Archiv des Autors: Rüdiger Winter

„Geselle, Geselle, mir nach!“

 

Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich Ian Bostridge erneut der Schönen Müllerin von Franz Schubert würde zuwenden. Nach der jüngsten Winterreise ist auch dieser Zyklus bei Pentatone herausgekommen (PTC 5186 775). Eingespielt wurde er im April 2019 in der Londoner Wigmore Hall, die wegen ihrer Akustik eine gesuchte Adresse für Aufnahmen dieses Spektrums ist. Alles, was Rang und Namen hat und hatte auf dem Gebiet des Liedgesangs, ist dort irgendwann eingekehrt. Diesmal begleitet die italienisch-niederländische Pianistin Saskia Giorgini den Tenor. Der Neuerscheinung ist allein deshalb Aufmerksamkeit sicher, weil das Cover vom englischen Maler Stuart Pearson Wright stammt. 1975 in Northampton geboren, erlangte er vornehmlich durch seine spektakulären Porträts Preise und Berühmtheit. Auch in Deutschland wurde er ausgestellt. Man muss seinen Stil mögen, um Gefallen daran zu finden – zumal im Zusammenhang mit Schuberts Liedern. Bostridge lässt sich als alter Mann in Szene setzen. Ausgemergelt und verfallen. Jacke und Hemd sind mit ihm in die Jahre gekommen. Saskia Giorgini, im wirklichen Leben eine schöne junge Frau, greift mit dürren Händen, die wie mit Spinnengewebe überzogen sind, in die Tasten.

Verfall und Todesnähe wehen aus diesem Bild. Ist das auch die musikalische Botschaft der Interpretation? Kunst hin, Kunst her. Denjenigen möchte ich sehen, der sich dieses Cover betrachtet, während im Player der junge Müllerbursche auf seine Wanderschaft geht, die auch tödlich endet – doch nicht so. Mir scheint, Bostridge will alles ganz anders machen. Er will nicht gefallen, was ja auch nicht zwingend der Sinn einer Interpretation sein muss. Missfallen scheint eingeplant und gewollt. Traditionelle Erwartungen sollen offenkundig nicht erfüllt werden. Das ist durchaus ein interessanter Ansatz angesichts der enormen Fülle von Aufnahmen dieses Zyklus, für den Sänger und auch Sängerinnen immer und immer wieder aufs Podium und ins Aufnahmestudio gegangen sind. Insofern ist es nur verständlich, wenn ein Interpret ganz bewusst aus der Rolle fallen will. Mit Mitte fünfzig ist der hochgebildete charismatische Bostridge dafür eigentlich etwas zu alt. Oder macht er gar aus der Not eine Tugend? Die Stimme irrlichtert, findet keinen festen Halt und ist über weite Strecken nur noch Ausdruck. In einem Klassikforum wurde sie einmal mit dem Regietheater verglichen, wenn das überhaupt so möglich ist. Treffend find ich es schon. Bostridge führt in Die schöne Müllerin Sarkasmus als Stilmittel ein. Er gibt sich auch wenig Mühe, deutlich und genau zu singen, was nie seine große Stärke gewesen ist. Wörter werden oft verfremdet wiedergegeben, nahe Sprechgesang, wie Fetzen herausgeschleudert. Was bei einer Aufführung in einer alternativen Umgebung womöglich seine Wirkung nicht verfehlt hätte, wird auf CD gebannt auch nach wiederholtem Hören nicht eindrucksvoller. Vielmehr nutzt es sich ab.

 

Theatralisches Element: Der niederländische Bariton Thomas Oliemans hat eine beachtliche Diskographie vorzuweisen, wozu auch Schuberts Winterreise gehört. Bei  B Records ist seine Müllerin hinzugekommen (LBM 025). Begleitet wird er von dem aus Edinburgh stammenden Pianisten Malcolm Martineau. Die Aufnahme wurde bei einem Konzert am 3. Juni 2019 im Pariser Théâtre de l’Athénée mitgeschnitten. Der Sänger hat es aber eilig, so der erster Eindruck. Im ersten Lied schlägt er zunächst ein rasantes Tempo an, das alsbald wieder zurückgenommen wird. Er passt es den jeweiligen Inhalten und Situationen an. Kommen die Steine, „selbst so schwer sie sind“ ins Spiel, scheint sich der Wanderer Schuhe mit Bleisohlen angelegt zu haben. So geht das weiter. Das Tempo gibt sich wechselhaft, und es wird auch nicht mit Pausen gespart. Oliemans, der auf Opernbühnen sehr aktiv ist, bringt – unterstützt von seinem Pianisten – ein starkes theatralisches Element in seine Interpretation ein und punktet dabei mit genauer Diktion. Die größte Wirkung wird dann erzielt, wenn er sich Zeit lässt und die lyrischen Passagen gedankenverloren auskostet wie bei den „Trockenen Blumen“. Dem Klang ist nicht anzumerken, dass es sich um einen Mitschnitt handelt. Alle störenden Geräusche sind eliminiert. Das Cover hätte man sich etwas sinnlicher gewünscht.

 

Und noch eine – dem Volkslied nahe: Jasper Schweppe klingt jünger, als er in Wirklichkeit sein dürfte. Eine Angabe über sein Geburtsjahr habe ich nicht gefunden. Der Beginn der Ausbildung 1969 am Konservatorium in der niederländischen Stadt Zwolle mit dem Studium der darstellenden Musik ist zumindest ein Hinweis auf sein Alter. Später absolvierte er das Royal Conservatory in Den Haag. Musikalisch ist er breit aufgestellt, hegt eine große Verehrung für Monteverdi und pflegt auch Werke von Rameau. Schweppe singt in namhaften Chören seiner Heimat und gibt auch Sololiederabende. Bei Et’Cetera hat er eine Einspielung von Franz Schuberts Die schöne Müllerin vorgelegt (KTC 1653). Sein Begleiterin ist die Japanerin Riko Fukuda. Schweppe hat sich zu einer schlichten und schnörkellosen Interpretation entschlossen. Bei ihm klingt der Zyklus wie eine Sammlung von Volksliedern. Im Booklet gibt er Einblick in sein Konzept: „In meiner Interpretation dieser Lieder versuche ich, den Absichten Schuberts so nahe wie möglich zu kommen, indem ich nicht so sehr vom Belcanto ausgehe, sondern von der Deklamation des Textes.“ Er wolle dem „Gesangsstil unserer heutigen Zeit entgehen“ und trete an „Schuberts Lieder vom 18. Jahrhundert aus“ heran. Das funktioniert natürlich nur dann, wenn die Lieder so deutlich und klar gesungen werden wie durch Schweppe. Die Authentizität wird noch dadurch gesteigert, dass ein Instrument des deutsch-österreichischen Klavierbauers Conrad Graf von 1827. Vier Jahre zuvor hatte Schubert seine Müllerin komponiert.

 

Zügiges Tempo: Darf es noch eine Schöne Müllerin mehr sein? Bitte schön! Bo Skovhus hat bei Capriccio seine zweite Aufnahme des Liederzyklus von Franz Schubert veröffentlicht (C5290). Die erste war 1997, begleitet von Helmut Deutsch, noch bei der EMI herausgekommen. Jetzt sitzt Stefan Vladar am Klavier. Dazwischen gab es ein Schubert-Album bei Sony. Neben seiner Tätigkeit auf internationalen Opernbühnen hat der aus Dänemark stammende Bariton stets den Liedgesang gepflegt. Skovhus und sein Pianist schlagen ein zügiges Tempo an. Sie brauchen nur etwas mehr als neunundfünfzig Minuten. Das ist vergleichsweise wenig. Andere nehmen sich mehr Zeit. „Das Wandern ist der Müllers Lust“: Der berühmte Beginn wird nicht idyllisch und gemächlich ausgebreitet. Unrast liegt darin, wenn nicht gar Hatz. Als sei einer auf der Flucht mit unbekanntem Ziel. Nur weg, ja nicht stehenbleiben oder gar zurückblicken. Da Skovhus ein vorzügliches, ja beispielhaftes Deutsch ohne Akzent singt, kann er sein hoch individuelles Herangehen nicht nur musikalisch, sondern auch sprachlich überzeugend vermitteln. Selbst bei solchen im Tempo verhalten angelegten Liedern wie Die Danksagung an den Bach oder Trockene Blumen ist die Unrast im Untergrund spürbar. Erst am Schluss, in Des Baches Wiegenlied, kommt dieser Müllerbursche zur Ruhe – weil er nicht mehr kann. Er haucht sein Leben aus, wirkt wie hingestreckt, wie gefällt. Er ist am Ende. Den Liederzyklus so aufregend vermittelt, liegt kein Wagnis darin, den unzähligen Aufnahmen noch eine hinzuzufügen.

 

Mit und ohne Gitarre: Bei Gramola hat Matthias Helm seine Version mit dem Gitarren-Duo Hasard herausgebracht  (99065), bei Ars Klemens Sander mit traditioneller Klavierbegleitung durch Ehefrau Uta Sander (38535). Beide singen Bariton. Diese Aufnahmen leben auch davon, dass sie sich einem Vergleich mit berühmten früheren Einspielungen entziehen. Dafür sind sie zu unkonventionell. Es handelt sich um CD-Premieren in der Karriere von Helm und Sander, die den Fotos nach noch jünger aussehen als sie in Wirklichkeit sein dürften. So soll es wohl auch sein. Angaben über ihre Geburtstage finden sich nirgends, nicht auf den Homepages, nicht in der allwissenden Online-Enzyklopädie Wikipedia. Derlei biographische Zurückhaltung ist in dieser Generation keine Seltenheit. Sie will jung sein – und es immer bleiben. Jedenfalls haben beide nach meinem Eindruck das rechte Alter für die Lieder. Denn was sich in der Geschichte zuträgt, das widerfährt nicht dem reifen Manne. Das geschieht in der Jugend. Matthias Helm und Klemens Sander haben beide bei Robert Holl, Jahrgang 1947, studiert. Holl hat den Liedgesang intensiv gepflegt, wovon zahlreiche einschlägige Aufnahmen, darunter auch Schuberts Müllerin, Zeugnis ablegen. Es ist erfreulich, dass er seine Erfahrungen weitergibt. Neue Sichtweisen in der Interpretation brauchen auch den kontinuierlichen Unterbrau, das Wissen der vorangegangenen Generation.

Die Müllerin mit Gitarrenbegleitung, zu der sich Helm entschlossen hat, ist keine Erfindung der Neuzeit. Nachdem der Liederzyklus von Franz Schubert 1825 in fünf Heften beim Wiener Verlag Sauer & Leidesdorf erstmal gedruckt vorlag, kam schon wenig später eine Bearbeitung für Singstimme und Gitarre in Umlauf. Ob Schubert selbst Gitarrenbearbeitungen vorgenommen hat, ist nicht belegt. In Wien hatte das Instrument, vor allem durch den dort wirkenden Gitarrenbauer Johann Georg Stauffer (1778 bis 1853) einen guten Ruf. Es dürfte weit verbreitet gewesen sein, auch deshalb, weil es in der Anschaffung günstiger ist als ein Piano. Peter Schreier war einer der erste Tenöre, der sich 1978 bei den Salzburger Festspielen vom Gitarristen Konrad Ragossnig begleiten lies. Dieser hatte gemeinsam mit seinem englischen Kollegen John William Duarte eine eigene Fassung erarbeitet, um „den musikalischen Substanzverlust auszugleichen, der durch die zeittypischen Reduktionen und spieltechnischen Erleichterungen entstand“, wie der Musikwissenschaftler Michael Struck-Schloen im Booklet der Eterna-Einspielung von 1982 schreibt, die nun von Berlin Classics abgeboten wird. Die Popularität des transportablen, leicht zu erlernenden Instruments, das auch Schubert leidlich beherrscht habe, prädestinierte es „vor allem zur empfindsamen Begleitung im häuslichen Rahmen“, so Struck-Schloen weiter. Mit dem Duo Hasar, das aus Stephan Buchegger und Guntram Zauner besteht, hat Helm gleich zwei Begleiter. Das gibt mehr Fülle, zugleich eröffnen sich größere klangliche Möglichkeiten. Das Duo hat das Arrangement selbst besorgt. Nichts ist daran auszusetzen. Wer allerdings auf dem Grunde des Gedächtnisses die traditionelle Klavierbegleitung mitlaufen lässt, kann sich des gelegentlichen Eindrucks nicht erwehren, als stehe der Sänger neben den Gitarren etwas auf verlorenem Posten. Der Klang des Klaviers schafft nach meinem Eindruck mehr Halt, umgibt die Stimme wie ein virtueller Raum, eine Raum, in der sie am Ende doch besser entfalten kann. Helm braucht mit reichlich 62 Minuten bald zehn Minuten weniger als Sander. Das fällt nur beim Nachrechnen auf, nicht beim Hören.

Letztlich lassen sich beide Sänger Zeit genug, um die Lieder verständlich herüberzubringen, die Geschichte in aller gebotenen Ruhe und Ausführlichkeit zu erzählen und sich nicht in Hast zu verlieren. Ein übertrieben zügiges Tempo kann zum Feind des Vortrages werden. Auf der Habenseite steht ein hohes Maß an Wortdeutlichkeit. Nicht selten kennt das Publikum die eingängigen, volksliedhaften Verse auswendig. Ob man will oder nicht, es findet ganz automatisch ein ständiger Abgleich zwischen dem Gehörten und dem eigenen Gedächtnis statt. Stimmt etwas nicht oder ist etwas anders, fällt das sofort auf. Helm singt noch genauer als Sander, der etwas großzügiger in der Anwendung mancher Buchstaben ist. „Vom Wasser haben wir’s gelernt, vom Wasser“, heißt es gleich im ersten Lied. Bei Sander wird in der Wiederholung aus dem „vom“ ein „von“. Zunächst scheint eine Passage im zweiten Lied „Wohin?“ rätselhaft. Im Text, der im Booklet abgedruckt ist, heißt es: „Und immer frischer rauschte, / Und immer heller der Bach.“ In allen Aufnahmen, die ich kenne, folgt der Sänger diesen Worten. Auch Fischer-Dieskau, der sich in seinem langen Künstlerleben sehr intensiv mit dem Werk beschäftigte. Sander ersetzt das Wort „frischer“ durch „heller“, was zu Folge hat, dass der Bach „immer heller, und immer heller rauscht“. Sinnwidrig ist das nicht. Ist es aber richtig? Das „Schubert Lied-Lexikon“ aus dem Bärenreiter-Verlag gibt dem Sänger Recht. Dort wird der Text so abgedruckt, wie Sander ihn singt. Sollte es also zwei verschiedene Fassungen geben? Eine Erklärung habe ich nicht gefunden. Derlei Haarspaltereien fallen angesichts der frischen Vortragsweise nicht ins Gewicht. Sowohl Sander als auch Helm wählen einen unkonventionellen, ja lockeren Stil und kommen dadurch dem Zyklus auf eine sehr zeitgemäße Weise nahe. Sie betonen damit – ob nun gewollte oder mehr intuitiv – einen deutlichen Unterschied zu jenen dem Intellekt verpflichteten Sängern wie Fischer-Dieskau. Sie betreiben keine Exegese. Im Booklet der Sander-CD ließt sich das so: „Die Geschichte ist rasch erzählt – und bei aller Liebe zu den wunderschönen, scheinbar launigen Melodien – ganz schön schauderhaft. Ein Müllerbursche befindet sich auf Wanderschaft und verliebt sich hoffnungslos in des neuen Meisters Tochter. Die schöne Müllerin wendet sich lieber dem Jägersmann zu, dem Müllergesell bleibt der finale Freund: Er geht in den Bach.“ Falsch ist das auch nicht. In dem Text von Daniel Wagner kommt auch der Sänger selbst zu Wort. „Also ganz gesund war der sicher nicht“, urteilt Sander über den Müllerburschen. „Das muss wahrscheinlich so sein, wenn man richtig krank vor Liebe ist.“ Anfangs sei noch alles lustig. Da werde gewandert und gesungen. Wirklich? Ist es nicht vielmehr so, dass sich bereits im zweiten Lied die bange Frage stellt, ob „das denn meine Straße ist“? Und ist es tatsächlich nur der Bach, der da rauscht? „Es singen wohl die Nixen tief unten ihren Rhei’n.“ Nixen sind Fabelwesen, die den Menschen Gefahr und Tod bringen. Ist das Schicksal des jungen Wanderers nicht schon besiegelt bevor er auf die schöne Müllerin trifft?

 

So könnte der junge Franz Schubert ausgesehen haben. Bewiesen ist es nicht. Die Kreidezeichnung soll von Leopold Kuppelwieser stammen, der zum Freundeskreis Schuberts gehörte.

Länger und länger wird die Liste der Aufnahmen:  Ungebrochen ist das Interesse an diesem Liederzyklus. Es scheint, als nehme das Reproduktionstempo zu. In Studios womöglich noch mehr als im Konzertsaal. Waren Einspielungen vor fünfzig Jahren ein exklusives Ereignis, kann einem heutzutage schon mal eine Neuerscheinung durchrutschen. Auf Wiederauflagen ist kein Verlass. Wer nichts verpassen will, muss sofort zugreifen. Angesichts der Fülle wird es nicht einfacher, die Übersicht zu behalten. Zumal sich Sänger mit großer Entschlossenheit und Entdeckerfreude dem Lied zuwenden – zum Glück nicht immer nur ein und denselben Titeln oder den berühmten Zyklen. Zuwachs in den Katalogen gibt es vor allem durch Vielfalt. Neben Schubert, Brahms, Wolf, Schumann oder Strauss treten fast vergessene Komponisten wie Ludwig Thuille (1861-1907), Johann Friedrich Reichardt (1752-1814) der späte Berliner Schumann mit Vornamen Georg (1866-1952) oder Heinrich von Herzogenberg (1843-1900) aus ihrem Schattendasein hervor. Namentlich das Label cpo überrascht mit derartigen Ausgrabungen. Freunde des Liedgesangs leiden also nicht an Entzugserscheinungen. Zu keiner Zeit wurden mehr Lieder aufgenommen als heute. Niemand hat mehr einen genauen Überblick, wie oft die Schöne Müllerin aufgenommen wurde. Zu den offiziellen Produktionen treten die Radioaufnahmen, die nicht immer auf Platte gelangt sind, die einmaligen Übertragungen in Rundfunk und Fernsehen, die heimlichen privaten Mitschnitte. Auf der französischen Internetseite Operacritiques werden mehr als 180 verschiedene Aufnahmen genannt, deren Herkunft bis auf ganz wenige Ausnahmen belegbar ist. Die erste geschlossene Wiedergabe sang der österreichische Tenor Franz Naval 1909 für Odeon in den Zylinder. Mit leichten Kürzungen, als sei er in Eile. Das straffe Tempo war der begrenzten Aufnahmetechnik geschuldet, die in den Kinderschuhen steckte. Seine Aufnahme kann noch heute bestehen. Bereits 1902 hatte Naval das Müllerinnen-Lied Der Neugierige eingespielt, noch früher, nämlich 1901, sang der Bassist Paul Knüpfer den Titel Ungeduld für die Deutsche Grammophon Aktien-Gesellschaft. Die Firma wird, wie damals üblich, sogar mit scharfer Stimme angesagt. Einzelne Nummern aus dem Zyklus sind mit Beginn der Schelllackära häufig anzutreffen. Noch in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre hat Elisabeth Schwarzkopf das Lied Ungeduld gleich dreimal aufgenommen. Danach sind einzelne Aufnahmen fast nicht mehr anzutreffen. Gesamtaufnahmen wurden die Regel. Bis auf wenige Ausnahmen wurde immer auf Tonträgern stets in der Originalsprache gesungen. Germaine Martinelli wählte 1935 für Malibran eine französische Übersetzung, Georgi Vinogradov 1954 eine russische und Beno Blachut um 1960 oder etwas später eine tschechische. Viel mehr Ausnahmen sind nicht nachzuweisen.

LP Muellerin Fischer-Dieskau

Dietrich Fischer-Dieskau hat die „Schöne Müllerin“ mit Prolog und Epilog aufgenommen. Das Bild zeigt die Vorderseite einer historischen Schallplattenausgabe.

Dietrich Fischer-Dieskau, Hermann Prey, Fritz Wunderlich oder Peter Schreier haben die Müllerin mehrfach eingespielt bzw. bei Konzerten mitschneiden lassen. Sie sind Spitzenreiter. Einmal hat Fischer-Dieskau gemeinsam mit dem legendären Begleiter Gerald Moore den Zyklus sogar mit gesprochenem Prolog und leicht gekürztem Epilog eingespielt. Schubert hatte 1823 nicht alle Lieder der gleichnamigen Gedichtsammlung von Wilhelm Müller komponiert. Weggelassen wurden „Das Mühlenleben“, „Erster Schmerz, letzter Schmerz“, „Blümlein Vergießmein” und eben Prolog und Epilog. Der ironische Grundton der einleitenden und abschließenden Betrachtungen, die dem Zyklus eine völlig andere Perspektive geben, waren Schuberts Sache nicht. Dennoch wäre es konsequent und gewiss nicht unspannend gewesen, an den entsprechenden Stellen der Aufnahme die übrigen Texte auch gesprochen einzufügen. Dann nämlich hätte Fischer-Dieskau, der ein exzellenter Rezitator gewesen ist, im Epilog nicht die einleitenden zehn Zeilen weglassen müssen, die sich nämlich auf die Tatsache beziehen, dass der Zyklus aus insgesamt fünfundzwanzig Gedichten besteht. Eine Rumpflösung ist immerhin besser als gar keine. Dennoch hat diese Variante keine Nachahmer gefunden. Rüdiger Winter

 

Fritz Wunderlich

 

Mehr als einhundertneunzigtausend Männer haben in Deutschland das neunzigste Lebensjahr und mehr erreicht. Fritz Wunderlich, geboren am 26. September 1930, könnte einer von ihnen sein, wäre er nicht am 17. September 1966 an den Folgen eines Unfalls zu Tode gekommen. Neun Tage vor seinem sechsunddreißigsten Geburtstag. Es fällt schwer, sich ihn hochbetagt vorzustellen. Durch die tragischen Umstände seines Todes ist ihm ewige Jugend gegeben. Er bleibt der Strahlemann, der niemals altert. Nicht stimmlich, nicht in seiner äußeren Erscheinung. Auf ihrem Höhepunkt ist seine einzigartige Begabung konserviert worden. Niemand kann sagen, wie sich seine Stimme weiterentwickelt hätte. Melomanen spekulieren gern. Die einen würden ihn am liebsten als Lohengrin, gar als Siegmund gesehen haben, wenigstens aber als Stolzing. Wagner gilt nach einer weit verbreiteten Auffassung immer noch als Ausdruck der höheren Weihen im Operngesang. Wunderlich hat – wenn auch nur in kleinen Rollen – zwei berühmte Plattenproduktionen geprägt – als Steuermann im Holländer und als Walther von der Vogelweide im Tannhäuser, beide bei der EMI/Electrola unter der Leitung von Franz Konwitschny eingespielt. Da es sich beim Tannhäuser um die so genannte Dresdener Fassung handelt, ist Walther sein betörendes Solo im Sängerkrieg vom Bronnen, den seines „Geistes Licht“ erschaute, geblieben. Den Steuermann sang er 1964 auch live im Münchner Nationaltheater. Karajan soll ihn sich als Froh für Rheingold gewünscht haben. Auch so eine Rolle, die von nur einer wirkungsmächtigen Szene lebt, nämlich von der Brücke, die zur Burg Walhall führt, „leicht doch fest eurem Fuß“.

Complete Studio Recordings on Deutsche Grammophon (4796438). Wie Karteikarten stecken die 32 CDs platzsparend in einer himmelblauen Schachtel, darauf der Sänger im Glanzfoto als Tamino.

So verlockend diese Träumereien auch sind, für die Beschäftigung mit Fritz Wunderlich gibt es hinreichend konkrete Anhaltpunkte in Form von Tondokumenten. Die Erinnerungen der Zeitzeugen, die ihn noch auf der Opernbühne oder auf dem Konzertpodium erlebt haben, verblassen. Jüngeren Generationen bleiben ohnehin nur die Platten. Bilden sie seine Kunst auch genau genug ab? Es ist ein Glück, dass seine Karriere mit dem Sieg der Stereophonie einherging. Auch die Mitschnitts- und Übertragungstechnik war so weit entwickelt, dass tatsächlich auch das bei den Menschen an den Radioapparaten oder am Fernseher ankam, was tatsächlich bei diversen Anlässen aufgeführt wurde. Und wenn es mal mit der Tonqualität haperte wie bei der 8. Sinfonie von Gustav Mahler von den Wiener Festwochen 1960, stellt sich ein ganz spezielles Phänomen ein. Wunderlich überwindet – wie hier als ideal besetzter Doctor Marianus – stimmlich Grenzen der Technik. Kunst trägt den Sieg davon: „Blicket auf zum Retterblick!“ Mit Wiederauflagen seiner Platten, mit Ausgrabungen seltener Tondokumente und immer neuen Zusammenstellungen, bleibt die Erinnerung an Wunderlich wach. In den letzten Jahren hatten vornehmlich Deutsche Grammophon, Warner, SWR Music und BR Klassik, die Labes der Rundfunkanstalten und das um historische Rundfunkdokumente bemühte Documents reichlich Nachschub geliefert und damit für Kontinuität gesorgt. Beim Surfen durchs Netz, beim Sortieren der eigenen Sammlung, in diversen Märkten oder in Bibliotheken – allenthalben trifft man auf Wunderlich wie auf einen Freund. Er macht es seinen Zuhörern leicht, indem er durch seine Art des Singens vermittelt, dass es nicht unbedingt zwingend nötig ist, Noten lesen zu können, um ihn zu verstehen. Er nimmt das Publikum mit, bleibt auf Augenhöhe mit ihm. Vielleicht ist er gerade deshalb auch bei denen so beliebt, die nicht viermal die Woche in die Oper gehen und keine großen Sammlungen ihr Eigen nennen. Wunderlich-CDs stecken schon mal in den Fächern der Schrankwände zwischen Peter Maffay, Caterina Valente und den Puhdys. Wunderlich, der Kumpel aus Kusel, wo er geboren ist und wohin er immer wieder gern zurückkehrte. Erst durch ihn habe ich von der Existenz dieser kleinen Stadt in der Pfalz mit gut fünftausend Einwohnern Kenntnis erlangt. Dort hat die Fritz-Wunderlich-Gesellschaft ihren Sitz und betreibt eine dem Sänger gewidmete Ausstellung im Heimatmuseum. Eine Straße trägt seinen Namen, und im Stadtpark steht seine Büste. Die enorme Popularität eines Sängers wie ihn braucht auch die Massen. Sie tragen die Stars nach oben – und nicht allein die gebildeten und bestens informierten Stimmenkenner.

Bronzebüste Fritz Wunderlichs von 1973 (Erich Koch fec) im Stadtpark seiner Geburtsstadt Kusel/ Foto: Wikipedia

Gewiss, Wunderlichs Name wird in der Musikgeschichte immer für Schubert, Schumann, Bach oder Mozart stehen. Letztlich aber hat er sich nicht immer eindeutig festgelegt. Wollte er frei sein? So frei, wie er mit diesem Hang zur Unbekümmertheit singt? Obwohl er mit zunehmender künstlerischer Reife sehr wohl kalkulierte und plante, kommt es mir immer so vor, als hätte er am liebsten gesungen, was ihm gerade unter die Finger kam. Oper, Oratorium, Lied, Operette, Schlager. Bis zum Schluss ist er in meinen Augen und Ohren der große Junge geblieben. Erst dieser Tage wanderte ich über einen Berliner Flohmarkt. Gleich am ersten Stand ragte eine Schallplatte mit krachbuntem Cover aus einer Kiste heraus. Jemand hatte sie wohl so auffällig drapiert, damit sie schon von weitem wie ein werbendes Transparent sichtbar werde. Wunderlichs Aufnahmen waren nicht für einen Moment vom Markt.

Es gibt auch Bücher und Filme. Die berühmte Münchner Produktion vom Barbier von Sevilla in strengem schwarzweiß kam Anfang der sechziger Jahre ins Fernsehen und erlangte Berühmtheit wie die Tagesschau. Die ganze Familie saß bei uns um den neuen Fernseher – und sie prägte für Jahre auch mein eigenes Rossini-Bild. Es brauchte lange, bis ich begriff, dass das nicht der echte Rossini war. Es war wunderlich‘scher Rossini. Auch Wunderlich-Aufnahmen können altern und werden im Einzelfall als zutiefst historische wahrgenommen, ohne dass sie vor sich hin knistern wie eine Caruso-Schelllack-Platte. Spätestens im Advent wird das Weihnachoratorium hervorgeholt, in Stereo unter Karl Richter von 1965. Kaum einer singt es so schön wie er. Und es könnte eben erst aufgenommen worden sein, so zeitlos kommt es nicht nur mir vor. Historisch informierte Aufführungspraxis hin oder her. Sein Alter hört man ihm nur deshalb an, weil heutzutage niemand mehr so singt wie er.

Eine der jüngsten Neuerscheinung mit Fritz Wunderlich: Gaetano Donizettis „Don Pasquale“ von 1962 aus dem Prinzregententheater in München. Erschienen ist der Mitschnitt bei Hänssler (PH19075).

Alphabetisch gesehen hat Wunderlich in Plattenregalen, die entsprechend geordnet sind, einen der hinteren Plätze. Hinter Wunderlich kommt nicht mehr viel. Windgassen ist da schon durch. Wittrisch auch. Seiner Bedeutung gemäß habe ich deshalb seine Aufnahmen zentraler platziert. Sozusagen außer der Reihen auf Augenhöhe. So, wie es ihm zusteht. Gehe ich daran vorbei, verlangt es mich, diese oder jene CD herauszunehmen. Die meisten sind schon am Rücken zu erkennen. Nicht zu übersehen sind die dreizehn Regal-Zentimeter Complete Studio Recordings on Deutsche Grammophon (4796438), die eine neue Auflage rechtfertigen würde. Wie Karteikarten stecken die 32 CDs platzsparend in einer himmelblauen Schachtel, darauf der Sänger im Glanzfoto als Tamino. Die Aufmachung macht viel her, zumal sich die einzelnen Alben in ihrer äußeren Erscheinung an den originalen Schallplattenhüllen orientieren. Nur beim Weihnachtsoratorium und bei L’Orfeo wurde gespart. Was wie die ersten Auflagen im Rahmen der eleganten Archiv Produktion der Grammophon aussehen soll, lässt eher an den Aufdruck einer Mehltüte im Supermarkt denken. Die drei echten Opernproduktionen mit dem Gelbetikett – Zauberflöte (Tamino), Entführung aus den Serail (Belmonte) und Wozzeck (Andres) sowie Beethovens Missa Solemnis und Haydns Schöpfung (nach Wunderlichs Tod mit Werner Krenn vollendet) – sehen tatsächlich so aus, als stünden sie noch als Kassetten im Schaufenster eines Plattenladens, den es so nicht mehr gibt. Sie gehören zum eisernen Bestand vieler Sammlungen und können immer noch mithalten mit den zahlreichen Einspielungen, die danach auf den Markt gelangten. Nur Orfeo ist ein durch und durch zeitgebundenes,  weil streng neu orchestriertes  Dokument. So wurde Claudio Monteverdi 1955 gespielt wurde – also meilenweit von dem entfernt, was heute als verbindlich gilt. Man wusste es nicht anders.

Lieder von Franz Schubert, Hugo Wolf, Richard Strauss und Stücke anderen Komponisten sind bei Electrola, nun Warner noch auf dem Markt (0190295928001).

Nach der EMI gönnte sich auch die Grammophon ihren Querschnitt durch die deutsche Spieloper Zar und Zimmermann, lässt Wunderlich als Marquis Chateauneuf seinem flandrisch Mädchen nochmals Lebewohl sagen. Ein weiterer Querschnitt, diesmal durch Verdis La Traviata, kommt als solcher viel zu spät. Während die Callas an der Scala in der opulenten Inszenierung von Luciano Visconti bereits in die Musikgeschichte eingegangen war, begab sich zehn Jahre später im gut fünf Autostunden von Mailand entfernten München Wunderlich mit einem deutschsprachigen Team aus Hilde Güden, Claudia Hellmann, Dietrich Fischer-Dieskau, Friedrich Lenz, und Karl-Christian Kohn ins Studio, um die Gläser „in vollen Zügen“ zu leeren. Mit dem ebenfalls deutsch gesungenen Onegin-Querschnitt (DG) wird nicht warm, wer das Werk im Original kennt. Schuberts Schöne Müllerin und Schumanns Dichterliebe sind zwei echte Grammophon-Klassiker.

Begleitet von Hubert Giesen hat der Liedersänger Wunderlich seine Begabung wie zu einem Konzentrat verdichtet. Mehr geht nicht. Er, Wunderlich, sei erst „sehr spät zum Lied gekommen“, zitiert Thomas Voigt in seinem wie stets höchst sachkundigen Booklet-Text den Sänger. „Aber nicht deshalb, weil ich vorher keine Beziehung dazu hatte, sondern weil ich wusste, dass ich nur dann Lieder singen kann, wenn ich meine Stimme dafür absolut beherrsche.“ Das sei die wichtigste Voraussetzung für das Lied. Die Winterreise, dieser Gipfel des Liedgesangs, kündigte sich an. In einem TV-Interview aus dem Jahr vor seinem Tod, welches erst kürzlich auf einem YouTube-Kanal auftauchte, ließ der Sänger durchblicken, dass er den Zyklus ausprobieren wolle. Erste Schritte im Genre war er schon früher gegangen. Bereits 1955 hat er – um nur zwei Beispiele von vielen zu nennen – wenigsten sechs Nummern aus dem Italienischen Liederbuch von Hugo Wolf und fünf Lieder von Johannes Brahms gesungen. Voigt selbst erwähnt die erste Schöne Müllerin von 1959, die er das „Dokument eines unbekümmerten Newcomers“ charakterisiert. Ja, das trifft es. Wunderlich klingt noch ungelenk, ziemlich hart, ist meilenweit von der Vollendung entfernt. Er ist mehr sein eigenes Versprechen, das er würde einhalten. Die ganze Bedeutung des Phänomens Wunderlich ist mir erst im Vergleich mit seinen ersten künstlerischen Versuchen aufgegangen. Ich kenne keinen anderen Sänger, dessen Aufstieg so lückenlos dokumentiert ist.

SWR Music hat gleich mehrere CDs mit Aufnahmen aus dem Archiv des Senders auf den Markt gebracht, darunter auch romantische Arien (SWR9032CD). Für das Remastering wurde großer Aufwand betrieben.

Übernahmen/Neuverwertungen: Warner geht mit den geerbten Electrola-Aufnahmen korrekt und archivarisch vorbildlich um. Fritz Wunderlich, die Tenor-Legende. Mit der so betitelten Box von 2016, die noch immer auf dem Markt ist, wird allerdings der Eindruck erweckt, als habe es EMI und Electrola, die dem Tenor neben der Deutschen Grammophon zu Ruhm und Ansehen verhalfen, nie gegeben (190295921545). Lediglich die Aufnahmedaten geben Aufschluss darüber, unter welchem Label die jeweiligen Titel erstmals an die Öffentlichkeit gelangt sind. Nicht genug. Ein Griff ins Regal, und die Neuerscheinung entpuppt sich als Eins-zu-Eins-Übernahme der EMI-Sammlung Great Moments of Fritz Wunderlich aus dem Jahr 2000. Noch immer lässt das rauschhafte Klangbild nichts zu wünschen übrig. Einem allgemeinen Trend folgend, packt Warner die drei CDs der Edition nun ebenfalls in Hüllen, mit denen optische Anleihen bei originalen Langspielplatten genommen werden. Dabei wird durchaus großzügig verfahren. Ein Foto, das Wunderlich in weißer Pinkerton-Uniform auf dem Cover des alten EMI-Querschnitts durch Puccinis Madame Butterfly zeigte, illustriert nun die Operetten-CD. Bedient werden außerdem die Genres Oper, Konzert und Lied. Gesondert produzierte Arien und Duette sind gemischt mit Auszügen aus den Gesamtaufnahmen und Querschnitten der EMI. Eingedampft auf zwei Nummern ist die Jagd-Kantate von Bach, in der Wunderlich vor dem Mikrophon mit Annelies Kupper zusammengetroffen ist. Schade, dass es wieder nur beim Ausschnitt bleibt. Das Werk hätte endlich eine vollständige Wiedergabe verdient.

BR Klassik griff bei seinem Album (900314) auch auf die Mitwirkung von Fritz Wunderlich bei den legendären Münchner Sonntagskonzerten zurück.

Sontagskonzerte und Radioaufnahmen: Mit seinem Eigenlabel BR Klassik ist auch das Münchner Rundfunkorchester an Fritz Wunderlich nicht vorbei gekommen (900314). Er hat in drei der sehr beliebten Sonntagkonzerte im Kongresssaal des Deutschen Museums in München mitgewirkt. Sie wurden von dem Orchester bestritten. Zwei davon sind auf der CD mit jeweils einem Titel berücksichtigt. Die Chateauneuf-Arie „Lebe wohl, mein flandrisch Mädchen“ von 1965 und der Robert-Stolz-Hit „Ob blond, ob braun, ich liebe alle Frau’n“ von 1966 sollen Wunderlichs „leichtere Seite seines Repertoires“ betonen, ist im Booklet zu lesen. Diesem Grundsatz folgt auch die übrige Auswahl, bei der sich Lortzing und Nicolai neben Fall, Millöcker, Lehár, Künneke, Spolansky und Willy Mattes wiederfinden. Nur die beiden Konzertauftritte sind live. Beim Hören fällt das auf. Der Sänger ist freier und lockerer als im Studio. Beim Stolz läuft der Vortrag auf den erwarteten Beifall hinaus. Im erhaltenen Mitschnitt der gesamten Veranstaltung tobt der Saal. Auf der CD ist dieser Teil erbarmungslos weggeschnitten. Alle Aufnahmen, heißt es, seien bisher unveröffentlicht gewesen. Das stimmt so nur eingeschränkt, weil sieben Nummer zuvor bereits bei The Intense Media/Membran auf CD in Umlauf gebracht wurden. Bei dieser Firma jagte nämlich über Jahre eine Wunderlich-Box die andere – wenngleich sich eine gesonderte über den oft muffigen Klang der radio-„geborgten“ Aufnahmen machen ließe. Auf vier Editionen mit jeweils zehn CDs und eine Zweierbox folgte vor nunmehr fünf Jahren der große Wurf, der alles in den Schatten stellt, was es dahin bisher gab: Fritz Wunderlich – Große Erfolge & Raritäten in einer 50 CD Collection (600271), die noch im Handel ist.

Diese CD aus der großen Edition der Deutschen Grammophon widmet sich der Liebe Wunderlich zu Wien.

Radio-Live-Mitschnitte: Um das Andenken an den beliebten Tenor wird seit Jahren gewetteifert. Neben den genannten Firmen mischen Hänssler, Sony, Audite und Arts mit. Hingegen saßen die Piraten Myto, Melodram oder Andromeda aus Rechtsschutz-Gründen am Katzentisch der Wettbewerber wie eine illegitime Verwandtschaft. Umso mehr wurden sie von Sammlern geliebt, weil sie die nicht ganz astreinen Raritäten oft zuerst hervorgeholt haben. Kaum einer wüsste mehr, wie eindringlich Wunderlich den Palestrina  von Pfitzner gesungen hat, wäre der Wiener Mitschnitt von 1964 nicht von Myto auf den Markt lanciert worden. Es scheint bizarr, warum eine Firma wie Orfeo sich nicht um diese so nach vorne blickende Aufnahme kümmerte. RCA hatte 2001 mit Szenen den Anfang einer offiziellen Aufarbeitung gemacht. Seither ist nichts mehr passiert. Selbst Intense Media/Membran machte in ihrer Zeit einen großen Bogen im diesen Monolith.

Aus den Frühtagen: Dafür gibt es dort immerhin Beethovens Christus am Ölberg vom Radio Hilversum (1957, Dank an Walter Knoeff!), Haydns Theresienmesse aus der Benediktiner-Abtei in Rohr (1962), Messias von Händel aus der Stuttgarter Liederhalle von 1959, Bachs h-Moll-Messe vom Deutschen Bachfest 1960 oder die Johannespassion aus der Freiburger Stadthalle (1958). Das „andere“ Weihnachtsoratorium wurde in etwas gekürzter Form 1955 in der Markuskirche in Stuttgart unter der Leitung von August Langenbeck mitgeschnitten. Intense Media neigte dazu, sich selbst Konkurrenz zu machen. Die Perlen sind allerdings geschickt verteilt. Das musste man den Herausgebern lassen. So fasst die dem Umfang nach einmalige Edition nicht nur bereits erschienen Produkte zusammen. Durch neue Mischungen ergibt sich erstens ein neues Bild, und zweitens liegt noch diese und jene Aufnahme, an die sich niemand mehr genau erinnern kann, oben drauf. Ich hätte wetten mögen, dass die Studentenlieder von Fritz Neumeyer (1900-1983) genauso exklusiv sind wie die Sieben Gesänge von Friedrich Zehm (1923-2007) aus dem Privatarchiv des Komponisten. Die Wette hätte ich verloren, denn der Neumeyer ist vor vielen Jahren in der bereits erwähnten Great-Moments-Box der EMI veröffentlich worden. Und nun bei Warner. Mir scheint, dass mit der Vergesslichkeit der Kunden durchaus gerechnet wird. So ist der Markt. Darf es eine Portion Wunderlich mehr sein? Es darf. Insofern haben jede Box und jedes Album ihren Eigenwert – und die Verehrer des Sängers kommen wohl nicht umhin, immer wieder zuzugreifen, weil sich erst peu à peu herausstellt, was schon vorhanden ist und was nicht. Rüdiger Winter 

 

Foto oben ist ein Ausschnitt des Booklet-Fotos der Complete Studio Recordings on Deutsche Grammophon (4796438). Es zeigt Fritz Wunderlich als Tamino in Mozarts „Zauberflöte“, der einer seiner zentralen Rollen gewesen ist. Die komplette Aufnahme der Oper unter der Leitung von Karl Böhm bei DG ist Bestandteil der großen Edition. 

Von ewiger Liebe

 

Es ist vollbracht! Hyperion hat seine Einspielung sämtlicher Lieder von Johannes Brahms abgeschlossen. Den Schlusspunkt setzt die österreichische Mezzosopranistin Sophie Rennert mit Vol. 10 (CDJ33130). An die zwölf Jahre hat sich die in Londoner Firma, deren Namen auf einen der Titanen in der griechischen Mythologie zurückgeht, dafür Zeit gelassen – Fügung oder Kalkül? Die neueste und zugleich letzte CD erweist sich schon deshalb als fulminantes Finale des ambitionierten Unternehmens, weil gleich mehrere Glanznummern aus dem Schaffen des Komponisten Berücksichtigung finden, für nahezu jeden Freund des Liedes unverzichtbar. Die Mainacht oder Von ewiger Liebe? Ich kann mich nicht entscheiden. Höre ich das eine Lied, ist mir nach dem anderen – und umgekehrt.

Liebestreu steht gleich am Beginn, „Immer leiser wird mein Schlummer“ zwar auf einem hinteren Platz, doch damit ganz und gar nicht unter ferner liefen. Nahezu perfekt kann sich die warme Stimme von Sophie Rennert in den Zwei Gesägen für eine Altstimme, Viola und Klavier op. 91Gestillte Sehnsucht und Geistliches Wiegenlied, das auch auf Weihnachtsplatten zu finden ist, – entfalten. Dabei scheinen Ihr Mezzo und der schattige Ton des Streichinstruments eins zu werden. In den Zigeunerliedern flammt Leidenschaft auf, die aber nur einen scheinbar Gegensatz zur Schwermut der anderen Gesänge darstellt, weil die Solistin auch hier den für Brahms so typischen melancholischen Unterton herausfindet. Jeder, der gern Brahms hört, pflegt seine eigenen Vorblieben. Er hat insgesamt zweihundert Lieder aus allen Schaffensperioden hinterlassen, Volksliedbearbeitungen und mehrstimmige Gesänge nicht mitgezählt. Die Edition kommt auf 249 Titel, weil die 49 Deutschen Volkslieder berücksichtigt wurden. Ohne sie hätte etwas gefehlt. Auch in ihnen hat sich Brahms so typisch verewigt, dass sie aus seinem Werk nicht wegzudenken sind. Sophie Rennert singt die verbleibenden sechs, darunter „Da unten im Tale“ mit einem der höchsten Bekanntheitsgrade.

Im unverzichtbaren Liedführer von Reclam, der oft aufgelegt und erweitert wurde, schreibt der Musikwissenschaftler Werner Oehlmann: „Brahms hat dem Lied die innere Größe zurückgegeben, die Schubert ihm erworben hatte und die es danach in der Hand kleinmeisterlicher Spezialisten zu verlieren drohte.“ Seine Melodie habe sich in der Berührung mit dem Volkslied gebildet, „vorzüglich dem alten, dem er besondere Liebe und intensives Studium zuteilwerden ließ“. Hyperion hat die einzelnen Folgen solistisch unterschiedlich besetzt. Dadurch ist der Überblick etwas erschwert. So erstreckt sich auch die Volksliedersammlung über mehrere CDs. Kontinuität garantiert hingegen Graham Johnson, der durchgehend am Klavier sitzt. 2008 war die Mezzosopranistin Angelika Kirchschlager, Österreicherin wie Sophie Rennert als erste für die Edition ins Studio gegangen (Vol. 1 CDJ3121). Ihre Vorteile waren ebenfalls Muttersprachlichkeit und Stimmlage. Brahms verträgt dunkle Frauenstimmen gut. Mit Blick auf die nun fertiggestellte Edition fällt auf, dass auch sie schon das Lied Von ewiger Liebe und „Da unten im Tale“ im Angebot hatte. Es gibt diese Titel also zweimal. Warum, das wird nicht deutlich. Beider Interpretationen unterscheiden sich dahingehend, dass es bei Angelika Kirschläger etwas rauer, härter, zupackender klingt – und damit wohl auch moderner. Sie bleibt allerdings oft das Geheimnis schuldig.

Fast zwei Jahre vergingen, bis sich Christine Schäfer für Vol. 2 anschickte (CDJ33121). Obwohl nahezu gleichaltrig mit ihrer Kollegin Kirchschlager, die den Anfang für die Edition machte, klingt sie jünger und zarter, was vornehmlich auf ihre Stimmlage zurückzuführen sein dürfte. Darauf ist auch die Auswahl ihres Programms zugeschnitten, das aus dreiunddreißig Titeln besteht. Darunter sind als eine Art Mittelpunkt die Ophelia-Gesänge. Im Gegensatz zu Richard Strauss komponierte Brahms fünf an der Zahl: „Wie erkenntlich dein Treulieb“, „Sein Leichenhemd weiß“, „Auf morgen ist Sankt Valentins Tag“, „Sie tragen ihn auf der Bahre bloß“ sowie „Und kommet er nicht mehr zurück?“. Abgerundet wird das Programm von diversen Mädchenlieder, die Christine Schäfer mit viel Charme, hintegründigem Witz und und Innigkeit darbietet.

Obwohl seine CD eher eingespielt wurde als die von Christine Schäfer, wurde der 1984 in Hamburg geborene Tenor Simon Bode für Vol. 3 bestimmt (CDJ33123). Er machte als Tamino in Hannover auf sich aufmerksam und gab auch Liederabende. Stimmlich ist er das, was ich einen Sympathieträger nennen möchte. Hyperion hatte mit seiner Verpflichtung eine glückliche Hand. Sein Tenor klingt offen und sonnig. Er geizt nicht mit eigenen Gefühlen beim Vortrag und nimmt Brahms ungestüm mit Leidenschaft, Feuer und Hingabe. Ob bei Lerchengesang, Abenddämmerung oder An eine Äolsharfe, die Texte ließen sich mitschreiben – so deutlich ist der Vortrag.

Für die grüblerischen Vier ernsten Gesänge ist der wagnererfahrene niederländische Bassbariton Robert Holl genau richtig. Brahms komponierte sie ein Jahr vor seinem Tod, das eigene irdische Ende ahnend. Der Zufall will es, dass der Säger der Uraufführung, Anton Sistermans, auch aus den Niederlanden stammte. Der Zyklus bildet den machtvollen Abschluss von Vol. 4 (CDJ33124). Mit Verzagen, Todessehnen, „Mein Herz ist schwer“ oder den drei Heimweh-Liedern aus Op. 63 erweist sich Holl als künstlerischer Gewährsmann für Brahms’sche Weltflucht. Er breitet diese Gesänge mit großer Ruhe und Gelassenheit aus. Er hetzt nicht. Und er badet auch nicht in Weltschmerz. Vielmehr vermittelt Holl den Eindruck, dass Schwermut nicht nur Last, sondern auch Befähigung ist, sich tief in die Dinge des Lebens und der Natur zu versenken. Sein Brahms klingt versöhnlich und hoffnungsvoll.

Neben seinem umtriebigen Wirken auf internationalen Opernbühnen pflegt der englische Bariton Christopher Maltman den klassischen Liedgesang. Ihm sind die Romanzen aus L. Tieck’s Magelone – so der originale Titel – übertragen worden. Sie füllen Vol. 5 aus (CDJ33125). Es gab immer wieder Versuche, die einzelnen Stücke mit erklärenden Prosatexten aus der Wundersamen Liebesgeschichte der schönen Magelone und des Grafen Peter von Provence, die Tieck nach einem alten Volksbuch neu erzählt hat, zu verbinden. Brahms wollte diese Verknüpfung nicht und lehnte einen entsprechenden Vorschlag seines weitblickenden Verlegers ab. Die Lieder, die er Romanzen nannte, sollten für sich stehen. Er war seit frühester Jugend mit dem Werk Tiecks vertraut. Brahms irrte offensichtlich, indem er seine eigene literarische Bildung auch beim Publikum voraussetze. Wer die Prosatexte von Tieck nicht im Gedächtnis mit sich trägt, kann den Romanzen nicht in dem Maße folgen, wie es notwendig ist. Sie nehmen immer wieder direkten Bezug zum Ganzen. Deshalb wurde bei Einspielungen und im Konzert gern die Mischform gewählt. Dietrich Fischer-Dieskau und Brigitte Fassbaender – um zwei Interpreten zu nennen – haben sogar gesungen und gesprochen. Maltman singt die Magelone wie von Brahms komponiert, elegant und nicht unsinnlich. Inhaltlich aber teilt sie sich auch deshalb zu wenig mit, weil sein Deutsch zu wünschen übrig lässt.

Eine in London entstandene Liedersammlung kommt natürlich nicht ohne Ian Bostridge aus, der mit Vol. 6 in Erscheinung tritt (CDJ33126). Obwohl mit dem deutschen Liedgut sehr vertraut, kommt auch er sprachlich an Grenzen. Das wäre das kleinere Übel, würde er bei seiner Interpretation nicht so stark überziehen. Ganze Passagen klingen grell und fahrig. Er bleibt zu oft an Äußerlichkeiten hängen und findet nicht in das poetische Zentrum der Lieder, die über weite Strecken wie Chansons vorgetragen werden. Ist das gar beabsichtigt? Versucht der Tenor einen neuen, ungewöhnlichen Ansatz in der Brahmsinterpretation? Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn es denn überzeugender gelungen wäre. Mit Opus 32 und Opus 96 singt Bostridge zwei in sich geschlossene Sammlungen. Mit Blick auf die bisherigen Einspielungen ist das eher selten. Doch Hyperion wäre nicht Hyperion, würden in einen abschließenden Schritt die Aufnahmen in einer finalen Ausgabe nicht neu gemischt – nach Opuszahlen und in der Abfolge des Entstehend die Lieder ohne Opuszahlen (We0). So fände dann zusammen, was zusammen gehört. Dieses sinnvolle Prinzip wurde bereits bei der Aufnahme aller Schubert-Lieder praktiziert.

Der Bariton Benjamin Appl, der Vol. 7 bestreitet, hat sich dem Liedgesang verschrieben (CDJ33172). Vieles deutet darauf hin, dass er diesen Weg konsequent weitergeht. Seine CD wurde im Dezember 2016 produziert. Mit achtundzwanzig Titeln in fast achtundsiebzig Minuten ist das Fassungsvermögen erreicht. Berücksichtigt ist fast die gesamte Schaffensperiode von Brahms. Liebe und Frühling I und II aus den Sechs Gesängen für eine Tenor- oder Sopranstimme, die der zwanzigjährige Komponist der verehrten Schriftstellerin Bettina von Arnim, die damals im achtundsechzigsten Lebensjahr stand, widmete, bilden den Auftakt. Am Schluss stehen acht Nummern aus den Deutschen Volksliedern. Brahms liegt Benjamin Appl. Seine Stimme ist technisch perfekter geworden. Das weiche, sensible Timbre mit hohem Wiedererkennungswert findet bei diesem Komponisten womöglich noch mehr inhaltliche und formale Entsprechung als bei Schubert. Getragene Passagen gelingen besser als die schnellen Läufe. Geht die Stimme nach oben, scheint sie an Halt zu verlieren und büßt auch an Wohlklang ein. Appl sollte sich noch mehr zurücknehmen, etwas ökonomischer agieren und nicht alles Pulver zu früh verschießen. Es muss gestalterisch immer noch eine Reserve nach oben sein. Er neigt dazu, Passagen zu übersingen. Kritische Einwände gelten zudem technischen Details. Konsonanten sind eine Herausforderung für Sänger. Das wird gleich beim ersten Liedanfang der CD deutlich: „Wie Rebenranken schwingen“. Satt „Wie“ ist da „Whie“ zu hören. Es aspiriert. Das eingeschobene h gehört da nicht hin.

Mit der jungen englischen Sopranistin Harriet Burns war in Vol. 8 (CDJ33128) eine CD-Debütantin aufgeboten worden. Ein Geburtsdatum findet sich nicht, weder im Booklet noch auf ihrer Homepage oder sonst wo im Netz. Der Nachwuchs gibt sich gern geheimnisvoll und zeitlos wie einst Marlene Dietrich. Aus gewissen Eckdaten wie Ausbildung und ersten Auftritten geschlossen, dürfte sie um die Dreißig sein. Neben Liedern hat sie sich Opernpartien wie Zdenka, Susanna und Marzelline zu Eigen gemacht und erfolgreich an diversen Wettbewerben teilgenommen. Sie scheint bei ihrer Karriereplanung nichts zu überstürzen. Eine CD wie diese kann hilfreich sein, den Weg zum Erfolg zu ebnen. Der Einstieg ist mit dem Spanischen Lied op. 6 gut gewählt. Dabei handelt es sich um dasselbe von Paul Heyse übersetzte Volkslied, dem Hugo Wolf später in seinem Spanischen Liederbuch anhand der ersten Zeile den Titel „In dem Schatten meiner Locken“ gab. Mit Orchesterbegleitung floss es in seine Oper Der Corregidor ein. Brahms klingt nicht so leicht und frivol wie Wolf. Er tut sich etwas schwerer mit dem Thema. Harriet Burns fordert ihn aber heraus, indem sie etwas von der moderneren Wolf‘schen Herangehensweise beimischt. So mein Eindruck. Alles in allem offenbart die Programmauswahl die Stärken ihres durch und durch lyrischen Soprans, der wunderbar aufblühen kann wie in den beseelten Sechs Gesängen op. 7, in denen auch Gedichte von Eichendorff und Uhland eingeflossen sind. Deutsche Romantik ist zu hören – und Harriet Burns offenbart Sinn und Begabung für derlei Repertoire. Wenngleich es hier und da mit der Wortdeutlichkeit hapert, so vermag sie stets musikalisch auszudrücken, worum es geht. Das ist ein Hinweis auf ein sehr intensives Studium der Lieder. Aber es reicht noch nicht. Brahms, der sehr wählerisch war bei der Auswahl seiner Texte, muss in jedem Moment verständlich gesungen werden. Gelingt es der Künstlerin, ihren Vortrag sprachlich zu perfektionieren, wird von ihr – daran habe ich nicht den geringsten Zweifel – noch viel zu hören sein.

Mit Vol. 9 kam der irische Tenor Robin Tritschler an die Reihe (CDJ33129). Er wurde an der Royal Irish Academy of Music ausgebildet und debütierte 2013 als Narr in Wozzeck. Es folgten Belmonte, Don Ottavio, Ferrando, Narraboth, Graf Almaviva und Nemorino an diversen Häusern und bei Festivals auch auf dem europäischen Kontinent und in Übersee. Er ist gut im Geschäft, zumal er sich auch ein solides Lied-Repertoire sowie die großen Passionen von Bach erarbeitet hat. Tritschler singt einundzwanzig Solotitel und mit der Sopranistin Harriet Burns weitere neun Volkslieder- Nummern, darunter das anspielungsreiche erste Lied „Sagt mir, o schönste Schäf’rin mein“.  Mit Mondnacht und „In der Fremde“ sind zwei Eichendorff-Vertonungen zu hören, die zuvor Robert Schumann in seinen Liederkreis op. 39 aufgenommen hatte. Die Frage, wer besser abschneidet, stellt sich nicht. Brahms gelingen in seinen deutlich späteren Vertonungen eigenständige Werke, die den Vergleich mit dem Vorgänger nicht zu scheuen brauchen. Wäre der Tenor nicht so gut zu verstehen, dieselben Textvorlagen fielen nicht gleich auf. Tritschler sind Poesie und Lyrik, die beide Lied-Varianten auszeichnen, in die Stimme gelegt. Mit Vergebliches Ständchen und Feldeinsamkeit hat er zwei der schönsten Brahms-Lieder im Programm. Das ist einerseits ein Glück, andererseits sitzt ihm aber auch eine starke Konkurrenz im Nacken – angefangen bei Angelika Kirchschläger. Sie singt die Feldeinsamkeit nämlich ebenfalls. Tritschler behauptet sich aber mit seinem ganz eigenen klaren Erzählstil, der offenbar auch durch die Erfahrungen als Evangelist geprägt ist. Vergebliches Ständchen wird – wieder mit Harriet Burns – im Duett gesungen. So hatte es auch der Komponist festgelegt. Erst in der Konzertpraxis war es zum Sololied geworden.  Rüdiger Winter

Abtauchen in die düstere Welt

 

Das hat es lange nicht gegeben. Ein Sänger (Benjamin Hewat-Craw) und sein Pianist (Yuhao Guo) debütieren (!!!) auf dem heiß umkämpften Musikmarkt mit Franz Schuberts Winterreise. Ars Produktion ließ sich auf das Wagnis ein (ARS 38 573). Das ist so mutig wie begrüßenswert. Muss es aber unbedingt die Winterreise sein, dieser Zyklus aller Liederzyklen? Warum nicht. Beide Künstler, deren genaues Alter im Unbestimmten bleibt, dürften unter dreißig sein. Gewisse biographische Details deuten darauf hin. Hewat-Craw stammt aus England und studierte von 2015 bis 2018 an der Hochschule für Musik und Tanz in Köln, wo auch Guo ausgebildet wurde. In einer Art Selbstinterview, das im Booklet abgedruckt ist, geben sie freimütig Auskunft über ihren persönlichen Zugang zu dem Werk. Das „Abtauchen in die düstere Welt“ mache einen ganz besonderen Reiz aus, so Guo. Man entdecke „die Abgründe der menschlichen Psyche mit dem Glauben, dass man selbst vor ihnen gefeit“ sei und erlebe die Winterreise meistens „in einer geschützten Umgebung mit der Aussicht auf die Rückkehr in der Normalität“. Und Hewat-Craw fügt hinzu: „Wir wollten unsere Ankunft in der internationalen Liedszene mit einem Knall ankündigen.“ Das sei sicherlich eine Herausforderung bei einem so prominenten Katalog von Aufnahmen. Einzigartige Künstler hätten dem Zyklus ihren einzigartigen Stempel aufgedrückt. „Nun haben wir unseren eigenen Stempel aufgedrückt.“

Der wird auch gleich auf dem Cover optisch sichtbar. Beide Künstler sind von einen Fuchs umhüllt, wie ihn einst eleganten Damen als Pelzkollier um die Schulter trugen. Ganz zeitgemäß ist das nicht mehr. Man ist also auf einiges gefasst. Umso größer die Überraschung als das erste Lied beginnt. Der Bariton und seine Begleiter schlagen unerwartet traditionelle Töne an: „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus …“ Ein Lebensgefühl, eine Erfahrung, die auch heute junge Menschen kennen. Auf diese Aktualität war auch im Booklet ausdrücklich hingewiesen worden. Die Winterreise als Erfahrungsbericht und weniger als sublimierte Kunst? Zumindest sollte diese Möglichkeit bei der Auseinandersetzung mit dem Werk im Jahr 2020 in Betracht gezogen werden können. Wohlkalkuliert ist das Tempo, mal getragen, mal drängend, den jeweiligen Situationen genau angepasst. Dies ermöglicht es dem Sänger, die Lieder genau auszuloten und Inhalte auf die eigenen und die Erfahrungen seiner Generation hin zu befragen. In enger Übereinstimmung mit seinem Begleiter Yuhao Guo will er etwas mitteilen – und nichts für sich behalten. Dabei gibt es auch gewisse Durststrecken. Hewat-Craw hat eine natürliche, offene Stimme und kann sich durch Wort und Ton sehr gut verständlich machen. Die Mittellage ist gut ausgeprägt, nach oben und nach unten klingt es auch mal angestrengt. Daran wird er sicher arbeiten.

 

Franz Schuberts Winterreise ist längst keine Tabuzone für Interpreten mehr. Der katalanische Opernsänger Xavier Sabata sagt: „Warum sollte nicht auch ein Countertenor dieses Werk singen dürfen, wenn es ihm gelingt, die tiefen inneren Konflikte, Gefühle und Bedeutungen des Stückes herauszuarbeiten?“ Nach seiner Beobachtung fühlten sich viele Menschen wohl, wenn sie etwas in eine bestimmte Schublade stecken könnten. Das könne vielleicht sogar eine gewisse Sicherheit vermitteln. Aber Musik oder Kunst darf man kein Label aufkleben.“ Sabata hat bei Berlin Classics seine Winterreise vorgelegt (0301309BC). Begleitet wird er von Francisco Poyato. Die Aufnahme entstand im Sommer 2019 in Zusammenarbeit mit SWR2. Der Sender stellte sein Studio in Kaiserlautern zur Verfügung und knüpft damit an eine lange und ergebnisreiche Tradition beim Südwestrundfunk an, Sänger zu fördern und bekannt zu machen. Sabata ist kein Neuling. Auf dem Gebiet der Barockmusik hat er sich einen Namen gemacht. Davon zeugen auch etliche CD-Produktionen. Neu ist die Erweiterung seiner Repertoires. Bei der Winterreise dürfte es nicht bleiben.

In dem im Booklet abgedruckten Interview mit Angelika Völkel, dem auch die vorangegangenen Äußerungen entnommen sind, bekennt er sich auch dazu, ein „Freund des Entdeckens“ zu sein. Zweifel und Bedenken sind seine Sache nicht. Sonst hätte er sich wohl nicht auf die Winterreise einlassen können, bei der jedem Solisten und jeder Solisten ein Gebirge von berühmten und weniger berühmten Vorgängern im Nacken sitzt. Wenn er die Winterreise singe, dann wolle er dieses Wesen verstehen, das sich mitteilen will. Mir geht es dann nicht darum, eine perfekte Gesangstechnik abzuliefern“. Davon ist die Einspielung tatsächlich weit entfernt. Mitunter singt er wie mit zwei Stimmen, nämlich immer dann, wenn er nach unten geht. Daran muss man sich erst gewöhnen. Sein Deutsch ist im Großen und Ganzen sehr gut. Für deutsches Liedgut aber nicht gut genug. Bei etwas mehr Sorgfalt würde die Aussprache perfekter sein. Der „Lindenbaum“ ist kein „Lintenbaum“. Solcherart sind die störenden Details, die hätten ausgefeilt werden können. Da Zeug dafür hat der Sänger. Er wirkt auch als Schauspieler. Sabata verlangt seinen Hörern einiges ab. Die müssen den Zyklus schon sehr gut kennen, um ihm inhaltlich folgen zu können. Seine Interpretation halte ich nicht unbedingt für geeignet, um das Werk kennenzulernen. Sie erweitert aber das Ausdrucksspektrum, und ist ja schließlich auch ein Wert für sich. Ich bleibe gespannt.

 

 

Das Cover könnte einem Fachbuch über Depressionen entnommen sein. Tief in sich versunken stützt ein Mann seinen Kopf auf eine Hand. Sein Blick geht ins Leere. Er scheint am Ende. Ohne Hoffnung. Ohne Ausweg. „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh‘ ich wieder aus.“ Mit dem düsteren Foto wird eine Winterreise illustriert, die bei Orfeo erschienen ist, gesungen von Pavol Breslik (C 934 191). Ob es sich bei der dargestellten Person um den Sänger selbst handelt, bleibt unbestimmt. Es ist auch nicht so wichtig wie die Botschaft, die davon ausgehen soll. So düster und verloren, wie das Cover erwarten lässt, hebt der Zyklus „schauerlicher Lieder“ – so soll sich Schubert selbst ausgedrückt haben – dann doch nicht an. Was zuvorderst auffällt, ist der Klang. Die Stimme scheint von etwas weiter her zu kommen, und es wird dem Zuhörer, der es nicht vorab nachgelesen hat, alsbald klar, dass es sich um eine Liveaufnahme handelt, mitgeschnitten zwischen dem 5. und 7. September 2018 im Markus-Sittikus-Saal in Hohenems. Dessen Akustik genießt international einen guten Ruf und wird vor allem von Freunden des Liedgesangs und der Kammermusik geschätzt. Für die Aufnahme sind offenbar nicht alle technischen Möglichkeiten genutzt worden. Sie klingt zu hallig, manchmal sogar hart. Wären einige Publikumsgeräusche beibehalten worden, es hätte dem Eindruck nicht geschadet. Dann wäre diese Winterreise noch deutlicher als das kenntlich, was sie letztlich ist – ein bemerkenswertes Live-Ereignis, bei dem nicht alles perfekt gelingt weil auch die Spontaneität zu ihrem Recht kommen will. Breslik, der am Flügel von Amir Katz begleitet wird, bringt viel von der Dramatik und den Stil ein, die er für seine Auftritte auf den Opernbühnen in aller Welt braucht. Nicht immer ist die Höhe stabil. Mit Fortschreiten des Werkes – etwa beim Lied „Einsamkeit“ auf der Hälfte – kommt der Opernsänger immer mehr durch. Das ist kein Manko. Im Gegenteil. Es macht für mein Empfinden sogar den besonderen Reiz der Interpretation aus. Breslik hatte nach eigener Aussage Bekunden „von Anfang an großen Respekt“ vor der Winterreise, denn sie verlange ihrem Erzähler alles ab, sagt er in einem Gespräch mit seinem Pianisten, das im Booklet abgedruckt ist. „Zuerst „Zuerst hatte ich Bedenken, ob eine Tenorstimme dafür gut geeignet ist, und diese Zweifel habe ich immer wieder.“ Eigentlich ist das ganz gut so, denn der Zweifel ist bekanntlich nicht der schlechteste Ratgeber für einen Sänger, der es von Mal zu Mal noch besser machen will.

 

„Vom Abendrot zum Morgenlicht ward mancher Kopf zum Greise.“ Mit dieser Zeile wird in Schuberts Winterreise der dritte Vers des Liedes „Der greise Kopf“ eingeleitet. Die Grafiker des Booklets der jüngsten Aufnahme des Zyklus von Ian Bostridge bei Pentatone haben das etwas zu wörtlich genommen (PTC 5186 764). Mit Hilfe eines Computerprogramms ließen sie den englischen Tenor und seinen Begleiter Thomas Adès auf dem Deckblatt drastisch altern. Sie sind nur noch ein Schatten ihrer selbst. Ausgemergelt und ausgezehrt – als hätte sie selbst die strapaziöse Winterreise hinter sich. Ein gewisser Mut gehört dazu. Nur, muss das sein? Erschließt sich das? Sollte nicht vielmehr die künstlerische Qualität statt eines solchen Gags für eine Aufnahme einnehmen? Wie dem auch sein, ein Hingucker ist das in Sepia gehaltene Album allemal.

Wie Bostridge in seinem Einführungstext herausstellt, ist die Winterreise seit drei Jahrzehnten zentraler Bestandteil seines musikalischen Lebens. Er hat sie bereits zweifach aufgenommen, einmal davon als Film – bei Warner Classics in einer Box mit Müllerin und Schwanengesang herausgekommen (0825646204182). Diesmal war ihm vor allem die inspirierende Zusammenarbeit mit Adès, der eher als Komponist hervorgetreten ist, Anlass, sich abermals im Studio auf das Werk einzulassen. In der Tat wird die Aufnahme stark, gar gleichberechtigt, vom Klavier her geprägt. Adès setzt starke Akzente. Es überlässt der Singstimme nicht das Feld, sondern trägt seinerseits dazu bei, für jedes Wort, jeden Gedanken oder jedes Gefühl einen eigenen Ausdruck zu suchen und gleichzeitig immer wieder mit dem Sänger zusammen zu finden. Keiner von beiden macht sein eigenes Ding. Darin liegt die Stärke der Aufnahme. Die Stimme von Bostridge ist nicht schöner geworden. Für die Winterreise muss das auch nicht zwingend sein. Auch sein Deutsch ist nicht besser geworden. So schleichen sich viele Ungenauigkeiten ein, die nicht mehr als individueller Ausdruck durchgelassen werden können.

 

An der Verknüpfung von Sprache und Musik ist bei seiner Winterreisen-Aufnahme dem 1983 in Böblingen geborene Bariton Johannes Held gelegen. Er ist neben seinem Sängerberuf auch als Sprecher tätig. Gemeinsam mit dem Pianisten Daniel Beskow tritt er regelmäßig in einem szenischen Winterreisen-Projekt auf. „Die Vermeidung des Körperlichen im Liedgesang und der Wunsch der Wächter über die Gattung, nur die Stimme für den Ausdruck zu nutzen, waren mir immer suspekt, und ich wollte herausfinden, welche expressiven Möglichkeiten Schuberts Lieder offenbaren, wenn man sich erst einmal traut, das seit den 50er Jahren gebräuchliche Format zu überwinden“, so Held. Mit seinem Begleiter sei er sich darüber im Klaren gewesen, dass „wir damit nicht nur auf Gegenliebe stoßen würden“. Die dabei gesammelten Erfahrungen sind nun in eine klassische Studioeinspielung eingegangen, die bei ARS Produktion erschienen ist (ARS 38 562). Damit seien sie am Ende wieder am Anfang angekommen, „bei der Musik von Schubert und den Gedichten von Wilhelm Müller. Denn bei aller Suche nach einem neuen Format wollten wir doch immer dem Text treu sein“. Das hört man denn auch. Sogar sehr stark. So stark, dass die Musik gelegentlich in den Hintergrund zu geraten droht. Held singt sehr genau und deutlich. Und so offenbart sein Vortrag denn auch die Schönheiten der Müllerschen Lyrik, was einen Wert für sich darstellt.

 

Seit wann besteht die Winterreise denn aus fünfundzwanzig einzelnen Nummern? Im Original sind es doch nur vierundzwanzig. Genau hingesehen – und hingehört, wird das erste Lied „Gute Nacht“ zunächst instrumental vorgetragen, ganz zum Schluss dann gesungen wiederholt. Der Kanadier Philippe Sly legt bei Analekta (AN 2 9138) eine Adaption für Bassbariton, Klarinette, Posaune, Akkordeon, Violine, Klavier und Drehleier vor. Angesichts der Fülle traditioneller Einspielungen haben sich Bearbeitungen inzwischen als eine ernst zu nehmende Möglichkeit etabliert, der Interpretation neue Perspektiven zu eröffnen. Sly geht ziemlich radikal ans Werk, ohne Schubert zu beschädigen. Dessen musikalische Erfindungen bleiben weitgehend unangetastet, Bearbeitung ist Zugabe, nicht Reduktion. Der junge Sänger und sein Ensemble Le Chimera Projekt scheinen herausfinden zu wollen, welche Wirkung diese vor fast zweihundert Jahren entstandenen Lieder heutzutage entfalten können. Es ist, als ob sie ein Update Schuberts mit der Gegenwart vollziehen. Tempoverschiebungen verstärken eine im Werk angelegte Gangart, die immer wieder ins Nichts zu führen droht. In dieser Interpretation ist die innere Reise durch das Eis noch gefährlicher und aussichtsloser. Einzelne Wörter werden sängerisch regelrecht seziert. Es drängt sich die Frage auf, ob die Sprache des Dichters überhaupt auszudrücken vermag, was dem Werk innewohnt. Es klingt nie schön. Dabei hätte Philippe Sly durchaus das Zeug für einen traditionellen Vortrag mit Klavierbegleitung. Dafür müsste er allerdings an seinem Deutsch arbeiten. In der vorliegenden Aufnahme wirkt sein Akzent als Ausdrucksverstärker für Fremdheit und Isolation.

 

Ödnis und Leere. Es marschiert. Erst nach und nach lösen sich aus einer Ansammlung von Geräuschen Klänge heraus, die ihre Herkunft nicht verleugnen können – und wollen. Der Komponist und Dirigent Hans Zender hatte 1993 eine – wie er es nennt – komponierte Interpretation von Schuberts Winterreise vorgelegt, die sich im Konzertbetrieb etabliert hat. Der Tenor Julian Prégardien bietet bei Alpha-Classics.com die Aufnahme an (Alpha 425). Schon sein Vater Christoph Prégardien hatte sich des Werkes angenommen. Liedgesang liegt in der Familie. Ich habe diese Version der Winterreise noch nie live gehört, kann mir aber gut vorstellen, dass sie unter diesen Bedingungen noch wirkungsvoller sein dürfte als aus Lautsprechern. Wer gute Kopfhörer zur Verfügung hat, wird noch mehr raffinierte Details entdecken. Es geht sehr dramatisch zu. Aus der introvertierten Zwiesprache des Sängers mit dem Klavier in der Originalfassung wird über weite Strecken ein sehr bildhaftes und expressives Theaterstück, in dem Passagen sogar gesprochen werden. Dadurch erfährt die Textvorlage von Wilhelm Müller eine stärkere Betonung. Das „small orchestra“ – die Deutsche Radiophilharmonie unter der Leitung von Robert Reimer – klingt so klein nicht. Streicher, Holzbläser, Horn, Trompete, Saxophon und diverses Schlaginstrumentarium entfalten mitunter mächtige Wirkungen, die es ratsam erscheinen lassen, den Klangregler am Abspielgerät zurückzudrehen. Gitarre und Akkordeon setzten traditionelle, volksliedhafte, mitunter gar rührende und zu Herzen gehende Akzente. Zender malt mit Tönen. Wenn – um nur ein Beispiel zu nennen – im Lied „Wasserflut“ die Tränen des unglücklichen Wanderers in den Schnee fallen, die Flocken das „heiße Weh“ einsaugen und „das Eis zerspringt in Schollen“, wird zu musikalischen Mitteln gegriffen, welche die Nähe zum Winter in Vivaldis Jahreszeiten nicht verleugnen können. Im Booklet, das auch einen Text von Zender enthält, wirft der Musikwissenschaftler Thomas Seedorf mehrere Fragen auf: „Wie soll man sich die Gestalt des Wanderers vorstellen? Ist er ein junger Mann oder durchläuft er eine Midlife-Krise? Erlebt er das, was er besingt, in der Realität oder nur in seiner Phantasie? Und wie ist mit Schuberts Musik umzugehen? Muss sie vor allem schön gesungen werden? Oder darf sich der Sänger auch erlauben, die Schönheit aufzurauen, Brüche und Risse hörbar werden lassen?“ Prégardien junior versucht sich in künstlerischen Antworten und schlägt sich dabei vortrefflich. Bei dieser Winterreise kann es nur von Vorteil sein, wenn der Sänger jung ist. Bei der Aufnahme war er gerade mal zweiunddreißig. Dadurch wird die Geschichte für mich glaubhafter. Schließlich ist der Vortragende in dieser Version des Zyklus nicht nur Interpret, er ist auch Darsteller. Prégardien geht es nicht um Schöngesang. Er will das Werk erfahrbar machen und greift dabei auch zu verfremdenden, charaktervollen, ja grellen Einwürfen.

 

Der Tenor Werner Güra beginnt seine Winterreise ausgesprochen verhalten. Tastend und ängstlich. Als wolle er nicht hinaus in diese Dunkelheit, wo „der Weg gehüllt in Schnee“ ist. Die Winterreise als Vorstellung, als Projektion. Güra lotet die einzelnen Worte und die Noten aus. Er verliert sich in Details, schmückt sie fast masochistisch aus. Die Aufnahme entstand bereits 2009 und wurde von harmonia mundi neu aufgelegt (HMA 1902066). Schon dieses höchst individuellen Einstiegs wegen ist das gerechtfertigt. Reinen Schöngesang verbietet sich Güra ausdrücklich, obwohl er dazu bekanntermaßen in der Lage ist. Alles wird Ausdruck. Lyrische Passagen, an denen auch in diesem Zyklus kein Mangel ist, klingen ehr herb, ja hart. Manches wird  fast gesprochen. Seine betont andersartige Interpretation gelingt Güra nur, weil er jedes Wort absolut verständlich herüberbringen kann. Gewisse Stellen, die im ersten Eindruck als verbesserungswürdig erscheinen, entpuppen sich im selben Moment als nicht anders gewollt. Die Begleitung ist nicht weniger eigenwillig. Christoph Berner an einem Pianoforte von 1872 agiert in voller Übereinstimmung mit seinem Solisten und überrascht mit unerwarteten Temposprüngen. Selbst die Pausen zwischen den einzelnen Liedern scheinen unterschiedlich lang. Mal gedehnt, mal nur ein kurzes Innehalten. Von Lied zu Lied gewinnt der gemeinsame Vortrag an Fahrt. Der Zuhören wird, ob er will oder nicht, hineingezogen. Er muss mit auf diese Reise. Bis zum bitteren Ende hinterm Dorf auf dem Eis beim Leiermann. Ein Ende, das so verhalten aushaucht wie diese Winterreise begann.

 

Winterreise mit Frauenpower! Im Booklet ihrer eigenen Einspielung hatte sich die französische Altistin Nathalie Stutzmann, noch über einen Mangel an Aufnahmen mit Sängerinnen beklagt. In der Produktion von Et’Cetera werden jetzt gleich fünf Solistinnen auf einmal aufgeboten (KTC 1592). Es handelt sich um Wendeline van Houten, Merlijn Runia, Jannelieke Schmidt, Nikki Treurniet und Ellen Valkenburg, die sich am Königlichen Konservatorium Den Haag kennenlernten und zum Ensemble Coco Collektief zusammengeschlossen haben. Sie treten auch einzeln in Opern und mit Liedprogrammen auf. Ihr Pianist ist Maurice Lammerts van Bueren, der die Bearbeitung für diese ungewöhnliche Besetzung geschaffen hat. Er ist sich über das Risiko im Klaren. Wenn man die Winterreise, die „für viele Musikliebhaber mehr oder weniger heilig ist, arrangiert“, habe man das Gefühl, sich aufs Glatteis zu begeben. „Doch es geht beim Arrangieren selten um ein Verbessern des Originals. Vielmehr geht es um neue Ansätze, um eine Fassung, die neben dem Original bestehen kann.“ Daran sind Zweifel angebracht. Wenn Schubert seine Winterreise mehrstimmig hätte haben wollen, hätte er sie so komponiert. Durch die Bearbeitung wird die Struktur ohne jeden Mehrwert zerstört. Der gut gemeinte Versuch, der live noch eher vorstellbar ist als im Studio, wird zur formalen Spielerei, zumal die Stimme der Solistinnen in ihrer dissonanten Unterschiedlichkeit, die gewollt zu sein scheint, dem Zyklus keinen Halt geben. Die Winterreise ist durch die Vielzahl von Aufführungen womöglich überstrapaziert. Überfluss verführt zu Experimenten, die schnell ins Leere laufen. Wenn aber eine solche Neuerscheinung zur Beschäftigung mit dem Original anregt, dann hat sie auch einen Zweck erfüllt (Foto oben: https://pxhere.com/de/photo/36307). Rüdiger Winter

Adele Stolte

 

Wer sich in der DDR mit Barockmusik beschäftigte, kam an Adele Stolte nicht vorbei. Was die gut zehn Jahre ältere Agnes Giebel im Westen war, ist sie im Osten gewesen. Vom einstige Gewandhauskapellmeister Kurt Masur ist der Ausspruch überliefert: „Wenn sie erschien, ging die Sonne auf. Ich habe immer versucht zu ergründen, wie sie trotz ihrer großen Erfolge so einfach – natürlich und bescheiden – bleiben konnte. Ich glaube, dass sie selbst die starke Überzeugungskraft ihrer Interpretationen nie angezweifelt hat.“ Das ist gut beobachtet. Die Stolte singt mit großer Sicherheit und Genauigkeit. Bei ihr kommen zuerst die Noten, danach die Ausdeutung. Ihre Stimme hat perfekten Sitz. Sie mogelt sich nicht über heikle Stellen hinweg. Eine gründliche Ausbildung und ihr Begabung bewahrten sie von Risiken jeglicher Art. Nie sang sie über ihre Verhältnisse.

Um die Oper hat die am 12. Oktober 1932 im brandenburgischen Sperenberg geborene Pfarrerstochter, die schon frühzeitig mit Musik in Berührung kam, stets einen Bogen gemacht. Es sind keine Bühnenauftritte nachweisbar. Lediglich für eine in der deutschen Originalsprache gesungene Einspielung von Mozarts Bastien und Bastienne für das Label Eterna unter der Leitung von Helmut Koch ist sie neben Peter Schreier und Theo Adam zu hören – auch in den gesprochenen Dialogen, wobei sich vor allem bei den männlichen Solisten ein leichter sächsischer Akzent bemerkbar machte. Neben Bach-Kantaten im Rahmen der Archiv-Produktion der Deutschen Grammophon ist diese Einspielung in der Bundesrepublik erschienen und hat sie auch dort bekannt gemacht. Als Solistin vor allem in den großen Chorwerken von Johann Sebastian Bach bereiste sie viele Länder. Bereits Ende der sechziger Jahre begann sie auch als Gesangslehrerin zu arbeiten. Ihre Stimme ist auf zahlreichen Plattenaufnahmen verewigt. Zuletzt hatte Berlin Classics in seiner Reference-Reihe Italienische Solokantaten von Georg Friedrich Händel aus dem Eterna-Katalog neu aufgelegt (0013972BC). Sie wurden 1970 mit Mitgliedern des Händel-Festspielorchesters Halle eingespielt. Dirigent war der damals achtundzwanzigjährige Thomas Sanderling, der bereits 1966 Musikdirektor in Halle geworden war und langsam aus dem Schatten seines berühmten Vaters Kurt Sanderling heraustrat. Stilistisch ist die schwungvolle Produktion noch der damals in Halle gepflegten DDR-Tradition verpflichtet. Adele Stolte starb am 26. September 2020 in Potsdam. Rüdiger Winter (Foto: Adele Stolte auf einer DDR-Eterna-LP aus dem 1960er Jahren)

Rudolf Holtenau

 

Mit Bedauern lesen wir im Online-Merker vom Tod des Bassbaritons Rudolf Holtenau. Geboren am 17. Juni 1932 in Salzburg, absolvierte er sein Gesangstudium in Linz (Donau) und bei Fritz Wolff in Wien und war an der Wiener Musikakademie Schüler von Hans Duhan und Alfred Jerger. In den Jahren 195 bis1961 trat er als Konzertsänger auf. Seine Bühnenkarriere leitete er mit einem ersten Engagement am Stadttheater von Klagenfurt in der Spielzeit 196/62 ein. 1962 bis 1965 gehörte er dem Stadttheater von Regensburg, 1965 bis 1967 dem Stadttheater von Bielefeld und 1967 bis 1975 dem Opernhaus von Essen an. Durch einen entsprechenden Vertrag war Holtenau in den Jahren 1972/1973 dem Opernhaus von Köln verbunden, 1977 bis 1979 dem Opernhaus von Graz. 1974 bis 1980 gastierte er in insgesamt 18 Vorstellungen an der Wiener Staatsoper (Fliegender Holländer, Don Pizarro, Kaspar, Amfortas, Hans Sachs, Kurwenal, Jochanaan).

Er ging einer ausgedehnten Gastspieltätigkeit nach. So sang er 1973 an der Königlichen Oper Stockholm und an der Oper von Lyon, 1974 am Théâtre de la Monnaie Brüssel, 1974 und 1977 an der Oper von Rom, 1975 und 1976 am Gran Teatre del Liceu in Barcelona, 1976 und 1977 an der Oper von Monte Carlo, 1976 an der Oper von Dallas, 1977 und 1981 am Teatro San Carlos Lissabon, 1977 bis 1980 am Opernhaus von Marseille, 1978 am Teatro Comunale Bologna, 1982 und 1985 an der Oper von Kapstadt. 1978 und 1979 war Holtenau an den Aufführungen Nibelungenrings in Seattle beteiligt, wovon sich in Sammlerkreisen ein Radiomitschnitt erhalten hat. Er gastierte des Weiteren an der Hamburger Staatsoper, an der Deutschen Oper Berlin, am Opernhaus von Frankfurt a.M., am Teatro Fenice Venedig, am Teatro San Carlo Neapel, am Teatro Massimo Palermo (1989 in Die schweigsame Frau von Strauss), am Teatro Colón Buenos Aires, in Amsterdam und Lyon, in Madrid und Rio de Janeiro, am Opernhaus von Zürich und an der Staatsoper Stuttgart. An erster Stelle standen in seinem Bühnenrepertoire heldische und Wagner-Partien wie der Wotan im Ring des Nibelungen der Gunther in der Götterdämmerung, der Mandryka in Arabella und der Amonasro in Aida. Sehr geschätzt wurde er als Konzert- und namentlich als Lieder- und Balladensänger. Bei Preiser sind drei Langspielplatten mit Balladen von Carl Loewe erschienen. Am 30. August 2020 ist Rudolf Holtenau gestorben. Quelle und Foto: Online-Merker/RW

Schubert und Schumann light

 

Daniel Behle widmet seine neue CD Franz Schubert und Robert Schumann. Sie kam bei Genuin heraus und enthält Schwanengesang und Dichterliebe (GEN 20710). Das Besondere daran ist, dass beide Werke mit Orchesterbegleitung dargeboten werden. Das Arrangement stammt von Alexander Krampe, es spielt das Orchester der Kammeroper München unter der Leitung von Christophe Gördes. Krampe ist ein deutsch-österreichischer Arrangeur und Komponist, der seine Ausbildung bei den Regensburger Domspatzen begann. Behle hat Erfahrung im Umgang mit beiden Komponisten. Schumanns Dichterliebe hat er schon einmal in traditioneller Form vorgelegt, von Schubert gibt es Die schöne Müllerin, die Winterreise sowohl mit gewohnter Klavierbegleitung als auch in arrangierter Fassung. Im Booklet der Neuerscheinung ist nichts über Anliegen und Beweggründe der Bearbeitungen zu lesen. Krampe erklärt zwar die Herkunft des Begriffs Schwanengesang, weist abermals darauf hin, dass die Lieder aus Schuberts Nachlass erst postum unter diesem Titel zusammengefasst wurden, geht auf die biographischen Umstände ein, vor deren Hintergrund Schumanns Dichterliebe entstand und kommt zu dem Schluss, dass in dessen Liedern der „große Sehnsuchtston der Liebe ohne die Heinesche Bitterkeit“ erklinge. „Aus dem verwundbaren Schwärmer Heinrich Heine und Robert Schumans verhaltener Melancholie wird so eine märchenhafte Musik, zauberhaft, voll von unendlicher Sehnsucht.“ Inwieweit seine Arrangements diese Wirkung vermitteln, wenigstens aber ergänzen können, dazu äußert er sich nicht. Hörer müssen sich selbst ihr Urteil bilden, was offenbar auch gewollt ist.

Vor allem Lieder Schuberts sind oft mit Orchesterstimmen versehen worden. Nicht alle sind geglückt. Die vielleicht anspruchsvollen Bearbeitungen stammen von Berg, Webern, Zemlinsky, Liszt, Schönberg, Scherchen, Mottl. Zahlreiche Bearbeitungen dieser Art sind von Max Reger überliefert, der sie so besser in seine Konzertprogramme als Dirigent in Meiningen einpassen konnte. Es war nämlich einst durchaus üblich, sinfonische Musik gemeinsam mit Kunstliedern und Opernarien an einem Abend aufzuführen. Krampe greift die Stimmungen der Originale sehr gekonnt auf. Er kennt seinen Schubert und seinen Schumann genau. Und doch wirkt der Einsatz seiner Instrumente weniger als Vertiefung der Aussage sondern vielmehr als Illustration und Untermalung. Behle tut das Seine, indem er die Lieder mit sanftem Timbre an manchen Stellen regelrecht weichzuspülen scheint. Er präsentiert Schubert und Schumann fürs Gemüt und gerät bei „Ich grolle nicht“ in der Dichterliebe stimmlich auch schon mal in Bedrängnis wenn es in die Tiefe geht. Diesem Lied bekommt seine trotzige Vortragsweise nicht gut. Im Doppelgänger des Schwanengesangs kann der Einsatz eines dunklen des Instrumentariums das Bedrückende und Abgründige der Situation nicht verdeutlichen. In meinen Ohren klingen die Lieder oft wie Singspielarien, was nicht nur am Solisten liegt, sondern auch der Begleitung als solcher innewohnt. Ich fühlte mich nicht nur einmal ans Dreimäderlhaus erinnert. Dietrich Fischer-Dieskau, der sein langes Leben lang bemüht war, diesen Liedern auf den Grund zu kommen und den richtigen Ausdruck dafür zu finden, würde sich im Grabe umdrehen. Für Daniel Behle spricht, dass er sehr deutlich und wortverständlich singt. Die Neuerscheinung dürfte bei seinen Fans gut ankommen. Und wer mit Klavierliedern immer schon ein Problem hatte, wird vielleicht mit diesen gefälligen Light-Versionen einen Zugang zu diesem anspruchsvollen Genre finden. Rüdiger Winter

Suche nach dem Unbekannten

 

Orfeo ist mit der Lied-Edition für Dietrich Fischer-Dieskau bei Vol. 3 angekommen und damit im zwanzigsten Jahrhundert (C994205). Während viele Kollegen seiner Generation gern einen großen Bogen um die Moderne machten, Fischer-Dieskau hat sich ihr gestellt. Das war einerseits mutig, andererseits stellt dieser Schritt die folgerichtige Konsequenz aus seiner intensiven Auseinandersetzung mit den Epochen davor dar. Beethoven, Schubert, Schumann, Mendelssohn, Brahms, Loewe, Tschaikowski, Cornelius, Liszt, Mahler, Wolf, Strauss, Pfitzner, Reger. Der Sänger hatte nichts ausgelassen, Lieder und Zyklen einiger Komponisten teils mehrfach eingespielt. Die neue Folge der Edition reicht bis in die Gegenwart. Aribert Reimann, der nicht nur als Komponist sondern auch Pianist und Musikwissenschaftler wirkt, wurde 1936 geboren. Er und der Sänger, beide gebürtige Berliner, waren künstlerisch eng verbunden. Die Anregung für die Lear-Oper soll von Fischer-Dieskau ausgegangen sein, der bei der Uraufführung 1978 in München auch die Titelrolle verkörperte. Reimanns Name taucht auf vier von fünf CDs der Sammlung auf. Aus eigener Feder stammen die Zyklen Unrevealed nach Lord Byron mit Streichquintett (Cherubini Quartett) – für den Sänger komponiert – und Shine and Dark nach James Joyce mit Klavierbegleitung für die linke Hand, die der Komponist selbst übernahm. Begleiter ist er auch bei den Liedern von Hermann Reutter, Wolfgang Fortner und Paul Hindemith, während bei ausgewählten Liedern von Maurice Ravel Hartmut Höll am Flügel sitzt.

Dietrich Fischer-Dieskau ist nicht der alleinige Solist in diesem Teil der ihm gewidmeten Edition. Die Mezzosopranistin Doris Soffel ist mit dreizehn Liedern von Reutter zu hören, der als Pianist selbst viele Liederabende mit bedeutenden Sängern bestritt. Für sich genommen sind die literarischen Vorlagen höchst anspruchsvoll: Die Jahreszeiten (Friedrich Hölderlin), Vier Lieder (Nelly Sachs) und Fünf Lieder (Marie Luise Kaschnitz). Es erweist sich als Gewinn, dass eine erfahrene Opernsängerin gewonnen wurde, der es gelingt, dramatische mit lyrischen Elementen zu verbinden. Großen Eindruck hinterlässt auch die früh verstorbene griechische Sängerin Stella Doufexis mit Fortners Farewell, während der Bariton Ralf Lukas und der aus Canberra stammende Tenor Christopher Lincoln Shakespeare-Sonette in der Originalsprache vortragen. Fischer-Dieskau ist schließlich mit den Terzinen von Hugo von Hofmannsthal, die mit zwei Zwischenspielen für Soloklavier unterbrochen sind, wieder am Zuge – und ganz in seinem gestalterischen Element. Allesamt fallen die Aufnahmen in die Spätzeit seiner Karriere. Während sich das typische Timbre, das ihn von allen Kollegen unterscheidet, erhalten hatte, verlor die Stimme vornehmlich beim dramatischen Anstieg an Halt und Glanz. Es stellt sich Frage, wie einige dieser Lieder denn in seinen jüngeren Jahren geklungen hätten, als er noch über seine schier unbegrenzten Mittel verfügte?

 

Eines muss Dietrich Fischer-Dieskau besonders zu Gute gehalten werden. Er ist im Laufe seiner langen Karriere immer neugierig geblieben. Der Erfolg hat ihn nie zur Routine verführt. Vornehmlich als Liedersänger baute er sein enormes Repertoire immer weiter aus. Er war ein Suchender. Ein Forscher gar, schrieb Bücher zum Thema und sammelte Texte deutscher Lieder und gab sie gedruckt heraus. Fünfmal wurde ihm die Ehrendoktorwürde altehrwürdiger Universitäten verliehen. Wer sich mit Liedern beschäftigt, kommt an diesem Sänger nicht vorbei. Auch mehr als acht Jahre nach seinem Tode nicht. Orfeo hat diverse Einspielungen, die zunächst einzeln zu haben waren, in einer neuen Edition versammelt wieder aufgelegt. Die vier CDs Vol. 2 (C993204) sind nach der Herkunft ihrer Textvorlagen geordnet. Sie und gehen auf Studioproduktionen und Konzertmitschnitte zurück. Daraus erklärt es sich, dass der Klang nicht ganz einheitlich ist.

Den Auftakt bilden Lieder nach Gedichten von Johann Wolfgang Goethe, die 1970 bei einem Konzert in Stockholm aufgezeichnet wurden. Sie stammen aus dem Archiv des Sängers, der von Karl Engel begleitet wird. Mit „Auf dem Land und in der Stadt“ wird Anna Amalia von Sachsen-Weimar die Referenz erwiesen. Sie war regierende Herzogin, die Mutter des mit Goethe eng befreundeten Karl August, beförderte das literarische Leben der Stadt, das als Weimarer Klassik in die Kulturgeschichte einging. Ihr Witwensitz, das Wittumspalais, war bis zu ihrem Tod 1807 Zentrum des literarischen und gesellschaftlichen Lebens. Sie komponierte auch. Ihr Strophenlied ist musikalisch sehr einfallsreich. Das am ehesten an Mozart erinnernde Hauptthema hat Ohrwurmcharakter. Einmal gehört, vergisst es sich nicht. Johann Friedrich Reichardt und Carl Friedrich Zelter sind in einem Goethe-Programm Pflicht, weil sie bei ihrer Kompositionen besonders häufig auf den Dichter zurückgriffen. Zelter war sogar einer der wenigen Duzfreunde Goethes. Fischer-Dieskau spannt den Bogen weit, mutet sich und seinem schwedischen Publikum einen teils extremen Wechsel zwischen den Stilen zu und stößt kühn bis in die Moderne vor. Auf die beiden vom Dichter geschätzten Komponisten folgen Beethoven, Schumann, Brahms, Strauss, Schoeck, Reger, Busoni und schließlich Hugo Wolf.

Bei CD 2 handelt es sich um Liederabend im Kleinen Festspielhaus in Salzburg am 4. August 1975, bei dem Wolfgang Sawallisch am Flügel sitzt. Alle siebenundzwanzig Lieder haben diesmal den Dichter Joseph von Eichendorff gemeinsam. Um die fünftausend Vertonungen sollen auf ihn zurückgehen. Damit gilt er als der am häufigsten in Töne gesetzte Autor. Es scheint, als wohne seiner Sprache ein musikalischer Duktus inne. Fischer-Dieskau ist stets darum bemüht, dass das Wort nicht zu kurz kommt, die Musik sich nicht darüber erhebt, sich nicht verselbständigt. Sawallisch unterstützt ihn dabei auch mit der Erfahrung des umsichtigen Opernkapellmeisters, der sein Hauptjob gewesen ist. In den Solopassagen aber nimmt er sich weniger zurück und lebt seine pianistische Neigung leidenschaftlich aus. Da Fischer-Dieskau so großen Wert auf die Texte legt, braucht es auch seine Fähigkeiten, verständlich zu singen. Exemplarisch gelingt das bei Schumann, der mit dem „Einsiedler“ und vier Nummern aus dem berühmten Liederkreis op. 39 vertreten ist: „In der Fremde“, „Schöne Fremde“, „Zwielicht“, „Im Walde“. Indessen hat sich dieser Zyklus in seiner inneren Geschlossenheit und Vollendung derart in Konzert und Studio etabliert, dass es irritiert, nur Bruchstücke daraus zu hören. Zumindest versucht der Sänger, die Lieder eigenständig und in sich abgeschlossen vorzutragen, so dass der Verzicht auf das Ganze nicht zu auffällig wird. Ein bevorzugter Dichter war Eichendorff für den grüblerischen Hans Pfitzner, der mit Von deutscher Seele auch eine nach ihm benannte Kantate für Solisten, Chor und Orchester schrieb. Der 1985 in Berlin gestorbene Reinhard Schwarz-Schilling ist noch immer eine nahezu Unbekannter. Fischer-Dieskau wusste um seine Bedeutung, hatte gemeinsam mit Aribert Reimann für die EMI Lieder von ihm eingespielt und drei Titel – „Kurze Fahrt“, „Marienlied“ und „Bist du manchmal auch verstimmt“ – ins Salzburger Programm gehoben. Dass auch der Dirigent Bruno Walter komponierte, wird mit den Liedern „Der Soldat“ und „Der junge Ehemann“ belegt, die neugierig auf mehr machen, denn sie entstammen einem Zyklus auf insgesamt sechs Nummern. Krönender Abschluss dieses Eichendorff-CD-Liederabends ist Wolf.

Richard Dehmel, dem die dritte CD zugedacht ist, galt in den ersten beiden Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts als bedeutendster lebender deutscher Lyriker. Er war 1863 geboren worden und starb 1920 an den Folgen einer Verletzung, die er sich im Ersten Weltkrieg zugezogen hatte. Dehmel war freiwillig Soldat geworden und rief seine Landsleute noch 1918 zum Durchhalten auf. Als Dichter griff er die unterschiedlichen Strömungen seiner Zeit auf und schreckte nicht vor drastischen Darstellungen sozialkritischer Themen zurück. Fischer-Dieskau und Reimann nahmen die Lieder, die auf seinen Versen beruhen, 1984 als Beitrag zur Ausstellung „Berlin um 1900“ beim Sender Freies Berlin auf. Wieder sind Strauss, Reger und Pfitzner mit dabei. Ganz neue Töne schlagen Anton Webern und Karol Szymanowski an und kommen Dehmel besonders nahe. Als Komponisten bringen sich die primär als Pianisten wirkenden Artur Schnabel und Conrad Ansorge, ein Schüler von Liszt, in Erinnerung. Schnabels Notturno „So müd hin schwand es in der Nacht“ ist das umfänglichste Werk und sprengt mit mehr als zwanzig Minuten den Rahmes eines Liedprogramms. Es braucht schon einen Sänger wie Fischer-Dieskau, um die Spannung über einen so langen Zeitraum zu halten. Mit CD 5 runden Lieder der Romantik die neue Folge der Edition ab. Begleitet von Hartmut Höll wurden sie 1983 in München eingespielt. Ihre Einzigartigkeit bezieht diese Zusammenstellung aus den Namen der Komponisten, darunter Conradin Kreutzer, Gaetano Donizetti, Hector Berlioz, Charles Gounod, Gottfried Herrmann, Lorenz Kraussold, Carl Gottlieb Reissiger, Sigismund von Neukomm und Emil Sjögren.

Es braucht keinen Taschenrechner, um herauszufinden, welcher Sängerin die meisten Lied-Aufnahmen hinterlassen hat. Für mich besteht kein Zweifel. Es ist Dietrich Fischer-Dieskau. Ein Blick ins Regal genügt. Er beansprucht den meisten Platz. Auch auf Listen, ob digital oder auf Papier, nimmt die Spalte mit seinem Namen kein Ende. Lieder sind die treuesten Begleiter auf seinem langen künstlerischen Lebensweg. Schon 1948 begann er damit, Lieder aufzunehmen. Darunter das Schwergewicht Wolf. Sie werden mitunter mehr geschätzt als seine späten Deutungen. Dieser Sänger war stets auf der Suche nach Vollkommenheit und Vollendung. Obwohl er mindestens achtmal mit der Winterreise von Schubert – um nur dieses Beispiel zu nennen – dokumentiert ist – näherte er sich wie kein anderer auch jenen Komponisten, die abseits stehen. Seine eigene Berühmtheit nützte dabei. Was er sang, musste gut sein.

 

Vol. 1 der Orfeo-Edition besteht aus fünf CDs (C992205). Eingebettet zwischen Studioproduktionen das Italienische Liederbuch von Hugo Wolf als einziger Livemitschnitt von den Salzburger Festspielen 1958. Fischer-Dieskau hat das Festival nach dem Krieg entscheiden mitgeprägt. Erstmals ist er noch unter Wilhelm Furtwängler 1951 mit den Liedern eines fahrenden Gesellen von Mahler aufgetreten, letztmalig 2005 als Dirigent bei einer Mozart-Matinee. Zahlreiche Auftritte sind auf Tonträgern dokumentiert. Seine Partnerin bei Liederbuch ist Irmgard Seefried, am Flügel sitzt Erik Werba. Mit den kleinen Dingen, die auch entzücken können, eröffnet die Seefried den Zyklus entschlossen und etwas resch. Sie muss erst ihr lyrisches Gleichgewicht finden. Ein scharfes Husten aus dem Publikum ist dabei nicht förderlich. Hat sie sich eingesungen, klingt sie hinreißend. Auch wenn nicht zu überhören ist, dass die Stimme immer leicht belegt wirkt. Beide harmonieren gut, werfen sich die Bälle zu und formen aus den sechsundvierzig Liedern ein kleines Drama aus unverstellter Leidenschaft. Sind die Fetzen geflogen wie in einem italienischen Film, folgt die Versöhnung, wie sie nur Musik zustande bringen kann. Fischer-Dieskau betet seine Partnerin mit Tönen regelrecht an, während die Seefried gern mal die Hosen anzieht und auch im Liederbuch mit „Ich hab‘ in Penna einen Liebsten wohnen“ das letzte Wort hat. Ihre größte Stärke ist die Natürlichkeit, während Fischer-Dieskau den versonnen Träumer gibt. Das passt.

Mit seiner Frau Julia Varady ist der Sänger 1984 ins Studio gegangen, um zwei Werkgruppen von Louis Spohr aufzunehmen. Es handelt sich um jeweils Sechs Lieder für Bariton, Violine (Dmitry Sitkovetsky) und Klavier (Hartmut Höll) op. 154 sowie Sechs Lieder für Sopran, Klarinette (Hans Schöneberger) und Klavier op. 103. Obwohl dieser Komponist sehr viele Lieder hinterlassen hat, haben sie auf dem Musikmarkt und im Konzertbetrieb Seltenheitswert. Von seinem Ruhm, den er zu Lebzeiten vor allem als Geiger genossen hat, ist nicht sehr viel geblieben. Dabei entfaltet er gerade in den Liedern mit der aparten Begleitung eine enorme Meisterschaft. Auch Carl Friedrich Zelter, von dem Goethe stark eingenommen war, ist durch diese Freundschaft, die in Briefen dokumentiert wird, mehr in Erinnerung geblieben als durch sein kompositorisches Schaffen. Nach seinen Liedern auf Tonträgern muss man mit der Lupe suchen. Einige Titel finden sich bei Hermann Prey. Mit neunzehn Liedern hat Fischer-Dieskau regelrecht geklotzt und die stilistische Vielfalt eingefangen. Begleitet wird er von Aribert Reimann, der bei der langen Einleitung zu „Der Sänger der Vorwelt“ nach Schiller als Pianist an einem Hammerklavier von 1838 gut zu tun hat und viel hermacht. Dass allein vierzehn Lieder auf Texte von Goethe zurückgehen, wundert nicht. Darunter ist auch eine gefällige Vertonung von „Wandrers Nachtlied“, das bei Zelter „Ruhe“ heißt.

Auf Zelter folgt sein Zeitgenosse Johann Friedrich Reichardt. Bei seinen zwanzig Liedern wird der Sänger von Maria Graf an der Harfe begleitet. Auch er unterhielt Kontakte zu Goethe und bediente sich bei ihm. Durch die Harfte geraten die Lieder oft in Singspielnähe, wodurch sie zum reinsten Hörvergnügen werden. Eine von Fischer-Dieskaus Stärken ist, dem Wort die ihm zustehende Bedeutung zu geben. Er ist gut zu verstehen. Ausgewählte Lieder von Hans Pfitzner, bei denen wieder Höll die Begleitung übernommen hatte, bilden den Abschluss der Sammlung. An diesem Komponisten lag dem Sänger. Er hat sich ihm mehrfach zugewandt die Schwermut dieser Gesänge ausgelotet und auch den bedrohlichen Kardinal Borromeo in der Palestrina-Produktion unter Kubelik bei Deutsche Grammophon übernommen. Rüdiger Winter

Talent für Balladen

 

Der junge Bariton Samuel Hasselhorn scheint als Liedsänger in Robert Schumann einen Meister gefundene zu haben. Nach der Dichterliebe ist nun bei harmonia mundi eine weitere CD mit Liedern dieses Komponisten herausgekommen (HMN 916114). Diesmal sitzt Joseph Middleton aus England am Flügel. Der Neununddreißigjährige ist international als Liedbegleiter sehr gefragt. Mit Stille Liebe wurde ein Lied aus den Zwölf Gedichten von Justinus Kerner als Titel der Neuerscheinung gewählt. Es beginnt so: „Könnt‘ ich dich in Liedern preisen, säng‘ ich dir das längste Lied.“ An langen, balladesken Liedern gebricht es nicht. Die berühmte Löwenbraut nach Adelbert von Chamisso bringt es auf ganze acht Minuten. Sie können zur Ewigkeit werden, wenn die Spannung nicht hält. Bei Hasselhorn hält sie. Er hat Talent für Balladen wie diese. Ein Mädchen gewinnt das Vertrauen eines Löwen. Das wilde Tier wird zum Beschützer und Gespielen. Nachdem ein Freier in ihr Leben getreten ist, gilt es Abschied zu nehmen von dem treuen Tier, das seine Gefährtin aber nicht ziehen lassen will. Daraufhin lässt der Bräutigam Waffen herbei bringen. Da bemächtigt sich der Löwe der Braut, streckt sie nieder, legt sich in Verzweiflung auf sie und erwartet den Tod durch die Kugel. Seinem Vortrag gibt der Sänger ein gewisses Staunen bei, als könne er selbst diese unglaubliche Geschichte nicht begreifen. Das macht viel her. Sein Pianist unterstützt diese Interpretation durch dunkele, geheimnisvolle, gar bedrohliche Klänge als würden Glocken läuten. Es zeigt sich, dass beide sehr gut harmonieren und offenbar – jeder auf seinem Platz – dasselbe wollen.

Ist die Löwenbraut der Höhepunkte des Programms? Oder hinterlassen Die beiden Grenadiere noch mehr Eindruck? In diesem Lied dreht Hasselhorn das Tempo immer mehr auf als zöge er in eine gefährliche Schlacht, ohne dabei die sprachliche Genauigkeit zu vernachlässigen oder sie der Dramatik zu opfern. Er will immer gut verstanden werden, was für einen Liedsänger unerlässlich ist. Alles wird Ausdruck. Hasselhorn bemüht sich gar nicht erst um Schöngesang, wie er beispielsweise bei Hermann Prey in diesem Stück zu hören ist. Er singt ein Lied aus dem Krieg – ungestüm, erbarmungslos und voller Verzweiflung. Die Stimme ist dramatischer geworden. Wenn nicht gar auch etwas rauer. Es wird sich zeigen, ob er die Kanten noch glätten will oder ob er die Neigung zum Charakterbariton weiter verfolgen und ausprägen wird. Dass Samuel Hasselhorn auch reichlich lyrisches Potenzial besitzt, zeigt sich exemplarisch in Es fiel ein Reiß‘ in der Frühlingsnacht oder in einigen der Zwölf Gedichte von Johannes Kerner. Die neue CD vermittelt viel Enthusiasmus beim Liedgesang. Kein Wunder, dass er im Booklet ein flammendes Plädoyer für das Genre hält und der heutzutage weit verbreiteten Auffassung entgegentritt, das Kunstlied sei „alt, verstaubt und vom Aussterben bedroht“. Darin sieht Hasselhorn einen riesengroßen Irrtum.

 

Die Idee ist faszinierend. Samuel Hasselhorn hat gemeinsam mit dem Pianisten Boris Kusnezow zwei Dichterlieben vorgelegt. Wie das? Gibt es neben dem von Robert Schumann vertonten Zyklus nach sechzehn Gedichten von Heinrich Heine noch einen anderen? Ähnlich der Sammlung Frauenliebe und –leben, die bekanntlich auch Carl Loewe vertonte? Es ist ganz anders. Die Geschichte erzählt der Komponist Stefan Heucke im Booklet des Albums bei GWK Records (GWK 141). Nach seiner Darstellung sei es gar nicht bekannt, dass „namhafte Komponisten der Schumann- und späteren Zeit zwölf dieser Heine-Texte ebenfalls vertont haben“. Hingegen finden nun auf dieser CD  Lieder von  Fanny Hensel („Verlust“), Carl Loewe („Ich hab‘ im Traum geweinet“), Franz Liszt („Im Rhein, im schönen Strome“), Modest Mussorgsky („Aus meinen Tränen spießen“), Edvard Grieg („Hör ich das Liedchen klingen“), Felix Mendelssohn Bartholdy („Allnächtlich im Traume seh‘ ich dich“), Charles Ives („Ich grolle nicht“) und Robert Franz („Im wunderschönen Monat Mai“, „Die Rose, die Lilie“, „Ich will meine Seele tauchen“, „Am leuchtenden Sommermorgen“).

Robert Franz (1815-1892) hat in jüngster Zeit erfreulich viel Aufmerksamkeit erlangt – Aufmerksamkeit, die ihm auch zusteht. Aber warum nun gleich vier Vertonungen allein von ihm? Es hätte sich mehr Abwechslung angeboten. Das Auftaktgedicht des Zyklus, „Im wunderschönen Monat Mai“ ist nicht nur von Franz, sondern auch von etlichen anderen Komponisten in Töne gesetzt worden, darunter vom Schöpfer der Oper Der Trompeter von Säckingen, Victor Ernst Nessler (1841-1890). Für mehr internationales Flair bei der Auswahl hätte der Amerikaner James Hotchkiss Rogers (1857-1940) gestanden. „Die Rose, die Lilien“ gibt es – um nur ein Beispiel von vielen zu nennen – auch von Giacomo Meyerbeer und so weiter und so fort. Heucke: „Vier Gedichte indessen fehlten im Hinblick auf den von Schumann vertonten Corpus.“ Von seinen Freunden Assaf Levitin (Bass) und Dan Deutsch (Klavier) sei er gefragt worden, ob er sich eine Zweitvertonung dieser vier Gedichte vorstellen könnte. „Trotz schwerer Bedenken, damit in den unmittelbaren Vergleich mit einigen der größten Schumann-Lieder zu geraten“, nahm er den Auftrag schließlich an. Die künstlerischen Skrupel sprechen für den Komponisten. Der stellte seine Kompositionen unter den Titel „Nachtigallenchor“. Damit gebe es nun zwei vollständige Zyklen zum Thema Dichterliebe. Bei den vier Liedern Heuckes handelt es sich um „Das ist ein Flöten und Geigen“, „Ein Jüngling liebt ein Mädchen“, „Aus alten Märchen winkt es“ und „Die alten, bösen Lieder“.

Auch Fanny Hensel – hier auf einem Gemälde von Daniel Moritz Oppenheim – hat das Gedicht „Verlust“ komponiert / Foto Wikipedia

Eine für den Liedgesang sehr wichtige Quelle im Internet, das LiederNet-Archiv, weiß es anders. Dort findet sich für die angeblich außer von Schumann nicht vertonten Gedichte eine Vielzahl von Kompositionsbeispielen. Und nicht nur für diese. Alle Gedichte der Dichterliebe, wurden jenseits von Robert Schumann vielfach in Töne gesetzt. Wenn ich richtig gezählt habe, gibt es – um bei einem Fall zu bleiben – von „Ein Jüngling liebt ein Mädchen“ mehr zwanzig Versionen. Unter den Komponisten sind Namen wie Eyvind Alnaeas (1872-1932) aus Norwegen, der tüchtiger Franz Lachner (1803-1890), der mehr als zweihundert Lieder hinterließ, Wilhelm Killmeyer (1927-2017), Reiner Bredemeyer (1929-1995) und Manfred Schmitz (1939-2014), zwei, die das musikalische Leben in der DDR maßgeblich mitgeprägt haben, August Horn (1825-1893), der in Leipzig als Liedkomponist bekannt wurde, der Kirchenmusiker Franz Xaver Dressler (1898-1981), der vornehmlich in der deutschen Schlagerbranche außerordentlich erfolgreiche Christian Brun (geb.1934), Heinrich Henkel (1822-1899), Königlich-Preußischer Musikdirektor, Heinrich Huber (1879-1919), Chorleiter in Schongau, wo er auch Messen, zwei Requien und viele Lieder schuf, Emil Kreuz (1867-1932), der in London hoher Anerkennung erfuhr und es zum musikalischen Vizedirektor in Covent Garden brachte, der niederländische Pianist, Dirigent und Komponist Reinbert de Leeuw (geb. 1938), Ernst Otto Nodnagel (1870-1909) aus Königsberg, wo er nicht nur komponierte sondern auch als Sänger, Schriftsteller und Musikkritiker hervortrat, Jakob Rosenhain (1813-1894), der neben seiner Tätigkeit als Pianist Opern schrieb, in Paris von Rossini und Cherubini gefördert wurde und mit Berlioz verkehrte, Johann Vesque von Püttlingen (1803-1883) der als wichtiger Liedschöpfer in Österreich zwischen Schubert und Brahms gilt, der Schweizer Carl Vogler (1874-1951), der Ire Wilhelm Vincent Wallace (1812-1865), der an der Gründung der New Yorker Philharmoniker beteiligt gewesen ist sowie die englische Komponisten Maude Valerie White (1855-1937). Schließlich wurde die Chance verpasst, dem 1944 in Auschwitz ermordeten Österreicher Marcel Tyberg mit seiner Komposition des Liedes „Ein Jüngling liebt ein Mädchen“ ein Denkmal zu setzen.

Als Komponist dieser literarischen Vorlage versuchte sich auch der Diplomat und Vertraute des deutschen Kaisers Wilhelm II., Philipp zu Eulenburg (1847-1921), der durch andere historische Begebenheiten bis in die Gegenwart bekannt blieb. Ab November 1906 warf ihm der Publizist Maximilian Harden Eulenburg in mehreren Artikeln andeutungsweise vor, homosexuell zu sein. In der Folge kam es von Herbst 1907 an zu mehreren Aufsehen erregenden Prozessen, die sich zunächst indirekt und dann auch direkt gegen Eulenburg wegen Vergehens gegen Paragraph 175 (Reichsstrafgesetzbuch) richteten. Zu einer Verurteilung kam es aber nicht mehr, obgleich Harden Zeugen unter Eid vorführte, die regelmäßig mit Eulenburg verkehrt haben sollten. Eulenburg war seit 1908 wegen seines Nervenleidens prozessunfähig. Die sogenannte Harden-Eulenburg-Affäre war einer der größten Skandale im wilhelminischen Deutschland. Der letzte Kaiser war politisch bloßgestellt und ließ Eulenburg fallen.

Die beschränkte die Komponisten-Auswahl auf der CD lässt sich auch damit erklären, dass es einen enormen Arbeitsaufwand bedeutet hätte, weiterer alternativer Vertonungen habhaft zu werden. Sie sind gewiss nicht alle verlegt worden und dürften über viele Archive verstreut sein. Ein Hinweis darauf hätte sich aber angeboten. Die vorliegende Interpretation bleibt von diesen Einwänden unberührt.

Von Robert Franz wurden gleich vier Lied-Vertonungen in die alternative „Dichterliebe“ übernommen / Foto Wikipedia

Obwohl sich junge Sänger neuerdings in den Booklets ihrer CDs gern selbst zu Wort melden, die Auswahl begründen, dabei auch mitunter freimütig eigene Gefühle einfließen lassen – Samuel Hasselhorn verzichtet darauf. Ist es Zufall oder Absicht? Wie auch immer. Seine Hörer müssen sich an das halten, was er musikalisch zu sagen hat. Und darauf kommt es schließlich an. Mit seinen achtundzwanzig Jahren ist er kein Unbekannter mehr. Er hat Wettstreite gewonnen – zuletzt den König-Elisabeth-Wettbewerb 2018. Im selben Jahr holte er sich auch den Emmerich-Smola-Preis bei „SWR Junge Opernstars“. Das ist ein gutes Omen. Smola, Dirigent und Produzent, hatte ein sicheres Gespür für Begabungen und ebnete beispielsweise Fritz Wunderlich maßgeblich den Weg zu internationalem Ruhm. Studiert hat er in Hannover und Paris. Erfahrungen sammelte er bei Meisterkursen unter anderen von Kiri Te Kanawa, Kevin Murphy, Thomas Quasthoff, Helen Donath, Annette Dasch. Inzwischen ist Hasselhorn festes Mitglied der Wiener Staatsoper, wo er den Ottokar im Freischütz und den Schaunard in der Bohéme gab. In diesem Jahr folgt der Belcore in L’esir d’amore. Für den Anfang ist das viel. Debüts als Liedsänger in München, London, Madrid, Moskau und Zürich hat er hinter sich. Strategisch klug geplant, geht der Hoffnungsträger seine Karriere an, ohne sich zu früh festzulegen.

Nun also die vorliegende CD, die nicht nur wegen der Programmauswahl Aufmerksamkeit verdient. An Sängerkarrieren, die längst beendet sind, ist im Rückblick der Beginn oft besonders spannend, weil er ein Versprechen in die Zukunft enthält, weil Vollendung, die sich erst mit der Zeit einstellt – im schlimmsten Fall auch nie – erst als Entwurf vorhanden ist. Hasselhorn, von dem nach meiner Überzeugen noch viel zu hören sein wird, ist sehr gut gestartet. Er verfügt über grundsolides Material. Die Stimme klingt männlich und hat im gegenwärtigen Moment ihre Stärken in der Tiefe. Für einen Bariton darf es mehr Höhe sein. Die hat er, aber der Weg dorthin gestaltet sich dann steinig, wenn sie aus den unteren Lagen angesteuert werden muss. Das fällt beispielsweise bei dem originalen Schumann-Lied „Ich grolle nicht“ auf, das nur unter großem Kraftaufwand zu Ende gebracht wird. Schön klingt etwas anders. Der Amerikaner Ives geht in seiner Version etwas gnädiger mit stimmlichen Ressourcen um. Ist Hasselhorn aber erst einmal in Fahrt wie bei den neuen Kompositionen von Hauck, scheint sein Bariton mehr Halt zu gewinnen und schafft auch den Lagenwechsel besser. Insgesamt wünschte ich mir durchweg mehr Feinsinn und Geschmeidigkeit. Er geht mit seinem Material nach meinem Eindruck gelegentlich sehr unbedenklich und frei um. Liedgesang will auch nach innen gehen. Gut zu verstehen ist er meistens und erfüllt damit eine ganz wesentliche Voraussetzung für diese musikalische Sparte. Nur einzelne Wörter, Vokale und Konsonanten sind nicht perfekt genug. Doch wenn er zu Schumanns „Ich hab im Traum geweinet“ anhebt, treten alle kritischen Einwendungen in den Hintergrund. Mit diesem Lied bringt Hasselhorn den Zustand zwischen Traum und Wirklichkeit auf den lyrischen Punkt. Das will gekonnt sein – das ist der Höhepunkt dieser CD.  Rüdiger Winter

Mord und Totschlag im Sophiensaal

 

Eines Tages tauchten in Musikgeschäften der DDR originale Decca-Schallplatten auf. Das muss Ende der sechziger Jahre gewesen sein. Darunter war ein Querschnitt durch Verdis Otello. Es sangen Renata Tebaldi die Desdemona, Mario del Monaco den Otello und Aldo Protti den Jago. Als Dirigent der Wiener Philharmoniker verbreitete Herbert von Karajan allein durch die Nennung seines Namens auf dem Cover Magie. Notorisch klamm als ganz junges Ding kratze ich die verlangten vierundzwanzig Ostmark zusammen. Seinerzeit war das sehr viel Geld. Die Platte trug ich nach Hause, als wäre sie aus purem Gold. Verpackt in Zeitungspapier drückte ich sie in der Straßenbahn an mich und schaute voller Verachtung auf meine Umgebung. Wenn ihr wüsstet, was ich da bei mir habe? Die Anschaffung einer neuen Schallplatte, dazu noch so einer, war einst ein Ereignis. Ich denke noch heute daran, wenn ich mir die überbordende Fülle der eigenen Sammlung mit vielleicht dreißig Otellos vergegenwärtige. Und würde ich die Oper in allen nur möglichen Varianten Tag und Nacht hören, die Erschütterung der ersten Begegnung von dieser Platte, wenn der Sturm erbarmungslos gegen das Segel kracht und die Menschen am Ufer von panischer Angst geschüttelt werden, fände ich nicht wieder.

The Complete Decca Recordings: Die Firma hat jetzt alle eigenen, von Herbert von Karajan betreuten Produktionen in einer neuen Edition zusammengefasst. Sie besteht aus 33 CD‘s (483 4903). Selbstverständlich ist der vollständige Otello mit dabei, wie alle Alben  gewandet in das originale Cover. Es zeigt den bildschönen del Monaco noch dunkel geschminkt, mit krausem Haar. Schließlich ist der Befehlshaber der venezianischen Flotte ein Mohr. Und einzig aus dieser Besonderheit führt die Handlung in die Katastrophe, bei Shakespeare wie bei Verdi und seinem Librettisten Arrigio Boito. Inzwischen ist diese Maske obsolet. Indem aber Otello äußerlich nicht mehr als Mohr in Erscheinung tritt, kann er in seiner Tragik als Außenseiter nicht wahrgenommen werden, und sein übler Widersacher Jago ist auch kein Rassist mehr sondern wird auf einen fiesen Schurke reduziert, der über Leichen geht. Die Oper wurde zwischen dem 10. und dem 21. Mai 1961 im Wiener Sophiensaal, der eine der feinsten Adressen in der Schallplattengeschichte gewesen ist, aufgenommen. Produzent war John Culshaw, dem die Decca zahlreiche bedeutende Titel ihres Katalogs verdankt. Im Booklet findet sich ein Foto, das die konzentrierte Arbeitsatmosphäre während Einspielung als Momentaufnahme festgehalten hat. Die gut frisierten Damen im schlichten Zweiteiler, die Herren im Anzug oder – gleich dem Maestro – im eleganten Rollkragenpullover, wie er damals hoch in Mode stand. Es ist kaum vorstellbar, dass unter diesen Umständen tödlich endende Leidenschaft für die Ewigkeit auf Plattenrillen gebannt wird. Und doch ist es geschehen. Profis schaffen das. Mit dem historischen Abstand wirkt die Aufnahme heute auf mich etwas statuarisch. Gesungen aber wird auf solch hohem Niveau, dass es Konkurrenzprodukte nicht leicht hatten. Schließlich war dieser Otello nicht die erste Studioaufnahme. Tebaldi und del Monaco, raumgreifend in jedem Moment, sind eine ideale Besetzung gewesen. Ihr Vortragsstil kennt keine Routine. Sie sind eins mit ihren Rollen. Für mich hat sich Karajan mit seiner zweiten Studioproduktion für die EMI nicht übertreffen können – trotz Vickers und Freni.

Was für die Qualität des Otello spricht, kann auch auf andere Titel der Edition übertragen werden. Knapp zwei Jahre zuvor war am selben Ort mit demselben Orchester Aida eingespielt worden. Für die Titelpartie war ebenfalls die Tebaldi angereist. Kenner ziehen ihre Aida der Desdemona vor. Ich kann mich da nicht entscheiden. Immerhin bietet die Edition viele Möglichkeiten für spannende Vergleiche. Bis an ihre Grenzen geht Giulietta Simionato in ihrem verzweifelten Kampf um Radames – hervorragend mit Carlo Bergonzi besetzt, den sie erst in der Gerichtsszene, wenn sie unter die Räder der Macht gerät, endgültig verliert. Den Amonasro singt Cornell MacNeil, den König Fernando Corena und den Ramfis Arnold van Mill. Idiomatisch nicht perfekt passen für mich Leontyne Price als Tosca und Giuseppe di Stefano als Cavaradossi zusammen. Vielleicht wäre für die Amerikanerin der etwas modernere Bergonzi die bessere Wahl gewesen. Sei‘s drum. Angetrieben von Karajan lassen es beide nicht an Leidenschaft fehlen. Für sich genommen finde ich das das Te Deum noch immer gewöhnungsdürftig, weil es vom Dirigenten zu stark extrahiert, durch ein extrem langsames Tempo und Kanonendonner regelrecht überstrapaziert wird. Wenn es aber im Zusammenhang mit dem folgenden lapidar-kammermusikalischen Beginn des zweiten Aktes der Tosca wahrgenommen wird, passt es dann doch. Die Puccini-Oper wurde 1962 aufgenommen.

Im Sophiensaal standen damals die Bandmaschinen nicht still. Karajan war von 1957 bis 1964 neben seiner Tätigkeit als neuer Chef der Berliner Philharmoniker auch noch künstlerischer Leiter der Wiener Staatsoper. Die Weltstars der Oper waren seine Entourage. Als spritziges Intermezzo behauptet sich Die Federmaus von Johann Strauss in der der Decca-Edition, in der die Opern bis auf den Figaro alle tödlich enden. Wer sich also etwas entspannt zurücklehnen möchte, bevor in Bohéme, Butterfly, Carmen und Boris Godunov wieder gestorben wird, ist mit dieser Aufnahme der Königin der Operette bestens bedient, die von 1960 stammt. Der Champagner fließt nicht nur beim Prinzen Orlofsky in Strömen, der von Regina Resnik stimmlich mit einem Schuss Klytämnestra gewürzt wird. Karajan lässt die Korken auch am Pult der Wiener Philharmoniker knallen, die nun ganz in ihrem Element sind. Es ist Karajan zweite Einspielung. Die erste wurde 1955 im Londoner EMI-Studio gemacht. Nach Mono jetzt Stereo. Das ist für diese Musik ein unschätzbarer Vorteil. Nichts zu wünschen lässt die übrige Besetzung übrig: Hilde Güden (Rosalinde), Erika Köth (Adele), Waldemar Kmentt (Eisenstein), Walter Berry (Falke), Eberhard Wächter (Frank). Giuseppe Zampieri spielt als Tenor Alfred sich selbst. Und als Frosch ist niemand anders denkbar als der in Wien abgöttisch verehrte Erich Kunz. Alle sprechen die Dialoge ohne Fehl und Tadel. Auch nach sechzig Jahren hat die Aufnahme nicht gelitten. Im Gegenteil. Sie hat ein hohes Beharrungsvermögen auf dem Markt entwickelten und ist der schlagende Beweis, dass Operette nicht immer schnell altern muss. Diese mehrfach preisgekrönte Aufnahme unterscheidet sich in einem Punkt von allen anderen Fledermäusen. Auf dem Ball beim Prinzen erscheinen illustre Gäste in großer Zahl: Renata Tebaldi, Mario del Monaco, Birgit Nilsson, Jussi Björling, Fernando Corena, Leontyne Price, Giulietta Simionato, Ettore Bastianini, Joan Sutherland, Teresa Berganza und Ljuba Welitsch. Der Dialog ist so verändert, dass der Kaiser, der sich plötzlich am Telefon meldet, die Sänger Hofoper ankündigt statt selbst zu erscheinen. Die Gäste haben ihre musikalischen Visitenkarten dabei. Und die Tebaldi dürfte es gern gehört haben, als „die größte italienische Primadonna“ angekündigt zu werden. Die Verwirklichung der hübschen Idee krankt etwas daran, dass die meisten Auftritte deutlich als nachträglich hineingeschnitten klingen. Nur die Nilsson, die Price und die Welitsch erscheinen wahrhaftig, denn sie geben auch persönlich ein paar Worte von sich. Es wird berichtet, dass es auch mit Kirsten Flagstad Verhandlungen gab, um sie zur Mitwirkung als Gast zu gewinnen. Schließlich hatte sie ihre Karriere auch mit Operetten begonnen. Leider zerschlugen sich diese Pläne.

Keine so glückliche Hand hatte Karajan mit seiner ersten Carmen von 1963, die viel zu wuchtig beginnt. Es würden noch zwei weitere offizielle Produktionen folgen. Er hat die Oper oft dirigiert, kitzelte den dramatischen Gehalt deutlicher heraus, als dass er sich auf die Besonderheiten der französischen Opéra-comique eingelassen hätte. Musikalisch malte er mit sehr dickem Pinsel. Der feine Strich war seine Sache nicht. Selbst das betörende Vorspiel zum dritten Akt, in dem sich Michaela im Wald auf die Suche nach José begibt, klingt mehr nach Mascagni denn nach Bizet. Leontyne Price ist mir als Carmen zu folkloristisch, Franco Corelli als José zu veristisch. Mirella Freni, die die Michaela singt, hatte ich mädchenhafter in Erinnerung. Die Rolle des Escamillo ist dann doch etwas zu episodisch, als dass Robert Merrill viel herausreißen könnte. Am besten bedient ist die Freni mit der Mimi in Puccinis La Bohéme, die 1973 in der Berliner Jesus-Christus-Kirche eingespielt wurde. Nun kam Karajans eigenes Orchester, die Berliner Philharmoniker, zum Zuge, die kein geborenes Opernorchester waren. Sie folgen ihrem Chef, der es glanzvoll und sinfonisch haben wollte, bedingungslos. Stimmlich wird ein Fest gegeben, das bis heute seinesgleichen sucht. An der Seite der wunderbaren Freni Luciano Pavarotti als Rodolfo in Höchstform. Selten konnte er seinen Tenor so aufblühen lassen wie hier. Dieses Wunder der Bohéme wurde ein Jahr später mit Madama Butterfly, die wieder nach Wien verlegt und mit den dortigen Philharmonikern bestritten wurde, nicht übertroffen – trotz Freni als Cio-Cio-San und Pavarotti als Pinkerton. 1970 hatte sich in der Hauptstadt Österreichs ein internationales Ensemble zusammengefunden, um Boris Godunow von Modest Mussorgsky einzuspielen. Der Chor der Wiener Staatsoper ist extra durch den Rundfunkchor aus Sofia verstärkt worden, um das besondere Flair dieses Musikdramas deutlicher herauszustellen. Nicolai Ghiaurov war in der Titelrolle besetzt, Ludovic Spiess als Dimitri und Galina Vishnevskaya als Marina. Als Pimen war Matti Talvela nahe dran, allen seinen Kollegen die Show zu stehlen. Die jüngste Opernproduktion der Edition ist Mozarts Le nozze die Figaro, 1978 in Wien entstanden. Auf der Besetzungsliste tauchen neue Namen auf. José Van Dam in der Titelrolle gelingt ein sehr differenziertes Porträt und gewinnt der Figur neue Seiten ab. Er versucht es erst gar nicht mit charmantem Schöngesang. Sein Figaro ist eine Kämpfernatur, misstrauisch, sogar verschlagen und zu allem entschlossen. Wer sich mit so einem anlegt, zieht den Kürzeren. Und so soll es ja auch sein. Tom Krause als Conte geht als ebenbürtiger Gegner in diesen Zweikampf zwischen Männern, während die Damen ehr der Tradition hingegeben bleiben. Bei der Contessa von Anna Tomowa-Sintow kommt es mir vor, als singe sie ihre beiden Soloszenen im Sitzen. Frederica von Stade fehlt die Eloquenz des umtriebigen Jünglings Cherubino und Illena Cotrubas singt zwar schön wie ihre Kolleginnen, kann mich aber nicht vollends davon überzeugen, dass die Susanne vom menschlichen Standpunkt letztlich die Hauptrolle spielt. Karajan kann den tollen Tag am Pult nicht überzeugend in Szene setzen. Über weite Strecken wirken die einzelnen Nummern wie auf einer sündhaft teuren Perlenkette aufgereiht.

Nicht eben knapp ist der sinfonische Teil der Edition bemessen. Wiener Klassik findet sich mit Sinfonien von Haydn und Mozart – darunter die Jupiter-Sinfonie – und Beethovens Siebte. Eine CD teilen sich Antonin Dvorak (8. Sinfonie) und Johannes Brahms (3. Sinfonie sowie Tragische Ouvertüre). Dessen 1. Sinfonie gibt es noch in anderer Koppelung. The Vienna of Johann Strauss: diese CD beschert mit der Ouvertüre zur Fledermaus das einzige Stück, das zweifach in der Edition auftaucht. Komplettiert wird das Programm unter anderen mit der Ouvertüre zum Zigeunerbaron, der Annen-Polka und den Geschichten aus dem Wienerwald. Karajan hat für dieses Repertoire einen unvergleichlichen Instinkt. Man vergisst, Luft zu holen, wenn die CD aufliegt. Für Peter Tschaikowsky fiel sogar ein Doppelalbum ab, das mit der Romeo-und Julia-Ouvertüre beginnt und mit der Dornröschen-Suite endet. Dazwischen die Schwanensee-Suite. Wem an deren Ende nicht die Tränen kommen, ist selber schuld. Hingabe verschwendet der Dirigent schließlich auch an das Ballett Giselle von Adolphe Adam. Seinem Ruf als Klangmagier macht Herbert von Karajan mit Also sprach Zarathustra von Richard Strauss und den Planeten von Gustav Holst alle Ehre. Was noch? Christmas mit Leontyne Price. Das nächste Weihnachten kommt ganz bestimmt. Rüdiger Winter

Wagners vergessener Prophet

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Gewiss hätte sich Richard Wagner auch ohne Zutun von Angelo Neumann weltweit durchgesetzt. Der umtriebige Theaterdirektor hat entscheidend dafür gesorgt, dass es schneller ging. Er war vom Glauben an Wagner besessen. Und er wollte mit Wagner sein eigenes Geld verdienen. Das ist ein perfektes Rezept für den Erfolg. Zunächst aber gab er Leipzig seinen bedeutendsten Sohn zurück. Der war 1813 in der Stadt geboren worden, wo er viele Widersacher hatte. In der einschlägigen Wagner-Literatur aus früheren Jahren läuft einem Neumann oft über den Weg. Ein eigenständiges Werk über sein Leben und sein segenreiches Wirken gab es bisher offenbar nicht. Mit seinem Buch Josef „Angelo“ Neumann – Wagners vergessener Prophet hat Heinz Irrgeher diese Lücke geschlossen. Es ist im Leipziger Universitätsverlag erschienen (ISBN 973-3-96023-334-4). Am Anfang steht die Eloge! Mit der Witwe von Kurt Masur, Tomoko Masur, die auch Präsidentin des nach dem Dirigenten benannten Internationalen Instituts ist, dem Intendanten und Generalmusikdirektor der Oper Leipzig, Ulf Schirmer, und dem neuen Intendant der Mailänder Scala, Dominique Meyer, outen sich gleich drei namhafte Persönlichkeiten als Neumann-Verehrer, die seine Bedeutung hoch schätzen. Das klingt gut.

Neumann kam am 18. August 1838 mit dem Vornamen Josef in einem kleinen Ort in der Nähe von Preßburg, dem heutigen Bratislava, zur Welt. Um seinen achtzehnten Geburtstag herum siedelte die Familie nach Wien über, was ihn auf die Idee gebracht haben dürfte, die Stadt als seinen Geburtstort anzugeben. Das machte mehr her. Neumann, der sich zunächst als Opernsänger ausbilden ließ und in diesem Beruf auch einen erfolgreichen Start hinlegt hatte, war durch und durch Künstler. Insofern darf es nicht wundern, wenn er auch seinen Lebenslauf mit Elementen künstlerischer Freiheit versah. Gemeinsam mit dem Autor klappern die Leser sämtliche Stationen, auf den er Spuren hinterließ, ab. Um 1860 konvertierte er vom jüdischen zum römisch-katholischen Glauben. In das protestantische Leipzig, wo sein eigentlicher Aufstieg begann, zog er als Mitglied der evangelischen Kirche ein. Die Theaterdirektion war 1875, ein Jahr vor der ersten geschlossenen Aufführung des kompletten Ring des Nibelungen in Bayreuth, neu ausgeschrieben worden. Die Wahl fiel auf Augst Förster aus Wien, der Neumann als neuen Operndirektor mitbrachte. Dessen Wagner-Erweckung fand denn auch 1876 in Bayreuth statt. Irrgeher spricht von einem relevanten Erlebnis, das für Neumann „fortan lebensverändernd und –bestimmend sein würde und dessen Auswirkungen auf die Ring-Rezeption sowohl in ihrer unmittelbaren als auch mittelfristigen Wirkung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden können“. Dabei hatte er zunächst auf seinen Chef Förster gehört, der den ersten Zyklus besucht hatte und zu dem Schluss gekommen war, Neumann können sie die Reise zur zweiten Aufführungsserie sparen, weil das „Ding“ vielleicht mit Ausnahme der Walküre unaufführbar sei. Neumann machte sich dann doch auf den Weg, weil ihn ein Wiener Freund begreiflich machte, „dass er als Operndirektor von Leipzig eigentlich verpflichtet sei, sich mit dem Werk vertraut zu machen“. Recht hatte der Mann. Neumann wurde auch bei Wagner selbst vorgelassen. Die Idee vom Ring in Leipzig, gegen die sich viel Widerstand auftuen würde, war geboren.

Bis dahin sind es viele Buchseiten, auf denen die Geschichte des Opern- und Theaterlebens in der Messestadt akribisch ausgebreitet wird. Spannend ist, wie Irrgeher, seine beruflichen Erfahrungen als Wirtschafts- und Bankenfachmann in das Buch einbringt indem er bei vielen sich bietenden Gelegenheiten konkrete Rechnungen aufmacht und Beträge für Bauten, Tantiemen oder Gagen von einst in die Gegenwart umrechnet. Es wird deutlich, dass der Theaterbetrieb auch seinerzeit nicht für null zu haben war. Diese oft ins Detail gehenden finanziellen Erhebungen sind eine Stärken dieser Neuerscheinung. Ende April 1878 gingen in Leipzig Rheingold, das zweitgeteilt mit Pause gegeben wurde und Walküre über die Bühne. Zitiert wird Wagners Telegramm: „Heil Leipzig, meiner Vaterstadt, die eine so kühne Theaterdirektion hat.“ Im September folgten Siegfried und Götterdämmerung. „Leipzig ist die erste Ring-Bühne nach Bayreuth“, heißt denn auch eine Zwischenüberschrift im Buch. Der Autor schildert minuziös die schwierigen Umstände der Produktionen, geht auf Sänger ein und reflektiert auch die zeitgenössische Kritik. Anhand vieler Beispiele wird aber auch deutlich, dass sich Neumanns segenreiches Wirken in Leipzig nicht auf Wagner beschränkt blieb. Letztlich war Wagner stets Teil eines Großen und Ganzen, zu dem auch Beethoven, Mozart, Verdi, Flotow, Bizet, Goetz oder Gluck, dem ein ganzer Zyklus gewidmet war, gehörten. Wagner bildete aber stet den Kern des Sendungsbewusstseins von Neumann.

Er brachte den Ring des Nibelungen nach London und nach Berlin, der nächsten Station seiner Theaterlaufbahn. In der Hauptstadt des deutschen Kaiserreiches fand sich im Victoria-Theater nicht weit entfernt vom Alexanderplatz, eine geeignete Spielstätte. Dieser 1859 eröffnete und bereits 1891 wieder abgerissene Bau bezog seine Einzigartigkeit daraus, dass er über einen geschlossenen und zugleich einen offenen Zuschauerraum verfügte, die sich die Bühne in der Mitte teilten. Der abgeschirmte Saal, verfügte neben dem Parkett über drei Ränge mit insgesamt 1400 Plätzen. Am 5. Mai 1881 hatte Rheingold Premiere. Der Auflauf war enorm: „Für die Auffahrt standen die Berliner Spalier. Selbst in den Bäumen fanden sich Adabeis“, wie es der aus Österreich stammende Autor unter Zuhilfenahme eines vornehmlich in seiner Heimat gebräuchlichen Ausdrucks für Leute, die wichtig tun und überall dabei sein wollen, ausdrückt. Der Polizeipräsident hatte das Geschehen mit seiner berittenen Truppe persönlich überwacht. Unter den Besuchern war Kronprinz Friedrich Wilhelm, der spätere 90-Tage Kaiser Friedrich III. mit seiner Frau, der Tochter der englischen Königin Viktoria sowie Prinz Wilhelm, der auf seinen Vater folgende spätere letzte deutsche Kaiser Wilhelm II. Mehr gesellschaftliche Prominenz ging nicht. Die Aufnahme sei „glänzend“ gewesen. „Wenn das Werk gewirkt hat, so geschah es ohne Pracht – so geschah es allein durch die Macht der Kunst“, sagte der anwesende Komponist nachdem er unter viel Beifall auf die Bühne gerufen worden war.

Nach dem Berliner Triumph schloss Neumann am 1. September 1881 einen Vertrag mit Wagner, „der ihm die ausschließlichen Aufführungsrechte für den Ring für Berlin, Leipzig (was so viel bedeutete, als dass sein Nachfolger den Ring nicht aufführen durfte), Dresden, Breslau, Prag, Belgien, Holland, Schweden, Norwegen und Dänemark einräumte“. Zuvor hatte sich Neumann bereits die alleinigen Aufführungsrechte für London, Paris, Petersburg und sämtliche amerikanische Staaten bis zum 31. Dezember 1883 gesichert. Daraus folgte schließlich die Umsetzung der Idee vom legendären Wagner-Wandertheater. Es wurde ein Sonderzug zusammengestellt, der mit zwölf Wagen doppelt so lang war wie ein üblicher Reisezug. Transportiert werden mussten weit mehr als hundert Personen, Dekorationen, Requisiten, Kostüme, Instrumente und Bühnentechnik. Allein die Rüstungen nahmen vierzig Kisten in Anspruch. Beispielsweise hatte eine Walküre zwanzig Kilogramm Waffen am Körper. Irrgeher listet sämtliche Spielstätten in Deutschland und in Europa auf. Er vermerkt auch, wo es den kompletten Ring gab, wo zusätzlich die Walküre und in welcher Stadt es ergänzend oder einzig Wagnerkonzerte gegeben hat. Wieder erweist sich dabei das Buch als ein für Wagnerfreunde als unverzichtbares Nachschlagewerk, das leider über kein Personenverzeichnis verfügt. Den Angaben zufolge wurden 350 000 Menschen durch das Wander-Theater erreicht. Anfragen aus Amerika seien zu Neumanns späterem Bedauern nicht aufgegriffen worden. Letzte Station im bewegten Leben des Angelo Neumann war Prag, wo er am 20. Dezember 1910 gestorben und auch begraben ist. Rüdiger Winter (Foto oben Wikipedia)

Don Pasquale in der Steiermark

 

Die Wiener Staatsoper ist aufs Land gegangen. Und zwar nach Mürzzuschlag im Nordosten der Steiermark. Eine idyllisch gelegene Kleinstadt mit um die achttausend Einwohnern. Die Schriftstellerin Elfriede Jelinek ist dort geboren. Am 30. März 1977 wurde im Kulturhaus Gaetano Donizettis komische Oper Don Pasquale aufgeführt – im Rahmen einer Arbeiterkammer-Tournee. Arbeiterkammer nennt sich in Österreich die gesetzliche Vertretung der Arbeitsnehmer. Historische Hintergründe sind aus dem Booklet zu erfahren. Da die Staatsoper als so genanntes Bundestheater von allen österreichischen Steuerzahlern finanziert wird, nicht alle aber Gelegenheit habe, das Haus zu besuchen, sollte auch die Opernfreunde fernab der Hauptstadt ihr Stück vom Kuchen bekommen. Eine schöne Idee, die sich im Booklet von 2020 mit den Worten von Erich Seitter so liest: „Um ein Publikum, das zum Teil noch nie eine Oper live erlebt hatte, nicht zu überfordern, wollte man eine unterhaltsame Oper mit einfacher Handlung und einer leicht ins Ohr gehenden Musik spielen. Und so einigte man sich bald auf das vorliegende Meisterwerk Donizettis – ausnahmsweise aber, zwecks besserer Verständlichkeit, in deutscher Sprache.“ Dass „immer was von Herablassung dabei sein“ muss, sagt schon der Baron Ochs auf Lerchenau zu Octavian im Rosenkavalier. Wenn sich der Autor da mal nicht täuscht. Der jetzt bei Naxos herausgekommene Mitschnitt auf DVD (2.110659) beginnt während der rasanten Ouvertüre mit einem Schwenk der Kamera ins Publikum. Da sitzen Damen und Herren in eleganten Abendkleidern und feinem Zwirn im Stil der Zeit, denen man durchaus zutraut, Wagner von Mozart unterscheiden zu können.

Schnitt. Das Vorspiel ist noch nicht zu Ende, als der Bus mit den Künstlern angefahren kommt. Ein bisschen wie in Leoncavallos Pagliacci. Nur, dass die Geschichte diesmal gut ausgeht. Alle sind bestens gelaunt als befinde man sich auf einem Betriebsausflug in die Berge. Die Ouvertüre ist lang genug, um auch noch Ankunft zu filmen. Requisiteure stellen die kleine Bühne voll. In der Garderobe machen sich die Sänger für ihren Auftritt zurecht. Noch ein letzter Blick in die Noten. Es wurde eine Wanderdekoration mitgebracht, die sich den räumlich beschränkten Ausmaßen der Kulturhausbühne, auf der unter gewöhnlichen Umständen vielleicht die Tanzkapelle Platz nimmt, anpasst. Los geht’s. Die Inszenierung von Helge Thoma in gründerzeitlicher Optik, in die sich auch modernere Elemente mischen, ist gut und genau gearbeitet, voller Witz und unterhaltsamer Delikatesse. So eine Darbietung würde mancher Opernbesucher wohl auch heute noch gern sehen. Für ihre Zeit ist die Bildqualität in ausgewogener Farbe exzellent.

Für das ambitionierte Unternehmen spricht, dass die Provinz nicht mit einer B-Besetzung abgespeist wurde. Es kamen die Stars. Edita Gruberova war als Norina besetzt. Sie hatte 1970 als Königin der Nacht an der Wiener Staatsoper debütiert und war zu einer Berühmtheit auch auf Bühnen außerhalb Österreichs aufgestiegen. Die freche Rolle ist ihr wie auf den Leib geschrieben. Den Ernesto hatte Luigi Alva übernommen, dessen beste Tenorjahre hinter ihm lagen, der mit seiner Erfahrung die Figur des schwärmerischen jungen Mannes noch immer glaubhaft machen kann. Oskar Czerwenka singt die Titelrolle, Hans Helm den umtriebigen Doktor Malatesta und Alois Pernerstorfer den Notar. Am Pult des Orchesters der Wiener Staatsoper, das in kleiner Besetzung spielt, steht Héctor Urbón. Was ist aus ihm geworden? Der aus Buenos Aires stammende Dirigent war in den siebziger Jahren an vielen Opernhäusern aktiv. „Nach einer schweren Krankheit widmete er sich mehr und mehr dem Tango – und damit der Musik seiner Kindheit“, ist auf der Seite des in Freiburg ansässigen Janus-Ensembles zu lesen. „Er entdeckte das Lied seiner Stadt und deren Stimme: das Bandoneón. Mittlerweile hat sich der in Kirchzarten lebende Künstler durch seine tiefschürfenden, hochemotionalen Interpretationen von Werken Astor Piazzollas auch in der Tangoszene einen Namen gemacht. Seine Arrangements sind gekennzeichnet von großer Farbigkeit, Transparenz und hohem musikalischen Anspruch.“ Urbón sei als Bandoneónist Leiter des Freiburger Quartetts Cuarteto Buenos Aires. Die DVD ist also auch eine schöne Erinnerung sein erstes musikalisches Leben. Rüdiger Winter

Mit dem Auge auf der Gegenwart ….

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Auf dem Musikmarkt geht es zu wie im persönlichen Leben. Von Zeit zu Zeit trifft man gute alte Bekannte gern. Wiederbegegnung in großer Zahl beschert eine neue Edition der Deutschen Grammophon zu 100 Jahren Salzburger Festspiele (00289 483 8722 GM 58, 58 CDs mit dickem Booklet). Sie haben vornehmlich durch die Pflege klassischer Musik und darstellender Kunst ihren international unangefochtenen Ruf bewahrt. Im Mittelpunkt steht seit jeher der berühmteste Sohn der Stadt, Wolfgang Amadeus Mozart, dessen Geburtshaus in der Getreidegasse ein Wallfahrtsort für Besucher aus aller Welt ist. Am Beginn aber stand nicht Mozart sondern Jedermann, das Spiel vom Sterben des reichen Mannes. Geschrieben hatte es nach dem Vorbild spätmittelalterlicher Mysterienspiele Hugo von Hofmannstahl. Die Uraufführung fand bereits 1911 in Berlin unter der Leitung von Max Reinhardt statt. Der führte auch bei der ersten Aufführung am 28. August 1920 in Salzburg Regie. Genau genommen hätte Jedermann an den Beginn der Edition platziert gehört – als programmatisches Entre und nicht an den Schluss. Sei‘s drum. Schließlich stellt die Verlagerung in die Bonusabteilung auch eine Heraushebung dar. Geboten wird die Studioproduktion, die 1958 nach einer Salzburger Inszenierung entstand. Sie gilt zu Recht als legendär. Mit Will Quadflieg in der Titelrolle, Ernst Deutsch als Tod und Martha Wallner als Buhlschaft wird ein derart üppiges dramatisches Ereignis geboten, das auch dem Letzten klar werden lässt, warum dieses sonderbare Werk unter den gegebenen Umständen dauerhaft so wirkungsmächtig ist. Die Aufnahme erschien zunächst als Schallplatte, später als CD und war inzwischen nur noch antiquarisch zu haben. Eine neue Auflage tat not.

 

Die für Dramaturgie und Publikationen des Festivals zuständige Margarethe Lasinger und der Musikkritiker Richard Osborne lassen im umfänglichen Booklet die Geschichte der Festspiele von den Anfängen, die weit vor dem Gründungsjahr liegen bis in die Gegenwart kurz und knapp aufleben. Eine zutiefst bewegende Zutat gibt es auf einer weiteren Bonus-CD mit eigenen Erinnerungen des einstige Festspielpräsidenten Bernhard Paumgartner (1887-1971). Als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt, berichtet er still und ergreifend, wie er als Kind noch Brahms und Bruckner begegnete. Paumgartner war Dirigent, Komponist und Schriftsteller. Als begnadeter Mozartinterpret kommt er mit dem 1952 von ihm gegründeten Kammerorchester Camerata Academia zum Zuge. Als Übernahme von zwei Schallplatten, die 1961 im Großen Festspielhaus in Stereo produziert wurden, erklingen unter anderen die Sinfonien Nr. 26 und 30, zwei Arien mit Rita Streich und gesondert neun innig vorgetragene Arien mit Maria Stader.

Es liegt in der Natur der Sache, dass die Edition nicht alle großen Namen, die sich mit ihren Leistungen in die Annalen des Festival eingetragen haben, berücksichtigen kann. Obwohl Wilhelm Furtwängler, Elisabeth Schwarzkopf oder Dietrich Fischer-Dieskau – um nur diese drei zu nennen – über Jahre zu den gefeierten Stars gehörten, sind sie nur deshalb nicht dokumentiert, weil sie vertraglich an andere Firmen gebunden waren. Die Deutsche Grammophon kann sich nur aus ihrem eigenen Katalog bedienen. Und der ist bekanntlich üppig genug. Achtundfünfzig CDs sind in null Komma nichts gefüllt. Vierzehn Opern beanspruchen den meisten Platz. Mozart ist nur dreimal vertreten, was bei seiner Bedeutung für die Festspiele nicht viel ist. Bis auf wenige Ausnahmen spielen immer die Wiener Philharmoniker, und es singt der gelegentlich verstärkte Chor der Wiener StaatsoperIdomeneo war 1961 die zweite Inszenierung. Sie wurde musikalisch von Ferenc Fricsay betreut, während sein ungarischer Landsmann Georg Solti zehn Jahre zuvor bei der ersten szenischen Aufführung am Pult stand. Gespielt wurde jeweils die von Paumgartner erarbeitete Fassung. Fricsay beginnt wuchtig und hält diesen erhabenen Stil bis zum Schluss durch. Dieser Idomeneo steht exemplarisch für den Mozart-Stil der Zeit. Ihren geglückten Einstand gibt Pilar Lorengar als Illia, der noch Pamina und Ismene in Mitridate folgen sollten. Elisabeth Grümmer lässt als wild auffahrende Elettra vergessen, dass sie die Fünfzig erreicht hatte. Sie absolvierte ihre vorletzte Saison in Salzburg. Waldemar Kmentt, der 1955 klein angefangen hatte, sang nach dem Ferrando mit dem Idomeneo seine zweite Hauptrolle. Ernst Haefliger, in der Oper sein Sohn Idamante, klingt wenigstens genauso alt wie der Vater, wenn nicht älter. Er blieb nur für zwei Spielzeiten.

Mit dem Rosenkavalier von Richard Strauss wurde 1960 das Große Festspielhaus eröffnen. Unter der Leistung von Herbert von Karajan sangen Lisa Della Casa die Marschallin und Sena Jurinac den Octavian.

Einzug in die Edition hielten auch die sattsam bekannten und wiederholt aufgelegten Mitschnitte von Cosi fan tutte (1974) und Don Giovanni (1977), dirigiert von Karl Böhm. Im Gegensatz zu Idomeneo, der eine Aufführung vom 26. Juli 1961 abbildet, sind diese Gesamtaufnahmen in lupenreinem Stereo aus mehreren Vorstellungen zusammengeschnitten und klingen wie Studio. Und auch wieder nicht. Mein stärkster Einwand gegen dieses Verfahren besteht darin, dass die Atmosphäre gleich mit herausgefiltert wird. Wenn Solisten unter größter Anspannung fast schon Wunder vollbringen, Gundula Janowitz als Fiordiligi die so genannte Felsenarie zu einem fulminanten Höhepunkt geführt oder Peter Schreier Ferrandos Arie „Un‘aura amorosa“ stilistisch einzigartig mit Triller zu Ende gebracht hat, kann es nur eines folgen – tobender Applaus. Ist der getilgt, findet die unter diesen Umständen einzig mögliche Auflösung nicht statt. Das ist unbefriedigend. Nicht zuletzt ihr frischer Sound hat die Aufnahme gut durch die Jahrzehnte gebracht. Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass die Janowitz und Brigitte Fassbaender (Dorabella) ihre achtzigsten Geburtstage längst hinter sich haben. Reri Grist, die Despina, steht gar im achtundachtzigsten Jahr. Nicht mehr unter den Lebenden sind Schreier, Hermann Prey (Guglielmo) und Rolando Panerei (Alfonso). Böhm liebte seinen Mozart dramatisch. 1977 lässt er den Don Giovanni gleich mit den ersten Takten der Ouvertüre in die Hölle fahren. Der Mitschnitt mit dem rasanten Sherrill Milnes in der Titelrolle kam sogar in der DDR heraus, weil mit Anna Tomowa-Sintow (Donna Anna) und Schreier, diesmal als Ottavio, zwei Sänger mitwirkten, die an der Ostberliner Staatsoper unter Vertrag standen und dort außerordentlich beliebt waren.

Cosi fan tutte war eine der liebsten Mozart-Opern des Dirigenten Karl Böhm. Zunächst war der Mitschnitt aus Salzburg bei der Grammophon noch auf Platten erschienen.

Böhm, der bereits nach dem so genannten Anschluss Österreichs an Hitlerdeutschland 1938 in Salzburg den Giovanni dirigierte, hatte seine Karriere nach dem Ende des Dritten Reiches, in das er – obwohl kein NSDAP-Mitglied – verstrickt war, unbeschadet fortsetzen können. Er gehörte zum unverzichtbaren Inventar. Kein Wunder also, dass die meisten Aufnahmen der Edition mit seinen Namen verbunden sind. 1947, als das Festival nach zögerlichem Neuanfang zu altem Glanz zurückfand, erschien Böhm wieder am Pult, um Arabella von Richard Strauss in neuer Inszenierung von Günther Rennert zu dirigieren. „Wir sind nicht grad‘ sehr viel, nach dem Maß dieser Welt – wir laufen halt so mit als etwas zweifelhafte Existenzen.“ Was Arabella sehr freimütig bei der ersten Begegnung mit Mandryka von sich gibt, will plötzlich in die Zeit passen wie niemals zuvor und niemals danach. Der bekannte Premierenmitschnitt vom 12. August ist als älteste Opernproduktion in die Edition eingegangen. Lisa Della Casa, später die wohl berühmteste und perfekteste Arabella, singt hier noch die Zdenka. In der Titelrolle ist die reife Maria Reining zu hören, die Strauss innig wie Mozart singt, was so falsch nicht ist. Etwas kurzatmig tastet sich Hans Hotter durch den Mandryka. Besser liegt ihm der Sir Morosus in Die schweigsame Frau von Strauss, die 1959 auf den Spielplan gesetzt wurde. Einen fulminanten Einstieg in Salzburg legten dabei Fritz Wunderlich als Henry und Hermann Prey als Barbier hin. Auch Hilde Güden, die ihre besten Salzburger Jahren hinter sich hatte, muss genannt werden. Dank dieser Sänger konnte es keine spätere Aufnahme mit diesem Mitschnitt vom 8. August aufnehmen. Sein Platz in der Edition ist verdient. Als Dirigent hatte Karl Böhm bereits 1935 die Dresdener Uraufführung betreut, die mit einem politischen Eklat endete. Strauss hatte durchsetzte, dass sein jüdischer Librettist Stefan Zweig, der bis zu seiner Flucht ins Exil 1934 selbst viele Jahre in Salzburg lebte, auf dem Programmzettel genannt wurde. Naziprominenz blieb dem Opernhaus fern. Nach nur drei Wiederholungen wurde das Werk abgesetzt und nirgends sonst in Deutschland aufgeführt. Strauss trat „aus gesundheitlichen Gründen“ als Präsident der Reichsmusikkammer zurück.

Nur einen Sommer verbrachte der Tenor Franco Corelli 1962 in Salzburg und schrieb gemeinsam mit Leontyne Price in Verdis Trovatore Musikgeschichte.

Den außerordentlich hohen musikalischen Standard der fünfziger Jahre bezeugt die ebenfalls von Böhm geleitete Ariadne auf Naxos mit Lisa Della Casa in der Titelrolle, Hilde Güden (Zerbinetta), Irmgard Seefried (Komponist), Paul Schöffler (Musiklehrer ) und dem noch nicht vierzigjährigen Rudolf Schock, der den Bacchus mit einer überbordenden Trunkenheit versieht, wie sie selten wieder zu hören war. Böhm, der mit Richard Strauss befreundet gewesen ist, übernahm 1969 auch die Wiederaufnahme des Rosenkavalier, der sich seit 1929 neben Mozart als eines der Markenzeichen des Festivals herausstellt hatte. In der ersten Aufführung sang noch Lotte Lehmann. Diesmal waren Christa Ludwig die Marschallin, Theo Adam der Ochs, Tatiana Troyanos der Octavian und Edith Mathias die Sophie. Der Mitschnitt lässt die gewohnte Delikatesse vermissen. Die Ludwig klingt zu schwer. Adam, der erstmals für Salzburg verpflichtet worden war, flüchtet sich zu oft in Sprechgesang, wenn ihm die Noten auszugehen scheinen. Den für die Partie unerlässlichen wienerischen Dialekt bleibt der Sachse Adam schuldig. Was er diesbezüglich von sich gibt, wirkt allzu sehr eingeübt. Als einziges Werk ist der Rosenkavalier zweifach vertreten in der Edition, was angesichts seiner engen Bindung an die Festspielgeschichte angemessen ist. Böhms Version hält für mich den Vergleich mit Herbert von Karajan nicht stand. Der gebürtige Salzburger hatte am 26. Juli 1960 mit einer neuen Produktion dieser Komödie für Musik das Große Festspielhaus eröffnet. Lisa Della Casa war die Marschallin. Elisabeth Schwarzkopf, die zunächst nur eine Vorstellung sang, übernahm in den folgenden Jahren und bekam die Rolle auch in der berühmten Verfilmung, was ihre Kollegin nicht gefreut haben dürfte. Auf der Besetzungsliste stehen zudem Sena Jurinac (Octavian), Hilde Güden (Sophie) und Otto Edelmann (Ochs). Karajan war von 1956 bis 1960 künstlerische Leiter der Festspiele und blieb ihnen auch danach eng verbunden. 1948 hatte er mit Glucks Orfeo ed Euridice die erste Opernaufführung in der Felsenreitschule geleitet. Mitgeschnitten wurde die Wiederaufnahme am 5. August 1959 am selben Ort, die – wie sich das gehört für einen richtigen Mitschnitt – schon mit Beifall zur Begrüßung des Maestro beginnt. Für sein Alter ist der Sound optimal. Und doch klingt kein Dokument der gesamten Edition in meinen Ohren historischer als dieses. Gleich mehrere Gründe lassen sich ausmachen. Erst Mitte der fünfziger Jahre war die historische Aufführungspraxis mit Gründung der Cappella Coloniensis sehr zaghaft belebt worden. Karajan blieb davon unerreicht. Er lässt Gluck durch und durch romantisch spielen, groß besetzt, breit und mächtig. Giulietta Simionato ist für die Vorklassik nicht geboren und dürfte mit der Eboli, die sie im Jahr zuvor ebenfalls unter Karajan gesungen hatte, ganz offensichtlich besser bedient gewesen sein als mit dem Orfeo. Dieser italienische Don Carlo – nach Falstaff und Otello – erst die dritte Verdi-Oper auf dem Festspielplan – darf natürlich auch nicht fehlen, schon wegen der anrührenden Sena Jurinac als Elisabetta und der idiomatisch auf den Punkt agierenden Herren Cesare Siepi (Filippo), Ettore Bastianini (Rodrigo), Eugenio Fernandi (Carlo), Marco Stefanoni (Inquisitore) und Nicola Zaccaria (Un Frate). Nicht unerwähnt soll Anneliese Rothenberger bleiben, die als Stimme von oben puren Luxus verbreitet, wie er in Salzburg zu Karajans Zeiten ganz selbstverständlich war. Die Inszenierung lag übrigens in den Händen von Gustaf Gründgens, der zuvor bei Shakespeares Wie es euch gefällt in Erscheinung getreten war. 1962 legt Karajan mit Verdi nach und brachte Il Trovatore in eigener Regie auf die Breitwandbühne des Festspielhauses. Bis auf kleine Rollen war das Ensemble international und wäre so auch an der Scala oder der Met denkbar gewesen. Nach der Donna Anna in den Jahren zuvor kam Leontyne Price nun als Leonora wieder, die Simionato als Azucena, Bastianini als Luna und Zaccaria als Ferrando. Seinen einzigen Salzburger Sommer badete Franco Corelli in Wogen des Beifalls, die dem Mitschnitt vom 31. Juli erhalten blieben. Dieser Trovatore – darin besteht für mich nicht der geringste Zweifel – ist als eines der aufregendsten Verdi-Dokumente in die Geschichte eingegangen. Das von Traditionen geprägte und inspiriere Festspielgeschehen in der beschaulichen Stadt am Fuße der Ostalpen war eins geworden mit dem hektischen internationalen Opernbetrieb.

Die Traviata mit Anna Netrebko und Rolando Villazon kam auch ins Fernsehen.

Aus einem Totenhaus von Leos Janacek büßt viel von seiner Wirkung ein, wenn das Werk nur in der tschechischen Originalsprache zu hören und nicht auch zu sehen ist. Claudio Abbado betreute es 1992 in nur einer einzigen Saison. Ein seltsam exklusives Dasein führte auch Verdis La Traviata in Salzburg. Wie am laufenden Band gab es 1995 gleich neun Vorstellungen mit wechselnden Besetzungen der Titelrolle, die von Riccardo Muti geleitet wurden. Für die nächste Neuinszenierung – diesmal von Willy Decker – reiste für sieben Abende Anna Netrebko als Violetta an. Die Premiere mit Rolando Villazon (Alfred) und Thomas Hampson (Giorgio Germont) kam auch ins Fernsehen und findet sich als Audiospur in der Edition. Dirigiert hat Carlo Rizzi. Übrigens verlief der erste Auftritt der Netrebko bei den Salzburger Festspielen ehr unauffällig. Bei konzertanten Aufführungen des Parsifal 1998 – die erste war dem Andenken des Dirigenten Georg Solti gewidmet – war sie ein Blumenmädchen. Beschlossen wird die Opernabteilung mit Peter Tschaikowskis Eugen Onegin von 2017. Sie wurde musikalisch von Daniel Barenboim gleitet, der in Salzburg meistens als Orchesterdirigent auftritt. Es war seit jeher Brauch bei den Festspielen, dass sich Opernaufführungen mit diversen Konzerten abwechseln. In der Edition finden sich neben den schon bei Opernproduktionen genannten Dirigenten Zubin Mehta, Leonard Bernstein, James Levine, Pierre Boulez. Liederabende sind für die Deutsche Grammophon offensichtlich nicht mitgeschnitten worden. Damit konnte ein ganz wichtiges Kapitel der Festivalgeschichte in diese Sammlung nicht einbezogen werden, was mehr als bedauerlich ist. Rüdiger Winter

Das große Foto oben eröffnet den Blick auf die berühmte Skyline der Festspielstadt. Im Vordergrund die große Brücke über die Salzach. Foto: Winter

Rudolf Kempe in Bayreuth

 

Wer sich als Ersatz für die coronabedingte Absage der Bayreuther Festspiele 2020 sein ganz persönliches Festival in den eigenen vier Wänden veranstalten will, hat die Qual der Wahl. Was auflegen oder in den DVD-Player schieben? Ein Ring sollte es schon sein. Schließlich wäre die Tetralogie, mit der 1876 das Festspielhaus eröffnet wurde, in neuer Inszenierung durch den jungen Österreicher Valentin Schwarz über die Bühne gegangen. Ebenfalls als Premiere stand Der Ring des Nibelungen von Richard Wagner 1960 auf dem Spielplan. Erstmals lag die Regie in den Händen von Enkel Wolfgang. Er löste die erste Nachkriegsdeutung seines Bruders Wieland ab und wurde anfangs kritisch beäugt. Doch schon im zweiten Jahr legte sich die Skepsis. Zustimmung überwog. Mit dieser Arbeit etablierte sich Wolfgang Wagner endgültig auch als Regisseur.

Die musikalische Leitung lag in den Händen des Bayreuth-Neulings Rudolf Kempe. Während Orfeo (C 928 613Y) die Reprise von 1961 in seiner Festspielserie mit dem ausdrücklichen Segen der Festspielleitung herausgeben hatte, erinnert sich PanClassics (Note 1) jetzt des Premieren-Mitschnitts, der allerdings längst in gut sortierten Sammlungen zu finden sein dürfte (PC 10418). Golden Melodram brachte ihn in den Achtzigern in einer schwarzen Sammelbox auf den Markt. Eine emsige Plattform in Übersee verschickt ihn wahlweise auf CD oder als Link über das Internet. Für die Angabe im Booklet, wonach dieser Ring 2011 auch bei Myto erschienen sein soll, habe ich keinen Beleg gefunden. Vielmehr sind von diesem Label alle vier Teile aus dem Jahr 1962 u. a. bei Melodram überliefert (immer noch die beste Technik, dank des Tonmeisters Stefan Felderer). Es empfehlt sich, beide Mitschnitte vergleichend auf sich wirken zu lassen.

 

Für die neue Ausgabe spricht zunächst einmal die Versammlung der zwölf CDs in einer gefälligen platzsparenden Box. Gestandene Wagnerianer lieben es haptisch, wollen etwas in der Hand haben. Ein solides Booklet enthält alle wesentlichen Informationen wie Besetzungen, Aufnahmedaten und Tracklisten. Michael Tanner steuert einen lesenswerten Text über die Inszenierung von Wolfgang Wagner und seine Sänger bei und lässt Probleme, die sich „aus dem Mangel an Vorbereitungszeit erklären“, nicht unerwähnt. Mich stören Patzer und Ungenauigkeiten nicht. Sie sind ein zutiefst menschlicher Faktor. Wer Übertragungen aus Bayreuth hört, wird Ohrenzeuge des Entstehens und Werdens und nicht der Vollendung im Sinne musikalischer Exaktheit, wie sie allenfalls unter Studiobedingungen zu erzielen ist. Bayreuth ist Werkstatt, wo unter schwierigen Bedingungen und in relativ kurzer Zeit komplexe Musikdramen erarbeitet werden. Und das nicht nur hinter verschlossenen Türen sondern auch in aller Öffentlichkeit. Das Publikum im Saal und an den Radioapparaten rund um den Erdball ist Zeuge dieses Ringens um Annäherung. Die Mitschnitte sind auch deshalb so interessant, weil sie – wie beim Kempe-Ring – künstlerische Prozesse über mehrere Jahre hintereinander dokumentieren.

Doch nun zurück ins Jahr 1960. Kempe, so Tanner, habe – wie die meisten Dirigenten vor ihm – feststellen müssen, „dass die Koordination der Bühne und des Orchesters von einer Position aus, wo keiner den anderen hören konnte, eine große Herausforderung war“. Die Eröffnungspremieren bilden das in sehr gutem Mono ab. So steht das Klangbild als entscheidender Vorzug auf der Habenseite der Neuerscheinung. Exemplarisch ist die erste Rheingold-Szene. Kempe findet tastend hinein, lässt es fließen. Mal etwas behäbig, gar stockend, dann breitet und üppig. Der Dirigent gibt den Solisten Zeit, sehr viel Zeit. Er hetzt sie nicht. Dorothea Siebert (Woglinde) und Claudia Hellmann (Wellgunde) bringen hörbar Bayreuth-Erfahrung mit und greifen der Debütantin Sona Cervená als Floßhilde schwesterlich unter die Arme. Erstmals singt der 1909 in Prag geborene Otakar Kraus den Alberich in Bayreuth. Offenbar hat ihn Kempe aus London mitgebracht, wo er 1957 in der Produktion in Covent Garden sein Alberich gewesen ist. Davon gibt es bei Testament einen Mitschnitt. Internationale Berühmtheit erlangte Kraus durch Nick Shadow in der Uraufführung von Stravinskys The Rake’s Progress 1951 in Venedig. Mit Robert Lloyd, Willard White, John Tomlinson und Gwynne Howell hatte er gleich vier Schüler, die später berühmt wurden. Ein Schönsänger war Kraus nicht. Bei ihm überwiegt das gestalterische Element. Mich stört, dass die Stimme gelegentlich zu sehr schwingt. Sein Fluch im Rheingold verflüchtigt sich rasch in Sprechgesang. Mit der Rolle, die er auch im Siegfried und in der Götterdämmerung verkörpert, ist er weit gereist. Nun gehörte er zu den Stützten dieses Zyklus, in dem er bis 1963 auftrat. Er singt deutlich und versiert, im Vergleich mit seinem Kollegen Gustav Neidlinger, der mit dem Alberich Musikgeschichte schrieb, etwas harmloser. Sein Markenzeichen ist die Genauigkeit, die fast an Wortklauberei grenzt. Es lässt nicht vergessen, dass Wagner seinen Sängern vor allem Deutlichkeit ins Stammbuch schrieb. Kraus zelebriert den oft belächelten Stabreim, der im Rheingold auf die Spitze getrieben scheint. Plötzlich wird deutlich, dass Wagner mit seinen Alliterationen die Sänger auch stilistisch an die Kandare nahm.

 

Hermann Uhde, der seit 1951, dem Jahr des Neubeginns, dabei war, singt den Wotan im Rheingold, den er schon einmal 1952 gegeben hatte, und den Wanderer. Es war seine letzte Saison. Stimmliche Abnutzungserscheinungen, die er durch Gestaltungswillen zu relativieren versteht, sind nicht zu überhören. Majestätisch klingt er nicht, ehr kernig und resigniert, womit er der Rolle seinen ganz eigenen Stempel aufdrückt. In der Walküre probiert sich der Amerikaner Jerome Hines als Wotan aus. 1961 übernahm er dann auch im Rheingold. Den Wanderer aber blieb er Bayreuth schuldig. Nach dem etwas glücklosen Uhde war es im Jahr drauf James Milligan. Mit Ausnahme des Holländers Anton van Rooy, der den Wotan von 1897 an sang, dürfte bis in die 1960er Jahre kein anderer Ausländer besetzt gewesen sein. Nach dem ewigen Hans Hotter, der in mindestens sechs Spielzeiten hintereinander als Wotan in Bayreuth Wurzeln geschlagen hatte und auch unter Kempe gelegentlich einsprang, waren plötzlich neue Töne zu vernehmen. Der vierzigjährige Hines verbreitet Frische in Stimme und Erscheinung, versehen mit einem Schuss Beliebigkeit. Ohne Schaden zu nehmen, kommt er über die nicht enden wollenden Erzählungen im zweiten Aufzug der Walküre. Da hatte ihm Hotter, der mehr Geheimnis und Spannung hineinlegte, einiges voraus. Bei Hines dauern sie gefühlt noch etwas länger. Dennoch hört er sich sehr gut an. Milligan war gerade mal dreiunddreißig. Ihm sollten nur noch wenige Monate bleiben. Er starb im November desselben Jahres bei einer Probe in Basel an den Folgen einer Herzkrankheit. Auf der Schwelle zur Weltkarriere. Um so einen ist es wirklich schade. Er hatte das Zeug für einen Heldenbariton mit einer tragfähigen und stabilen Mittellage, aus der er sich gewaltig steigern konnte. Davon weiß er 1961 vor allem in der Rätselszene im ersten Siegfried-Aufzug Gebrauch zu machen. Sein Deutsch ist nahezu perfekt. So auf den Punkt wie er singt heute kaum jemand mehr. Dem ersten Eindruck nach lässt die Stimme auf einen reiferen Sänger schließen. Ein derartiges Volumen und diese Kraft sind für sein Alter ungewöhnlich. Noch sind nicht alle Kanten und Ecken dieser Naturstimme abgeschliffen. Das wirkt zusätzlich reizvoll. Für mich ist James Milligan die eindrucksvollste Gestalt des Mitschnittes von 1961, mit dem ihm nun ein klingendes Denkmal gesetzt wurde. Nur in wenigen anderen Aufnahmen hat er mitgewirkt. Einiges gibt es von Arthur Sullivan, aus Kanada hat sich ein Messiah erhalten und bei der EMI ein Glyndebourne-Idomeneo, in dem er den Arbace singt.

In den drei Sommern, die Rudolf Kempe als Ring-Dirigent in Bayreuth verbrachte, stand ihm Gottlob Frick mit seinem ehernen Bass als unerschütterlicher Hunding und Hagen zur Verfügung. Auch er eine sichere Bank für gutes Gelingen. Mit einem kernigen Donner, der in der Gewitterszene mächtig auftrumpft, gab Thomas Stewart 1960 seinen Einstand in Bayreuth. Bis 1972 war er ständiger Gast und hinterließ als Amfortas, Holländer und Wotan bleibende Spuren. Der Zufall wolle es, dass er zum Abschied für Franz Mazura nochmals als Gunther einsprang. Ein Kreis hatte sich geschlossen. Im eigenwilligen Tenor von Gerhard Stolze erkennen dessen Bewunderer, zu denen ich mich auch zähle, einen der besten Loge. Immer herauszuhören, agiert er verschlagen und empathisch zugleich. Stolze, dem eine besondere schauspielerische Begabung zu Gebote stand, konnte sich – dem Halbgott gleich – in die unterschiedlichsten Figuren verwandeln. Selbst für die kleinsten Rollen war er sich nicht zu schade, was in Bayreuth zu seiner Zeit besonders geschätzt wurde. Schon 1951 ist er als ein Knappe im Parsifal und als Augustin Moser in den Meistersingern dabei gewesen. Bis 1969 gehörte er zum solistischen Inventar.

Und Siegfried? „Der bläst so munter das Horn.“ Was Hagen im ersten Aufzug der Götterdämmerung so treffend über den Helden bemerkt, liest sich wie eine Beschreibung der Leistungen von Hans Hopf. Obwohl schon 1951 als Walther von Stolzing in den Eröffnungs-Meistersingern unter Herbert von Karajan und als Solist bei der von Wilhelm Furtwängler geleiteten 9. Sinfonie von Beethoven mit dabei – Mitschnitte sind offiziell bei der EMI erschienen – sollten acht Jahre bis zu seiner Rückkehr auf den Hügel im Jahr 1960 verstreichen. Bis 1964 sang er durchgehend den Siegfried – mit unvergleichlichem Timbre – versiert, zuverlässig, robust. An die Stelle von Jugendlichkeit setzt er Erfahrung. Etwas knapp fällt hin und wieder die Höhe aus. Es gab in seiner Anwesenheit nie eine doppelte oder gar alternative Besetzung, geht aus den Annalen der Festspiele hervor. Hopf sagte auch nie ab. An seiner Unersetzbarkeit ließ er nicht den geringsten Zweifel. Dadurch erweist er sich als eine der Stützen dieser Produktion. Rekordverdächtige neunzehn Jahre – von 1951 bis 1970 – hielt Wolfgang Windgassen den Festspielen die Treue. Er war 1960 als betont lyrischer und in sich gekehrter Siegmund besetzt, der gegen Ende des ersten Aufzug stimmlich zu kämpfen hat. Ihm zur Seite als Sieglinde die Schwedin Aase Nordmo-Loevberg, die ein makelloses Deutsch singt, in den dramatischen Steigerungen aber an Grenzen kommt. Regine Crespin folgte ihr im Jahr darauf. Eine Muster an vorbildlicher Diktion ist Hertha Töpper, die nach etlichen kleinen Rollen 1960 zur Fricka aufgerückt war, im Folgejahr aber durch die fulminantere Regina Resnik ersetzt wurde. Erstmals trat Birgit Nilsson 1960 mit ihren Trompetenhöhen als Brünnhilde in Erscheinung, wurde aber in der Walküre durch Astrid Varnay ersetzt. Die nun ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie die erste Brünnhilde im Nachkriegs-Bayreuth gewesen ist. Rüdiger Winter

 

Foto oben: Rudolf Kempe/ findagrave/peterboroughWeitere Information zu den CDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei https://www.note1-music.com/shop/. und bei und bei www.naxosdirekt.de.

Schwan am Spiess

 

Am Ende der Einspielung seiner Carmina Burana im Oktober 1967 in Berlin bedankt sich Carl Orff in seiner unverwechselbaren Art bei den Mitwirkenden für die Zusammenarbeit. Er hatte die Aufnahme mit Chor und Orchester der Deutschen Oper sowie den Schöneberger Sängerknaben unter der Leitung von Eugen Jochum durch seine Anwesenheit und seinen Rat autorisiert. So ist es auch auf dem Cover ausdrücklich vermerkt. Diese besonderen Umstände machten es also möglich, ein Werk genau so für die Ewigkeit festzuhalten, wie es dem Komponisten vorgeschwebt hat. Orff erzählt unter viel Räuspern, wie erst das Medium Schallplatte zur Verbreitung des Stückes beitrug. 1952 sei ebenfalls gemeinsam mit Jochum die erste Aufnahme gemacht worden, die über den Rundfunk auch in die USA gelangte. Dort hätten zwar längst die Noten vorgelegen. Sie seien aber unbeachtet geblieben, Erst diese Platte habe eine Flut von Aufführungen und weiteren Einspielungen zur Folge gehabt. Die Carmina Burana, die bei der Uraufführung 1937 in Frankfurt am Main wegen ihres teils deftigen Inhalts gespaltene Aufmerksamkeit fand, entpuppte sich als eines der erfolgreichsten musikalischen Schöpfungen obwohl die Texte aus dem 11. und 12. Jahrhundert in mittellateinischer und mittelhochdeutscher Sprache überliefert sind – Sprachen, die nur Gelehrte verstehen. Orff sieht darin aber einen Vorteil. Man könne das Stück überall aufführen und brauche keine Übersetzung. Jeder und keine verstehe es. Obwohl dem Chor die größten Aufgaben zukommen, haben auch die drei Solisten gut zu tun. In gefürchtete schwindelerregende Höhen steigt Gundula Janowitz auf, wenn sie sich stimmlich dem unbekannten Süßesten ganz hingibt. Herzzerreißend brät Gerhard Stolze als Schwan am Spieß. Dietrich Fischer-Dieskau, der am häufigsten gefordert ist, agiert gespalten. Er muss in ein Wechselbad der Gefühle steigen, besingt die Liebe in höchsten Tönen, verspricht sich von einem Kuss, dass er ihn ins Leben zurück bringt und muss sich auch mit wildem Grimm und voll Bitterkeit an die Brust schlagen.

Die Produktion – einschließlich der Ansprache von Orff – eröffnet eine neue Edition der Deutschen Grammophon anlässlich der 125. Geburtstages des Komponisten, der am 10. Juli 1895 in München auf die Welt gekommen ist (00289 483 8639). Angeboten hätte sich auch die erwähnte erste Einspielung, die ebenfalls mit dem Gelblabel erschien und in der Elfride Trötschel, Hans Braun und Paul Kuen mitwirkten. Obwohl historisch bedeutsam, kann sie klanglich mit der späteren Einspielung nicht mithalten. Die Carmina schreit – wie alle Kompositionen des Visionärs Orffs – nach Stereo, damit die rasanten und kühnen Effekte wirkungsmächtig zum Klingen gebracht werden. Aber es geht auch nicht ganz ohne Mono in so einer Sammlung, mit der Rezeptionsgeschichte betrieben werden soll. Von 1949 haben sich einige Nummern aus der Carmina Burana mit Kammerchor und Symphonie-Orchester des RIAS unter der Leitung von Ferenc Fricsay erhalten. Als Solisten treten Anny Schlemm und ebenfalls Fischer-Dieskau in Erscheinung. Sie sind Teil der Bonus-CD, die auch die zwei Ohrwürmer aus der Oper Die Kluge „Ach hätt’ ich meiner Tochter nur geglaubt“ und „Als die Treue ward geboren“ – enthält, die bereits 1944 in Dresden mit Lorenz Fehenberger, Hans Löbel, Gottlob Frick und Kurt Böhme eingespielt wurden. Da die Grammophon keine eigenen Gesamteinspielung im Katalog hat, ist die populäre Oper wenigstens bruchstückhaft berücksichtigt. Das Lamento d‘Arianna nach Monteverdi und die freie Transkriptionen Entrata nach The Bells von William Byrd, der eine Zeitgenosse Shakespeares war, zeugen davon, wie stark sich der Komponist von alter Musik, mit der alles begann, inspirieren ließ. Das Lamento wird bewegend von Elisabeth Höngen vorgetragen, während für Entrata eine der seltenen Aufnahme des Stückes mit Hermann Scherchen und dem Orchester der Wiener Staatsoper gewählt wurde. Gleichfalls von Jochum betreut wurden die Kantaten Catulli Carmina und Trionfo di Afrodite, die Orff erst nachträglich mit der Carmina Burana zum Tryptichon Trionfi verband.

Wenn ich nichts übersehen habe, existierte die Szenenfolge aus Die Bernauerin mit Chor und Sinfonie-Orchester des Bayerischen Rundfunks, die von Ferdinand Leitner dirigiert werden, bislang nur als Schallplatte. Nun liegt dieser Mono-Querschnitt von 1957 auch als CD vor. Orff, der auch den Text schrieb, war direkt an der Produktion beteiligt, was ihr Authentizität verleiht. Dargestellt werden die wichtigsten Ereignisse der letzten Jahre im Leben von Agnes Bernauer (1410-1435). Sie stammte aus dem Volk und war die Geliebte und vermeintliche Ehefrau des bayerischen Herzogs Albrecht III. Dessen Vater hintertrieb die nicht standesgemäße Verbindung, indem er Agnes in der Donau ertränken ließ. Ihrem Andenken sind noch immer Festspiele im Innenhof des Straubinger Herzogschlosses gewidmet, die alle vier Jahre von Laienschauspielern veranstaltet werden. Orff betrieb für seine Version, die 1947 in Stuttgart uraufgeführt wurde, intensive Studien, um – wie es bei Wikipedia heißt – „sein Stück in einer Sprache auf die Bühne zu bringen, die seiner Meinung nach im 15. Jahrhundert in Bayern gesprochen wurde. Dieser Umstand erschwert aber auch den Zugang zu dem Werk für Menschen außerhalb des süddeutschen Sprachraums“. Das Werk steht sich quasi selbst im Wege, weil es nur in seiner originalen Form erfahrbar – und nicht zu übersetzen ist. Man muss sich tief hineinhören, um es zu verstehen. Wem das gelingt, dem ist ein packendes hochdramatisches Erlebnis sicher. Überwiegend hat die Musik jedoch nur untermalenden Charakter. Die Chöre sind Sprechgesängen, die handelnden Personen werden bis auf zwei Ausnahmen von Schauspielern dargestellt. Ihren Rang bekommt diese Produktion auch durch die Mitwirkung von Käthe Gold (Agnes) und Fred Liewehr (Albrecht).

Als großes Theater geben sich auch Antigonae und Oedipus der Tyrann. Beide Stereo-Produktionen haben legendären Status im Katalog der Deutschen Grammophon. Zuerst war Antigonae mit Inge Borkh in der Titelrolle auf CD gelangt und mehrfach neu aufgelegt worden. Außerdem mit dabei: Claudia Hellmann (Ismene), Carlos Alexander (Kreon), Gerhard Stolze (Wächter), Fritz Uhl (Hämon), Ernst Haefliger (Tiresias), Kim Borg (Bote), Hetty Plümacher (Eurydike) und Kieth Engen (Chorführer). Wieder liegt die musikalische Leitung in den Händen von Ferdinand Leitner, der viel für Orff getan hat. Hingegen fristete Oedipus für lange Zeit in einer in Leinen gebundene Schallplattenkassette ein luxuriöses Dasein. In meinem Regal sticht sie allein durch ihr eigenwilliges Orange hervor. Dort wird sie zumindest ehrenhalber bleiben, weil die Aufnahme in der neue Edition schon deshalb kein vollwertiger Ersatz ist, da es überhaupt keine Libretti gibt. Nicht alles lässt sich im Netz so einfach beschaffen. Umso mehr ist man auf sein Gehör angewiesen und muss auch auf zwei klugen Essays von Erich Emigholz und Karl Schumann sowie wunderbare Fotos der Solisten verzichten, die da wären: Gerhard Stolze (Oedipus), Astrid Varnay (Jokaste), Karl Christian Kohn (Priester), Kieth Engen (Kreon), Hans Günter Nöcker (1. Chorführer), Rolf Boysen (2. Chorführer), James Harper (Tiresias) und Hubert Buchta (Bote aus Korinth). Musikalisch betreut wurde die Aufnahme in Anwesenheit des Komponisten von Rafael Kubelik. Für beide Einspielungen gilt, dass sich durchweg namhafte Sänger leidenschaftlich und hochprofessionell zur Verfügung stellten, um den sperrigen Werken zum Durchbruch zu verhelfen. Dies trifft auch auf die jüngste Aufnahme in dieser Edition zu: De temporum fine comoedia (Das Spiel vom Ende der Zeiten). Sie entstand im Juli 1973 parallel zur Uraufführung bei den Salzburger Festspielen. Es gab drei Vorstellungen und keine Reprisen in den Folgejahren. Kein Geringerer als Herbert von Karajan hatte sich als Dirigent zur Verfügung gestellt und mit ihm Colette Lorand, Jane Marsh, Kay Griffel, Gwendolyn Killebrew, Kari Lövaas, Anna Tomowa-Sintow, Heljä Angervo, Sylvia Anderson, Glenys Loulis als Sybillen, die das Ende der Zeit verkünden. Zudem wirkten Christa Ludwig, Peter Schreier, Josef Greindl, Hans Helm, Wolfgang Anheisser und der Schauspieler Rolf Boysen als Lucifer mit. Für die Tomowa-Sintow war es der erste Auftritt bei den Salzburger Festspielen, bei denen sie über mehr als zehn Jahre in vielen großen Partien gefeiert wurde. Beim Publikum kam das letzte große Werk von Orff gut an, die Kritik gab sich zurückhaltend.  Rüdiger Winter