Haydn heran, dem Beethoven hier wohl eine postume Hommage darbrachte. Die abschließende neunte Sinfonie ist in jeder Gesamteinspielung gewissermaßen die Bewährungsprobe, was nicht nur an ihren Dimensionen, sondern auch am Hinzutreten des Gesangsteils liegt. Nicht wenigen Beethoven-Zyklen bleibt aufgrund Unstimmigkeiten im vokalen Finalsatz der Neunten eine vollumfängliche Empfehlung verwehrt. Einen tendenziellen Vorteil hat diese Neuaufnahme insofern, als einzig Muttersprachler/innen beteiligt sind: Die Sopranistin Regine Hangler, die Altistin Wiebke Lehmkuhl, der Tenor Christian Elsner sowie der Bassist Andreas Bauer Kanabas. Wie in der Parallelaufnahme unter Saraste, wird der WDR Rundfunkchor durch den NDR Chor verstärkt. Mit 64 Minuten Spielzeit zählt Janowskis Interpretation zu den flottesten, zumal unter den Nicht-HIP-Aufnahmen. Der erste Satz gerät in der Tat vorwärtsdrängend, ohne des Guten zu viel, auch wenn man sich in der letzten Minute des Kopfsatzes ein klein wenig mehr maestoso gewünscht hätte. Fetzig die stellenweise sehr prominent hervortretenden Pauken, was der Dramatik zugute kommt. Das wird auch im Scherzo deutlich, in welchem Janowski sämtliche Wiederholungen beachtet, wodurch der Satz mit 14 Minuten annähernd dieselbe Länge aufweist wie der vorangehende. Das Adagio ist gar eine Minute kürzer, wodurch es auf den ersten Blick in Verdacht gerät, etwas zu unterkühlt herübergebracht zu werden. Glücklicherweise stellt sich dieser Eindruck beim tatsächlichen Hören nicht ein. Das Solistenquartett im Schlusssatz ist indes unausgewogen. Während Bauer Kanabas‘ mächtiger Bass Größeres erhoffen lässt, fehlen Elsners lyrischem, etwas glanzlosen Tenor die hier wünschenswerten heldischen Anflüge. Die Damen zumindest individuell und klar voneinander unterscheidbar. Tadellos die Chorleistung. Bis auf minimalste Unsauberkeiten, die sich an einer Hand abzählen lassen, spielt der Klangkörper des Westdeutschen Rundfunks formidabel und unterstreicht die dirigentische Leistung nachdrücklich. Die englisch-deutsche Textbeilage (Text: Kasper van Kooten) fällt gediegen aus. Daniel Hauser

 

Auf das berühmteste Ta-ta-ta-taaa der Musik-Geschichte, das die Sinfonik wie eine Wasser-Scheide in ein davor und danach trennen sollte, was man von der Zweiten und Dritten ebenso behaupten könnte, eilte Ludwig van Beethoven in raschen Schritten zu. Er war nach den Verhältnissen der Zeit bereits relativ alt, als er mit 30 Jahren seine erste und im April 1800 in Wien uraufgeführte Sinfonie vorlegte, die von ihrer kunstvollen Einleitung und der durchbrochenen Instrumentation bis zur langsamen Einleitung des vierten Satzes in vieler Hinsicht bemerkenswert ist. In kurzen Abständen schlossen sich die weiteren Sinfonien bis zur Fünften an. Adam Fischer und das Danish Chamber Orchestra bei Naxos weisen in ihrer nun preisgekrönten, kräftig animierten, bei lebhaft ausgewogenen Tempi im Detail geradezu liebevoll ausgeformten und durchsichtig leichten Wiedergabe der C-Dur Sinfonie op. 21  auf das Erbe hin, vor allem die Jupiter-Sinfonie, doch scheint mir vor allem eine menschliche Wärme wie in den Sinfonien Haydns, seit dessen letzter Sinfonie inzwischen fünf Jahre vergangen waren, vorzuherrschen. Die zweite Sinfonie, zwei Jahre später uraufgeführt, spielen Fischer und sein Orchester mit der zielgerichteten Emphase, mit der Beethoven auf das Finale hinarbeitet, gewichtig und ruhig, doch nie schwerfällig im ersten Satz, dem gegenüber der Ersten viel ausgedehnteren Adagio, bis zur aufbäumenden und überwältigenden Coda im vierten Satz. Unter den viele dutzend Gesamteinspielen aller neun Sinfonien gibt es keine, die als Maß der Dinge gilt, wobei weitgehende Einigkeit darüber herrscht, dass Herbert von Karajans erste Aufnahme mit den Berliner Philharmonikern von 1963 einem Ideal relativ nahekommt. Im Beiheft der Naxos-Box (5 CD in Pappschubern und dän./engl. Beiheft 8.505251) meint Fischer, „Jedes Mal, wenn ich vor 20 Jahren eine CD kaufte, erwartete ich, dass dies die letzte, ultimative Aufnahme eines bestimmten Werkes sein sollte. Doch nach und nach kam ich zu der Überzeugung, dass die Vorstellung von einer ultimativen Aufnahme eine Illusion ist. Sie existiert nicht. Genauso wie ich hinnehmen muss, dass das Orchester und ich unseren Beethoven in ein paar Jahren anders spielen werden. Wie ändern uns alle. Wir werden älter.“

Fischer, der sich über Jahrzehnte eine gewissen Jugendlichkeit und gleichbleibende Bescheidenheit bewahrt hat, kann auf eine immense Kapellmeister- und Repertoireerfahrung zurückgreifen. Aus der Talentschmiede Swarowskys kommend, wurde er Korrepetitor in Graz, in jungen Jahren bereits Kapellmeister in Helsinki und Karlsruhe, ab 1981 GMD in Freiburg, dann Kassel und Mannheim, daneben war er ab 1978 Gast an der Bayerischen Staatsoper, wo er Böhm den Fidelio und Kleiber den Otello nachdirigieren durfte, und ab 1982 auch in Wien, wo er, ebenfalls nach dem Fidelio, gleich eine Premiere (Die verkaufte Braut) bekam. Es folgten die weiteren internationalen Häuser von der Met bis zur Scala und schließlich Bayreuth 2001 mit dem Ring, ab 1987 spielte Fischer in Eisenstadt sämtliche 104 Sinfonien Haydns ein, seit 1998 ist er in Kopenhagen Chefdirigent des traditionsreichen Dänischen Rundfunkorchesters, das seit seiner Abwicklung 2014 mittlerweile als unabhängiges Danish Chamber Orchestra firmiert. Mit dem Ensemble spielte Fischer alle Sinfonien Mozart ein, von 2016 bis 2019 folgten die jetzt komplett vorliegenden neun Sinfonien Beethovens; sein zwei Jahre jüngerer Bruder Ivan Fischer war ihm mit dem Concertgebouw Orkest einen Schritt und fünf Jahre voraus. Ein konsequenter Weg. Eine Logik und ein schlüssiger Ansatz, die sich auch im Verlauf des aufnahmetechnisch soliden und interpretatorisch ausgewöhnlichen Kopenhagener Beethoven-Projekts wiederspiegeln: in der durchgehend inspirierten, kraftvoll fest und energisch, mit starker  Emphase und bei relativ rascher Spielzeit von 45 Minuten bis zum fesselnden, atemberaubend subtilen, mit vielen Zwischentönen gespielten Finale der Eroica, deren ursprünglicher Titel Sinfonia Eroica … composta per festeggiare il sovvenire di un grande Uomo lautete, in der das Orchester im Pomposo des Trauermarschs fehlenden seidigen Streichglanz durch die Attacke und den Biss der Holzbläser ausgleicht, dann in der ebenso durchsichtig eleganten wie wütend stürmenden, von Bernstein als the biggest surprise package Beethoven has ever handed us bezeichneten vierten Sinfonie op. 60, die Fischer nicht als Nebenwerk zur gleichzeitig entstanden Fünften auffasst und mit starker und einfühlsamer Linie zeigt. Der organische Aufbau der Fünften vom messerscharfen Ta-ta-ta-taa, mit dem das Schicksal an die Tür klopft, zeigt bestürzende Größe wie kurze Augenblicke des Innehaltens, die Streicher, Holzbläser und Horn im Scherzo sind markant, und besitzt eine Spannung die sich im Finale entlädt; eine andere Art Spannung baut Adam Fischer in den getreu der französischen Aufklärung nach retour à la nature rufenden romantischen Szenerien der Pastorale op. 68 auf, in denen das  Erwachen heiterer Empfindungen bei der Ankunft auf dem Lande zu einer Sturmszene von elementaren Ausmaß führt. In den lautmalerischen und pastoralen Bildern kann Fischer seine breiten Haydn-Erfahrungen ausspielen, ohne bei diesem Tag auf dem Land pure Kulissenschieberei zu betreiben. Mit geschmeidiger Rhythmik und einem furiosen Finale erklingt die fünf Jahre nach der Pastorale bei ihrer Uraufführung 1813 mit einhelliger Begeisterung aufgenommene Siebte, laut Wagner Eine Apotheose des Tanzes, der eine energische und lichte Widergabe der (vor der siebten Sinfonie aufgenommenen) Achten folgt. Der schlanke an der historischen Aufführungspraxis orientierte Klang, straffe Tempi, pulsierender Rhythmus, Neugierde und ein Sinn für die herben, revolutionär ungestümen Kontraste und die ins Geschehen hineingeschleuderten Kommentare der Soloinstrumente sind kennzeichnend für Fischers ausgezeichnete Interpretation des Zyklus, die sich gleichwohl Ruhe für die ariosen, humoristisch spielerischen und melancholischen Momente nimmt und in der Neunten mit dem Danish National Concert Choir (und enttäuschendem Solistenquartett Sara Swietlicki, Morten Grove Frandsen, Ilker Arcayürek und Lars Møller) die Würde der Ode An die Freude betont.  Rolf Fath (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)

Auf den ersten Blick hat es den Eindruck, als habe Roger Norrington, mittlerweile sage und schreibe 86 Jahre alt, einen weiteren Zyklus der neun Beethoven-Sinfonien vorgelegt. Die neue Box von SWR Music (SWR19525CD) vermittelt zumindest zunächst diesen Eindruck. Dass es sich um eine Neuauflage der Anfang der 2000ern erschienen Einzel-CDs handelt, wird erst bei genauerem Hinsehen klar. Die Beethoven-Beschäftigung Norringtons geht indes noch weiter zurück, denn bereits in den späten 1980er Jahren legte er einen ersten, in Teilen sehr umstrittenen Zyklus mit den London Classical Players vor (EMI bzw. Erato). Der zweite Zyklus, um den es hier gehen soll, entstand während Norringtons Tätigkeit als Chefdirigent des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart (1998-2011), welches 2016 mit dem SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg zum SWR-Symphonieorchester fusionierte. Obwohl es sich bei den zwischen 29. August und 8. September 2002 im Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle anlässlich des Europäischen Musikfestes entstandenen Einspielungen genau genommen um Live-Mitschnitte handelt, ist die Klangqualität frappierend gelungen und sind Störgeräusche weitestgehend nicht zu vernehmen. Einzig der jeweils enthaltene, recht lange Applaus verdeutlicht den Charakter dieser Aufnahmen. Augenscheinlich wurde für diese Produktionen auch nicht nachgebessert, weshalb ein paar vernachlässigbare Unsauberkeiten im Orchesterspiel stehengeblieben sind, was freilich wiederum der Authentizität zuträglich ist. Obwohl ich mich selbst nicht gerade als Anhänger dieses Dirigenten bezeichnen würde, der bekanntlich einem berühmt-berüchtigten Nonvibrato-Klangideal huldigt, bleibt doch festzustellen, dass es sich im Großen und Ganzen um einen wirklich überzeugenden und legitimen Beethoven-Ansatz handelt, der sehr zugespitzt sein kann, aber nie übertrieben oder willkürlich erscheint. Manche Details arbeitet Norrington dergestalt heraus, dass man meint, das noch nie auf diese Weise vernommen zu haben. Die dynamische Bandbreite des Ausdrucks ist gewaltig und einzelne Instrumente sind durch die große Transparenz klar verortbar. Es wird zwar auf modernem Instrumentarium und mit großem Orchester musiziert, doch klar von der historischen Aufführungspraxis beeinflusst. Während manche der Sinfonien von dieser Herangehensweise hörbar profitieren (etwa eine stark aufgewertete Achte, eine gar nicht romantisierte Pastorale und eine wirklich formidable Vierte, die an die ganz großen Interpreten der Vergangenheit denken lässt – großartig die Überleitung vom anfänglichen Adagio zum Allegro vivace), kommt mit der Fünften das Schlachtross etwas holzschnittartig herüber, auch wenn selbst da gewisse Stellen wie die hier sehr paukenlastig geratene mysteriöse Überleitung in den Finalsatz gut gelingen. Norrington erzielt Kontraste eher durch Modulation der Lautstärke, weniger durch Eingriffe in die Agogik. Die ersten beiden Sinfonien werden durch diese Konzept aufgewertet; bei der Eroica stößt es wiederum an seine Grenzen, passen zum heroischen Pathos dann wohl doch eher andere Ansätze. Wirklich feurig gelingt die Siebente, bei der man im Finalsatz (schön mit geteilten Streichern) atemlos zurückbleibt. Norrington lässt offenbar sämtliche Wiederholungen spielen. Mit kaum 63 Minuten Spielzeit legt er eine der flottesten Aufnahmen der Neunten vor. Bereits im Kopfsatz Sturm und Drang, keine proto-brucknerische Vergeistigung. Durchaus gangbar. Dies gilt auch für das Adagio mit gerade zwölf Minuten. Problematisch allerdings, dass sich beide Sätze dadurch temporal nicht mehr so stark vom dazwischen liegenden, hier mächtig donnernden Scherzo unterscheiden – klar einer der stärksten Sätze der Gesamtaufnahme. Gradmesser bei diesem Werk ist immer der Finalsatz, bei welchem unterschiedliche Faktoren zusammenkommen müssen, damit aus einer sehr guten eine herausragende Aufnahme wird. Das Solistenquartett ist mit Camilla Nylund (Sopran), Iris Vermillion (Alt), Jonas Kaufmann (Tenor) sowie Franz-Josef Selig (Bass) prominent besetzt. Seligs schlanker und wohlklingender Bass gibt bereits die Richtung vor. Keiner der Solisten versucht sich künstlich in den Vordergrund zu drängen und ist doch immer gut herauszuhören. Kaufmann, seinerzeit noch auf dem Wege vom lyrischen Tenor zum jugendlichen Heldentenor, muss zuvörderst genannt werden. Die von Helmuth Rilling gegründete und seinerzeit auch noch geleitete, hier allerdings von Klaus Breuninger einstudierte Gächinger Kantorei Stuttgart kann ihre Stellung als einer der führenden gemischten deutschen Chöre eindrucksvoll unter Beweis stellen. Tendenziell ist Norrington den Tempovorstellungen seiner ersten Gesamteinspielung aus den 80er Jahren treu geblieben, hat allerdings freilich ein paar besonders strittige Entscheidungen dieses Mal abgemildert. So war der langsame Satz der Neunten in der Erstaufnahme sogar noch eine Minute schneller. Und das vielfach angekreidete halbe Tempo des türkischen Marsches beim Tenor-Solo entfällt diesmal. Wie ist diese Neuauflage des SWR-Zyklus also abschließend zu beurteilen? Alter Wein in neuen Schläuchen? Ja, aber der wird ja mit den Jahren zuweilen immer besser. Höchst individuell, im Detail manchmal streitbar, aber auf jeden Fall kein 08/15-Beethoven von der Stange.  (Weitere Information zu den CDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.) Daniel Hauser

 

Dass auch Beethovens Geburtsstadt Bonn ihren Teil zum großen Jubiläumsjahr beiträgt, ist nur würdig und recht. Auf insgesamt sieben CDs verteilen sich die neun Sinfonien, sieben Ouvertüren und gleichsam als Zugabe die Schauspielmusik zu Goethes Trauerspiel Egmont, wie sie Musikproduktion Dabringhaus und Grimm nun, in eine Box zusammengefasst, präsentiert (MDG 337 2170-2). Komplett neu ist daraus eigentlich nichts, datieren die Einspielungen doch auf die Jahre 2012 bis 2018 und waren bereits zuvor als Einzel-CDs erhältlich. Aufregend unaufgeregt könnte man den Bonner Zyklus nennen, der zumindest bei den Instrumentalwerken auf keine großen Namen setzt. Abgesehen von der Egmont-Schauspielmusik zeichnet Stefan Blunier, zwischen 2008 und 2016 Generalmusikdirektor der Bundesstadt Bonn und somit Chefdirigent des Beethoven Orchesters Bonn, verantwortlich. Sein Nachfolger Dirk Kaftan hat dann noch die Bühnenmusik beigesteuert, bei welcher man den berühmten Schauspieler Matthias Brandt, Sohn des früheren Bundeskanzlers, aufbieten kann, während Olga Bezsmertna den Sopranpart übernimmt. Um bei den Vokalisten zu bleiben, bilden Elza van den Heever, Janina Baechle, Robert Dean Smith sowie Georg Zeppenfeld das Solistenquartett in der neunten Sinfonie, unterstützt vom Tschechischen Philharmonischen Chor Brünn (Chorleitung: Petr Fiala). Durchaus geläufige Namen, insbesondere die beiden Herren. In ihrem Beethoven-Ansatz ähneln sich die Dirigenten; ein direkter Vergleich ist mittels der Egmont-Ouvertüre möglich, die auch schon Blunier (eine Minute langsamer) eingespielt hat. Das Motto dieser Aufnahmen könnte man als Vermeidung jedweden Ansatzes von Pathos bezeichnen, was freilich keine wirkliche Revolution in Sachen Beethoven-Rezeption darstellt. Weshalb sollte man sich also diese Bonner Aufnahmen ins Regal stellen? Der Beethoven-Markt ist seit langem saturiert, und dennoch gibt es von kaum einem anderen Sinfoniker eine solch hohe, nicht nachlassende Zahl jährlich neu vorgelegter Einspielungen. Klanglich können die Bonner Produktionen locker mit berühmteren mithalten. Frisch und ziemlich zügig geht Blunier zur Sache, vermeidet es aber glücklicherweise, zu überdrehen. Luftig-leicht etwa der Kopfsatz der Fünften, der jede Erdenschwere abgeht. Die Tempi flüssig und ohne Extravaganzen, hie und da dann aber dennoch mit interessanten Farbtupfern durch dieses oder jenes besonders herausgestellte Instrument. Obwohl auf modernem Instrumentarium musiziert wird, gibt es (selbstredend) Einflüsse der historischen Aufführungspraxis. Beethoven nicht als Titan, sondern mit Bodenhaftung. Interessanterweise lässt Blunier nicht sämtliche Wiederholungen spielen (auffällig besonders im Finalsatz der Fünften). Bei den „kleinen“ Sinfonien (Nr. 1, 2 und 8) zeitigt die unprätentiöse Herangehensweise womöglich ihre überzeugendsten Ergebnisse. Schön, dass auch die viel zu selten berücksichtigte Ouvertüre Zur Namensfeier bedacht wurde. Insgesamt fehlt den Ouvertüren aber ein wenig die Gewichtigkeit, die man sich zumal im Coriolan und Egmont wünscht – in letzterer bei Kaftan mit gerade einmal 7:22 Minuten Spielzeit noch ausgeprägter, aber in ihrer Konsequenz, wenn man diesen Ansatz bereit ist mitzugehen, gar überzeugender. Die Güte des Beethoven Orchesters Bonn, das in deutscher Aufstellung spielt, ist ganz allgemein über jeden Zweifel erhaben. Ob im schwungvoll ausgespielten Kopfsatz der Eroica, in der verträumten Szene am Bach in der Pastorale (später mit fulminantem Gewittersturm) oder im erstaunlich getragenen Allegretto der Siebenten, bei ihrem Namensgeber sind die Bonner spürbar in ihrem Element. Stark gerät die oftmals unterschätzte Vierte mit hingebungsvollen Nuancen bei den Holzbläsern. Und wie sieht es bei den Werken mit Gesangsbeteiligung aus? Blunier macht aus der Neunten keine Ego-Show, lässt die Musik einfach für sich selbst sprechen. Indem er sich weder eindeutig für die rein klassische noch die betont romantische Lesart entscheidet, trifft er am Ende gerade besonders einen adäquaten Tonfall, steht die Chorsinfonie doch gerade für diese Zeitenwende. An dieser Stelle ist ein Sonderlob für den Paukisten vonnöten, der im Scherzo sein Bestes gibt. Das Adagio ist weder verhetzt noch verschleppt. Alle vier zuvor genannte Solisten, besonders die Herren, haben sich gerade im Wagner-Gesang einen Namen gemacht. Georg Zeppenfelds schlanker, gut geführter Bass ist auch berüchtigten Höhen gewachsen. Robert Dean Smith ist vielleicht nicht ganz so heroisch wie andere Solo-Tenöre, doch auch im bereits vorgerückten Alter durchaus zufriedenstellend. Elza van den Heever und Janina Baechle erliegen nicht der Versuchung, sich gegenseitig überbieten zu wollen, und sind durch ihr sehr unterschiedliches Timbre eine Bereicherung. Die deutsche Diktion ist bei allen vorbildlich. So auch beim sehr guten Chor aus dem tschechischen Brünn. Gleichsam als Bonus, wie gesagt, die Schauspielmusik zu Egmont unter dem Dirigat von Dirk Kaftan. Genau genommen handelt es sich hierbei um eine Bearbeitung von Tilmann Böttcher und Matthias Brandt, der auch als Erzähler auftritt, die sich auf wichtige Nummern beschränkt, also keine vollständige Einspielung darstellt. Brandt, ein bekannter Schauspieler, hat sich einem bewusst (stellenweise gar zu) unpathetischen Vortrag verschrieben, was mit dem Interpretationsstil Kaftans Hand in Hand geht. Diese moderne Herangehensweise kontrastiert insofern bewusst mit den traditionellen Lesarten von Hermann Scherchen und George Szell, deren Erzähler auf (durchaus adäquates) Pathos setzen. Wie dem auch sei, vielleicht ist dies ein Egmont fürs 21. Jahrhundert. Die kurzen Gesangspassagen steuert die aus der Ukraine stämmige Sopranistin Olga Bezsmertna völlig rollendeckend mit schöner Klangfarbe bei. Diese Beethoven-Box aus der Beethoven-Stadt Bonn ist keineswegs provinziell und braucht also summa summarum keine Vergleiche zu scheuen, auch wenn sie schwerlich die einzige Gesamtaufnahme der Sinfonien in einer Sammlung sollte, eher eine feine, nicht ganz ins Auge springende Ergänzung darstellen wird. Daniel Hauser (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)

 

Ironie des Schicksals, dass es nun der Deutschen Grammophon Gesellschaft zukommt, sich des über Jahrzehnte vernachlässigten diskographischen Nachlasses des deutsch-amerikanischen Dirigenten William Steinberg anzunehmen. Dieser, 1899 in Köln als Hans Wilhelm Steinberg geboren, wurde als Jude 1936 in die Emigration gezwungen, wirkte an der Gründung des heutigen Israel Philharmonic Orchestra mit und machte insbesondere in den Vereinigten Staaten Karriere. Steinberg war bereits Mitte der 1920er Jahre zeitweilig Assistent von Otto Klemperer an der Kölner Oper und durchaus schon vor seinem Zwangsexil eine Dirigentenpersönlichkeit von Rang. Dass er in Deutschland bis zum heutigen Tage nur Kennern ein Begriff ist, wird man insofern unter die zahllosen Folgen des Aufstiegs des Nationalsozialismus mit all seinen furchtbaren Konsequenzen verbuchen können. Immerhin kehrte er in der Nachkriegszeit ab und zu in seine Heimatstadt zurück und machte beim WDR auch einige Rundfunkproduktionen, von welchen Mahlers zweite Sinfonie und Beethovens Missa solemnis bei ICA erschienen sind. Der Bonner Großmeister steht auch in der nunmehrigen DG-Box im Mittelpunkt, handelt es sich doch um die CD-Premiere des kompletten Zyklus der neun Sinfonien von Beethoven unter Steinbergs Leitung (DG 00028948383443). Diese Einspielungen, entstanden zwischen 1962 und 1966, sind ursprünglich beim US-Label Command Classics erschienen; die Rechte fielen später an die Deutsche Grammophon. Tatsächlich hatte William Steinberg indes einen astreinen Plattenvertrag mit der DG, wenngleich dieser in seine letzten Jahre datiert, nachdem er 1969 mit siebzig Jahren doch noch das Boston Symphony Orchestra (BSO; 1969-1972) übernommen hatte. Schon 1962 beim Abgang von Charles Munch war er der Wunschkandidat der Bostoner gewesen, doch setzte sich seinerzeit noch das mächtige Label RCA durch, welches den besonders als Operndirigenten zu Weltruhm gelangten Erich Leinsdorf präferierte. Auch wenn die drei Jahre mit dem BSO fraglos den künstlerischen Höhepunkt in der Dirigentenlaufbahn Steinberg darstellen, so geht sein anhaltender Nachruhm doch in erster Linie auf seine ein Vierteljahrhundert umfassende Chefdirigententätigkeit beim Pittsburgh Symphony Orchestra (PSO; 1952-1976) zurück. Zunehmende gesundheitliche Probleme erzwangen schließlich seinen Rückzug; zwei Jahre später starb Steinberg knapp 79-jährig in New York City. Das PSO hatte indes gewissermaßen das Pech, dass es trotz all seiner unbestreitbaren Qualitäten, die unter Steinberg und vor ihm unter dem strengen Orchestererzieher Fritz Reiner zuwege gebracht wurden, im Schatten der sogenannten „Big Five“ stand (New York Philharmonic, Boston Symphony Orchestra, Philadelphia Orchestra, Chicago Symphony Orchestra, Cleveland Orchestra). So hatte sich der Steinberg’sche Beethoven-Zyklus bereits bei seinem Erscheinen gegen hochberühmte Konkurrenz in Gestalt von Leonard Bernstein (New York), Erich Leinsdorf (Boston), Eugene Ormandy (Philadelphia), George Szell (Cleveland) und nicht zuletzt auch Bruno Walter (mit dem eigens zusammengestellten Columbia Symphony Orchestra, mit Musikern hauptsächlich des Los Angeles Philharmonic und auch aus Hollywood) zu behaupten; später kam noch Sir Georg Solti (Chicago) hinzu. Auf dem deutschen Tonträgermarkt scheint der Steinberg-Beethoven praktisch überhaupt keine Rolle gespielt zu haben. Dadurch, dass er Jahrzehnte lang alles andere als leicht greifbar war, verstärkte sich diese Problematik, selbst wenn MCA zumindest einige der Sinfonien in der CD-Frühzeit weitgehend unbeachtet auf den Markt brachte. Denkt man heute an William Steinberg, so werden noch am ehesten seine phänomenalen Bostoner Aufnahmen der Planets von Gustav Holst und von Also sprach Zarathustra von Richard Strauss im allgemeinen Bewusstsein verankert sein. Bereits seine RCA-Einspielungen von Schuberts Großer Sinfonie in C-Dur sowie Bruckners sechster Sinfonie erreichten in Europa niemals diesen Bekanntheitsgrad.

 Wie also klingt dieser obskure Beethoven aus Pittsburgh, der nun endlich allgemein greifbar ist? Zuvörderst muss den Tontechnikern ein ganz herzliches Lob ausgesprochen werden. Wer die bisherige CD-Transfers (MCA) und diverse mehr oder weniger professionelle Digitalisierungen der alten Command-Schallplatten kennt, wird es kaum glauben können, was die DG hier herausgeholt hat. Offenbar konnte auf die Masterbänder zurückgegriffen werden. Klanglich braucht sich das Ergebnis jedenfalls nicht vor den etwa zeitgleich entstandenen Konkurrenzzyklen verstecken. Allenfalls ist eine gewisse Bassarmut und eine recht ausgeprägte Einbettung des Schlagwerkes in den Gesamtklang zu konstatieren, was freilich der Philosophie des Toningenierus entsprochen haben dürfte, denn vergleicht man mit Live-Mitschnitten dieses Dirigenten, so kann von sich zu sehr im Hintergrund befindlichen Pauken nicht im Mindesten die Rede sein. Die dirigentischen Qualitäten Steinbergs zu loben, hieße Eulen nach Athen zu tragen. Alles ist organisch und im Fluss, die gewählten Tempi sind stets ansprechend und in sich schlüssig. Weihrauch ist Steinbergs Sache nicht, doch verleugnet er seine Verwurzelung in der Spätromantik keinesfalls, was sich schon in der aus heutiger Sicht unidiomatischen Verwendung der Mahler-Retuschen (besonders auffällig in der Neunten) ausdrückt. Gleichwohl ist Steinbergs Beethoven vergleichsweise sachlich, gewissermaßen der Gegenentwurf zur vollblütigen Romantik eines Bruno Walter, aber auch zum zuweilen gleißend anmutenden Ansatz Herbert von Karajans. Oft wird leichtfertig hingeschrieben, dieser und jener Dirigent werte besonders die „kleinen“ Sinfonien auf, doch trifft es bei Steinberg in besonderem Maße zu. Gerade die Achte war seine ganz besondere Spezialität. Bei Steinberg ist die Pastorale wirklich pastoral, auch beim Gewittersturm nicht infernal, die Eroica in ihrer Klassizität maßstäblich. Bei der Fünften ist die Feld besonders weit; auch hier schwimmt er weit vorne mit. Den heftigen Ausbruch im Finalsatz der Siebenten erreichen in dieser Form nicht viele (es sei in diesem Zusammenhang auch auf eine ebenfalls bei ICA erschienene DVD mit einem Mitschnitt aus Boston verwiesen). Quasi als Bonus ist auch die dritte Leonoren-Ouvertüre inkludiert – man wünschte sich gar einige der Ouvertüren mehr. Die in Amerika häufig als Choral Symphony bezeichnete Neunte ist trotz des nicht eben prominenten Solistenquartetts im Finalsatz (Ella Lee, Joanna Simon, Richard Kness, Thomas Paul) absolut hörenswert. In der Summe also eine ernsthafte 60er-Jahre-Alternative zu Karajan und Co. Daniel Hauser

 

Nein, einen kompletten Beethoven-Zyklus der neun Sinfonien hat Hans Rosbaud vor seinem Ableben nicht mehr vorlegen können, doch ist das, was der SWR – diesmal in Zusammenarbeit mit dem WDR – auf den Markt bringt, gleichwohl von großem historischen Interesse (SWR19089CD). Eine insgesamt sieben CDs umfassende Box, welche abgesehen von der Vierten und der Neunten die übrigen Sinfonien enthält (die Achte gar zweifach), dazu fünf Ouvertüren, das fünfte Klavierkonzert (mit Géza Anda), das Violinkonzert (mit Ginette Neveu) sowie das Tripelkonzert (mit Dario de Rosa, Renato Zanettovich und Libero Lana, die als Trio di Trieste firmierten). Entstanden sind diese Rundfunkproduktionen in den Jahren zwischen 1949 und 1962 (Rosbauds Todesjahr), mehrheitlich für den Südwestfunk Baden-Baden; im Falle der zweiten Sinfonie handelt es sich um eine Produktion des Westdeutschen Rundfunks Köln von 1959. Es ist zu begrüßen, dass diese hier ebenfalls beigesteuert wurde. Der Beethoven-Ansatz ist freilich in Baden-Baden wie in Köln derselbe und trägt eindeutig die Handschrift Rosbauds: nüchtern, nicht übermäßig gefühlsbetont und eng an der Partitur. Von daher ist dieser Beethoven viel eher der Lesart Hermann Scherchens und René Leibowitz‘ zuzuordnen denn jener Wilhelm Furtwänglers und Hans Knappertsbuschs, um nur einige wenige bedeutende Beethoven-Dirigenten der 1950er und 60er Jahre zu benennen. Jahrzehnte lange musste man auf diese offiziellen Editionen des SWR warten. In Sammlerkreisen kursierten diverse Aufnahmen natürlich schon lange als private Mitschnitte. Besser haben sie aber bis jetzt nicht geklungen (Remastering der originalen Tonbänder), auch wenn die natürlichen Limitierungen des Mono-Klanges nicht zu leugnen sind und es einmal wieder schade ist, dass die deutschen Rundfunkanstalten erst in der zweiten Hälfte der 1960er allmählich auf die Stereophonie umstiegen – zu spät für Rosbaud. Hörenswert ist das Dargebotene auch heute noch, so man geneigt ist, sich darauf einzulassen. Sowohl das Südwestfunk-Orchester (dem Rosbaud zwischen 1948 und 1962 als Chefdirigent vorstand) als auch das Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester (so die damalig gebräuchlichen Bezeichnungen) offerieren die bereits seinerzeit gebotene hohe Spielkultur, selbst wenn die jeweiligen Klangkörper bis zum heutigen Tage nochmal an Qualität zugelegt haben. Rosbauds Beethoven widerlegt eindrucksvoll, dass er viel mehr war als bloßer Experte für moderne Musik, als welcher er lange Zeit abgestempelt wurde. Allerdings ist die hörbare Strenge seines Dirigats womöglich in der Tat nicht zuletzt durch seine Erfahrung mit der Musik des 20. Jahrhunderts zurückzuführen. Willkürliche Temporückungen im Stile der Spätromantik wird man hier kaum finden. Vor zeitweiliger Schroffheit schreckt Rosbaud nicht zurück, so etwa im angriffslustig vorgetragenen Kopfsatz der 1961 eingespielten Fünften. Dabei erzielt der Dirigent das dem Werk innewohnende revolutionäre Momentum nicht durch heilloses Gehetze, sondern durch akribische Herausarbeitung der Strukturen mit besonders hervorgehobenen Instrumenten (insbesondere die Holz- und Blechbläser brillieren). Stellenweise hört man Beethoven hier wirklich neu. Hochkarätig sind auch die Instrumentalsolisten, die zum Einsatz kamen. Zuvörderst und auch chronologisch als erstes ist hier die in Paris geborene französische Violinistin Ginette Neveu anzuführen, deren Weltkarriere, gerade erst dreißigjährig, infolge eines Flugzeugabsturzes am 28. Oktober 1949 aufhörte, bevor sie wirklich begann. Die vorliegende Rundfunkaufnahme des Violinkonzerts entstand beinahe exakt einen Monat vor dieser Tragödie, am 25. September 1949 im Kurhaus Baden-Baden. Beinahe alle übrigen Aufnahmen wurden übrigens im bewährten Studio V, dem späteren Hans-Rosbaud-Studio, in Baden-Baden eingespielt. Der Aufnahmeort der einzigen Kölner Produktion lässt sich nicht mehr ermitteln. Das Klavierkonzert Nr. 5 mit dem legendären Géza Anda datiert auf 1956, das Tripelkonzert mit dem Trio di Trieste schließlich auf 1953. Bei der im September 1962 eingespielten Produktion der siebenten Sinfonie handelt es sich um eine der letzten Aufnahmen Rosbauds, der am 29. Dezember desselben Jahres 67-jährig in Lugano einer schweren Erkrankung erlag. Daniel Hauser (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)

 

Gut Ding will Weile haben. Lange Zeit nur schwer greifbar, liegen mittlerweile mindestens fünf CD-Ausgaben des Zyklus der neun Beethoven-Sinfonien unter André Cluytens – der ersten Gesamtaufnahme der Berliner Philharmoniker – vor. Die EMI-Einspielungen, entstanden zwischen 1957 und 1960, sämtlich bereits in Stereo, waren ursprünglich für den französischen Markt konzipiert und erschienen erstmals 1995, wiederum bei EMI France, auf CD. Es folgten Neuauflagen in den Jahren 2006 und 2013 (zuletzt unter dem Label Erato); zudem waren sie 2017 in der insgesamt 65 CDs umfassenden Mammutbox André Cluytens – The Complete Orchestral & Concerto Recordings inkludiert. Nun legt sie Erato – oder man sollte besser sagen Warner – unter dem Titel Beethoven: 9 Symphonies · Overtures abermals auf, zum ersten Male nicht in erster Linie für Frankreich bestimmt, sondern für den internationalen Markt (Erato 0190295381066). Begründet wird dies mit einem neuen Remastering in 24-bit/96kHz von den Originalbändern durch Studio Art & Son, Annecy, von 2017. Die ältere Erato-Ausgabe ist derzeit offenbar parallel nach wie vor erhältlich, allerdings sogar teurer als die Neuausgabe; die alte Produktion dürfte nach menschlichem Ermessen freilich im Auslaufen begriffen sein.

Zur Bedeutung dieses Zyklus muss aus künstlerischer Sicht an und für sich nicht mehr allzu viel gesagt werden. Nicht nur, weil es sich um die erste Gesamtaufnahme durch das Berliner Philharmonische Orchester handelt, ist sie bedeutsam. Wie sehr seinerzeit noch länderspezifisch für den jeweiligen Markt produziert wurde, ergibt sich bereits aus der aus heutiger Sicht kuriosen Tatsache, dass praktisch gleich nach Vollendung des Cluytens-Zyklus jener, heutzutage viel bekanntere erste Stereo-Zyklus der Berliner Philharmoniker unter Herbert von Karajan in den Jahren 1961 und 1962 eingespielt wurde (wenn auch für die Deutsche Grammophon-Gesellschaft). Auch dieser Umstand dürfte dazu beigetragen haben, dass Cluytens‘ Interpretationen zumindest im deutschsprachigen Raum relativ bald durch andere verdrängt wurden und aus dem Fokus gerieten. In Frankreich und Belgien, dem Geburtsland dieses Dirigenten, der seinen Namen übrigens gerne flämisch „Kleutens“ ausgesprochen wissen wollte, mag das anders gewesen sein. Künstlerisch unterscheiden sich die Ansätze von Cluytens und Karajan jedenfalls deutlich voneinander, repräsentiert letzterer eine modernere Interpretation, die in ihrer gleißenden Schärfe zumindest seinerzeit für Aufsehen sorgte und das Beethoven-Bild entscheidend reformierte. Cluytens hingegen verfolgt einen traditionelleren Stil, der stellenweise eher an Furtwängler gemahnt, also in die Vergangenheit verweist. Überhaupt war André Cluytens ein hervorragender Interpret deutscher Komponisten und jahrelang bei den Bayreuther Festspielen eine Größe, an der man nicht vorbeikam. Seinen Meistersingern etwa sagt man nach, deutscher zu klingen als bei manchem deutschen Dirigenten. So könnte man bei seinem Beethoven auf den ersten Blick eher eine Nähe zum etwa gleichzeitig, ebenfalls von EMI eingespielten Zyklus von Otto Klemperer erkennen, wobei Klemperer bei aller Monumentalität doch nüchtern-sachlich vorgeht, während Cluytens spätromantische Anflüge nicht scheut. So verzichtet er nicht auf eine aus heutiger Sicht etwas altertümliche Agogik, setzt gekonnt hie und da auf Tempowechsel und große Dynamikschwankungen. Es fällt nicht leicht, eine der Sinfonien besonders herauszustellen, doch bekommt diese Herangehensweise gerade der Eroica und der Fünften zugute, die hier sehr wuchtig und ohne Verzicht auf Pathos daherkommen. In der Neunten schließlich wird mit Gré Brouwenstijn, Kerstin Meyer, Nicolai Gedda und Frederick Guthrie ein zwar etwas heterogenes, aber letztlich vorzügliches Vokalistenensemble aufgeboten, unterstützt durch den Chor der St.-Hedwigs-Kathedrale Berlin, der trotz seiner Größe durchaus klar und präzise agiert. Von besonderer Güte auch die fünf Ouvertüren, die gleichsam als Bonus beigegeben wurden: Hochdramatisch besonders jene zu Coriolan und Egmont. Interessant, dass sich Cluytens für die bis heute zu Unrecht stark im Schatten stehende Ouvertüre zum Schauspiel Die Ruinen von Athen einsetzte, die hier eine formidable Wiedergabe erfährt. Komplettiert wird dies durch die Ouvertüren zu Fidelio und Die Geschöpfe des Prometheus.

Es kann nicht ausbleiben, noch ein Wort zum Klangbild zu äußern. Tatsächlich ist dieses trotz des hohen Alters und gewisser Vorbehalte gegen die EMI-Tontechniker jener Tage erstaunlich überzeugend. Die stetigen Verbesserungen der damals noch in den Kinderschuhen steckenden Stereophonie können hier nachvollzogen werden. Einzig die ältesten Produktionen, die Sinfonien Nr. 8 und 9 sowie die Prometheus-Ouvertüre, die bereits 1957 entstanden sind, fallen etwas ab. Bereits bei den Einspielungen vom Folgejahr, der dritten und der fünften Sinfonie, tritt diese leichte Einschränkung nicht mehr auf. Beschlossen wurden die Aufnahmen im November 1960 mit der Fidelio-Ouvertüre und jener zu den Ruinen in Athen. Als Aufnahmeort diente die ob ihrer guten Akustik gerühmten Grunewaldkirche in Berlin. Man hat gar den Eindruck, dass es das Gros der Cluytens-Aufnahmen mit den etwas später entstandenen unter Karajan locker aufnehmen kann, sie womöglich klanglich sogar etwas überflügelt. Dies ist ohne Frage eine weitere Stärke dieser Gesamtaufnahme. Beim genauen Hörvergleich mit der älteren CD-Auflage für EMI France von 2006 fragt sich allerdings, worin das neue Remastering das bereits ausgezeichnete ältere übertrifft. Trotz gewissenhaften Vorgehens konnte nur ein praktisch identisches Klangbild festgestellt werden. Insofern muss sich niemand, der den Cluytens’schen Beethoven bereits besitzt, zwingend auch noch diese Neuauflage ins Regal stellen. Für alle anderen ist es freilich eine willkommene Gelegenheit, dies nun preiswert nachzuholen (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei https://www.warnerclassics.com/). Daniel Hauser

 

Michael Gielen/ Wikipedia

Und noch ein addendum:  Michael Gielen, der 2019 verstorbene große Doyen der neuen Sachlichkeit unter den Dirigenten, hatte in Sachen Beethoven etwas mitzuteilen. Sein bei Hänssler erschienener SWR-Zyklus der neun Sinfonien machte zum Zeitpunkt seines Erscheinens einige Furore. Nun legt Orfeo eine 1985 entstandene Aufnahme der Missa solemnis, produziert vom Österreichischen Rundfunk, erstmals auf CD vor (Orfeo C999201). Die Problematik, welche das Beethovens Schüler Erzherzog Rudolph anlässlich seiner Ernennung zum Bischof von Olmütz gewidmete Werk dem heutigen Publikum bereitet, liegt neben des ihm innewohnenden Bombastes nicht zuletzt in den hohen Anforderungen begründet. Dem wollte Gielen bewusst gegensteuern. Seine Tempi sind eher flott, tendenziell näher an der HIP-Einspielung von Gardiner (Archiv) als bei den Aufnahmen von Klemperer (EMI) oder Karajan (DG). Die einzelnen Sätze sind bei Orfeo übrigens nicht weiter unterteilt, wie in den meisten Einspielungen der Fall; man hat also vier, teils sehr lange Tracks vorliegen. Sehr hochkarätig auch das Solistenquartett, bestehend aus der Sopranistin Alison Hargan, der Mezzosopranistin Marjana Lipovsek, dem Tenor Thomas Moser sowie dem Bariton Matthias Hölle. Mitte der 80er Jahre nahe am Optimum. Welch gewichtiger Dirigent Gielen war, wird man auch daran ermessen können, dass er den Wiener Singverein, der bei dieser und jener Aufnahme als Manko in Kauf genommen werden muss – so auch unter Karajan –, hier auf demselben hohen Niveau erklingen lässt. Kongenial die Leistung des ORF Radio-Symphonieorchesters Wien. An der Orgel begleitet Rudolf Scholz .(Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.) Daniel Hauser

 

Mit Liedern von Ludwig van Beethoven lässt sich Ian Bostridge zum 250. Geburtstag des Komponisten vernehmen. Die CD ist im Oktober 2019 in London aufgenommen worden, damit sie rechtzeitig zum Jubiläum herauskommen konnte. Erschienen ist sie bei Warner (0190295276430). Bostridge hat aber auch schon früher Beethoven in Konzerten gesungen, so 2017 den Zyklus An die ferne Geliebte in der Hamburger Laeiszhalle, der im Zentrum der CD steht. Er versucht es erst gar nicht mit Schöngesang wie einst Nicolai Gedda, Hermann Prey oder Dietrich Fischer-Dieskau. Bostridge bohrt tief in den inhaltlichen Schichten, setzt teils grelle dramatische Akzente. Manchmal kommt es einem so vor, als liege der Vortragende als Ich-Erzähler auf der Couch eines Psychoanalytikers. Dabei gerät die musikalische Linie etwas unter die Räder. Bostridge hält sich gern bei Details auf und malt sie voller Zerknirschung und Schwermut aus. Seine Interpretation, an der man mit der Zeit durchaus Gefallen finden kann, wirkt sehr bildhaft. Sie könnte die Tonspur für einen Film sein. Im gleichen Interpretationsstil schließt sich das Lied „Adelaide“ fast nahtlos wie ein Bestandteil des Zyklus an.

Editorisch sehr verdienstvoll ist die Aufnahme aller vier Fassungen des Liedes „Sehnsucht“ nach einem Gedicht Goethes aus dem Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre. Beethoven hatte die unterschiedlichen Versionen auf dem Autograph damit begründet, dass es ihm an Zeit mangele, ein einziges gutes Lied hervorzubringen. Boistridge aber macht die Erklärung des Komponisten vergessen und formt aus jeder Version ein eigenes Meisterwerk. Ins Programm der CD aufgenommen wurden auch das „Flohlied“ aus Faust„Ich liebe dich“„Un questa tomba oscura“„Maigesang“„Andenken“ und „Resignation“. Auch sprachlich ganz in seinem Element ist Bostridge, dessen Deutsch nach wie vor problematisch ist und zu wünschen übrig lässt, in einer Auswahl aus der reichen Sammlung von Volksliedern, die teils auf Textvorlagen von Walter Scott beruhen. Zum Abschluss noch einmal eine Goethe-Vertonung: „Marmotte“ aus seinem Schwank Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern.

Als Begleiter kehrt Antonio Pappano, der jetzt hauptsächlich als Dirigent tätig ist, an die Ursprünge seines musikalischen Wirkens zurück. im Alter von einundzwanzig Jahren war er nach grünlicher Ausbildung als Probenpianist an der New York City Opera engagiert worden. Bei den Volksliedern kommen zusätzlich Vilde Frang (Violine) und Nicolas Altstaedt (Cello) zum Einsatz (Foto Simon Fowler/ Warner). Rüdiger Winter

 

 

Mit einer neuen Gesamtausgabe auf 118 CDs und mehreren DVDs feiert die Deutsche Grammophon das Beethoven-Jahr. Die fünf Klavierkonzerte interpretiert der kanadische Pianist Jan Lisiecki. Er ist es auch, der Matthias Goerne (Foto oben/ DG/ Marie Staggat)auf seiner aktuellen CD mit Liedern des Komponisten begleitet (00289 483 8351). Der deutsche Bariton kehrt damit – nach mehreren Jahren der Bindung an harmonia  mundi – zum Universal-Konzern zurück, bei dem er die ersten Jahre seiner Karriere unter Vertrag stand. 2005 veröffentlichte die Decca einen Liederabend Goernes mit Alfred Brendel aus der Londoner Wigmore Hall von 2003, in welchem neben Schuberts Schwanengesang Beethovens An die ferne Geliebte auf dem Programm stand. Bislang war dies das einzige offiziell existierende Beethoven-Dokument mit dem Sänger auf CD. Der Zyklus findet sich nun auch auf der neuen Platte, die im Juli 2019 im Berliner Teldex Studio aufgenommen wurde. Der Vergleich nach 16 Jahren ist aufschlussreich. In der ersten Studio-Aufnahme klingt die Stimme jugendlicher und leichter, doch in der Gestaltung noch nicht so prägnant wie heute.

Eröffnet wird das Programm der CD mit den 6 Liedern op. 48 auf Gedichte von Christian Fürchtegott Gellert, die Goerne 2003 bei den Schwetzinger Festspielen interpretierte, wovon unter Sammlern ein privater Mitschnitt kursiert. Also auch hier derselbe zeitliche Abstand wie bei der Fernen Geliebten und vergleichbare Erkenntnisse. Das erste Lied („Bitten“)  erklingt in ganz schlichtem, verinnerlichtem Ton und suggeriert einen tief gläubigen Menschen. Voll energischer Strenge  dagegen das folgende „Die Liebe des Nächsten“, das Barmherzigkeit und Nächstenliebe preist. „Vom Tode“ handelt mit ernsten Tönen vom unausweichlichen Ende des Menschen und stellt den Klangreichtum der sonoren Stimme besonders heraus. Autoritären Nachdruck besitzen „Die Ehre Gottes“ und „Gotttes Macht und Vorsehung“. Den Zyklus beschließt das nachsinnende und sich zur Zuversicht wandelnde „Bußlied“.

Erstmals von Goerne zu hören sind elf Lieder, die zwischen den beiden Zyklen positioniert sind, von denen „Adelaide“ das bekannteste ist. Deren Beginn intoniert der Pianist wunderbar kantabel, der Sänger nimmt diese Vorgabe auf und formt zärtlich-weiche Töne von feinster Lyrik, die erst am Schluss einem drängenden Duktus weichen. Auch die einleitende „Resignation“ oder der später folgende „Maigesang“ sind gelegentlich zu hören, kaum dagegen „Der Liebende“ (nach Christian Ludwig Reissig) und „Klage“ (Ludwig Hölty). Hier hört man eine vielfältige Palette von Farben und Stimmungen: verhalten und zögerlich die „Resignation“, munter und hoffnungsvoll „Gesang aus der Ferne“, schlicht und volksliedhaft der „Maigesang“, erwartungsvoll bebend „Der Liebende“, resignierend wehmütig die „Klage“, lebhaft auftrumpfend „An die Hoffnung“, wehmütig die „Wonne der Wehmut“, sanft und tröstlich „Das Liedchen von der Ruhe“ . Den Abschluss dieser Gruppe bildet „An die Geliebte“ (Joseph Ludwig Stoll) – quasi als Einstimmung auf den danach folgenden berühmten Zyklus als Ende der Programmfolge.

Schon dessen Beginn, „Auf dem Hügel sitz ich“, bestimmt die Atmosphäre dieser Strophenlieder zwischen Sehnsucht, Verlangen und Resignation. Dies setzt sich fort im träumerischen „Wo die Berge so blau“ bis zum „Nimm sie hin denn, diese Lieder“, wo das Klavier das Thema des ersten Liedes wieder aufnimmt.

Der Sänger ist bekannt dafür, mit renommierten Pianisten zusammenzuarbeiten, um sich gegenseitig zu befruchten und mit wechselseitigen Impulsen zu bereichern. Das beweist seine Schubert-Edition bei hm, wo ihm eine Elite von Liedbegleitern zur Seite steht. Stets ist es dem Sänger auch ein Anliegen, mit Künstlern der jungen Generation aufzutreten und aufzunehmen. Jan Lisiecki ist dafür (neben Daniil Trifonov) ein treffliches Beispiel. Den höchst anspruchsvollen Klavierpart absolviert der Kanadier meisterhaft, ist darüber hinaus dem Sänger ein einfühlsamer und inspirierender Partner. Bernd Hoppe 

 

Optisch deutlich unter Wert verkauft hat Naxos zwei bemerkenswerte neue Einspielungen von Werken Ludwig van Beethovens: König Stephan (8.574042) und Die Ruinen von Athen (8.574076). Das Label ist seinem Prinzip treu geblieben, auch exklusive Titel ohne viel Schnickschnack unter die Leute zu bringen. Neuerscheinungen bei Naxos wollen und müssen entdeckt werden. So war es immer. Großer Verbreitung auf Tonträgern und im Konzertsaal erfreuen sich die Ouvertüren zu diesen Schauspielen. Auch die einzelnen musikalischen Nummern – Chöre, Zwischenmusiken, Märsche, Arien, Duette – sind nicht nur einmal vollständig aufgenommen worden. König Stephan hielt mit dem Dirigenten Myung-Whun Chung als deutsch-italienische Koproduktion Einzug in eine Beethoven-Edition der Deutschen Grammophon. Bernhard Klee (Polydor), Karl Anton Rickenbacher (Koch Classics), Wilfried Böttcher (Bella Musica) und Hans Hubert Schoenzeler (Brilliant) nahmen sich der Ruinen von Athen an. Eine Einspielung und gemeinsame Veröffentlichung beider Stücke durch das ungarischen Label Hungaroton mit Margit Laszlo und Sandor Solyom Nagy als Gesangssolisten unter Geza Oberfrank führte nach Budapest und damit an den Ort des historischen Anlasses für die Entstehung beider Festspiele. Naxos legt erstmals die kompletten Werke vor, zur Musik auch den gesprochenen Text. Deshalb wäre es wünschenswert gewesen, dies gleich auf den CD-Covern herausgestellt zu sehen. So entsteht zunächst der flüchtige Eindruck, als sei wiederum nur die Musik bedacht worden. Einzig bei den Ruinen von Athen ist auf der Rückseite vermerkt, dass es sich um eine „World premiere recording of version with Narration“ handelt.

Das neue Theater in Pest während einer Überschwemmung der Stadt., 1889 bei einem Brand zerstört./ Wikipedia

Beethoven hatte die Bühnenmusiken für das neue Theater in Pest, das seinerzeit noch eine selbstständige Stadt war und erst 1873 mit den ebenfalls eigenständigen Buda zu Budapest zusammengelegt wurde, komponiert. Dazu brauchte er nur wenige Wochen. Die für Oktober 1811 in Aussicht genommene Eröffnung musste auf den 9. Februar 1812 verschoben werden. In dem Haus, das über dreitausend Plätze verfügt haben soll, wurde ausschließlich in deutscher Sprache gespielt – neben Schauspielen auch Opern und Operetten. Zwischenzeitlich nahm es bei einem Brand Schaden, wurde aber umgehend wieder aufgebaut. Mit der Revolution 1848/1849 kam der Betrieb zum Erliegen. 1889 brannte das Gebäude vollständig ab. Es existiert also nicht mehr.

Die Initiative zu dem Theaterneubau war 1804 ausgegangen von Franz II., (letztem) Kaiser des Heiligen Römischen Reiches und Erzherzog von Österreich, der noch im selben Jahr als Franz I. das Kaisertum Österreich begründete. Damit sollte die Treue Ungarn zur österreichischen Monarchie symbolisiert werden. Dementsprechend musste auch die feierliche Einweihung mit König Stephan als „Vorspiel mit Chören“ und den Ruinen von Athen als „Nachspiel mit Chören und Gesängen“ vonstattengehen. Als Textdichter war der in hohem Ansehen stehende August von Kozebue gewonnen worden, für die Musik der auf dem Höhepunkt seines Schaffens stehende Beethoven. Dem Publikum der Uraufführung waren die Libretti gedruckt gereicht worden. Erhaltene Exemplare sind rar. Digitalisiert stehen sie bei der Library of Congress in Washington – der größten Bibliothek der Welt – kostenlos über das Netz zur Verfügung. Nicht in den Booklets, wohl aber auf der eigenen Internetseite bietet Naxos moderne Abschriften an.

Das originale Libretto der „Ruinen von Athen“ :  Naxos bietet den Text als Abschrift auf seiner Internetseite an/ Wiki

Revolutionäre Theaterstücke, die dem Freiheitsgedanken huldigen wie Fidelio oder die 9. Sinfonie, sind nicht zu erwarten. Im Gegenteil. Dem Anlass gemäß werden Pathos und Heldenverehrung historisch verbrämt und mit antiker Garnierung gereicht. Auch das ist Beethoven. Er lebte von Aufträgen. In den Ruinen von Athen, die zuletzt herausgekommen sind, erwacht die Göttin Athene – hier als Minerva auftretend – nach tausenden von Jahren. Getrieben von der Sehnsucht, die ihr geweihte Stadt mit dem Parthenon wiederzusehen, findet sie sich in Ruinen wieder. Athen steht unter osmanischer Herrschaft, der legendäre Turm der Winde ist eine Moschee. Derwische huldigen ihrem großen Propheten und der Kaaba, was Minerva ihrerseits als „barbarisches Geschrei“ wahrnimmt. Ein türkischer Marsch, der zu den Zugnummern des Werkes gehört, verbreitet mehr eingängig-flotte Folklore als Schrecken. Nachdem die Göttin ein in Musik gesetztes Gespräch eines griechischen Mädchen und eines Griechen mit angehört hatte, bei dem diese Menschen aus dem Volke beklagen „ohne Verschulden Knechtschaft dulden“ zu müssen, entschließt sie sich zur Flucht. Sie begibt sich auf die Suche nach einer neuen Heimat, wo „Wissenschaft und Künste blühen“. Denn wo man die holden Musen feiere, da „steht gewiss auch mein Altar“. Von Merkur geleitet, gelangt sie nicht ganz zufällig nach Pest. Von einem Greis erfährt das mythologische Paar, bei einem Volk angelangt zu sein, dem „die alte Treue für seinen König nie erstarb“. Dieses Volk nun schickt sich an, das Theater, diesen neuen Tempel der Musen, in Besitz zu nehmen. Und Merkur ruft Minerva zu: „Vergiss dein Griechenland, es ist gewesen, das Alte schwand, das Neue begann.“ Die Musik- und Theatermusen Thalia und Melpomene werden enthusiastisch gefeiert. Und so schließt das Festspiel damit, dass sich Zeus, der Vater Minervas, dazu herablässt, ein Bildnis des Kaisers Franz auf dem Altar der Kunst zwischen die beiden Musen zu stellen. Mit dem Chor „Heil unserm König! Heil! Vernimm uns Gott. Dankend schwören wir aufs Neue alte ungarische Treue bis in den Tod!“ endet das Spiel.

Der Textdichter beider Werke: August von Kotzebue (1761-1819) Wikipedia

Ohne die Einbettung in das Gesamtwerk bleiben die musikalischen Nummern unverständlich. Andererseits ist es schwer vorstellbar, eine Schöpfung wie die Ruinen von Athen einem heutigen Publikum bei einer öffentlichen Aufführung zuzumuten. Das Wissen um die Mythologie und ihre Gestalten sowie sehr spezielle historische Ereignisse sind nicht mehr so verbreitet wie einst. Aspekte, die als islamfeindlich wahrgenommen werden könnten, ließen sich auch mit Mitteln des zeitgenössischen Theaters schwerlich relativieren. Umso verdienstvoller ist es, derartige Stücke komplett wenigstens als CD-Produktion zugänglich zu machen, zumal in einem Jubiläumsjahr, in dem solche Ausgrabungen mehr wiegen sollten als eine neue Einspielung aller Sinfonien. Zu danken ist die Ausgrabung dem finnischen Dirigenten Leif Sergerstam, dem Chorus Cathedralis Aboesis und dem Turku Philharmonic Orchestra. Es war eine glückliche Wahl, deutschsprachige Schauspieler zu verpflichten. Sie garantieren die Textverständlichkeit. Angela Eberlein spricht die Minerva, Claus Obalski den Merkur, Roland Astor unter anderen den Greis. Die drei Gesangspartien, das griechische Mädchen und der Grieche sowie der Hohepriester, der am Schluss in Erscheinung tritt, sind mit Reetta Haavisto und Juha Kotilainen besetzt. Gewiss kann die ambitionierte Neuerscheinung das Werk als Ganzen nicht retten. Es wird sein Nischendasein auch künftig führen und weiterhin vornehmlich als Gelegenheitsarbeit des Komponisten wahrgenommen werden.

Wer sich aber tiefer hineinhört, findet einen Einfallsreichtum, wie ihn nur ein Beethoven hervorbringen kann. Als ob sich die Musik über den abstrusen Inhalt erhebt. Dreimal gehört, und bestimmte Passagen gehen einem nicht mehr aus dem Kopf. So ist es vielleicht auch Richard Strauss ergangen, der eine tiefe Neigung zu antiken Stoffen hatte. Der benutze nämlich Beethovens Musik für seine neue Bearbeitung nach einem Schauspiel von Hugo von Hofmannsthal, das genauso in der Versenkung verschwunden ist wie das Original (Foto oben Winter). Rüdiger Winter

 

Wirklich große Komponisten zeichnen sich unter anderem auch dadurch aus, dass sie selbst zu eher mediokren Vorlagen grandiose Musik beisteuern können. Im Falle Ludwig van Beethovens, des heurigen Jubilars, trifft dies für einige bühnenmusikalische Gelegenheitswerke zu, von denen allenfalls noch die Ouvertüren im Konzertsaal erklingen. König Stephan, Ungarns erster Wohltäter ist solch ein Fall. Zusammen mit Die Ruinen von Athen erklang das Werk erstmals im Jahre 1812 anlässlich der Einweihung des neuen Theaters in Pest, dem heutigen Budapest. Die Texte steuerte mit August von Kotzebue eigentlich eine literarisch durchaus bedeutende Persönlichkeit bei, die freilich insbesondere durch die Umstände ihres gewaltsamen Todes in die Geschichte eingehen sollte. Das Sujet allerdings war insbesondere bei König Stephan dann eben doch die aus heutiger Sicht eher plump anmutende Verherrlichung der Habsburgermonarchie, die sich selbstredend als nahtlosen Erben des ersten christlichen Königs von Ungarn begriff. Dessen Ehe mit Gisela von Bayern, der Schwester des späteren Kaisers Heinrich II. (des Heiligen), mutet ein wenig an wie ein Blick in die damalige Zukunft, sollten doch sowohl der Widmungsträger der Komposition, Kaiser Franz I. von Österreich, als auch (ungleich berühmter) dessen Enkel Franz Joseph bayerische Prinzessinnen zur Gemahlin erwählen (in Franzens Falle übrigens erst in Ehe Nummer vier). Trotz reichlich viel überhöhtem Pathos kann doch zumindest die herrliche Ouvertüre bestehen, die so überhaupt nicht nach einem mittelalterlichen ungarischen König klingt und unter Kennern als Geheimtipp unter den Beethoven’schen Vorspielen gilt. In den übrigen 22 Nummern viele Chöre, Melodramen und ein paar Märsche, alles durchaus anhörbar, wenn auch schwerlich das sonstige Niveau Beethovens erreichend. Insgesamt vier Sprechrollen (Claus Obalski, Roland Astor, Ernst Oder und Angela Eberlein) sieht der Komponist hier vor. Verantwortlich zeichnet auch diesmal die finnische Dirigentenlegende  Leif Segerstam, der sich jetzt im Alter tatsächlich vermehrt der mitteleuropäischen Wiener Klassik zuzuwenden scheint. Zumindest hat er für Naxos in jüngster Zeit einiges von Beethoven eingespielt, darunter etliche Raritäten. Die größtenteils finnischen Kräfte wissen durchaus zu überzeugen, so besonders die beiden beteiligten Chöre, zum einen das Key Ensemble, einer der führenden Kammerchöre Finnlands, sowie der Chorus Cathedrals Aboensis. Es spielt, wie üblich, das Philharmonische Orchester Turku. Und auch die verhältnismäßig gut dokumentierte Ouvertüre zu König Stephan hat man schon bezwingender vernommen (Ferencsik, Szell und Klemperer). Alles in allem gleichwohl eine erfreuliche Neuproduktion, eine der wenigen Gesamtaufnahmen dieser Bühnenmusik überhaupt. Daniel Hauser

 

Würdiges Geburtstagsgeschenk. In die Schar der Gratulanten zum 250. Geburtstag Ludwig van Beethovens reiht sich auch Chen Reiss, Sopran aus Israel und Ensemblemitglied der Wiener Staatsoper, ein. „Immortal beloved nennt sich ihre CD mit Arien vor allem noch des Bonners, begleitet wird der Sopran von der auf Originalinstrumenten spielenden Academy of ancient music unter der Leitung von Richard Egarr.

Vom ersten Ton an überrascht und erfreut die Unmittelbarkeit der Kommunikation mit dem Hörer ebenso wie die Frische der Stimme, ihre Jugendlichkeit und ihre Klarheit. Aus den ungefähr 600 Gesangsstücken, die Beethoven im Verlauf seines Lebens komponierte, hat Chen Reiss vor allem solche ausgewählt, die bereits in Bonn entstanden sind. Dazu gehört auch eines mit ziemlich schrecklichem Text auf die Krönung Erzherzogs Leopold zum Kaiser, eine wahre Bravourarie, der die Leichtigkeit der Acuti zu Gute kommt, die einer Blonde oder eines Ännchen würdig sind. Der Sopran hat aber  darüber hinaus weit mehr Substanz und einen beachtlichen Kern, die zu den sauberen Koloraturen kommen, so dass die hohl tönenden Worte eines gewissen Severin Anton Averdonk zur vernachlässigbaren Nebensächlichkeit werden.

Befreit von den Verschlimmbesserungen Salieris hat die Sängerin, die sich auch Gedanken über des Komponisten kompliziertes Liebesleben gemacht hat, den zweiten  und dritten Track, Scena ed Aria „No, non tubarti“, für die die Stimme einen schmerzlichen Klang annimmt. Trotz des lyrischen Zuschnitts zeigt sie eine enorme akustische Präsenz für „Ma tu tremi“. Über „Il primo amore“ hat sich das Booklet Gedanken gemacht, der Verfasser Andrew Stewart meint in ihm Erfahrungen Beethovens mit seiner ersten Liebe Jeanette d’Honrath verarbeitet zu sehen, zu hören ist eine Stimme mit unverwechselbarem Timbre und manchmal leichter, nie unangenehmer Schärfe. Recht dramatisch und besonders für die Orchesterbegleitung typisch beethovenisch wird es ab „non cognosce il vero amore“, ehe der Sopran zu einem gut tragendem Piano zurückkehrt, ein mehraktiges Drama aus dem Track macht mit einem „morte“ von dunkler Färbung und einem leuchtenden „piacer del ciel“.

„Soll ein Schuh nicht drücken“ lässt Ironiespritzer aufblitzen, ist von komischem Pathos und wird von einem sieghaften Spitzenton gekrönt. Das Auftrittslied der Marzelline zeigt weit mehr als eine Soubrette, stattdessen eine selbstbewusste junge Frau, deren Stimme in Vorahnung des Eheglück strahlen kann. Von frischem Übermut ist aus der Musik zu Goethes Egmont Klärchens „Die Trommel gerühret“, sehr beherzt und schwungvoll begleitet. Extrem ausgereizt werden die Kontraste in ihrem „Freudvoll und leidvoll“. Für eine andere jugendliche Heldin im Soldatenrock, für Eleonora Prohaska, ist die Romanze „Es blüht eine Blume“ bestimmt, die Chen Reiss, von sensiblen Harfenklängen begleitet, mit anmutiger Naivität erfüllt.

Die beiden letzten Tracks sind Scena ed aria „Ah! perfido“, sie zeigen noch einmal, wie substanzreich der Sopran bei aller lyrischen Gestimmtheit ist im Zusammenwirken von Reinheit und Klarheit mit schönem Ernst, so im „voglio morir per lui“, wie ebenmäßig der Fluss des Soprans ist, der schweben, aber auch eindrucksvoll wüten kann.  Man kann annehmen, dass sich Beethoven über diese Interpretation seiner Werke gefreut hätte (Onyx 4218). Ingrid Wanja

 

Das Jahr ist noch jung, der Überdruss aber schon groß: das Beethoven-Jubiläum droht zu einem öden Schauspiel zu werden. Das hängt zum einen für die CD-Produktion damit zusammen, dass die Majors viele ihrer Produkte schon Ende 2019 auf den Markt geworfen haben, um den Konkurrenten zuvorzukommen; da alle auf denselben Gedanken gekommen sind, ist der an sich gesättigte Markt schon vier Wochen nach Beginn des Gedenkjahres übersättigt von Boxen, die keiner will. Zum anderen gaukelt man im Konzertwesen Events vor, die keine sind. Typisch dafür sind etwa die Reenactments, in denen in Cardiff und Wien jene berühmte Beethoven-Akademie von 1808 nachgespielt wurde. Keine schlechte Idee an sich, aber da Beethoven damals das vierte Klavierkonzert, die Fünfte und die Pastorale ins Programm aufnahm, wurden letztendlich auch nur tausendmal gehörte Stücke zu Gehör gebracht. Das ist praktisch für denkfaule Solisten, Dirigenten und Impresari, aber der Musikliebhaber gähnt sich dabei zu Tode.

Der junge Hugo Wolf/ Foto Hugo Wolf Akademie

Dass es anders geht, zeigen intelligente Interpreten, die wirklich Neues wagen. Das Siemens Orchester in Erlangen hat sogar auf Ungehörtes gesetzt. Im Jahre 1876 nahm sich der damals 16jährige Konservatoriumsschüler Hugo Wolf Beethovens Sonate op. 27 Nr. 2, die sogenannte Mondscheinsonate, vor und orchestrierte sie. Die Annalen verzeichnen gelegentlich Versuche dieser Art. So machte der heute vergessene Münchner Komponist Heinrich Ludwig Spengel (1775-1865) hörenswerte Symphonien aus den Quartetten op. 18. Die durch Felix Weingartner 1925 für Orchester gesetzte Hammer-Klaviersonate mag Beethoven-Groupies anekeln, sie ist jedoch weit mehr als nur der bizarre Auswuchs einer fehlgeleiteten Beethoven-Verehrung. Gespielt werden diese Werke, die eine angenehme Alternative zu lustlos abgespulten Beethoven-Originalen bieten könnten, leider nicht mehr.

Umso dankbarer war man, die Mondscheinsonate in Wolfs Bearbeitung als Uraufführung fast 150 Jahren nach ihrer Entstehung hören zu dürfen. Es ist insgesamt zwar kein Meisterwerk, doch lässt der erste Satz aufhorchen: Wolf überträgt die Melodie der rechten Hand den Hörnern (hier exzellent gespielt von Kay Herold und Gaby Lorenz), die äußerst effektvoll über einem dunklen Klangteppich schweben. Weniger gelungen hingegen ist in der Tat der schülerhaft gesetzte zweite Satz, in dem ein einfältig anmutender Dialog zwischen Streichern und Bläser die falsche Naivität des Allegretto ins 18. Jahrhundert schleudert . Den dritten Satz ließ Wolf hingegen links liegen. Im Konzert gab es die seltene Möglichkeit, eine zweite überraschende Bearbeitung der Mondscheinsonate kennenzulernen: der nach c-moll transponierte erste Satz diente dem Dresdner Gottlob Benedict Bierey (1772-1840) als Grundlage für ein „Kyrie“ mit Chor, darin einer Praxis folgend, die ihren Höhepunkt im späten 18 Jahrhundert erreicht hatte (ich denke hier etwa an die Messen nach Themen aus Mozarts „Don Giovanni“, „Zauberflöte“ und sogar „Così fan tutte“). Man staunte, wie gut diese eigenartige Verkirchlichung über den Ursprung des Satzes täuschen konnte.

Das Siemens Orchester spielte diese und die anderen Stücke des Abends (darunter  die Violinromanze op. 50, die Konzertmeister Michael Sigler mit schlankem Ton zum Besten gab, und die durch einen kurzen, witzigen Text von Marec Béla Steffens angereicherten Ausschnitte aus  dem Ballet „Die Geschöpfe des Prometheus“) mit Aufmerksamkeit und Disziplin. Dirigent Lukas Meuli begnügte sich nicht, die freiwilligen Überstunden seiner Truppe mit nachsichtigem Entgegenkommen zu belohnen, sondern spornte sie unablässig an und erzielte eine lebendige, der Musik angemessene Kontrastierung der Klangebenen. Das „Kyrie“ von Bierey und den „Elegischen Gesang“ op. 118 sang mit großer Innigkeit die vorzügliche Stadtkantorei Fürth unter der Gesamtleitung von Ingeborg Schilffahrt. Das sehr zahlreiche erschienene Publikum spendete zu Recht viel Applaus für eine überaus originellen und anregenden Beitrag zum Beethoven-Jahr (Konzert am 2. Februar 2020). Michele C. Ferrari

 

Das Beethoven-Jahr hat kaum begonnen, und schon können sich neben dem Musik-Giganten in den Klassik-Charts gerade noch Jonas Kaufmann mit seinen Wiener Liedern und das Neujahrskonzert der Wiener behaupten. Auch Naxos hat vorgesorgt mit dem ersten Teil einer Einspielung aller Lieder des Bonner Komponisten im Sommer 2018. Das Besondere an der CD ist das mehrmalige Nacheinander dreier verschiedener, wenngleich nicht allzu verschiedener Fassungen von bekannten Liedern wie Mignons „Sehnsucht“, Klärchens, der Geliebten Egmonts  „Freudvoll und leidvoll“ und „An die Geliebte“, allerdings nicht die „ferne“. Die meisten Texte stammen von Goethe und zwar aus seiner Sturm- und Drang-Zeit, ansonsten kommen mit Gellert der Pietismus und mit der Gattin Brentanos, Sophie Mereau, die Romantik zum Zuge. Neben deutschen Texten gibt es auch zwei italienische, darunter zwei Fassungen von „Dimmi, ben mio“ in doppelter Version.

Vier Sänger teilen sich die Aufgaben, darunter mit nur einem Beitrag, „In questa tomba oscura“ der Bass Ricardo Bojórquez mit reichlich verquollener, unausgeglichener Tongebung. Das Tenorfach ist mit Rainer Trost vertreten, der mit schöner Farbe einer jünglingshaft klingenden Stimme Höltys „Klage“ beredten Ausdruck verleiht. Wahrlich stürmend und drängend ertönt „Neue Liebe, neues Leben“, mit feinem Zögern im Mittelteil und mit dem hurtigen Klavier im Wettstreit. Der recht banale Text von „Gesang aus der Ferne“ (nicht von Goethe) wird nicht nur durch die Komposition, sondern zusätzlich durch den lebendigen, leidenschaftlichen Vortrag aufgewertet. Dass der Tenor auch eine ausdrucksvolle Tiefe hat, beweist er mit „Dimmi, ben mio“, die zweite Version wird dramatischer als die erste angelegt. Balsamisch klingt „Wonne der Wehmut“, baritonal gefärbt „Traute Henriette“.

Die zweite Säule der CD ist der Bariton Paul Armin Edelmann, der mit „Erlkönig“ beginnt, das Rollenspiel konsequent durchzieht und zu einem beeindruckenden Schluss findet. Die drei Fassungen von „An die Geliebte“ beeindruckenden besonders durch das fein variierende „mein, mein“. Wunderbar passt die virile Stimmfarbe zu Gellerts „Bußlied“, dazu erfreut die ernsthafte, durch und durch protestantische Haltung, die in der Interpretation zum Ausdruck kommt. Eine schöne Feierlichkeit vermag der Sänger mit „Opferlied“ zu vermitteln.

Irritiert ist man vom Sopran Elisabeth Breuers, die Mignons „Sehnsucht“ in dreifacher Fassung singt, nicht weil man sich einen Mezzosopran für die Figur wünscht, sondern weil ihr Sopran allzu soubrettenhaft zwitschernd, zu säuselnd und manieriert klingt. Auch für das beherzte Klärchen wünscht man sich eine weniger tändelnd klingende, weniger kindlich aufgefasste Verkörperung. Weit mehr gefallen kann da die Interpretation des volksliedhaften „Gretels Warnung“. Stets auf der Höhe der Situation zeigt sich die Pianistin Bernadette Bartos (Naxos 8.574071). Ingrid Wanja

 

Beethovens „Leonore“: Anna Milder-Hauptmann (1785–1838), die erste Leonore in allen drei fassungen/ Wiki

Allzu viele Einspielungen der kompletten Beethoven’schen Schauspielmusik zu Goethes Trauerspiel Egmont gibt es auf dem Markt nicht. Daher ist die Neueinspielung, welche Naxos (8.573956) nun unter der finnischen Dirigentenlegende Leif Segerstam vorlegt, erst einmal zu begrüßen. Als Klangkörper fungiert das an der Südspitze Finnlands situierte Philharmonische Orchester Turku, welches, 1790 gegründet, im Übrigen das älteste Orchester des Landes darstellt. Tatsächlich ist diese Aufnahme so etwas wie ein letztes Aufbäumen der großen Alten aus dem Norden. Zu meiner Überraschung ist niemand Geringerer als Matti Salminen mit von der Partie. Zwar gab dieser im Dezember 2016 bereits seinen Bühnenabschied bekannt, allerdings kehrte er anlässlich einer Reihe von Festaufführungen von Wagners Meistersingern unter Daniel Barenboim an der Staatsoper Unter den Linden im April 2019 dann doch wieder auf die Bühne zurück. So sollte es gar nicht so sehr verwundern, dass er sich anlässlich dieser im Jänner 2018 in Turku eingespielten Produktion zur Übernahme der Sprecherrolle aufraffen konnte. Vielleicht mag da auch die langjährige und dem Vernehmen nach sehr enge Freundschaft mit Segerstam eine gewisse Rolle gespielt haben. Wie dem auch sei: Jedenfalls konnte Naxos diese Aufnahme initiieren, ergänzt um die ebenfalls finnische Sopranistin Kaisa Ranta als Klärchen. So begrüßenswert dieses Vorhaben auch ist, kann es insgesamt nicht auf ganzer Linie als gelungen bezeichnet werden. Dies liegt leider gerade auch an Salminen, der hier zuweilen etwas unbeweglich daherkommt. An die wienerische Noblesse eines Karl Paryla unter Scherchen (Tahra) oder an die zugespitzte Dramatik eines Klausjürgen Wussow unter Szell (Decca) darf man nicht denken.

Kaisa Ranta absolviert ihre Aufgabe mit angenehmem Timbre sehr gediegen und mit tadelloser deutscher Diktion. An die großartigen Leistungen einer Gundula Janowitz unter Karajan (DG) oder einer Pilar Lorengar unter Szell (Decca) kommt sie freilich nicht heran. Die orchestrale Begleitung Segerstams gerät auch etwas pauschal. Daher sind es eher die Beigaben, die diese CD dann doch noch empfehlenswert machen: Die Einleitung zum zweiten Akt von Leonore (Fassung 1805), der Trauermarsch aus Leonore Prohaska und der Triumphmarsch aus Tarpeja. Von diskographischem Interesse auch die von Franz Beyer 1982 rekonstruierte Orchesterfassung der sechs Menuette WoO 10. Klangtechnisch gibt es nichts zu beanstanden. Daniel Hauser

 

Teuflische Weihnacht

 

Wer des Russischen nicht sehr gut mächtig ist, hat es schwer, Zugang zu den Musikdramen von Nikolai Rimsky-Korsakov zu finden. Die Barrieren sind hoch, zweisprachige Libretti höchst selten. Es gibt zwar Richtlinien für die Umschrift. Sie werden aber nicht immer konsequent angewendet und landen oft bei der Übernahme der englischen Schreibweise. In der DDR, wo Russisch in der Schule ein Pflichtfach war, galten andere Regeln als im Westen. Unterschiede in der Transliteration wirken auch dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung fort. Die neuen Edition bei Profil Günter Hänssler mit sämtlichen Opern und Fragmenten offenbart diese Schwierigkeiten (PH19010). Als salomonische Löschung wurde deshalb weitgehend Englisch für das Booklet gewählt, eine Praxis, die sich allgemein eingebürgert hat. Alle Titel, Personenzuordnungen und kurzen Szenenbeschreibungen für die vielen Tracks wurden entsprechend übersetzt. Alternativ gibt es Inhaltangaben nach Art eines Opernführer und Erklärungen zu den einzelnen Titeln von Lothar Brandt auch in Deutsch. Der Textbeginn der einzelnen Szenen wurde phonetisch erfasst, so dass man beim Hören nicht ganz die Orientierung verliert. Für Rimsky-Korsakov ist das natürlich nicht genug. Da hätte man sich mehr gewünscht, zum Beispiel deutsch-englische Libretti online. Das machen ja auch andere Firmen wie Naxos oder Bongiovanni.

Nach wie vor hilfreich in seiner Ausführlichkeit ist das Handbuch der russischen und sowjetischen Oper von Sigrid Neef, das 1985 im Henschelverlag der DDR erschien und antiquarisch noch zu haben ist. Obwohl der 1844 geborene und 1908 gestorbene Komponist auch mit neuen Produktionen auf aktuellen Musikmarkt stark vertreten ist, rückt die umfangreiche historische Sammlung die einzelnen Werke in die Nähe der Quellen und der ursprünglichen Intentionen. Sie umfasst Aufnahmen, die ausnahmslos unter sowjetischen und demnach unter sozialistischen Bedingungen entstanden sind. Sie wurden zwischen 1927 und 1963 produziert und waren vornehmlich für das inländische Publikum bestimmt. In diesen Jahren hatten Stalin und Chruschtschow das Sagen. Das Land war streng abgeschottet. Gemeinsam mit seinem Kollegen Alexander Borodin, Mili Balakirew, César Cui und Modest Mussorgski gehörte Rimsky-Korsakov zur so genannten Gruppe der Fünf – auch als „Das mächtige Häuflein“ bekannt. Sie hatten sich 1862 in Sankt Petersburg zusammengetan und wollten die nationalrussische Musik in der Nachfolge von Michail Glinka fördern. Im Gegensatz etwa zu Tschaikowski strebten sie keine Orientierung an westliche Vorbilder an. Diese doppelte Abschottung – die geopolitische und die künstlerische – wirkt auch in den Einspielungen als unverwechselbares Klangbild fort. Sie sind durch und durch historisch. Ich fühle mich an alte Ikonen erinnert, die geheimnisvoll glänzen wie ganz altes Gold. Modernen Lesarten wie sie in westlichen Ländern und nun auch in Russland gepflegt werden, ist davon nicht mehr viel anzuhören. Rimsky-Korsakov ist also dort angekommen, wo er eigentlich nicht hin wollte.

Ein typisches russisches Bühnenbild: Der bunt und üppig ausgestattete Palast in der Zarenbraut von Ivan Bilibin. Foto: Wikipedia

Der Zeitraum, dem die Aufnahmen entstammen, ist auf dem Cover der Box mit 1927 bis 1963 sehr großzügig angegeben. Aus dem erstgenannten Jahr stammen nämlich lediglich zwei Szenen mit Fedor Chaljapin aus Sadko sowie Mozart und Salieri. Sie sind als Bonus ausgewiesen und wurden zudem auch noch in London mitgeschnitten. Hingegen geht die älteste Operngesamtaufnahme der Edition auf das Jahr 1946 zurück. Unter den Tisch gefallen sind also fast zwei Jahrzehnte. Wer die Box im guten Glauben erwirbt, auch die Bekanntschaft mit Dokumenten aus den dreißiger Jahren zu machen, wird enttäuscht sein. Sie finden sich nicht. Ein Jahr nach Kriegsende also wurde die auf einer Erzählung von Gogol beruhende Mainacht (May Night) mit Chor und Orchester des Rundfunks der UdSSR unter der Leitung von Nikolai Golovanov eingespielt. Mit Elisaveta Shumskaya (Sopran) und Maria Maksakova (Mezzo) drücken zwei Stars des Bolschoi-Theaters der Aufnahme ihren Stempel auf. Ganz am Beginn ihrer überaus erfolgreichen Karriere, die sie bis nach New York führte, steht Zara Dolukhanova, die als eine von drei Rusalken einen episodischen Auftritt im letzten Akt hat. 1946 wurde auch mit der Produktion von Sadko begonnen, die erst 1947 zum Abschluss kam. Diesmal leitet Vasily Nebolsin das Bolschoi-Orchester. Wie immer bei dieser Oper lohnt es sich, auf das Erscheinen des Waräger Kaufmanns zu warten. Der stimmgewaltige Mark Reizen lässt kleinen Zweifel daran, dass Sadko (Nikandr Khanayev) die beste Wahl träfe, würde er ihm mit seiner Flotte in nordische Gefilde folgen. In der andere berühmte Szene, dem Lied des indischen Gastet, braucht es etwas Mühe, um sich an das betont nasale Timbre von Pavel Chekin zu gewöhnen, einem Tenor wie er typischer nicht sein kann für diese Stimmlage in der Sowjetunion zu damaliger Zeit.

Veronika Borisenko war in der Sowjetunion ein Opernstar. Sie singt die Frühlingsfee in Schneeflöckchen. Foto: Wikipedia

1947 ist ein ergiebiges Produktionsjahr. Es folgen Einspielungen von Die Bojarin Wera Scheloga (The Noblewoman Vera Sheloga), gedacht als musikalisch-dramaturgischer Prolog zur Oper Das Mädchen von Pskow (The Maid of Pskov). Nach eigenem Bekunden legte Rimsky-Korsakov diesen Prolog so an, dass er auch als selbständiger Einakter aufgeführt werden kann. So wurde er 1898 auch uraufgeführt. Erst eine Inszenierung 1901 am Bolschoi-Theater stelle das fünfzigminütige Werk dem Mädchen von Pskow voran. Wera (Sofia Panova) erzählt darin ihrer jüngeren Schwester Nadeshda (Elena Gribova), dass sie dem Bojaren gegen ihren Willen angetraut wurde. Der kämpft derweil gemeinsam mit dem Mann der Schwester im Livländischen Krieg für Zar Iwan IV. In der seit langem währenden Abwesenheit trat sie selbst auf den noch jungen Zaren, von dem sie das Olga genannte Kind empfing. Von ihren heimkehrenden Männern plötzlich überrascht, gibt Nadeshda die kleine Olga als ihr Kind aus, um es vor der Rache des Bojaren angesichts der Untreue seiner Gemahlin zu retten. Solcher Art sind Geschichten bei Rimsky-Korsakov. Oft schieben sich – Kulissen gleich – märchenhafte und mythische Elemente vor historische Hintergründe. Die Ausführung ist wortreich, die eigentliche Handlungsdramaturgie nicht immer der Übersichtlichkeit verpflichtet. Seine Musikdramen verlangen Zuhören einiges ab. Nicht selten muss nachgeblättert werden, um genau im Bilde zu sein, wer nun eigentlich gerade um die Ecke biegt. Im Werkverzeichnis des Komponisten belegt Die Nacht vor Weihnachten (Christmas Eve) einen der vordersten Plätze. Wie für etliche seiner Opern verfasste Rimsky-Korsakov das Libretto selbst. Er bezeichnet dieses Werk nach einer Erzählung von Nikolai Gogol als „eine wahre Geschichte“. Des Stoffes hat sich auch Tschaikowski für seine Pantöffelchen bedient. In der turbulenten Handlung spielt der Teufel eine nicht unwichtige Rolle. Vergeblich versucht er, den gottesfürchtigen Schmied Vakula (Dmitri Tarkhov) mit einem Schneesturm herauszufordern. Der lässt sich nicht beeindrucken, weil er andere Sorgen hat. Er ist in die kokette Oksana (Natalya Shpiller, die auch im Westen sehr bekannt wurde) verliebt. Die will in seine Werbungen aber nur dann einwilligen, wenn er ihr ein paar Schuhe der Zarin bringt. Weil er keine Macht über Vakula gewinnen konnte, muss der Teufel gezwungenermaßen dabei behilflich sein, diese Pantoffeln zu beschaffen.

Die Zarenbraut (The Tsar´s Bride) fand mit einem relativ modernen Mitschnitt vom 20. Juni 1958 aus dem Bolschoi-Theater Eingang in die Edition. Bühnengeräusche und die deutlich vernehmbare Stimme eines Souffleurs verleihen der packenden Produktion hohe Authentizität. Während am Pult der mit dreißig Jahren aufstrebende Yevgeny Svetlanov steht, agiert auf der Bühne mit der Shumskaya als schöne Kaufmannstochter Marfa, die sich Zar Iwan IV. (der Schreckliche) zur Braut erwählt, obwohl sie anderweitig gebunden und versprochen ist, eine gestandene Kraft. Der Klang ist transparent und frisch. Zwei Jahre früher, nämlich 1956, wurde im Mariinsky-Theater Leningrad Das Märchen vom Zaren Saltan (Tale of Tsar Saltan) mitgeschnitten. Die literarische Vorlage stammt von Alexander Puschkin. Sein gleichnamiges Märchen ist in Versform geschrieben und beginnt genauso wie der Prolog der Oper, in dem drei Schwestern – ein beliebter Topos in der russischen Literatur – zusammensitzen und von einem Zaren träumen, der sie freien möge. Als Saltan tritt mit dem Bassisten Lavrenty Yaroshenko ein zeitgenössischer Star des Mariinsky in Erscheinung.

Rimsky-Korsakov griff mehrfach auf literarische Vorlagen von Alexander Puschkin – hier auf einem Gemälde von Orest Kiprensk – zurück. Foto: Wikipedia

Für Mlada, die magische Ballettoper, ist 1962 als Produktionsjahr genannt. Diesmal leitet Svetlanov Chor und Orchester des sowjetischen Rundfunks. Es handelt sich um die erste Studioproduktion des Werkes, die sich Sammler seinerzeit aus der Sowjetunion zu besorgen wussten. Vier Platten stecken in den berüchtigten Pappkartons, die streng nach Knochenleim rochen. Wer solche Platte je in Händen hielt, wurde diese derbe Duftnote nie wieder los. Die Handlung lässt nichts aus. Sie erstreckt sich über einen langen Zeitraum längs der baltischen Küste. Die Liste der Mitwirkenden ist endlos. Sogar Kleopatra wird pantomimisch bemüht. Und die titelgebende Königin Mlada geistert  nur als ihr eigener Schatten umher. Nicht immer ist die Zahl der Mitwirkenden so überschaubar wie in Mozart und Salieri (Konstantin Ognevoj und Boris Gmyrja), 1963 hörbar als Livemitschnitt aus dem einstigen Leningrad unter der musikalischen Obhut von Eduard Grikorov in die Sammlung übernommen. Der Einakter erweckte besonderes Interesse auch über Russland hinaus, was wohl auch an den Figuren und der abenteuerlichen Story liegt, die auf eine Tragödie von Puschkin zurückgeht, die dieser nach spekulativen Zeitungsmeldungen verfasste. Am Schluss wird Mozart, die Noten seines unvollendeten Requiems vor sich, in einem Gasthof von Salieri vergiftet. Es gibt Fassungen in Englisch, Französisch und Ungarisch und auch eine Aufnahme in deutscher Sprache mit Peter Schreier und Theo Adam, die zuerst in der DDR bei Eterna herauskam.

In Stein gemeißelt ist der Tenor Georgi Nelepp auf seinem Grab in Moskau. Er singt den Valery in der Oper Servilla. Foto: Wikipedia

Nur eine Studioproduktion ist von Pan Wojewode (Pan Wojewoda) überliefert. In der Edition gelangt sie erstmals auf CD. Entstanden ist die Aufnahme 1951 in Moskau unter der Leitung von Samuil Samosud. Der 1884 geborene und 1964 gestorbene Dirigent war eine der prägenden Gestalten des Musiklebens in der Sowjetunion unmittelbar nach der Oktoberrevolution. Ursprünglich Cellist, wirkte er als Dirigent, Orchestergründer und Theaterleiter in Leningrad und Moskau. Er besorgte die Uraufführungen von Schostakowitschs Leningrader Sinfonie und seiner Opern Die Nase und Lady Macbeth von Mzensk. Seine Autorität reichte aber nicht aus, um dieses Werk in die Zukunft zu retten. Musikalisch ist es von hohem Niveau. Unter den Händen von Samosud entfaltet sich üppige spätromantische Pracht. Zu Recht spricht Booklet-Autor Brandt, von einem „wenig zusammenhängenden, melodramatischen Plot“. Dabei war die Oper für den Komponisten eine Herzensangelegenheit. Rimsky-Korsakov kam damit auf Kindheitserinnerungen zurück. Seine Mutter hatte ihn mit polnischen Melodien bekanntgemacht, die ihn lebenslang prägten. Dadurch wurde er zu einem Verehrer von Frederik Chopin, zu dessen Gedenke er die Oper komponierte. „Es sollte ein dramatisches Stück aus dem polnischen Volksleben des 16. und 17. Jahrhunderts ohne politischen Hintergrund werden, mit sparsam eingestreuten phantastischen Elementen, wie etwa Wahrsage- oder Zauber-Szenen; außerdem sollte es Gelegenheiten für polnische Tänze bieten“, hatte der Komponisten seinem Textdichter Ilja Tumenew mit auf den Weg gegeben. Der war opernerfahren. Er hatte bedeutende westeuropäische Werke, darunter Wagners Ring und die Meistersinger ins Russische übersetzt. Für Pan Wojewode griff er auf die gleichnamige Ballade des polnischen Dichters Adam Mickiewicz zurück. Waren die Erwartungen zu groß? Die mit Verstrickungen überladene Geschichte um einen mächtigen polnischen Provinzfürsten aus dem 16. Jahrhundert, einem Wojewoden, die auch im Booklet nur angerissen wird, erschließt sich im Jahr 2020 noch viel weniger als zum Zeitpunkt der Uraufführung 1904, der kein bleibender Erfolg beschieden war. Es singen mit großer Geste Alexei Korolev den Pan Wojewoden, Kapitalina Rachevskaya seine Nichte Maria, die ihrer Ermordung entgeht und schließlich mit dem geliebten Czaplinski (Anatoly Orfionov) zusammenfindet, der seinerseits den Wojewoden ins Jenseits befördert, während die giftmischende Witwe (Natalya Rozhdestvenskaya) leer ausgeht.

Antikes Flair bei der Uraufführung 1902 in Petersburg: Die Oper Servilia spielt im alten Rom zur Zeit von Kaiser Nero. Eine Gesamtausnahme existiert nicht. Nur vier Szenen konnten in die Edition übernommen werden. Foto: Wikipedia

Schneeflöckchen (Snow Maiden) gehört zu den Opern, die frühzeitig auch im Deutschland bekannt wurden. Beim damaligen NWDR hat sich eine Aufnahme des vierten Aktes von 1950 mit Margot Guilleaume in der Titelrolle und Martha Mödl als Frühlingsfee erhalten. Rimsky-Korsakov selbst hielt die Oper für seine beste. Vorlage ist das gleichnamige Märchen von Alexander Ostrowski. In der märchenhaften Versöhnung zwischen Menschen und Natur steckt sogar ein ziemlich moderner Ansatz. Wieder garantiert Swetlanow am Pult des Orchesters des Bolschoi-Theaters einen frischen und zupackenden Sound. Mit Vera Firsova (Schneeflöcken), Galina Vishnewskaya (Kupava), Veronika Borisenko (Frühlingsfee) und Ivan Kozlovsky (Zar Beendy) ist die Aufnahme von 1957 ausgesprochen prominent besetzt. Für Die Zarenbraut (The Tsar´s Bride) – einen Mitschnitt aus dem Bolschoi von 1958 – hatte Svetlanov die Shumskaya als Marfa, die Borisenko als Lyubasha, Andrey Ivanov als Lykov und Vedernikov als Sobakin zur Verfügung. Das Werk, welches wie oft bei Rimsky-Korsakov wieder mit historischen Elementen durchsetzt ist, führt ins Moskau des Jahres 1572. Im Staatsrundfunk wurde 1949  unter Samosud Der unsterbliche Kaschtschej (Kashchey the Immortal) eingespielt. In der märchenhaften Geschichte kann das Böse in Gestalt des Kaschtschej, nicht länger triumphieren und fällt dem Tode anheim. Die Aufnahme des auch im Westen verbreiteten Stückes Der goldene Hahn (The Golden Cockerl) von 1951 betreut Alexander Gauk während Vassily Nebolssin die Oper mit dem wohl buchstabenreichsten Namen dirigiert: Die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesh und der Jungfrau Fewronija (The Legend of the invisible City Kitezh and the Maiden Fevronia). Angeführt wird die Besetzungsliste von dem Mittdreißiger Ivan Petrov in der Basspartie des Fürsten Jury. Von Servilia, der Oper, die im alten Rom des Kaisers Nero spielt, lässt sich keine Gesamtaufnahme nachweisen. Überliefert sind nur vier hochkarätig besetzte Szenen aus dem dritten und dem vierten Akt, die Anfang der 1950er Jahre im Rundfunk unter Onisim Bron eingespielt wurden. Es ist ein Spiel um Macht, Intrigen und Leidenschaft. Olga Piotrovskaya singt die Titelrolle, die Tochter eines Senators, in die Volkstribun Valery (Georgi Nelepp) verliebt ist. Ihre Zuneigung will sich auch der freigelassene Sklave Egnaty (Pavel Lisitsian) durch List ihre Liebe gewinnen. Sie entzieht sich diesen Werbungen, indem sie sich in eine von Nero verfolgte christliche Gemeinschaft flüchtet, wo ihr Leben verlischt (Abbildung oben: Die Mainacht, Illustration zu  Pushkins Erzählung von Ivan Bilibin/ Wikipedia). Rüdiger Winter