Archiv des Autors: Rüdiger Winter

Sanfte Töne in der alten Scheune

 

Es ist dringend geraten, erst einen tiefen Blick in das Booklet zu werfen, bevor die CD in den Player geschoben wird. Für eine Neuerscheinung hat das das englische Label Chandos nämlich etwas Besonderes ausgedacht, was sich – wie ich finde – auf Anhieb nicht von selbst erschließt, sondern der Erklärung bedarf. Ludwig van Beethovens An die ferne Geliebte und Franz Schuberts Schwanengesang wurden nämlich auf unterschiedliche Weise aufgenommen bzw. abgemischt (CHAN 20126). Wer sich also nicht vorher informiert, wird sich womöglich wundern. Es singt der Bariton Roderick Williams. Für das Booklet hat er einen bemerkenswert offenen und sehr aufschlussreichen Text beigesteuert, in dem er einräumt, dass sein Respekt vor diesen Komponisten so groß gewesen sei, dass er sich zunächst gefürchtet habe, deren Lieder zu interpretieren. Schließlich ist der Engländer Williams selbst als Komponist hervorgetreten. Er wolle gar nicht erst versuchen, den einen so wie den anderen zu singen. Beethoven sei noch der Klang der späten Klassik eigen“, während Schubert „bereits die Dunkelheit der frühen Romantik“ erkunde. „Daher entschieden wir uns, die beiden Werke in leicht unterschiedlichen Klangeigenschaften einzuspielen.“ So sei bei Beethoven – am auffälligsten bei dem den Zyklus abschließenden Lied „Nimm sie hin denn, diese Lieder“ die Stimme mitunter „etwas weiter entfernt platziert, um dem Klavier gebührende Prominenz einzuräumen“. Es klinge fast, als sänge er, Williams, über die Schulter seines Pianisten Iain Burnside, mit dem er künstlerisch hervorragend harmoniert. Wenn man es also weiß, ist die Wirkung groß und überzeugend.

Dagegen wurde Schwanengesang „auf traditionelle Art und Weise aufgenommen“. Bei diesen „höchst außergewöhnlichen und fortschrittlichen Liedern wird die Gesangslinie in gleichwertiger Partnerschaft von Klavier unterstützt“, so Williams. Er bedient sich einer transponierten Fassung. Sie wurde von der Edition Peters für tiefe Stimme herausgegeben, ist aus dem Booklet zu erfahren. Produziert wurde die mit gut fünfundsechzig Minuten nicht überstrapazierte CD im April und Mai 2019 in der Potton Hall, einer umgebauten ehemaligen alten Scheune mit Holzboden und Gewölbedecke in der stimmungsvollen Landschaft von Suffolk, von der sich der Komponist Benjamin Britten inspirieren ließ. Die für die kleine Form offenkundig ideale Akustik fließt in die Aufnahme als sehr weicher, gar milder Klang ein. Als würden die Töne schweben. Es sind keine Härten und kein Widerhall zu vernehmen. Unter solchen Bedingungen kann sich Roderick Williams mit seinem ausgesprochen lyrischen Bariton besten verwirklichen. „Der Atlas“ und „Der Doppelgänger“, hochdramatisch wie sie sind, verführen ihn nicht dazu, die Stimme unnötig zu strapazieren. Es bleibt beim Schöngesang. Obwohl Mitte fünfzig, kommt er deutlich jünger herüber. Sänger und Pianist nehmen sich viel Zeit. Sie haben überhaupt keine Eile und hetzen sich nicht gegenseitig. Die Lieder können sich also in Text und Musik so entfalten, dass alles gut zu verstehen ist. Rüdiger Winter

Das Herz verlangt nach Ruh‘

 

Eigentlich sollte der Komponist Gustav Jenner im Sommer 2020 auf der Insel Sylt mit einem Festival geehrt werden. Er stammt aus Keitum, wo er am 3. Dezember 1865 als Sohn eines Arztes in behüteten Verhältnissen zur Welt kam. Gestorben ist er am 29. August 1920 in Marburg. Aufgrund der Corona-Krise mussten Veranstaltungen zum 100. Todestag abgesagt werden. Nach Auskunft des Initiators und künstlerischen Leiters des Festivals, Carl-Martin Buttgereit, soll es in ähnlicher Form nun in der Zeit vom 25. April bis 2. Mai 2021 stattfinden. Zugesagt hatte bereits Ulf Bästlein. Wer mit Jenner und seinem noch weitgehend unerschlossenen Werk nähere Bekanntschaft schließen will, geht auch ohne die Veranstaltungen auf Deutschlands beliebtester Ferieninsel nicht leer aus. Der Bariton hat nämlich bei Naxos eine CD mit Liedern vorgelegt (8.551422).

Durch ihre Textvorlagen von Theodor Storm und Klaus Groth, der neben Fritz Reuter als Begründer der neueren niederdeutschen Literatur gilt, ergibt sich ganz von selbst der Bezug zur Herkunft des Komponisten, die ihn stark prägte. Da wird „einsam“ gewandert (Groth), sich „verirrt“ (Storm) und das wunde „Herz verlangt nach milder Ruh‘“ (Groth). Groth ist in seinen hochdeutschen Versen oft viel konkreter und unmittelbarer als der meisterhafte Storm, der lyrisch viel stärker abstrahieren kann. Wie Bästlein im Booklet schreibt, trat Jenner 1884 mit einem Chorlied von Groth erstmals öffentlich als Komponist in Erscheinung und vertonte noch wenige Monate vor seinem Tod mit „Wir können auch die Trompete blasen“ Verse von Storm. Zweiundzwanzig Lieder seines Schaffens gehen auf Storm, siebzehn auf Groth zurück. Sie sind komplett auf der CD versammelt, „größtenteils als Weltersteinspielungen“, wie er nicht ohne Stolz herausstellt. „Jenners Werke haben nie etwas Monumentales, sie zeichnen sich vielmehr durch klangliche Transparenz aus“, so Bästlein weiter. Er sei kein Komponist der großen musikalischen Formen gewesen, habe nur das Fragment einer Sinfonie hinterlassen und sei nie über Opern-Pläne hinausgekommen. „Mehr als zwei Drittel seines Werkes bestehen aus Vokalkompositionen, der Schwerpunkt seines Schaffens blieb das Lied.“ Der Sänger kennt sich also aus. Seinem Text folgt noch eine ausführliche Betrachtung des Musikwissenschaftlers Johannes Behr. Er vertieft das Thema feinsinnig mit einer Fülle von Material über Leben und Werk Jenners, der übrigens der einzige Schüler von Johannes Brahms gewesen ist und sich dessen Stil verpflichtet fühlte.

Ulf Bästlein erkennt diesen Bezug auch in seinem Vortrag an, legt aber zugleich größten Wert darauf, Jenner nicht als Brahms-Epigonen erscheinen zu lassen, der er auch nicht gewesen ist. Er ahmte Brahms nicht nach, er ließ sich von ihm inspirieren. Der Sänger hat hörbare Freude an seinem Programm. Dadurch kann er überzeugender vermitteln und nachdrücklicher für diese Lieder werben. Sie haben es verdient, dem Vergessen entrissen zu werden. Mitunter klingt seine Stimme etwas herb, wodurch einige Titel noch authentischer wirken. Begleitet wird der Sänger von Charles Spencer, der einen Flügel aus dem Jahr 1928 spielt. „Seine lange nachschwingenden, singenden Töne“ würden Interpreten beim Versuch, „der atmosphärisch verdichteten Intimität der Lieder Gustav Janners, gerecht zu werden, immer wieder inspiriert“, ist im Booklet über das Instrument aus der vormals Leipziger Firma Julius Feurich zu lesen. Rüdiger Winter

Reichas „Lenore“

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Lenore fährt aus dem Schlaf empor. „Bist untreu Wilhelm oder tot?“ Preußen und Österreich haben ihre verlustreiche Schlacht um Prag beendet. Doch der Verlobte kehrt nicht zurück. Er ist gefallen. Die verzweifelte Braut hadert. „Bei Gott ist kein Erbarmen“, ruft sie aus. Was half das Beten? „Kein Sakrament mag Leben den Toten wiedergeben.“ Bei den Worten der Tochter ergreift die Mutter angstvolles Schauern. Sie weiß, dass Gotteslästerung in die Hölle führt. Und Wilhelm? Der erscheint schließlich als Toter, zerrt Lenore auf seinen Rappen und reitet mit ihr durch die gespenstische Nacht direkt in sein Grab. Die Prager Schlacht – die zweite im Siebenjährigen Krieg – fand am 6. Mai 1757 statt. Die Ballade Lenore von Christoph August Bürger, die sich direkt darauf bezieht, entstand allerdings erst 1773. Ungeachtet dessen kann getrost von einem Stück zeitgenössischer Gegenwartsliteratur gesprochen werden, das noch lange nach seinem Entstehen enormes Aufsehen erregte. Blasphemie ist bis in die Gegenwart ein heißes Eisen geblieben und kann unter bestimmten Umständen noch immer auch juristische Folgen haben. Lenore wird mit dem Tode bestraft. Nicht durch ein irdisches Gericht. Schlimmer noch. Ohne Gottes Segen sinkt sie in die Erde.

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Antonín Reicha hat die Ballade zur Kantate für drei Solisten – das sind Lenore, die Mutter, Wilhelm – einen Erzähler, Chor und Orchester verarbeitet. Sie besteht aus zwei Teilen und wird mit einer großen Ouvertüre eingeleitet, die an die zehn Minuten beansprucht und mehr sinfonische Dichtung denn Vorspiel ist. Darin offenbaren sich das Können Reichas, sein Einfallsreichtum und seine Kompositionstechnik. Eine Aufnahme, die 2001 in Prag entstand, wurde jetzt von Orfeo erneut aufgelegt (MP1903). Dafür gibt es einen gewichtigen Anlass. Am 26. Februar 1770 wurde Reicha in Prag geboren. Damit ist er neben Ludwig van Beethoven der zweite Komponist, dessen 250. Geburtstages in diesem Jahr gedacht wird. Im Gegensatz zu jenem wurde um Reicha bisher kaum Aufhebens gemacht. Lediglich aus Brno ist eine Aufführung der Kantate bekannt worden. In Reichas Biographie gibt es sogar einen sehr direkten Bezug zu Beethoven. Beide kannten sich gut und hielten Freundschaft. 1785 war Reicha nach Bonn gekommen und spielte in der Kurfürstlichen Hofkapelle die zweite Flöte, während Beethoven Bratschist gewesen ist. Nachdem das Orchester aufgelöst wurde, ließ sich Reicha als Musiklehrer in Hamburg, später in Wien nieder und übersiedelte schließlich 1808 nach Paris. Dort fand er bereits nach einem Jahr eine dauerhafte Anstellung am Konservatorium und trat 1818 die Nachfolge von Étienne Nicolas Méhul als Professor für Komposition an. Namhafte Komponisten gingen durch seine Schule, darunter Franz Liszt, Hector Berlioz, Charles Gounod, César Franck und Friedrich von Flotow. Reicha selbst hinterließ ein reiches eigenes Werk aus Sinfonien, Konzerte und Messen. Zahlenmäßig den größten Posten bildet die Kammermusik. Sie ist auch am häufigsten auf Tonträgern anzutreffen. Viele Produktionen sind tschechischer Herkunft. Für die Tschechen ist Reicha einer der Ihren, was sich auch in der Namensnennung niederschlägt. Bei ihnen wird er Antonín Rejcha geschrieben, während er im deutschsprachigen Raum Anton und in Frankreich Antoine-Joseph Reicha heißt. Bei der Suche nach Schallplatten, CDs und Literatur sollte dies in Betracht gezogen werden. Zurück zu seiner Lenore.

Antonín Reicha wurde mm 26. Februar 1770 in Prag geboren. Damit ist er neben Beethoven der zweite Komponist, dessen 250. Geburtstages in diesem Jahr gedacht wird. 1825 entstand dieses Porträt. Foto: Wikipedia

Im Booklet schreibt Rainer Aschemeier: „Zu Reichas Zeit war Bürgers Ballade ein literarischer ,Smash Hit‘ – in ganz Europa, teils als Raubdruck auf Flugblättern weit verbreitet. Sie galt noch bis ins 20. Jh. als eines der bekanntesten epischen Gedichte deutscher Sprache, gerät heute leider aber zunehmend in Vergessenheit.“ In seiner Darstellung durch Bürger scheint ihr Thema trotz bemerkenswerter Erzählperspektive obsolet. Die Ballade ist kein historisierendes Werk. Im Mittelpunkt stehen nicht die herrschenden Majestäten und ihre politischen Ambitionen. Dargestellt finden sich die Folgen des Krieges für Lenore, das Mädchen aus dem Volke, das den Verlust des Mannes, dem sie versprochen ist, nicht als Helentod für das Vaterland empfinden kann. Ihr Leben hat ohne ihn keinen Sinn mehr. Mit der Eins-zu-eins-Vertonung konnte die Ballade offenbar auch nicht auf Dauer gerettet werden, wenngleich Reicha musikalische Akzente setzt, die über die Intentionen des Dichters hinausgehen. Es würde sich also durchaus lohnen, der Kantate mehr Aufmerksamkeit zu widmet, sie wenigstens hin und wieder öffentlich zu geben.

Die auch von HR2 Kultur als Europakonzert übertragene Aufführung im Februar in Brno wurde vom Tschechischen Philharmonischer Chor und dem Philharmonischen Orchester der Stadt unter der Leitung von Dennis Russell Davies bestritten. Dramatisch wirkungsvoll aufgeladen, litt die rasante Darbietung nach meinem Eindruck für die deutschsprachigen Hörer unter der eingeschränkten Wortverständlichkeit. Wer gnädig darüber hinweghörte und seine Bürger-Ausgabe mit den Text zur Hand hatte, machte die Bekanntschaft mit einem gewaltigen Werk, das kühn den Rahmen der traditionellen Kantate sprengt und rasante opernhafte Züge annimmt. Im Vergleich dazu geht Frieder Bernius, der Dirigent der Orfeo-Einspielung das Werk diskreter, teils gar sanfter an. Er kommt von der Kirchenmusik und fühlt sich der historischen Aufführungspraxis verpflichtet. Als Orchester stehen im die Virtuosi di Praga zur Verfügung, die gleich dem ebenfalls mitwirkenden Prague Chamber Choir erst 1990 und damit gut zehn Jahre vor der Aufnahme geründet wurden. Beides sind keine traditionellen sinfonischen Ensembles wie die Klangkörper in Brno, was den Intentionen von Bernius entgegen kommt. Für mich besteht kein Zweifel, dass Lenore bei Reicha an der Seite ihres Wilhelms doch noch Ruhe und Frieden findet. Eindeutig und unmissverständlich ist die Musik bei dem Paar, wenngleich die Geister bis zum Schluss wild und drohend mahnen: „Mit Gott im Himmel hadre nicht!“ Die Grablegung wird zum Requiem.

Obwohl keine Muttersprachler unter den Mitwirklenden sind, kommt der deutsche Balladentext sehr gut zur Geltung und macht Lust, sich ihn wieder genauer zuzuwenden. Die wichtige Aufgabe des Erzählers, der quasi durch die Handlung führt, wurde dem amerikanischen Tenor Corby Welch übertragen, der seinerzeit noch lyrischen Partien sang, inzwischen vornehmlich im Wagner-Fach unterwegs ist. Camilla Nylund bringt für die furchtlose und selbstbewusste Lenore alle Voraussetzungen mit, während die Mutter von Pavia Vykopalova in ihren Mahnungen, Vorhaltungen und düsteren Ahnungen dunkler und besorgter klingen und sich stimmlich deutlicher absetzten könnte. Noch bevor Orfeo die Lenore einspielte, entstand 1986 eine Aufnahme beim tschechischen Label Supraphon. Mit Magdalena Hajossyova als Lenore und Venceslava Hruba-Freiberger als Mutter wirken zwei Sängerinnen mit, die auch in Deutschland, vornehmlich in der DDR sehr bekannt und geschätzt waren. Der Tschechischer Philharmonischer Chor und das Prager Kammerorchester wurden von Lubomir Matl geleitet. Zuletzt ist diese Lenore 2000 aufgelegt worden und zumindest antiquarisch noch immer zu haben.

Der Dichter Gottfried August Bürger auf einem Gemälde von Johann Heinrich Tischbein dem Jüngeren, das 1771 entstanden ist. Foto: Wikipedia

Von dem literarischen Stoff fühlten sich auch andere Komponisten angezogen. Franz Liszt schrieb 1857 sein erstes Melodram nach der Ballade von August Bürger, das bei Hyperion herausgekommen ist, wobei der Pianist Leslie Howard den Schauspieler Wolf Kahler begleitet. Wie nicht anders zu erwarten, hat auch Dietrich Fischer-Dieskau eine Einspielung mit Burkhard Kehring bei der Deutschen Grammophon hinterlassen, die von seinem bemerkenswerten Können als Vortragskünstler zeugt. Ich kann mich nicht satt daran hören. Vollständige vertont wurde die Dichtung von Johann Friedrich Reichardt. Eine Aufnahme findet sich bei YouTube mit der Altistin Käthe Röscke, einer renommierten Oratoriensängerin, die mir in ganz jungen Jahren Johann Sebastian Bach bei Konzerten in der Jenaer Stadtkirche nahe brachte. Aufgenommen das an die achtzehn Minuten lange Stück 1972 im Händelhaus Halle. Joachim Raff setzte sich 1872 musikalisch in seiner 5. Sinfonie mit der Geschichte auseinander und Henri Duparc komponierte 1875 die sinfonische Dichtung Lénore. Den italienischen Komponisten Antonio Smareglia inspirierte die Ballade im Jahre 1876 zu dem Opus Leonora, sinfonia descrittiva. Carl Loewe berichtet in seiner autobiographischen Skizze davon, dass die Ballade in seinem Elternhaus in Löbejün geschätzt und regelmäßig laut gelesen wurde. Vertont hat er sie allerdings nicht, was ich als sehr schade empfinde. Gewiss hätte er ein Meisterwerk zustande gebracht. Das für die Beschäftigung mit dem Liedgesang so unerlässliche wie unerschöpfliche The LiederNet Archive im Internet listet noch viel mehr Komponisten auf, darunter Johann André (1741-1799), Friedrich Ludwig Emelius Kunzen (1761-1817), die Österreicherin Maria Theresia von Paradis (1759-1824), die in Wien enge Kontakte zu Joseph Haydn und Mozart unterschielt. Von Kindheit an blind trat sie bei Gastspielreisen vor dem französischen König Ludwig XVI. und seiner Gemahlin Marie Antoinette sowie vor König Georg III. in London auf. Nebenbei widmete sie sich der Komposition von Liedern, Kantaten, Opern und Orchesterstücken. Der aus Böhmen stammende Vaclav Krtitel Tomasek (1774-1850) hörte Beethoven als Pianist in Prag und besuchte ihn später auch in Wien. Auch sein Nachlass umfasst alle Genres, einschließlich einer Lenore. Johann Rudolf Zumsteeg war ein Jugendfreund von Friedrich Schiller, den er auch der Karlsschule kennengelernt hatte. Sein Lebensmittelpunkt war Stuttgart. Außer Opern hinterließ er vor allem Balladen. In der Literatur findet sich Lenore bei Edgar Allen Poe. Ihren Namen gab er der toten Geliebten in seinem Gedicht „Der Rabe“. Auch den bildenden Künstlern hat Bürger mit seiner Lenore ein packendes Thema beschert. Wie bei Wikipedia zu erfahren ist, versuchten sich achtzig 80 Künstler – Maler wie Bildhauer – an dem Stoff. Rüdiger Winter

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Vorausgeschickt wird auf der CD die Leonoren-Ouvertüre Nr. 2, ungestüm wie die Egmont-Musik und das Florestan-Thema fein auskostend gespielt vom Philharmonischen Staatsorchester Hamburg unter der Leitung von Gerd AlbrechtDie Egmont-Tragödie aus Hollands finsterster Zeit beginnt zwar wie ein Trauermarsch, endet aber mit einer mitreißenden Steigerung wie der vorweggenommene endgültige Triumph des tapferen Geusenvolks, den sein Anführer nicht mehr erleben durfte. Klärchen ist in der Aufnahme Ruth Ziesak mit zartem Sopran, der voll kindlichen Übermuts das Volksliedhafte von „Die Trommel gerührt“ betont. „Freudvoll und leidvoll“ wird sehr innig, sich in einen Taumel hineinsteigernd gesungen. Noch an der guten alten Sprachkultur orientiert ist Ulrich Tukur, der die Texte spricht. Wundervoll intensiv zeichnen die Zwischenaktmusiken die Stimmung des jeweiligen Abschnitts der Tragödie nach, die 4. mit einer schaudern machenden Ahnung des bevorstehenden Todes. Nicht nur, weil auf dem Markt wenig vertreten, verdienen es die Werke, besonders in dieser Ausführung, wieder dem Publikum vorgestellt zu werden (Orfeo MP 1903). Ingrid Wanja  

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Die Abbildung oben zeigt einen Ausschnitt aus der  Illustration der Historienmalers und Grafikers Franz Kirchbach von 1896 zur Ballade „Lenore“ von August Bürger. Foto: Wikipedia; weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Musik für kreatives Schaffen

 

Benjamin Appl, der im Mai 2016 einen langfristigen Exklusivertrag mit Sony Classical eingegangen ist, hat seine neueste CD bei Hänssler Classic vorgelegt (HC19081). Warum nun das? Ein Hinweis auf der Rückseite lässt erkennen, dass es sich offenbar um eine geförderte Produktion handelt: „Wir danken Frau Prof. Dr. med. Dr. h.c. Birgit Arabin (Berlin) und der Clara Angela Foundation für die Unterstützung zur Realisierung dieses Aufnahmeprojektes.“ Die Professorin ist eine hochspezialisierte Medizinerin, die Fundation ist inhaltlich breit aufgestellt. So will sie beispielsweise in einem neuen Kreativ-Projekt am Standort Berlin gemeinsam mit werdenden Müttern in Erfahrung bringen, „wie sich kreatives Schaffen positiv auf“  Mutter und ihr Kind auswirken. Dabei dürfte also auch Musik eine Rolle spielen. Ein Zusammenhang mit der Neuerscheinung wäre also gegeben, wenngleich ich mir einige nährende Einblicke in die gegenseitigen Intentionen gewünscht hätte.

Appl singt diesmal Cantatas of the Bach Family. Drei einschlägige Werke werden um zwei Sinfonien ergänzt, die weit mehr als Pausenfüller darstellen. Ein Stück, die Sinfonie in F-Dur für Streicher & Basso Continuo stammt von einem „Mons. Bach de Berlin“, die Carl Philipp Emanuel, dem zweitältesten der Söhne von Johann Sebastian Bach, die überlebt haben, zugeschrieben wird. Er wird auf Grund seiner Wirkungsstätten auch der Berliner oder Hamburger Bach genannt und war in seiner Zeit berühmter als sein Vater. Dieses Werk ist laut Booklet ebenso eine Weltersteinspielung wie die Sinfonie B-Dur Falck 71/CS für Streicher & Basso Continuo von dessen ältesten Bruder Wilhelm Friedemann. Es spielen die Berliner Barock Solisten unter der Leitung von Reinhard Goebel, der – wie er im Booklet zitiert wird – „die Zukunft der Orchestermusik des Barock in den Händen moderner Ensembles“ sieht. Der Fetisch „Originalinstrument“ habe ausgedient, „nicht aber der profund gebildete Fachmann, der ein Orchester in die Tiefendimensionen der Kompositionen führt“. Denn nicht das Instrument mache die Musik, sondern der Kopf. Goebel ist Chef des Solisten-Ensembles. Sein Interpretationsansatz kommt deutlich und nachvollziehbar zum Ausdruck.

Appl beginnt mit der Kantate „Ich bin vergnügt mit meinem Stande“ von Carl Philipp Emanuel Bach, die erst vor wenigen Jahren in einem Kircharchiv wiedergefunden wurde. Wer die Karriere des jungen Baritons verfolgt, wird ihn sofort erkennen. Sein Timbre ist einer seiner Vorzüge, wenngleich Koloraturen  nicht seine Stärke sind. Der Umgang damit ist gelegentlich ziemlich frei und verwaschen. Besonders in der zweiten, das Werk abschließende Arie „Lieber Gott, es ist das Deine“ kommt der Sänger an deutliche Grenzen und kann die musikalische Linie nicht in dem Maße halten, wie es nötig wäre. Dafür hat er in der weltlichen Kantate Pygmalion von Johann Christoph Friedrich Bach wesentlich mehr und besseres zu bieten. „Abgöttin meiner Seele!“: In seiner dramatischen Überspitzung gelingt schon der Beginn wirkungsvoll. Hier ist Appl mit perfekter Wortverständlichkeit ganz der charmante junge Mann als den er sich auch auf seinen offiziellen Fotos gibt. Die Stimme blüht regelrecht auf, ist freier und entwickelt unverhoffte theatralischen Facetten und Talente.

Und es stellt sich wieder die Frage, warum sich dieser Sänger auf der Opernbühne so rar macht, wo er nach meiner Überzeugung am Ende viel besser aufgehoben wäre als vornehmlich auf dem strengen Konzertpodium. Auch in Operetten oder Musicals kann ich ihn mir sehr gut vorstellen. Die Stimme dafür hat er. Nach dieser gedanklichen Abschweifung mahnt das CD-Programm die Rückkehr zu Stenge und Ernst an:Ich habe genug“. Diese Kantate des alten Bach wird in der Leipziger Fassung von ca. 1747 dargeboten. Rüdiger Winter

Die Fassung bewahrt

 

Das Londoner Label Hyperion ist mit seiner Edition der Lieder von Franz Liszt bei Vol. 6 angelangt (CDA68235). Bestritten wird diese CD von Julia Kleiter. Am Flügel begleitet sie Julius Drake, der gefordert ist, weil bei diesem Komponisten der Klaviersatz nicht selten betont anspruchsvoll und üppig ausfällt. Schließlich war Liszt als Pianist eine Legende. Auf seinem Spiel beruhte seine enorme Berühmtheit. Drake begleitet auch die übrigen Sänger der Edition. Kontinuität ist garantiert. Er wurde 1959 in London geboren und steht als Liedbegleiter in der Tradition seines Landsmanns Gerald Moore. Heinrich Heines Loreley – um ein Beispiel anzuführen – wird in den Tasten verschwenderisch umrankt. Ganz automatisch gerät dadurch der Mann am Klavier wie bei vielen anderen Titeln auch auf eine völlig gleichberechtigte Position, ist also nicht nur der dienende Begleiter, der sich im Hintergrund hält. Er wird selbst zum Solist. Die Sängerin setzt ein wenig atemlos ein als ob ihr plötzlich ein Gedanke durch den Kopf schießt, auf den sie so nicht gefasst war. Das ist ein interessanter Ansatz, der in der Vertonung angelegt ist und jegliche Ähnlichkeit mit der etwas früher entstandenen volksliedhaften Version von Friedrich Silcher leugnet. Liszt hat ein versöhnlich ausklingendes dramatisches Kunstlied geschaffen, das in der ersten Fassung von Julia Kleiter bewegend gesungen wird. Überaus melodiös heben drei Lieder aus Friedrich Schillers Wilhelm Tell an – Der Fischerknabe, Der Hirt und Der Alpenjäger. Für alle drei fand Liszt, der in Weimar, wo Schiller zuletzt lebte und starb, nachhaltige Spuren hinterließ, charakteristische Motive. Nicht gespart an Erfindungsreichtum hat der Komponist auch bei Die Macht der Musik auf einen Text von Prinzessin Helene zu Mecklenburg-Schwerin. Mit gut zehn Minuten Länge wird die Form arg strapaziert. Die Interpretin lässt sich davon nicht beeindrucken und findet zu einem in sich geschlossenen Vortrag. Zu hören sind unter anderen noch vier Kompositionen nach Versen von Victor Hugo, Mignons Lied nach Goethe und Wo weilt er? nach Rellstab.

 

Im Werk von Liszt stellen Lieder einen festen Posten. Mehr als achtzig Titel sind überliefert. Einige davon wurden mehrfach umgearbeitet. Die Transkriptionen der Lieder von fremder Hand – darunter Schubert, Beethoven und Schumann – gehören zu seinem Meisterwerken. In der Mehrzahl vertonte Liszt deutsche Gedichte. Goethe, Schiller, Heine, Uhland und Rückert waren seine bevorzugten Dichter. Enge biografische Bindungen an Frankreich, Ungarn und Italien brachten es mit sich, dass er auch Texte aus diesen Kulturkreisen vertonte. Liszt kann getrost als eine europäische Erscheinung gelten, was ihm im Lichte unserer Zeit so modern macht. In Reclams 1300 Seiten umfassenden Liedführer (Axel Bauni, Werner Oehlmann, Lilian Sprau und Klaus Hinrich Stahmer), einem mehrfach aufgelegten und erweiterten Standardwerk des Genres, heißt es: „Das Geheimnis der Lisztschen Lieder ist ihre Subtilität.“ Wem der Sinn für die Höhe des Gefühls fehle, auf der sie sich bewegten, der werde ihnen hilflos gegenüberstehen – doch „wer sich bemüht, sich in ihre Sphäre hineinzufühlen, dem bedeuten sie einen hohen, fast erotischen Bereich romantischer Idealität“.

 

Eröffnet wurde die Edition mit Volume 1 von Matthew Polenzani (CDA67782). Als Tamino, Ottavio, Almaviva, Werther, Nadir oder Jóse ist der der US-amerikanische Tenor international unterwegs. Sein gutes Deutsch dürfte auch auf das intensive Studium von Opernrollen in dieser Sprache zurückzuführen sein. Also hat er sich die Lieder gewiss nicht phonetisch eingeprägt. Polenzani sucht seinen Interpretationsansatz zunächst im Wort. Er will Geschichten, Gedanken, Gefühle und Stimmungen vermitteln. Davon quellen die Lieder dieses Komponisten förmlich über. Interpreten, die sich dessen nicht bewusst sind, stehen auf verlorenem Posten. Die erste Zeile des ersten Liedes ist wie ein Programm für das ambitionierten Unterfangen von Hyperion: „Kling leise, mein Lied, durch die schweigende Nacht, kling leise, dass nicht die Geliebte erwacht.“ Dichter ist der österreichische Reiseschriftsteller und Journalist Johannes Nordmann, der mit bürgerlichem Namen Johann Rumpelmayer hieß. Dass er sich als Poet ein Pseudonym zulegte, ist nachvollziehbar. Zu hören ist die erste Version aus dem Revolutionsjahr 1848. Von den politischen Erschütterungen ist nichts zu spüren. Im Gegenteil. Das Lied wirkt wie eine Verweigerung. In erster Fassung sind nun auch die Lieder aus Schillers Wilhelm Tell zu hören, von denen Julia Kleiter die zweite geboten hatte. Liszt verehrte Schiller und hatte zu dessen 100. Geburtstag 1859, der in Weimar feierlich begangen wurde, einen Künstlerfestzug für großes Orchester komponiert. Mit Im Rhein, im schönen Strome aus dem Lyrischen Intermezzo von Heinrich Heines Buch der Lieder klingt die CD schwelgerisch aus. In Anlehnung an dieses populäre Sammlung, bei der sich auch andere Komponisten großzügig bedienten, wollte Liszt ursprünglich auch seine Lieder verteilt auf mehrere Hefte herausgeben. Von diesem Plan rückte er aber wieder ab, weil nicht alle frühen Werke des Genres später seinem eigenen Werturteil standhielten. Von daher leiten sich auch die vielen Bearbeitungen ab. Schon jetzt wird deutlich, dass Hyperion alle Versionen einspielt. Das ist höchst verdienstvoll und der Sinn einer solchen Edition. Gewährt wird so ein tiefer Einblick in die Werkstatt des Komponisten, der auf der Suche nach dem besten Ausdruck gewesen ist, ursprüngliche Erfindungen infrage stellte und durch neue Lösungen ersetzte. Derart verteilt über die Edition bleiben die Bearbeitungsschritte unübersichtlich. Es wäre wünschenswert, würde sich Hyperion am Ende zu einer zeitlich geordneten Gesamtausgabe entschließen können wie seinerzeit bei der großen Sammlung der Lieder von Franz Schubert.
In Volume 2, bestritten von Angelika Kirchschlager, gibt es wieder eine direkte Verknüpfung mit der vorhergehenden CD, indem das Rhein-Lied von Heine nun in der zweiten Fassung dargeboten wird (CDA67934). Allein eine Frauenstimme genügt, um es weniger pathetisch wirken zu lassen. Freudvoll und leidvoll, das Lied Clärchens aus Goethes Egmont, das nach Angaben im Booklet erstmals in der zweiten Version eingespielt wurde, klingt stimmlich reif und dringt bei dem Sprichwort gewordenen Ausruf „Himmelhoch jauchzend zum Tode betrübt“ gar in dramatische Sphären vor. Die Ballade Es war ein König in Thule (zweite Verson) nimmt opernhafte Züge an. Und noch einmal Goethe. Der hatte zwei kurze Verse gedichtet, die bei der gemeinsamen Veröffentlichung 1815 auf einer Buchseite unter die Überschrift Wandrers Nachtlied gestellt worden waren. Auf der CD sind beide Vertonungen als Der du von dem Himmel bist und Über allen Gipfeln ist Ruh‘ jeweils in der dritten Fassung enthalten. Liszt lässt beider Beginn stimmungsvoll im Klavier anklingen, so dass die Sängerin empfindsam reagieren kann. Schließlich punktet Angelika Kirchschlager mit eines der berühmtesten Werke des Komponisten: Es muss ein Wunderbarstes sein. Dieses Lied ist von Liszt nicht variiert worden.

 

Der kanadische Bassbariton Gerald Finley wurde für Volume 3 gewonnen (CDA67956), was sich als glückliche Wahl erweist. Finley ist erprobt im deutschen Fach, hat den Hans Sachs in Wagners Meistersingern von Nürnberg und den Amfortas im Parsifal gesungen. Bei ihm ist jedes Wort zu verstehen. Heines Melancholie verbindet er in den Liedern Morgens steh‘ ich auf und frage, Ein Fichtenbaum steht einsam und Anfangs wollt‘ ich fast verzagen aufs Feinste mit der musikalischen Linie. Neben der literarischen Vorlage und der Musik versteht er die Interpretation als völlig gleichberechtigten Bestandteil der Wirkung eines Liedes. Der dritte Titel wird sogar in einer vierten Version vorgetragen. Ohne Goethe geht es auch auf dieser CD nicht. Wer nie sein Brot mit Tränen aß ist das Lied des Harfenspielers aus dem Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre. Finley trägt es wie eine Strafpredigt vor und spart nicht mit Selbstmitleid. Nicht als Textdichter sondern als Erscheinung geht Goethe in dem Lied Weimars Toten um, das der Österreicher Franz von Schober, der mit Franz Schubert befreundet war, gedichtet hat. Darin heißt es bedeutungsschwer: „Große Tote, kommt heraus! Wieland, Herder, Schiller, Gothe! Gießt die neue Morgenröte über die Lebenden aus!“ Dafür werden mehr als acht Minuten gebraucht. Liszt lässt im Klavier gewaltig die Glocken läuten. Finley nimmt das Pathos ernst und versieht die Nennung von Goethe mit besonderem Schmelz in der Stimme. Nur so ist das Stück auch heute noch gut erträglich. Unheimliche Spannung erfährt die Ballade Der Vätergruft, die Liszt auf einen Text von Ludwig Uhland schuf, durch Finleys Vortrag. Mit dem Bolero Gastibelza und La tombe et la rose (Victor Hugo) und Le vieux vagabond (Pierre Béranger) wechselt das CD-Programm ins Französische, um mit Go not, happy day von Alfred Tennyson englisch auszuklingen.

 

Sasha Cooke, die aus Kalifornien stammende Mezzosopranistin, hat in Volume 4 ein betont schwermütiges Programm übertragen bekommen (CDA68117). Ihre dunkel timbrierte Stimme ist dafür wie geschaffen. „Ich weine, ach, muss weinen“ heißt es in den Lied Verlassen von einem gewissen 1842 geborenen Gustav Michell, von dem nicht einmal das Sterbejahr überliefert zu sein scheint. Die Zeile wirkt wie das Motto ihrer Darbietungen. In dem Lied Sei Still seufzt Henriette von Schorn aus tiefster Seele und die Sängerin mit ihr: „Ach, wie ist Leben doch so schwer.“ Sie unterhielt in Weimar einen literarischen Salon, in dem auch Liszt und Peter Cornelius verkehrten, dichtete und sammelte Märchen. In der teilnahmsvollen musikalischen Umsetzung werden ihre schlichten Verse zur Kunst erhöht, woran die Interpretin vernehmlichen Anteil hat. Wenigsten ein leichter hoffnungsvoller Schimmer spricht aus dem Lied Wieder möcht‘ ich dir begegnen, dessen Text von Cornelius stammt, der zum künstlerischen Freundeskreis von Liszt gehörte. In Erinnerung geblieben ist er vor allem mit seiner Oper Der Barbier von Bagdad, für die er sich das Libretto selbst schrieb. Sein literarisches Werk ist vergleichsweise umfänglich wie auch das eigene Liedschaffen, dem neuerdings wieder mehr Aufmerksamkeit zuteil wird. Im Stillen wirkte Cornelius auch hinter den Kulissen, indem er Vokalwerke von Hector Berlioz ins Deutsche übertrug. Beide Lieder genügten Liszt offenkundig wie sie sind. Es gibt keine weiteren Bearbeitungen. Jeweils in zweiten Fassungen sind die Die Loreley, Wer nie sein Brot mit Tränen aß, Blume und Duft sowie Die tote Nachtigall einbezogen worden.

 

Bleibt Volume 5. Zu hören ist diesmal der britische Tenor Allan Clayton, der auch dem deutschen Publikum bekannt ist (CDA68179). In München war er im vergangenen Jahr als David in den Meistersingern von Nürnberg zu hören. Im Repertoire hat er den von Liszt geförderte Hector Berlioz. Für 2021 in Peter Grimes von Britten in Madrid angekündigt. Es scheint, als dringen die Opernerfahrungen in seinem Liedvortrag mehr durch als nötig. Clayton schlägt gleich zu Beginn seiner CD dramatische Töne an. Für Freudvoll und leidvoll – hier in der Erstveröffentlichung der ersten sowie anschließend gleich noch in der zweiten Version – ist dies gewöhnungsbedürftig und zu appellativ. Der Überschwang des Liedes Jugendglück gelingt überzeugender, was auch für O lieb, so lange du lieben kannst in zweiter Fassung zutrifft. Die Höhe ist allerding erkämpft und wird durch die Kraftanstrengung nicht gefälliger. Der Jugendglück-Text stammt von Richard Pohl. Von Liszt fasziniert, hatte er sich in dessen Umfeld in Weimar niedergelassen, wo er sich auch als Komponist und Musikschriftsteller betätigte. Seine Gedichte sind auch von Robert Schumann vertont worden. Bei Du bist wie eine Blume nach Heine in der zweiten Version gelingt Clayton ein lyrischer Höhenflug.

 

An Bemühungen, die Lieder von Liszt einem breiten Publikum bekannt zu machen, hat es nicht gefehlt. Hyperion geht nun am weitesten. Erfreulich ist, dass auf neuen Liedersammlungen regelmäßig der Name des Komponisten auftaucht. Zu nennen sind CDs mit Samuel Hasselhorn, Malte Müller, Kay Stiefermann. Der französische Tenor Cyrille Dubois, der sowohl auf Opernbühnen als auch in Konzertsälen aktiv ist, legte bei Aparte eine CD mit Liszt-Liedern vor. Begleitet wird er von seinem Landsmann Tristan Raes. Als sensible Interpretin der Lieder erwies sich Diana Damrau auf ihrer von Helmut Deutsch begleiteten CD bei Erato, die seit ihrem Erscheinen 2011 nichts von ihrer Frische eingebüßt hat. Eine höchst ambitionierte Produktion legte die ungarischen Hungaroton vor. Dabei sind sechs Lieder in unterschiedlichen Versionen eingespielt wurden, darunter das aufgeregte Freudvoll und leidvoll.

Nicht selten wirken die historischen Aufnahmen wie gut gemeinte Pflichtübungen, die am Ende doch auch Langweile verbreiten können. Michael Raucheisen nahm im Rahmen seiner berühmten Liededition für den Reichsrundfunk mindestens achtzehn Titel auf. Beteiligt waren Erna Berger, Tiana Lemnitz, Lea Piltti, Emmi Leisner, Gertrude Pitzinger, Karl Erb, Hanns-Heinz Nissen, Rudolf Bockelmann und Hans Hotter. Elisabeth Schwarzkopf hatte Liszt noch in ihrer späten Zeit im Repertoire. Einen Liederabend 1973 in London eröffnete Hanne-Lore Kuhse aus der DDR gleich mit sechs Liedern dieses Komponisten. Der umtriebige Dietrich Fischer-Dieskau dürfte mit seiner Edition der Deutschen Grammophon, die etwa die Hälfte des Liedschaffens umfasst, der Platzhirsch auf dem Musikmarkt sein. Rüdiger Winter

 

Das große Bild oben ist ein Ausschnitt aus einem Gemälde von Henri Lehmann. Es zeigt den Komponisten Franz Liszt im Jahr 1839. Der Maler stammte aus Kiel und ließ sich später in Paris nieder, wo er in Künstlerkreisen ein begehrter Porträtist war. Foto: Wikipedia

Emphase bei Max Lorenz

 

Also doch! Seit langem kursierte in Sammlerkreisen das Gerücht, dass sich ein kompletter dritter Aufzug von Richard Wagners Tristan und Isolde unter der Leitung von Hans Knappertsbusch, mitgeschnitten 1947 in Zürich, erhalten habe. Einige Szenen, auch aus dem ersten Aufzug, waren immer mal wieder aufgetaucht. Sogar auf einer LP beim Label Anna. Nun die Gewissheit. Der Schlussakt ist bei Weitblick veröffentlicht worden (SSS0227-2). Klangtechnische Wunder sind nicht zu erwarten, dafür künstlerische. Dem Mitschnitt des Schweizer Rundfunks ist sein Alter anzuhören. Wenn es aber darauf ankommt, erhebt sich die Musik über schnödes Bandmaterial. Und am Ende habe ich mich gefragt, Stereo, was ist das eigentlich? Noch hat auch das fortschrittlichste Aufnahmeverfahren keinen Tristan wie Max Lorenz, der in dieser Aufnahme singt, hervorgebracht. Gut, es gibt viele solide bis ausgezeichnete Rollenvertreter, solche, die auch noch leben – und auftreten. Die genauer und immer auf den Noten singen. Und die auch völlig zu Recht gefeiert werden von ihren Fans.

Doch die Emphase, die Lorenz vorlegt, dieses sich aufzehren in der Figur, dieses eins werden, dieses Leiden mit und an Tristan – das ist verloren gegangen. Nicht nur das. Lorenz überzeugt auch deshalb noch immer, weil ihm der Text geradezu heilig ist. Während er einzelne Töne schon mal sehr frei in Angriff nimmt, hält er sich immer sklavisch ans Wort. Da rutsch ihm nichts durch. Er mutet seinem Publikum kein Textbuch – heute wäre es ein Laufband am oberen Bühnenrand – zu. Bei ihm versteht man jeden Buchstaben und jedes Wort. Man könnte locker mitschreiben. Wagner verwendet bekanntlich eine üppige Interpunktion in seinen selbst verfassten Textbüchern. Diese dient letztlich der genauen Aussprache und der Aktion. Gerade im Tristan wimmelt es nur so davon. Es vergeht kaum eine Zeile, in der sich kein Apostroph findet. Es gibt die mit Anführungs- und Abführungszeichen versehene wörtliche Rede. Auf einen Doppelpunkt kann auch schon mal ein Gedankenstrich folgen und so weiter. Ich habe mir dann doch ein Textbuch gegriffen, um festzustellen, dass Lorenz mit dieser höchst individuellen sprachlichen Zeichengebung souverän und penibel zugleich umgeht.

Es handelt sich bei diesem ungekürzten dritten Aufzug um den Mitschnitt aus einer Bühnenaufführung vom 5. Juni im Züricher Stadttheater im Rahmen von Festspielen, die nach wie vor in diesem Monat stattfinden. Daraus erklärt sich auch die luxuriöse Besetzung. Knappertsbusch sorgte für den großen, in seiner Spannung nie nachlassenden Zusammenhalt und blieb seiner Neigung treu, bestimmte Details atemberaubend und leicht selbstverliebt auszumalen. Die Isolde wurde von Kirsten Flagstad gesungen, die nach Kriegsende international an die großen Erfolge in den dreißiger und vierziger Jahren anschließen konnte. Ihre Stimme hatte nichts von der majestätischen Ausstrahlung eingebüßt. Für die aus der Schweiz stammende Mezzosopranistin Elsa Cavelti ist die Brangäne ein Heimspiel gewesen. Der stimmgewaltige Bulgare Lubomir Vischegonow gab den König Marke. Wie Andreas Boehm, der als Kurwenal besetzt war, gehörte er zum Opernensemble in Zürich, wechselte aber ein Jahr später an die Metropolitan Opera in New York. Rüdiger Winter

Willkommen und Abschied

 

Fremde Heimat hat der Bariton Rafael Fingerlos seine neue CD mit Liedern betitelt, die bei Oehms Classics herausgekommen ist (OC 1711). Sie wurde in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Rundfunk produziert, was erfreulich ist. Erfreulich deshalb, weil der gebührenfinanzierte öffentlich-rechtliche Rundfunk damit seinen Teil der Verantwortung für die Förderung junger Sänger übernimmt. Fingerlos hat in namhaften Häusern und auch bei Festivals erfolgreich auf sich aufmerksam gemacht, so als Papageno an der Wiener Staatsoper oder als Rossinis Figaro in Dresden. Für Ende 2020 ist Elias in Klagenfurt angekündigt. Die Hinwendung zum Liegesang versteht er neben Oper und Oratorium als feste Größe in seiner Karriereplanung. Und das ist auch gut so. Er bringt dafür solide Voraussetzungen mit.

Die neue CD wurde im Sommer 2019 produziert. Fingerlos hat sich ein unverwechselbares Timbre erarbeitet. Die Stimme kling kräftiger und voluminöser als es seine jungenhafte Erscheinung erwarten lässt. Atemtechnisch erprobt er interessante Lösungen, indem einzelnen Passagen auf eine Weise verbunden werden, dass sich daraus ganz bestimmte Aussagen ergeben. Musikalische Bögen sind für ihn kein Problem. Er beherrscht das Genre gut. Details könnten noch poetischer ausgefüllt werden. So ein Beispiel gibt es in Schuberts Willkommen und Abschied nach Goethe. Wenn es gegen Ende des Liedes heißt, „Doch ach, schon mit der Morgensonne verengt der Abschied mir das Herz“, dann wünschte man sie dieses „ach“ tiefer gefühlt und gesungen. Fingerlos hat auch die Angewohnheit nicht ganz abgelegt, gelegentlich bei Worten, die mit einem Konsonanten beginnen, zu aspirieren. Es bleibt sein Rätsel, warum er in Wandrers Nachtlied II die Wiederholung von „warte nur“ wie „w(h)arte nur“ klingt. So ein Detail stört umso mehr, als das Lied als Ganzes betörend schön vorgetragen und zu seinem Höhepunkt der CD wird.

 

Fremde Heimat also! Die Titel wurden passend ausgesucht, so dass sich der Säger in seinem einleitenden Text des Booklets weitere Erklärungen sparen kann, zumal auch alle Texte abgedruckt worden sind. Vielmehr gibt er anhand einiger Lieder freimütig Einblick in seine eigene Gefühls- und Erlebniswelt. Wie schon bei seiner ebenfalls bei Oehms erschienen CD Stille und Nacht (OC 1879) gibt es zwischen hinlänglich bekannten Liedern weitestgehend unbekannte Stücke zu entdecken. Wieder ist Robert Fürstenthal vertreten, diesmal mit seinem vorwärtsdrängenden Reiselied nach Hugo von Hofmannsthal. Dieser Komponist wurde 1920 in Wien geboren, musste vor den Nationalsozialisten fliehen und betätigte sich in den USA als Wirtschafsprüfer, wie die Wiener Zeitung berichtet: „Die Kompositionen entstanden nebenher, ausschließlich Kammermusik und Lieder. Er komponierte für seine Jugendliebe. Nach der Trennung von ihr schrieb er keine Note mehr, als er sie wiedertraf, kehrte seine Inspiration zurück.“ Fürstenthal starb 2016. Fingerlos hatte ihm bereits eine ganze CD gewidmet, die bei Toccata Classics herausgekommen ist. Sein Stil ist traditionell und erinnert am ehesten an Hugo Wolf und Richard Strauss, die beide aktuell auch vertreten sind – Wolf mit Auf einer Wanderung, Strauss gleich dreifach mit Nachtgang, Ach Lieb, ich muss nun scheiden und Zueignung. Schubert war genannt. Dazu kommen Brahms, Mendelssohn und Schumann. Der Engländer Peter Warlock und der US-Amerikaner Charles Ives erweitern den Radius des Angebots. Mit Die stille Stadt legt Alma Mahler einen Beweis für ihr Talent als Komponisten vor. Sie ist die einzige Komponistin auf dieser Neuerscheinung. Mit dem Volkslied „Deine Hand mecht i gspian“ scheint der aus Salzburg stammende Bariton am Ende seiner CD heimzukehren. Es wurde von ihm und seinem höchst sensibel begleitenden Pianisten Sascha El Mouissi, der ein sehr gefragter Begleiter ist, so bearbeitet, dass es sich auch einem Publikum mitteilt, dass den alpenländischen Dialekt nicht versteht. Rüdiger Winter

 

(Weitere Information zu den CDs/DVDs im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)

Magische Momente in der Metzgerei

 

Alle Sänger, die in diesem Buch in Wort und Bild vorgestellt werden, haben drei Dinge gemeinsam, die Stimmlage, die Herkunft und den Zeitraum der Karriere. Magische Töne – österreichische Tenöre der Nachkriegszeit, erschienen im Wiener Verlag Der Apfel (ISBN 978-3-85450-019-3). Es versteht sich, dass der Autor Gregor Hauser ein Landsmann der Herren ist, was sich als Vorteil herausstellt. Er lebt in Salzburg, der Stadt Mozarts, ist von Beruf Lehrer und schreibt in seiner freien Zeit Sachbücher, wie es auf dem Einband steht. Er kann sich in seine Tenöre gut hineinversetzen. Hier und dort fällt ein Austriazismus auf, eine Wendung, die so im deutschsprachigen Gebrauch nördlich der Alpen nicht üblich ist. Da wird beispielsweise auf etwas vergessen wie im Wolgalied des Zarewitsch von Lehar, wo es heißt „Hast du dort oben vergessen auf mich?“ Ist Hausers neues Werk auch ein Sachbuch? Mitnichten. Was ist es dann? Ein Buch der Liebe. Hauser will nicht allein anhand von recherchierten Tatsachen informieren. Er möchte auch vermitteln, was ihm Oper und Gesang bedeuten und daran seine Leser teilhaben lassen. Dieses Buch konnte nur schreiben, wer seinen Gegenstand aus dem Effeff kennt und ihm ergeben ist. Leser bekommen viel geboten für ihr Geld. Hauser sucht die Nähe zu Sängern und fragt sie aus, was in vielen Fällen auch noch möglich gewesen ist, gewichtet die Fakten ihre Biographien, lauscht ihren Stimmen und filtert aus Anekdoten das Substrat ihres Wirkens wie eine DNA heraus, die alle seine Tenöre einmalig und unverwechselbar macht.

Und das sind die Namen: Andreas Schager, Hans Beirer, Hubert Grabner, Sebastian Feiersinger, Rudolf Christ treten im ersten nach Akten wie eine Oper geordneten Buch auf, Hans Krotthammer, Karl Terkal, Fritz Sperlbauer, Waldemar Kmentt, Kurt Equiluz im zweiten. Mitwirkende des dritten Aktes sind Adolf Dallapozza, Alois Aichhorn, Werner Krenn, Josef Köstlinger, Kurt Schreibmayer und Franz Supper. Sie sind wie Equiluz unter den Lebenden. Bei dem 1971 geborene Schager verbietet sich dieser Hinweis. Er ist der Benjamin unter den handelnden Personen dieses Buches und kann es sich aussuchen, wo er als Siegfried munter ins Horn bläst, als Tristan sich nach Isolde verzehrt oder als Apollo Daphne in einem Lorbeerbaum verwandelt. Schager gilt weit über Österreich hinaus als einer der prominentesten Heldentenöre der Gegenwart. Für das Buch hat er einen eigenen Text beigesteuert. Darin zieht er aus der Tatsache, dass er die ersten zehn Jahren vornehmlich Operetten gesungen hat, einen bemerkenswerten Schluss: „Es war eine wunderbare Vorbereitung für meine zweite Karriere als Heldentenor.“ Aus Andreas Schagerl, wie er heute noch im Netz und in Archiven auftaucht, wurde Andreas Schager. Das l ist Vergangenheit.

Ein Buchstabe spielt auch im Lebenslauf von Terkal eine Rolle. Der wurde nämlich 1919 als Karl Trkal geboren. Für diese besonders der Aussprache dienliche Korrektur entschied er sich, als er mit dreißig Jahren als Bischof von Fiesole in Pfitzners Palestrina erstmals an der Wiener Staatsoper auftrat. Ihm ist ein besonders ausführliches und reich bebildertes Kapitel gewidmet, welches seiner Bedeutung angemessen ist. Jan Kipura war das Vorbild des jungen Karl, dem Gesang bis zum Schluss genauso wichtig war wie Fußball. Auf Tonträgern ist Terkal gut dokumentiert. Auch in Operetten. Eine Vorliebe, die er mit anderen österreichischen Kollegen teilt. Es lässt sich nachvollziehen, dass die Stimme des Weitgereisten – wie es im Buch heißt – „extrem natürlich“ ist und nahezu ohne Stütze auskommt. Der Dirigent Clemens Krauss war sein Mentor, hatte den aufstrebenden Tenor für Wien und Salzburg entdeckt und ihn für den Rudolfo in Puccinis Bohéme ins Aufnahmestudio geholt. Krauss starb plötzlich. Als Herbert von Karajan die Wieners Staatsoper übernahm, wurde es zunächst ruhig um Terkal. Italienische Rollen wurden fortan von Muttersprachlern gesungen. Dafür eröffneten sich neue Chancen an der Volksoper der Stadt. Dennoch kehrte er immer mal wieder ins Haus am Ring zurück, so dass er als Erster Gefangener in der von Leonard Bernstein dirigierten Fidelio-Vorstellung, die im TV und als gleichzeitige Studioproduktion große Verbreitung erfuhr, mitwirkt. Dass auch Berühmtheiten wie Kmentt, Equiluz oder Dallapozza mehr Platz zugeteilt bekommen, versteht sich von selbst. Hauser unterliegt nicht der Versuchung, sein Buch mit allzu viel Lokalpatriotismus aufzuladen. Das wäre auch nicht nötig. Österreich ist ein Mutterland der Oper. Es ist, als liege dort Musik in der Luft.

Es scheint einer der liebenswerten österreichischen Besonderheiten zu sein, dass Sänger neben ihrem künstlerischen Beruf gelegentlich einem soliden Handwerk nachgingen. Darin sind sie den Meistersingern von Nürnberg gleich, die zumindest in Wagners Oper Schuster, Seifensieder oder Kürschner sind. Bäcker wie Fritz Kothner, der zum Probegesang bittet, ist Fritz Sperlbauer (1923-1988) gewesen. Er hatte noch bei Adolf Vogel, einem berühmten Wagner-Sänger, studiert und eine enge Bindung an die Heimatstadt Wien und an sein Handwerk nie einer mit viel Reisen verbundenen strapaziösen Karriere geopfert und nahm letztlich auch mit kleinen Rollen vorlieb. Deshalb ist er auch so oft dokumentiert auf Tonträgern. Allein in vier Mitschnitten ist er der Wirt im Rosenkavalier. In der verfilmten Salzburger Produktion unter Karajan singt er ihn auch. Wer sich aber vom Talent des nicht einmal Dreißigjährigen überzeugen will, greife zu den Wiener Rundfunkproduktionen aus den frühen 1950er Jahren, die von Myto veröffentlicht wurden. In Marschners Templer und die Jüdin singt er den Ivanhoe und in Kienzls Kuhreigen den Primus Thaller. Letztere Einspielung bietet gemeinsam mit Beethovens Christus am Ölberge von 1952 die womöglich schönste Aufnahme dieses Tenors. Er singt mit strahlender Höhe einen jungen, gar kämpferischen Jesus.

Es gibt aber noch Steigerungen. Hubert Grabner (1912-1983) war Metzgermeister und leitete den eigenen Familienbetrieb mit etlichen Filialen bis zum Lebensende. „Nicht selten tauschte er nach einem langen Arbeitstag, der vor vier Uhr früh begann, am Abend die Metzgerschürze mit dem Frack oder gar dem Opernkostüm, um in einer der österreichischen Landeshauptstädte oder etwa in der Stuttgarter Staatsoper auf der Bühnen zu stehen“, ist in dem ihm gewidmeten Kapitel zu lesen. Grabner war nicht nur auf der Opernbühne erfolgreich, er sang auch Operetten. Debütiert hatte er offiziell 1954 als Belmonte in Klagenfurt. Mit dieser Rolle ist er am häufigsten aufgetreten. Sein Einstieg in Stuttgart war 1959 neben dem Rigoletto von Karl Schmitt-Walter der Herzog. Mit über fünfzig wollte er „einmal im Leben als Heldentenor in einer Wagner-Oper auftreten“. Grabner nahm Stunden bei Max Lorenz, der sich in Salzburg niedergelassen hatte. Nachweisbar ist aber nur ein einziger Auftritt als Lohengrin in einer konzertanten Aufführung in Passau neben der Elsa von Helga Dernesch. Leider existiert nur eine einzige offizielle Aufnahme mit Grabner – nämlich die Missa Brevis in F-Dur von Mozart mit Chor und Orchester des Mozarteums Salzburger unter Hermann Schneider (Lyricon). Eine Festschrift mit CD, die zum 100. Geburtstag in privater Initiative herausgegeben wurde, ist nicht mehr greifbar. Für Hauser, der allerdings von einem „gewagten Vergleich“ spricht, erinnert die Stimme „am ehesten an Jan Peerce, einen Lieblingstenor Toscaninis“.

Die Neuerscheinung schmückt sich also nicht nur mit großen Namen wie Kmentt, Dallapozza oder Equiluz, die auf Tonträgern präsent sind und an der Seite legendärer Kollegen und Dirigenten im Rampenlicht der Festivals und großen Häuser standen. Gerechtigkeit widerfährt jenen Künstlern, die zwar unverzichtbar waren für den Opernbetrieb, doch langsam dem Vergessen anheimfallen, weil es keine oder nur ganz wenige Aufnahmen gibt. Von diesem Schlage ist auch Sebastian Feiersinger. In Sammlerkreisen wird er als Heldentenor geschätzt. Private Tondokumente haben zumindest teilweise Tristan, Siegmund oder Siegfried bewahrt. Im Handel ist er mit einigen Titel zu haben, die sein Können zwar nicht in seiner ganzen Vielfalt abbilden, eine Eignung auch für das italienische Fach durchaus erkennen lassen. An der Seite der jungen Birgit Nilsson singt er 1955 einen leuchtenden und jugendlichen Riccardo in Verdis Maskenball beim Bayerischen Rundfunk, und schon 1952 ist er beim Hessischen Rundfunk als Roberto in Puccinis Opernerstling Le Villi zu hören. Feiersinger war international besonders im Wagnerfach gefragt. Seine Gastspielreisen führten ihn 1959 als Stolzing bis an die Met, was damals noch viel mehr bedeutete als heutzutage. Davon hat sich ein Mitschnitt erhalten. Hauser bezeichnet seine Stimme als robust. Das trifft es. Obwohl das Volumen gemessen an den technisch bescheiden klingenden Dokumenten nicht extrem groß erscheint, trägt es sehr gut. Kein Zweifel, damit hat er auch die größte Häuser ausgefüllt. Bei den Bayreuther Festspielen fielen 1968 und im Folgejahr lediglich der Kunz Vogelgesang und der Balthasar Zorn ab, während der Stolzing dem lyrischen Kmentt zufiel.

Im Zauberflöte-Film von Ingmar Bergman (Arthaus) spielte und sang Josef Köstlinger 1975 den Tamino und wurde damit auf einen Schlag berühmt.

Trotz dieses Engagements und einiger Auftritte von Beirer als Tannhäuser, Parsifal und Tristan fragt sich Hauser, ob „den Bayreuther Verantwortlichen österreichische Tenöre zu minder“ gewesen sind in Jahren des Neubeginns? Dagegen spricht, dass auch in anderen Stimmfächern Solisten von großen in kleine Rollen wechselten, weil sie unbedingt dabei sein wollten – und weil auf dem Grünen Hügel zunächst nicht zwischen wichtigen und nebensächlichen Aufgaben unterschieden wurde. Unter den Walküren waren etliche Brünnhilden und Isolden. Selbst die Mödl sang in ihren besten Jahren auch das Altsolo im Parsifal oder die Gutrune in der Götterdämmerung. Vor allem Wieland Wagner dürfte für seine Helden ein anderer Stimmentyp vorgeschwebt haben als ihn der robuste und manchmal auch routinierte und etwas eindimensionale Feiersinger verkörperte. Seinem Ideal kam Wolfgang Windgassen, der von Haus aus gar kein klassischer Heldentenor gewesen ist, viel näher. Dass sein Buch kein vollständiger Bild von den österreichischen Tenören der Nachkriegszeit würde abgeben können, war Gregor Hauser von Anfang an bewusst. Seine Auswahl mag subjektiv anmuten. Leser würden je nach persönlichen Vorlieben und eigenen Erlebnissen hier und da anders gewichtet haben. Auf jedem Fall ist es dem Autor gelungen, seine Sänger als unverwechselbare Typen vor dem Hintergrund ihrer Herkunft und  persönlichen Verwurzelung darzustellen – als Österreicher halt. Im Epilog werden zumindest noch mehr als zwanzig Tenöre in kurzen biographischen Abrissen porträtiert, darunter auch Ernst Gruber, den es nach dem Krieg in den Osten Deutschlands verschlug und der schließlich in Weimar, Leipzig und Berlin zum Heldentenor der DDR aufstieg. Stoff genug für eine Fortsetzung. Rüdiger Winter

Als musikalische Begleitung zu dem Buch wurde auf YouTube ganz zeitgemäß eine Kanal eingerichtet, auf dem einige der Tenöre auch zu hören sind. In der Suchmaske einfach „Magische Töne Gregor Hauser“ eintragen. 

Das Wunderkind

 

Erich Wolfgang Korngold ist bei Capriccio gut aufgehoben. Unter diesem Label sind bereits seine Lieder herausgegeben worden. Jetzt gelangte eine Sammlung von Werken auf den Markt, welche die Vielseitigkeit dieses Komponisten und seinen frühen Ruhm nachvollziehen (4 CDs C7350 mit unterschiedlichen  Aufnahmedaten). 1897 in Brünn geboren, wurde er in Wien als Wunderkind auf Händen getragen. Bereits mit dreizehn Jahren fand er mit dem Ballett Der Schneemann Ballett Aufmerksamkeit. Ursprünglich ein Klavierstück, wurde es von Alexander von Zemlinksky orchestriert und später von Korngold selbst nochmals bearbeitet. Die Aufführung fand an der Wiener Hofoper statt. Prominente Dirigenten, darunter Bruno Walter, Wilhelm Furtwängler und Arthur Nikisch nahmen sich der ersten Kompositionen an. Seine Opern Der Ring des Polykrates und Violanta (beide 1916), Die tote Stadt (1920) und Das Wunder der Heliane (1927) füllten nach ihren Uraufführungen die Opernhäuser. Korngold wurde zu einem der meistgespielten Komponisten. 1934 ging er nach Hollywood, wo er seine bereits zuvor begonnene Zusammenarbeit mit dem Regisseur Max Reinhard fortsetze. In den USA waren beide Künstler mit jüdischer Abstammung vor Verfolgung durch die Nationalsozialisten sicher. Korngold widmete sich vornehmlich der Filmmusik. Nach Kriegsende kehrte er mit Orchestermusik zu seinen kompositorischen Wurzeln zurück, fand aber kaum mehr Aufmerksamkeit und Anerkennung. 1957 ist er in Los Angeles gestorben.

Obwohl 1946 entstanden, markiert das kompakte und nur gut zwölf Minuten dauernde Konzert für Violoncello und Orchester keinen Wendepunkt im Schaffen Korngolds. Es klingt noch durch und durch nach Hollywood, wurde es doch für den Film Deception geschaffen, der von der tragischen Beziehung zwischen einer von Bette Davis gespielten Pianisten und einem Cellisten (Paul Henreid) handelt. Für die Aufnahme wurde der amerikanische Cellist Zill Bailey verpflichtet. Begleitet wird er vom Bruckner Orchester Linz unter der Leitung von Caspar Richter, der aus Lübeck stammt und seit zehn Jahren Generalmusikdirektor der Nationaloper in der Geburtsstadt von Korngold ist. Orchester und Dirigent bestreiten das gesamte Programm. Als einziges Spätwerk sind Thema und Variationen von 1953 in die Edition eingegangen. Es handelt sich um ein Auftragswerk eines Studentenorchesters in den USA. Folglich ist es relativ einfach und gefällig gebaut und bleibt stilistisch ebenfalls stark der Filmmusik verhaftet. Die sich unmittelbar anschließende Tondichtung Tomorrow für Mezzosopran, Frauenchor und Orchester hebt zwar gewaltig an wie eine Tondichtung von Respighi, gerät aber rasch wieder in das typische Fahrwasser eines großen Hollywood-Finales. Dieses Opus wurde zum zentralen Thema des melodramatischen Streifens The Constant Nymph mit Charles Boyer und Joan Fontaine. Gigi Mitchell-Velasco ist mit dem Solo ist besetzt und singt auch den Zyklus Einfache Lieder. Sie entstanden zwischen 1911 und 1916 und damit noch vor den erfolgreichen Opern. Entfernte Verwandtschaft mit Strauss und Mahler ist herauszuhören. Deren Kunstfertigkeit und Tiefe wird nicht erreicht. Das trifft auch auf die Abschiedslieder vom Sterben, Sehnen und aufgehendem Mond zu, bei denen die Sängerin mit der passgerechten flutenden Stimme Eindruck macht. Damit klingt das Programm der Edition aus, die von der aufmunternden Symphonischen Ouvertüre Sursum corda programmatisch eröffnet wird. Ein Werk, in dem der Dreiundzwanzigjährige über mehr als achtzehn Minuten lang kühn sein Haupt reckt. In seine Kindertage reichen die Märchenbilder von 1910 zurück, in denen sich das große Talent offenbart. Die verzauberte Prinzessin, Rübezahl, Wichtelmännlein und das tapfere Schneiderlein werden musikalisch farbenprächtig und durchaus hintergründig in Szene gesetzt. Sie kommen sowohl thematisch als auch in der Verarbeitung ausgefeilter als manches späte Werk daher. Ihre Wirkung dürfte auch darauf beruhen, dass sie der Dirigent Richter, der selbst Komposition studiert hat, sehr ernst nimmt. So, als würde er selbst darüber staunen, was diese junge Kollege hervorgebracht hat. Es versteht sich, dass auch der bereits erwähnte Schneemann (daraus Vorspiel, Serenade und Walzer) nicht fehlen darf. Mit der Schauspielmusik Viel Lärm um nichts hatte noch weit vor der Emigration die Zusammenarbeit mit Reinhardt begonnen. In Der Sturm, einer Komposition des Sechzehnjährigen, wirkt neben dem Orchester die Konzertvereinigung Linzer Theaterchor mit.

Mehr oder weniger nur gestreift werden die Opern. Die tote Stadt findet mit dem Vorspiel zum zweiten Akt mit der Sopranistin Karen Robertson Berücksichtigung, Das Wunder der Heliane mit vier Nummern, nämlich den Einleitungen zum ersten und zweiten Akt, der Arie „Ich ging zu ihm“ und einem Zwischenspiel. Solistin ist diesmal Wendy Nielsen (Sopran), die auch die Arie „Kann’s heut‘ nicht lassen“ aus Der Ring des Polykrates und das Gebet „Mein Mann hat mich vermieden“ aus Die Kathrin singt. Rüdiger Winter

 

(Weitere Information zu den CDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)

Dauergast Leonore

 

Diese Leonore erweist sich als sehr anhänglich. 1976 in der Dresdener Lukaskirche eingespielt, wurde die Urfassung von Ludwig van Beethovens Fidelio von 1805 in die Gesamtausgabe seiner Werke auf Schallplatten eingegliedert, mit der in der DDR zum 200. Geburtstag des Komponisten auf Eterna begonnen wurde. Sie geht also auf die Fünfzig zu und hat sich erstaunlich frisch gehalten. Im Westen Deutschlands war sie bei der EMI/ Electrola erschienen. Edda Moser, die in den Osten ausgeliehene Titel-Sängerin der Titelpartie (daher die Vermarktung der Aufnahme auch in der BRD)  ist nach wie vor eine gesuchte Gesprächspartnerin, wenn es um das Musiktheater geht. Längst gestorben sind Richard Cassily (Florestan), Theo Adam (Pizarro) und Karl Ridderbusch (Rocco). Noch immer am Pult steht gelegentlich der rüstige, 1927 geborene Herbert Blomstedt. Ein ideales jugendliches Paar sind Helen Donath und Eberhard Büchner als Marzelline und Jaquino. Reiner Goldberg, der es später als Florestan bis an die Metropolitan Opera schaffte, muss sich noch mit dem ersten Gefangenen bescheiden. Und für Siegfried Lorenz, der im Jahr darauf als Wolfram an der Berliner Staatsoper entdeckt wurde, fiel der zweite Gefangene ab. Die Aufnahme ist also aus vielerlei Gründen historisch. Klanglich ist sie es nicht. Im Gegenteil. Sie hat sich erstaunlich gut gehalten. Aus den Lautsprechern tönt es rasant und frisch. Bei ihrem ersten Erscheinen sorgte die Leonore als erste Einspielung der Version von 1805 noch für Furore. Kaum einer hatte bis dahin dies Oper so intensiv und so ausführlich gehört, geschweige denn diese Fassung gekannt. Die Überraschung war groß, als ein völlig eigenständiges Opus, das sich vom späteren Fidelio deutlich unterschied, zum Vorschein kam. Erst heuter wissen wir so viel mehr über den Werdegang der Oper und ihrer verschiedenen Erscheinungsformen.

Naxos hat sich für seine Complete Edition, die es auf neunzig CDs bringt, diese Leonore gesichert und gut daran getan. Wer eine neue Aufnahme scheut und deshalb auf den Bestand zurückgreifen muss, hat keine sehr große Auswahl. Leonoren sind nicht häufig wie Fidelio, eine Naxos-Eigenproduktion von 1999. Als Leonore ist die 2008 verstorbenen Dänin Inga Nielsen zu hören, die in den Höhen ihrer großen Arie wunderbar aufblüht. Mit der von Michael Halász am Pult der Nicolaus Esterházy Sinfonia-Einspielung hat ihr Naxos ein würdiges Denkmal gesetzt. Prominenz ist mit Gösta Winbergh (Florestan), Alan Titus (Pizarro) und dem menschlich sehr berührenden Kurt Moll (Rocco) auch für andere Rollen aufgeboten. Naturgemäß sind die Erwartungen an so eine große Edition unterschiedlich. Die einen sind auf neue Interpretationsansätze der großen sinfonischen Werke aus, andere interessieren sich zuvörderst für das reiche kammermusikalische Schaffen, wieder andere hören zuerst die Lieder und dann die großen vokalen Werke. Oder sie werfen zunächst einen Blick auf die Ränder im Schaffen Beethovens, wo es noch immer vieles zu entdecken gibt. Ausgaben wie diese können Anstöße geben. Eine praktische optische Lösung erleichtert den Zugang. Die Covers der jeweiligen Werkgruppen sind an den Rändern mit eigenen Farben gekennzeichnet und stehen wie Karteikarten in der kastenähnlichen Box. Einundzwanzig laufende Zentimeter Beethoven. Im digitalen Zeitalter ist das sehr viel. Auf der Innenseite des Deckels ist der Bestand blockweise farblich gespiegelt und beschriftet: Orchestra (Rot), Concerto (Orange), Keyboard (Gelb), Chamber (Grün), Stage (Blau), Choral (Violett), Vocal (Rosa). Kammermusik ist der mit Abstand größte Posten.

Obwohl mengenmäßig eine sehr kleine Abteilung, eröffnen die Sinfonie – traditionell von links – die Sammlung. Sie gelten als der Gipfel des Werkes von Beethoven, der vielleicht vollkommenste Ausdruck seiner Genialität. Generationen von Dirigenten haben sich daran versucht. Keine Interpretation gleicht der anderen. Die Zahl der Aufnahmen geht in die hunderte. Es grenzt an Wunder, dass immer neue Ansatzpunkte gefunden und herausgearbeitet werden. Naxos hat sich für einen seiner Hausdirigenten entschieden, den Ungarn Béla Drahos. Ursprünglich Flötist, erschien er 1992 erstmal selbst vor einem Orchester. Seine Liebe und Aufmerksamkeit gehört den musikalischen Details. Wie beim Fidelio spielt wieder die Nicolaus Esterházy Sinfonia. Deren Chor sowie Hasmik Papian (Sopran), Ruxandra Donose (Mezzo), Manfred Fink (Tenor) und Claudio Otelli kommen im Schlusssatz der „Neunten“ hinzu. In der Gruppe mit den Sinfonien finden sich die einzelnen Ouvertüren, „Wellingtons Sieg“, die „Musik zu einem Ritterballett“ sowie die diversen Tänze. Beim „Triumphmarsch zum Trauerspiel Tarpeja von Kuffner“ von 1813, der Seltenheitswert hat, tritt erstmals der charismatische finnische Dirigent Leif Segerstam mit dem Turku Philharmonic Orchestra hervor. Es existiert seit 1790 und gilt weltweit als einer der ältesten Klangkörper. Segerstam leitet es seit 2012 und setzt durch viele neue Einspielungen wichtige Akzente in der Edition.

Auch Berlin Classic hat die Leonore von 1976 aus dem eigenen Archiv hervorgeholt (0301499BC). Damit ist sie aktuell – Naxos und Brilliant Classics dazugezählt – gleich dreifach auf dem Markt. Das sollte genügen. Wer sie einzeln begehrt, muss also nicht die Editionen der Mitbewerber anschaffen. Berlin Classics entschied sich für die ursprüngliche originale Aufmachung des DDR-Label Eterna. Und was hat es nun mit dem Hinweis „Gesamtausgabe“ auf sich? Gemeint ist damit nicht die vollständige Einspielung dieses Vorläufers von Fidelio. Zum 200. Geburtstag Beethovens war in der DDR eine Gesamtausgabe seiner Werke auf Schallplatten in Angriff genommen worden, die es zu erstaunlicher Fülle brachte. Sie wurde über den Anlass hinaus immer wieder ergänzt und um neue Produktionen erweitert ohne letztlich den Anspruch einer vollständigen Werkaufgabe zu erfüllen. Ihr durchgängiges äußeres Markenzeichen waren Fresken und Zeichnungen von Michelangelo, die einen hohen Wiedererkennungswert garantierten. Der Klang dieser Wiederauflage lässt keine Wünsche offen. Der nachträglichen Erläuterung bedarf die Nennung von Gunther Emmerlich als Erzähler (Narrator) auf der Rückseite des Albums. Es gibt in dieser Produktion keinen Erzähler. Der Dresdener Bassist und Entertainer übernahm für den Florestan des Amerikaners Richard Cassily dessen knappe Dialoge, während alle anderen Sängerinnen und Sänger selbst sprachen. R.W.

Der Tarpeja-Marsch leitet den zweiten Akt der Tragödie ein, in deren Mittelpunkt die Vestalin Tarpeja steht, die den Sabinern, die unter dem Kommando ihres Königs Titus Tatius Rom angriffen hatten, den Zugang zum Kapitol gewährte. Im Gegenzug sollte sie das bekommen, was die Sabiner am linken Arm trugen. Sie dachte an Goldschmuck. Die Sabiner aber griffen zu einer List, indem sie die Vestalin unter ihren Schilden begruben, die sie ebenfalls am linken Arm hielten. In Erinnerung an ihren Verrat heißt der Felsen des Kapitols, über den später Verräter zu Tode gestürzt wurden, Tarpejischer Felsen. Christoph Kuffner lebte zwischen 1780 und 1846 in Wien. In seinem Trauerspiel griff er lediglich Motive des Mythos auf, der noch in einer modifizierten Form überliefert ist. Es ging 1813 nur einmal über die Bühne und verschwand danach in der Versenkung. Komponist und Dichter kannten sich gut. Von Kuffner stammt auch der Text zur Chorfantasie, mit dem Beethoven nicht zufrieden gewesen sein soll. Dargeboten wird das beliebte Werk federnd und schwungvoll von den Gesangssolisten Claire Rutter, Matilde Wallevik, Marta Fontanals-Simmons, Peter Hoare, Julian Davies, Stephen Gadd, dem City of London Choir und dem Royal Philharmonic Orchestra unter Hilary Davan Wetton. Am Klavier sitzt Leon McCawley. Bis auf Davis und Fontanals-Simmons ist dieses Ensemble auch bei der Kantate „Der glorreiche Augenblick“ im Einsatz, die Beethoven zur Eröffnung des Wiener Kongresses am 1. November 1814 schuf und die bis heute angesichts der Huldigung der Aristokratie umstritten ist, in der sich aber auch ein aufschlussreicher Ausspruch zur künftigen Bestimmung Wiens findet: „Europa bin ich – und nicht mehr eine Stadt.“ Wenn es nach Emanuel Schikaneder, dem Librettisten von Mozarts Zauberflöte gegangen wäre, hätte auch Beethoven einen Text von ihm komponiert: „Vestas Feuer“, ebenfalls eine Vestalinnen-Geschichte. Er vertonte lediglich die erste Szene und ließ den Plan wieder fallen. Segerstam begleitet für die elf Minuten ein Vokalquartetts aus Kaisa Ranta, Niina Keitel, Tuomas Katajala und Nicholas Söderlund. Leonore, die wenig später in Angriff genommen wurden, kündigt sich an. Ranta, Keitel, Söderlund, erweitert um den Tenor Topi Lehtiuu bilden das Solistenensemble bei der C-Dur-Messe, die wiederum von Segerstam betreut wird.

Naxos hat wichtige Bestandteile der Edition, darunter die Messe – teils in anderer Zusammenstellung – auch einzelnen veröffentlicht. Das ist praktisch und kundenfreundlich. Es muss nicht gleich das Gesamtpaket anschaffen, wer nur ein ganz bestimmtes Stück haben will. Für die Schauspielmusik zu Dunkers Drama „Leonore Prohaska“ gilt das allerdings nicht. Einzeln ist sie nur bruchstückhaft gemeinsam mit „König Stephan“ auf den Markt gelangt. Komplett findet sie sich ist nur in der Edition. Immerhin wird eine neue Produktion geboten, was höchst verdienstvoll ist. Die 1785 in Potsdam geborene Unteroffizierstochter hatte sich ein männliche Identität zugelegt und sich 1813 unter dem Namen August Renz Zugang zum Lüzowschen Freikorps verschafft. Noch im selben Jahr wurde sie so schwer verwundet, dass sie wenig später starb. Ihr Schicksal hat der Königlich Preußische Geheimsekretär Friedrich Duncker 1815 in einem Schauspiel dargestellt, zu dem Beethoven die Musik schrieb. Das Drama ist verschollen. Überlebt haben lediglich die von Beethoven vertonten drei Szenen sowie ein Trauermarsch. Als Melodram, begleitet von einer Glasharmonika, ist die Abschiedsszene der Leonore angelegt. Naxos hat sie in künstlerischer Personalunion dem französischen Komponisten Thomas Bloch übertragen. Er gilt als gesuchter Experte für historische Instrumente. Reetta Haavisto singt das von einer traditionellen Harfe begleitete Lied innig.

Für die Schauspielmusik zu Goethes „Egmont“ gönnte sich Naxos ebenfalls eine neue Produktion mit Segerstam und seinem Orchester. Sie wirkt erdenschwer und wuchtig, teils sogar etwas rau und setzt sich dadurch von anderen Interpretationen deutlich ab. Zusätzlich wird die Andersartigkeit dieser Einspielung noch durch die Besetzung mit Matti Salminen verdeutlicht, dem sein gewaltiger Bass der Sprechrolle etwas im Wege zu stehen scheint. Ein anrührendes Clärchen ist Kaisa Ranta. Made in Finnland mit Segerstam und bereits anderweitig in Erscheinung getretenen Solisten, sind auch die „Kantate auf die Erhebung Leopold II. zur Kaiserwürde“, „Christus am Ölberge“ sowie die „Kantate auf den Tod Kaiser Joseph II.“, während für die „Missa Solemnis“ auf eine Produktion mit Lori Phillips (Sopran), Robynne Redmon (Mezzo), James Taylor (Tenor), Jay Baylon (Bassbariton) und dem Nashville Symphony Orchestra and Chorus unter Kenneth Schermerhorn zurückgriffen wurden, die bereits 2004 bei Naxos erschien. Bereits separat auf den Markt gebracht und von Operalounge ausführlich besprochen stechen „König Stephan“ und „Die Ruinen von Athen“ als die Highlights der Edition hervor. Großer Verbreitung auf Tonträgern und im Konzertsaal erfreuen sich die Ouvertüren zu diesen Festspielen. Auch die einzelnen musikalischen Nummern – Chöre, Zwischenmusiken, Märsche, Arien, Duette – sind nicht nur einmal vollständig aufgenommen worden. Naxos legt erstmals die kompletten Werke vor, zur Musik auch den gesprochenen Text. So gehört sich das in einem Gedenkjahr. Beethoven hatte die Bühnenmusiken für das neue Theater in Pest, das seinerzeit noch eine selbstständige Stadt war und erst 1873 mit den ebenfalls eigenständigen Buda zu Budapest zusammengelegt wurde, komponiert. Revolutionäre Theaterstücke, die dem Freiheitsgedanken huldigen wie Fidelio oder die 9. Sinfonie, sind nicht zu erwarten. Im Gegenteil. Dem Anlass gemäß werden Pathos und Heldenverehrung historisch verbrämt und mit antiker Garnierung gereicht. Auch das ist Beethoven. Er lebte von Aufträgen. Ohne die Eibettung in das Gesamtwerk bleiben die musikalischen Nummern unverständlich. Andererseits ist es schwer vorstellbar, diese Schöpfungen einem heutigen Publikum bei einer öffentlichen Aufführung zuzumuten. Umso verdienstvoller ist es, die Stück als Ganzes wenigstens in dieser Form zugänglich zu machen, zumal in einem Jubiläumsjahr, in dem solche Ausgrabungen mehr wiegen sollten als eine neue Einspielung aller Sinfonien. Zu danken ist die Ausgrabung wiederum Leif Segerstam, dem Chorus Cathedralis Aboesis und dem Turku Philharmonic Orchestra. Es war eine glückliche Wahl, für beide Werke deutschsprachige Schauspieler zu verpflichten. Sie garantieren die Textverständlichkeit: Angela Eberlein,Claus Obalski, Roland Astor, Ernst Oder. Die drei Gesangspartien in den „Ruinen von Athen“, das griechische Mädchen, der Grieche sowie der Hohepriester sind mit Reetta Haavisto und Juha Kotilainen besetzt.

Allein sieben CDs werden für die irischen, walischen, schottischen und englischen Songs gebraucht, die in Konzerten ein Schattendasein führen, in Editionen aber respektvoll behandelt werden. Portionsweise sind sie sehr gut anzuhören. Naxos hat verschiedene Quellen angezapft. Die Reihe der Namen der Sänger ist lang. Antonia Bourvé, Rebekka Stöhr, Haakon Schaub, Georg Poplutz, Rainer Trost, Paul Armin Edelmann vertreten die aktive Generation. Die Seniorenabteilung ist von Sängern, die in der DDR sehr populär waren, belegt, darunter der inzwischen dreiundneunzigjährige Günther Leib, Eberhard Büchner und Ingeborg Springer, die die achtzig erreicht haben, sowie der Mittsiebziger Siegfried Lorenz. Etwa gleichalt ist die Engländerin Pamela Coburn, die sich klassischer Lieder annimmt. Bereits seit mehr als zwanzig Jahren tot ist Hermann Prey, der sich mit „Adelaide“ und dem Zyklus „An die ferne Geliebte“ auf den Höhnen von Beethovens Liedkunst bewegt als könnte ihm niemand das Wasser reichen. Berücksichtigt sind unterschiedliche Fassungen von Liedern. Von „Sehnsucht“ nach Goethe gibt es deren vier. Auch Clärchens „Freudvoll und leidvoll“ aus dem Egmont existiert zusätzlich in drei Versionen mit Klavierbegleitung.

Obwohl – wie erwähnt—die Kammermusik der größte Brocken ist, übersteigt es den Rahmen dieser Betrachtung, alle Werke und Mitwirkenden zu nennen. Nur so viel: Die Streichquartette werden vom Kodály Quartet gespielt. Es handelt sich um eine Aufnahme aus den späten neunziger Jahren. Interpret der mit Abstand meisten Klaviersonaten ist der Ungar Jenö Jandó, unterstützt vom israelischen Pianisten Boris Giltburg. Ein durch und durch europäisches Projekt sind die fünf Klavierkonzerte mit dem Österreicher Stefan Vlader als Solist und der vom englischen Dirigenten Barry Wordsworth geleiteten Capella Istropolitana aus der slowakischen Hauptstadt Bratislava. Die Slowakische Philharmonie unter der Leitung von Kenneth Jean spielt mit der Japanerin Takako Nishizaki das Violinkonzert (Naxos 90 CDs 8.500250 /weitere Information zu den CDs im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.).

 

Wer hat, der hat. Ein anderes Etikett. Und schon wird aus der von Brilliant Classics bereits vor einiger Zeit herausgegeben Ludwig-van-Beethoven-Edition eine aktuelle Würdigung zu seinem 250. Geburtstag. Auf 85 CDs ist nach Angaben des Labels das Gesamtwerk des Komponisten gebannt. Nicht ganz. Wer ganz genau hinschaut und die Track-Listen durchforstet, findet immer eine Lücke. Und sei sie noch so klein. Wo ist Leonore Prohaska mit den Bruchstücken aus der Schauspielmusik? Dafür finden sich in der Edition die kompletten musikalischen Teile der 1812 in Pest, das damals noch nicht mit Buda zu Budapest verbunden war, uraufgeführten Festspiele König Stephan und Die Ruinen von Athen. Hans Hubert Schoenzeler leitet den Berliner Konzertchor und die Berliner Symphoniker. Ein Wiederhören gibt es mit der packenden Egmont-Musik wie sie 1970 für das DDR-Label Eterna mit der Staatskapelle Berlin unter Heinz Bongartz, der Sopranistin Elisabeth Breul und dem Schauspieler Horst Schulze eingespielt wurde. Diese Aufnahme hat insofern besonderen historischen Wert, weil sie schon einmal zu einer Jubiläumsedition gehörte, die zum 200. Geburtstag Beethovens in der DDR herauskam.

Gleiches gilt für eine Arien-CD, deren Inhalt auch zu dieser Sammlung gehörte, die auch über das Jahr 1970 hinaus vervollständigt wurde. Die Solisten Hanne-Lore Kuhse, die unter anderen „Ah! Perfido“ und „Primo amore“ singt, Eberhard Büchner und Siegfried Vogel. Die Leitung hat Arthur Apelt, ein Kapellmeister alter Schule, dem das Publikum der Staatsoper Unter den Linden bewegende Aufführungen zu danken hatte. Für die Kantaten Auf den Tod Josephs II. und Auf die Erhebung Leopolds II. zur Kaiserwürde wurden Mitschnitte aus Tallinn mit dem von Tönu Kaljuste geleiteten Estonia National Symphony Orchestra, Fiona Cameron (Sopran), Teele Jöks (Mezzo), Mati Körts (Tenor) und Leonid Savitski (Bass) gewählt, die deutlicher hätten gesungen werden können, der Edition aber einen gewissen europäischen Touch verleihen. Aus Lugano wird – ebenfalls als Mitschnitt – die Kantate Der Glorreiche Augenblick, die mit dem Ausruf „Europa steht!“ anhebt, beigesteuert. Sie wurde bekanntlich zur Eröffnung des Wiener Kongresses 1814 komponiert. Das Solistenquartett setzt sich hier aus Alla Simoni, Francesca Pedaci, Jeremy Ouvenden und Robert Gierlach zusammen. Dirigent von Chor und Orchester des Schweizerischen Rundfunks ist Diego Fasolis, der sich als Spezialist für Barockmusik einen Namen gemacht hat. In sprachlicher Umkehrung tragen Eike Heilmann (Sopran), Anne Bierwirth (Alt), Daniel Johannsen (Tenor) und Manfred Bittner – allesamt deutschsprachig – begleitet von Elisabeth Grünert am Klavier „Mehrstimmige italienische Gesänge“ vor. Diese Sänger sind auch mit Vokalwerken wie dem Opferlied und dem Hochzeitslied beschäftigt, während die Provenienz der Kantate Meeresstille und Glückliche Fahrt bis nach Minnesota reicht. Dem Saint Louis Symphony Chorus an Orchestra mit dem Dirigenten Jerzy Semkow und dem Pianisten Walter Klien ist die berühmte Chorfantasie anvertraut. Für den entschlossenen finalen Gesang „Es ist vollbracht“ des Singspiels Die Ehrenpforten wurde wieder auf DDR-Bestände zurückgegriffen. In der Blüte seiner Karriere ist der Bassist Siegfried Vogel zu hören. Der Text zu diesem Singspiel stammt von Georg Friedrich Treitschke, der auch das Fidelio-Libretto verfasste.

Die Oper selbst kommt als Live-Produktion des London Symphony Orchestra von 2006 aus London. Colin Davis, der die Oper bereits für RCA aufnahm, hat die musikalische Leitung. Er lässt sich viel Zeit und zelebriert das Quartett wie ein kleines Drama im Drama. Die Wirkung ist hin, wenn sich die Sänger – allesamt des Deutschen hörbar nicht mächtig – an den Dialogen abarbeiten müssen. Christina Brewer ist die Leonore, Sally Metthews die Marzelline, John Mac Master der Floresten, Kristinn Sigmundsson der Rocco. Den Pizarro singt Juha Usitalo, Daniel Borowski den Minister und Andrew Kennedy den Jaquino. Als gute alte Bekannte hält – wie auch bei Naxos – die Leonore Einzug in der Edition. Dass es sich dabei um die Erstfassung des Fidelio von 1805 handelt, wird vorausgesetzt – und nicht mehr erwähnt. Als diese deutsch-deutsche Gemeinschaftsproduktion neu auf den Markt kam, war der Hinweis auf die Fassung die entscheidende Information. Edda Moser (Leonore), Helen Donath (Marzelline), Richard Cassily (Florestan) und Karl Ridderbusch (Rocco) kamen aus dem Westen zu den Aufnahmesitzungen 1976 in der Dresdener Lukaskirche. Die DDR stellte mit Theo Adam den Pizarro, mit Hermann Christian Polster den Ferrando und mit Eberhard Büchner den Jaquino. Rainer Goldberg, der später selbst ein berühmter Florestan werden sollte, sang neben Siegfried Lorenz einen der beiden Gefangenen. Ein Heimspiel hatte die Staatskapelle Dresden, während aus Leipzig der Rundfunkchor angereist war. Bis auf Cassilly, der von dem Dresdner Bassisten Gunter Emmerlich gedoubelt wird, sprechen die Sänger die Dialoge selbst, was bei Brilliant Classic auch unter den Tisch fällt. Horst Seeger, der für sein mehrfach im Henschel aufgelegtes Opernlexikon noch immer geschätzt ist, führte Regie. Um der Sprachmelodie Willen gibt es nur kleine Änderungen am Originaltext. 1973 in Leipzig eingespielt, hat auch die Missa Solemnis ihren Platz in diversen Katalogen behauptet. Als Sopran war Anna Tomowa-Sintow verpflichtet worden, die auf dem Sprung in die internationale Karriere war, die Peter Schreier bereits eingeschlagen hatte. Annelies Burmeister, in Bayreuth als Fricka geschätzt, ist der Alt, Polster, dessen Name bereits als Don Ferrando gefallen war, der Bass. Dabei ist wiederum der Leipziger Rundfunkchor. Am Pult des Gewandhausorchesters steht dessen damaliger Chef Kurt Masur. Mehr als zwanzig Jahre später entstand die Einspielung der Messe in C-Dur mit der Gächinger Kantorei und dem Bach-Collegium Stuttgart unter Helmuth Rilling. Die Solisten sind Katherine von Kampen (Sopran), Ingeborg Danz (Alt), Keith Lewis (Tenor) und Michel Brodard (Bass). Christus am Ölberge ist eine Ausgrabung von 1963, die zunächst nur bei Vox auf Vinyl in Umlauf war, später beim Label Concerto Royale auf CD gelangte. Dirigent des einzigen Oratoriums von Beethoven ist Josef Bloser, der fast nur im Zusammenhang mit dieser Aufnahme Erwähnung findet. Er leitet die Stuttgarter Philharmoniker. Liselotte Rebmann trägt die Sopranpartie des Seraph etwas spitz vor. Tiefgang als Jesus lässt Reinhold Bartel vermissen, der vornehmlich in Operetten unterwegs war. Er hat sich zu einer betont irdischen Deutung entschlossen hat. Den Petrus singt August Messthaler, dem auf Rückseite der entsprechenden CD (72) die letzten beiden Buchstaben genommen sind. In Grenzen hält sich die Klangqualität besonders in den Chorpassagen. Nun die Lieder. Wieder hat sich Brilliant bei alten DDR-Beständen bedient und ist mit einer der schönsten Deutungen des Zyklus An die Geliebte fündig geworden, der den Gipfel von Beethovens Liedschaffen markiert und zu seinen populärsten Schöpfungen gehört. Solist ist Peter Schreier, der nie schöner gesungen hat als in dieser Aufnahme. Auf dem Höhepunkt seiner Kunst war er Ende der 1960er Jahre mit Walter Olbertz ins Studio gegangen, der den schwierigen Klavierpart mit Leichtigkeit und bei der Wahl des Tempos überraschende Lösungen anbieten. Beide harmonieren auch bei zahlreichen anderen Nummern, verteilt über drei CDs. Dass auch die ewig junge Adelaide dabei ist, versteht sich von selbst. Unverständlich hingegen ist es, die Sopranistin Adele Stolte bei einem Duett mit italienischem Text nicht namentlich zu erwähnen. Die Mezzosopranistin Anna Haase bringt auf der CD, die sie mit dem Bariton Florian Prey bestreitet, in Erinnerung, dass es auch ein Lied „An den fernen Geliebten“ gibt. Diese von Norbert Groh pianistisch begleitete Zusammenarbeit ist eine Spurensuche nach seltenen Titeln. So hat Beethoven auch seine Mignon auf den Text von Goethe komponiert und sich bei dem Dichter auch für „Neue Liebe, neues Leben“, „Sehnsucht“ sowie für „Der edle Mensch ist hülfreich und gut“ bedient. Ein Kapitel für sich sind im Werke Beethovens sind Bearbeitungen schottischer, irischer und walischer Volkslieder, die über sieben CDs verteilt sind. Auftraggeber war der in Edinburgh ansässige Sammler und Verleger Georges Thomson. Rückbesinnungen auf Volkslieder waren in der Romantik weit verbreitet, entsprechen dem Geist der Zeit. Beethoven verstand die Arbeiten, die zwischen 1815 und 1818 in Wien entstanden, vor allem als Broterwerb. Ein finanzieller Erfolg dürften sie für den Verleger trotz des berühmten Tonsetzers nicht gewesen sein. Noch 1821 klagte Thomson einem bei Wikipedia zitierten Brief: „Ich gebe mich nicht der Erwartung hin, jemals einen Gewinn aus dem zu ziehen, was Beethoven für mich geleistet hat; er komponiert für die Nachwelt. Ich hatte gehofft, sein Genius würde sich hinabneigen und sich dem schlichten Charakter der Nationalmelodien anpassen, doch er erwies sich im allgemeinen als zu gelehrt und zu exzentrisch für meine Zwecke und alle meine Golddukaten … waren weggeworfenes Geld.“ Unter den zahlreichen Solisten sind Renate Krahmer, Antonia Bourvé, Dorothee Wohlgemuth, Barbara Emilia Schedel (Sopran), Ingeborg Springer, Kerstin Wagner, Christine Wehler, Rebekka Stöhr (Mezzosopran bzw. Alt), Eberhard Büchner, Daniel Schreiber, David Mulvenna Hamilton, Georg Poplutz, Armin Ude (Tenor), Haakon Schaub, Günther Leib, Jens Hamann, Siegfried Lorenz, Daniel Raschinsky (Bariton bzw. Bassbariton). Die den vokalen Werken gewidmete Ausführlichkeit will die Proportionen im Schaffen Beethovens nicht verschieben. Es ist so gewollt, weil sich Operalounge – wie es der Name schon sagt – vornehmlich dem Gesang verschrieben hat. Gemessen am Volumen von CDs werden zwei Drittel für Sinfonik, Konzerten und Kammermusik in Anspruch genommen. Im Zentrum stehen dabei nach wie vor die neun Sinfonien. Die Wahl fiel auf die von Herbert Blomstedt betreute Einspielung der Staatskapelle Dresden, die sich von 1976 bis von 1980 hinzog. Blomstedt war zu dieser Zeit Chefdirigent. Helena Döse, Marga Schiml sind die Damenbesetzung, Schreier und Adam – wie in Dresden dieser Jahre nicht anders zu erwarten, die Herrenriege. Alfred Brendel, spielt die Klavierkonzerte, die er mehrfach aufgenommen hat und ist auch mit dem Klaviersonaten vertreten. In dieser frühen Produktion wird er von den Wiener Symphonikern unter Heinz Wallberg (1 bis 4) und Zubin Mehta (5) begleitet. Mit dem Violinkonzert und den beiden Romanzen für Violine und Orchester ist die niederländische Geigerin Emmy Verhey zu hören. Stanislaw Skrowacewski dirigiert das Minnesota Orchestra bei diversen Ouvertüren – und nun kommt sie am Ende doch noch ins Spiel: beim Trauermarsch aus Lenore Prohaska (Brilliant Classics 85 CDs 95510). Rüdiger Winter

„Es ist vollbracht“

 

Drei neue Alben haben eines gemeinsam – die Mitwirkungen des Tenors Benedikt Kristjánsson. Gleich zweifach wurde die Johannespassion von Johann Sebastian Bach vorgelegt, dazu der Messiah von Georg Friedrich Händel. In jedem einzelnen Fall handelt es sich um ganz spezielle Editionen. Die Johannespassion für Tenor allein, Cembalo, Orgel und Schlagwerk erschien bei Podium Records (Bezug nur direkt unter der Adresse shop@podium-esslingen.de), in der zweiten Fassung kam die Johannespassion bei Coviello Classics heraus (COV 92007), während der Messiah in der Dublin Version bei Accentus Music (ACC 30499) veröffentlicht wurde. Die Solo-Passion ist ein Mitschnitt im Rahmen des Podium-Festivals Esslingen von 2019, wo sie auch erarbeitet wurde. Kristjánsson war damit durch mehrere Städte getourt und hatte auch in Berlin Station gemacht – in der alternativen Veranstaltungsstätte Radialsystem, einem ausgedienten Abwasserpumpwerk im Szenebezirk Friedrichshain.

„Herr, unser Herrscher, dessen Ruhm in allen Landen herrlich ist.“ Der Bach-erfahrene junge Sänger beginnt tatsächlich mit dem Eingangschor – für Tenor allein, begleitet von Elina Albach an Cembalo und Orgel sowie von  Philipp Lamprecht am aufwändigen Schlagwerk. Da kein Rezitativ gestrichen wurde, geraten die wortreichen Berichte der Passionsgeschichte zur Quintessenz des Werkes. Sie sind die Stärken des Sängers, der aus Island stammt und des Deutschen so mächtig ist, dass kein einziger Buchstabe des Bibeltextes verloren geht. Sie „führeten … Jesum“ vor das Richthaus, Pilatus „hörete“ das Wort und „satzte“ die Überschrift auf das Kreuz, der Rock war „gewürket“, die Mutter „stund“ bei dem Kreuz, in dessen Nähe sich ein „Garte“ befand – und so weiter. Es ist, als würde Kristjánsson mit seinem Vortrag Exegese betreiben. Er singt wie zum Mitschreiben. Klar, hell, höhensicher und ohne die geringste Ermüdungserscheinung – fast unterbrochen mehr als achtzig Minuten lang. Er brauchte – zumindest bei der Vorstellung in Berlin – keine Noten, keinen Spickzettel und auch keinen Schluck aus der Wasserflasche, wie er sich im Konzertleben leider eingebürgert hat. Diese Meisterschaft im Umgang mit dem Wort ist denn auch die Voraussetzung für das Gelingen dieser pausenlosen Produktion.

Verzichtet wird auf etliche Arien, auf die man bei jeder Aufführung wartet. Das ist natürlich bitter. Auch die beiden Tenorarien „Ach, mein Sinn“ und „Erwäge, wie sein blutgefärbter Rücken“ sind weggelassen. Dafür singt Kristjánsson die gewöhnlich dem Sopran vorbehaltene Arie „Ich folge dir gleichfalls“ mit allen Wiederholungen, auch das Bass-Arioso Betrachte, meine Seel, mit ängstlichem Vergnügen“ und die Bassarie „Mein teurer Heiland“, bei denen er in der Tiefe etwas in Bedrängnis gerät, die Altarie „Es ist vollbracht“ und das Tenor-Arioso „Mein Herz, in dem die ganze Welt“. Letztlich bleibt die Auswahl etwas rätselhaft. Nach alter Tradition wird das Publikum zur Gemeinde und ist angehalten, die Choräle zu singen. In Berlin lagen dafür Notenblätter mit den Texten aus. Zu Bachs Zeiten dürfte das nicht nötig gewesen sein. Dabei übernimmt Kristjánsson die Rolle des Vorsängers und Dirigenten. Tatsächlich wird auch auf dem Mitschnitt kräftig eingestimmt. Nur einmal, nämlich bei dem Choral „Christus, der uns selig macht“ tritt für die Singstimmen das Schlagwerk ein, was in seiner Unverhofftheit große Wirkung hat. Hörer, die sich mit der Johannespassion ein wenig auskennen, dürften sie in jedem Moment wiederfinden. Selbst dann, wenn kurze Choreinwürfe vom Solisten als Melodram vorgetragen werden. Die Bearbeitung erweist sich dem Original gegenüber als äußerst respektvoll. Für die schrillen Kreuzigungsrufe des Chores wird eine sehr eindrückliche Lösung gewählt, die man natürlich nur sehen und von einer CD nicht hören kann. Kristjánsson bewegte dabei nur tonlos die Lippen – als sollte das Unaussprechliche auch unausgesprochen bleiben. In den solistischen Schlusschor stimmen die Cembalistin und der Schlagzeuger, die durch ihr Können und ihre Virtuosität vergessen lassen, dass gewöhnlich ein Orchester begleitet, mit ein.

 

Zu einer Entdeckung gerät auch die Johannespassion, die Johann Sebastian Bach Karfreitag 1725, ein Jahr nach der Uraufführung der ersten Fassung aus gleichem Anlass wiederum in Leipzig aufführte. Als Grund für die Bearbeitung wird angenommen, dass nicht an zwei aufeinanderfolgen Jahren mit identischen Werken aufgewartet werden sollte. So betreffen denn auch die auffälligensten Änderungen die Chöre zu Beginn und zum Schluss. Der neue Eingangschor „O Mensch, bewein dein Süde groß“, klingt nicht mehr so erhaben und ausladend. „In ihrem intimeren Tonfall schien uns die zweite Fassung der Johannespassion ideal für eine Aufführung und eine Aufnahme, die ohne Dirigenten ganz aus dem Innenleben der musikalischen Linien heraus gesteuert wird, aus dem Hören aufeinander, im Geben und Nehmen spontaner Ideen“, so der Organist Peter Uehling im Booklet. Er ist Mitbegründer des Ensembles Wunderkammer, das die Produktion mit zwölf Instrumentalisten musikalisch bestreitet. Was Uehling beschreibt, teilt sich denn auch überzeugend mit. Noch ist die Wirkung auf das Publikum das beste Argument für das Gelingen einer Aufnahme. Sie klingt sehr durchsichtig – fast zerbrechlich. Selbst eine dezente Laustärke am heimischen Abspielgerät bedeutet nicht die geringste Einschränkung. Im Gegenteil. Die Intimität der Einspielung wird dadurch nach meiner Erfahrung noch zusätzlich betont.

Es gibt keinen klassischen Chor. Seine großen Aufgaben in der Passion sind dem Solistenensemble AElbgut übertragen, das 2018 gegründet wurde. Es setzt sich aus Isabel Schicketanz (Sopran), Stefan Kunath (Alt), Florian Sievers und Tobias Mäthger (Tenor) sowie Martin Schicketanz (Bass) zusammen. Alle haben sie eine gründliche musikalische Ausbildung absolviert und sich der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts verschrieben. Sie vollbringen den Spagat, dass zwischen ihren solistischen Auftritten und dem Zusammenwirken im Ensemble kein Gegensatz aufkommt. Das geht nur mit Disziplin. Sie wollen dem Werk dienen und sich nicht durch Vereinzelung und Extravaganzen hervortun. Den Jesus singt der Bassist Felix Schwandtke, der um die dreißig sein dürfte. So klingt er auch. Das ist insofern ein Vorteil, weil Jesus uns nicht als salbungsvoller Verkünder entgegen tritt sondern als ein von seiner Mission überzeugter junger Mann, der er der Überlieferung nach auch gewesen ist. Schwandtke ist in seinem Repertoire nicht streng auf Barockmusik festgelegt. An der Semperoper Dresden hat er sogar den Bogdanowitsch in Lehárs Lustiger Witwe gesungen.

Benedikt Kristjánsson tritt diesmal „nur“ als Evangelist in Erscheinung. In Berlin habe ich ihn auch schon in einer klassischen Aufführung der ersten Fassung zusätzlich mit den Arien gehört. Obwohl zart und empfindsam im Ausdruck, ist seine vibratoarme Stimme im Fundament fest und unerschütterlich. Dabei erweckt er nicht den Eindruck, besonders ökonomisch vorgehen zu müssen, hier etwas zu sparen, dafür an anderer Stelle zuzugeben. Kristjánsson ist immer zu hundert Prozent bei der Sache, bis zum letzten Ton. Seine Stärke ist neben dem unverwechselbaren jugendlichen Timbre, die Sicherheit in der Beherrschung der Partie. Er hat sie bis zum Perfektionismus studiert. So gut studiert, dass – wie bei der Johannespassion für Tenor allein – alle Besonderheiten und Eigenwilligkeiten der Lutherischen Sprache bewahrt bleiben. Nichts verwischt oder versinkt im Unbestimmten. Deutlichkeit wird zu dem, was sie sein soll und muss – nämlich Deutung. So ein Ebenmaß ist selten. Er verfügt über eine sehr biegsame Stimme mit festem Sitz. Sein Vortrag ist stilistisch makellos – und tief im Ausdruck, auf den er sich deshalb so konzentrieren kann, weil ihn keine technischen Probleme plagen.

 

Eine der Stärken von Kristjánsson ist es, aus dem Stand den Ton zu treffen. Das kommt ihm gleich zu Beginn des Messiah zugute, womit die dritte Neuerscheinung folgt. Unmittelbar nach der Symphony ist der Tenor zur Stelle: „Comfort ye, my people.“ Er muss nicht erst hinein finden in die Passage, er ist gleich mittendrin. Mit schier endlosem Atem spannt er die Töne in diesem Accompagnato-Rezitativ zu einem weiten Bogen auf, um anschließen fast nahtlos in die mit Koloraturen gespickte Arie „Ev’ry valley shall be exalted“ überzugehen. Wenn das so perfekt gelingt wie hier, ist eine Aufführung – salopp formuliert – so gut wie gelaufen. Für seine Einspielung mit der Gaechinger Cantorey hat deren Chef Hans-Christoph Rademann die Fassung der Uraufführung gewählt. Noch bevor der Messiah seinen auch von zeitweiligen Misserfolgen in London gesäumten steinigen Siegeszug um die Welt antreten konnte, war er 1742 erstmals in Dublin erklungen. Händel hatte – ganz Profi – das Werk mehrfach den jeweils aktuellen Aufführungsbedingungen angepasst. Eine „definitive“ Fassung gebe es daher nicht, stellt der Musikwissenschaftler Henning Bey im Booklet heraus. Da die Sänger erst nach der Komposition feststanden, habe er Teile für deren individuelle Fähigkeiten eingerichtet. Die Altistin Susanna Cibber, die vor allem für ihrer musikalische Ausdruckskraft bewundert wurde, kannte und schätzte Händel bereits seit ihrer Mitwirkung in der Erstaufführung seines Oratoriums Deborah, ist aus dem Booklet zu erfahren. „Händel dürften daher weniger ihre stimmlichen Qualitäten, sondern mehr ihre außergewöhnlichen gestalterischen Fähigkeiten angesprochen haben.“ Damit erkläre sich der rote Faden ausdrucksstarker Alt-Arien, die sich durch die Erstfassung ziehen.

Der Part ist in der neuen Aufnahme dem Alto Benno Schachtner übertragen. Er entscheidet sich für eine völlig unspektakuläre Darbietung und trägt die Arien stilistisch gradlinig und verinnerlicht vor. Und das ist auch gut so, weil wir nicht einmal erahnen können, wie einst die Cibber gesungen hat. Der Sopran ist Dorothee Mields, eine gesuchte Fachfrau für Barockmusik. Ihre gut gebildete Stimme bereitet durchweg Vergnügen. Schade, dass der Sopran im Werk am wenigsten zu tun. Ich hätte ihr gern länger zugehört. Tobias Berndt, der Bass, kommt aus dem Dresdener Kreuzchor, nahm noch Unterricht bei Dietrich Fischer-Dieskau und hat sich als Konzertsänger im In- und Ausland etabliert. Seine Stimme blüht in der Höhe erst richtig auf, wo es für andere knapp werden kann. Am Pult sorgt der Dirigent Rademann für eine sehr schwungvolle mit prächtigen Blechbläsern versehene Darbietung. Rüdiger Winter

 

Das Foto oben zeigt Benedikt Kristjánsson während der „Johannespassion für Tenor allein“, die in der Thomaskirche Leipzig produziert und Karfreitag vom Mitteldeutschen Rundfunk (MDR)  gesendet wurde/ Screenshot aus der Sendung. Diesmal war ein Vokalquartett mit Isabel Meyer-Kalis und Julia Sophie Wagner (Sopran), David Erler (Altus), Wolfram Lattke (Tenor) und Gotthold Schwarz (Bass) dabei. Schwarz ist der Thomaskantor und hatte auch die Leitung. Die Choräle sangen Mitglieder verschiedener Chöre im In- und Ausland, die per Video zugeschaltet waren. Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei https://www.note1-music.com/shop/.

Der singende Cellist

 

Simon Wallfisch ist nicht nur Sänger. Er ist zudem Cellist. Für Brahms dürfte das kein Nachteil sein. Der hat für das Cello komponiert. Die dunklen schattigen Töne, die dieses Instrument hervorzubringen im Stande ist, meint man aus vielen Werken herauszuhören. Auch aus den Liedern. Der 1982 in London geborene Bariton hat jetzt eine CD mit siebenundzwanzig Titeln vorgelegt: Songs of Loss and Betrayal. Erschienen ist sie bei Resonus (RES10258). Begleitet wird er von Edward Rushton, der sich auch als Opernkomponist einen Namen gemacht hat. Aufmerksamkeit und Anerkennung verdient die CD allein durch die Programmauswahl. Wallfisch pickt sich nichts heraus aus dem reichen Liedschaffen von Brahms. Er geht stringent vor und hat vier in sich geschlossene Gruppen, wie sie vom Komponisten geschaffen, zusammengestellt und bezeichnet wurden, eingespielt. Im Einzelnen sind das Lieder und Gesänge, Op. 32; Lieder und Gesänge von G. F. Daumer, Op. 57; Fünf Lieder, Op. 105 und Fünf Lieder Op. 94. Daumer, der im Titel einer Gruppe ausdrücklich genannt ist, dürfte als Erzieher des rätselhaften Findlings Kaspar Hauser mehr in Erinnerung geblieben sein denn als Lyriker. Er war einer der bevorzugten Textdichter des Komponisten. Um die fünfzig Lieder gehen auf ihn zurück, darunter die „Liebeslieder“ und die „Neuen Liebeslieder“, in denen nur das Finale einem Gedicht von Goethe folgt.

Auf der neuen CD tauchen auch die Dichter Friedrich Rückert, August von Platen, Emanuel Geibel und Detlev von Liliencron auf. Mit der „Sapphische Ode“ und den Liedern „Wie Melodien zieht es mir“, „Immer leiser wird mein Schlummer“ oder „Wie bist du, meine Königin“ sind Meisterwerke im Angebot, die jedem auf Anhieb in den Sinn kommen, wenn nur der Name Brahms fällt. Sie gelingen Wallfisch ganz vorzüglich, was vielleicht auch darauf zurückzuführen ist, dass sie dem Sänger wie in die Kehle geschrieben scheinen. Sein Bariton klingt erdig und gelegentlich etwas herb und rau. Während die Mittellage in sich geschlossen dahin fließt, fällt die Höhe mitunter etwas knapp aus. Der Sänger ist noch jung genug, um weiter daran zu arbeiten.

In jüngster Vergangenheit hatte Simon Wallfisch, der auch in Leipzig und Berlin studiert hat, durch eine persönliche Entscheidung Aufsehen erregt. Aus Sorge um die Auswirkungen des Brexit in seinem Heimatland hatte er zusätzlich die deutsche Staatsbürgerschaft erworben. Wenn er weiterhin in ganz Europa auftreten wolle, dann könnte der britische Pass dafür schon bald nicht mehr reichen, äußerte er in einem Interview für „Focus Online“. Regelmäßig begleitete er bei Reisen seine 1925 geborene Großmutter Anita Lasker-Wallfisch, die selbst Cellistin ist und als eine der letzten bekannten Überlebenden des Mädchenorchesters von Auschwitz gilt. Vor neuem Antisemitismus hatte sie 2018 in einer bewegenden Rede im Deutschen Bundestag gewarnt (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei https://www.note1-music.com/shop/.). Rüdiger Winter

Arlene Saunders

 

Mit Bedauerrn hörten wir vom Tod der Sopranistin Arlene Saunders, lange Jahre erste Sängerin an der Hamburgischen Staatsoper, später in Paris und an internationalen Häusern. Sie  stammte aus Cleveland im US-Bundesstaat Ohio. Dort wurde sie am 5. Oktober 1935 geboren. Ihre Ausbildung absolvierte sie am Baldwin-Wallace-College in North Carolina, wo sie 1958 bei der dort ansässigen unabhängigen National Opera Company als Rosalinde in der Fledermaus debütierte. Rüstzeug für das italienische Fach erwarb sie sich anschließend in Italien, wo sie am Mailänder Teatro Nuovo die Mimi in La Bohéme sang. Zurück in den USA, wurde sie 1961 an die New Yorker City Opera engagiert. Die Antrittsrolle war die Giorgetta in Puccinis Tabarro. Bevor die Sängerin 1963 an die Hamburgische Staatsoper verpflichtet wurde, war sie in ihrer Heimat in verschiedenen Ensembles als Marschallin im Rosenkavalier, Micaela in Carmen, oder Minnie in Fanciulla del West zu hören. Ihre Vielseitigkeit war früh angelegt. Zunächst hatte sie ein Angebot aus Köln. Sie entschied sich aber für Hamburg, weil sie dort Landsleute traf. Mit Jeanette Scovotti, Tatiana Troyanos und Richard Cassilly schloss sie Freundschaft.

Die deutsche Hansestadt mit ihrem reichhaltigen Spielplan wurde zu einem Zentrum ihres Wirkens, das aber auch weiterhin durch eine intensive Reisetätigkeit geprägt gewesen ist. Eine Station war die Metropolitan Opera, wo sie dreimal die Eva in Wagners Meistersingern von Nürnberg sang. Wie die Sängerin in einem Interview bekannte, war Wagner ihr Lieblingskomponist. Deutsch hatte sie schnell gelernt. In Hamburg blieb sie zunächst für drei Jahre und verlängerte dann noch einmal für denselben Zeitraum, blieb dem Haus aber als Gast verbunden und wurde 1985 zur Kammersängerin ernannt. Als Marschallin nahm sie am Teatro Colón Abschied von der Bühne. Sie lebte fortan in New York und war dem Psychiater Raymond Raskin, dem Witwer der Sängerin Judith Raskin, verheiratet. Zu deren Gedenken veranstaltete sie jährlich Liederabende.

Kenner schätzten ihre unmanierierte Stimme. Gleich mehrere Opernfilme – die meisten sind bei Arthaus auf DVD veröffentlicht worden – haben das etwas distanziertes Spiel der Saunders festgehalten. Diese Produktionen fallen alle in die Zeit, in der Rolf Liebermann Intendant der Hamburgischen Staatsoper gewesen ist. Im Einzelnen handelt es sich um Figaros Hochzeit, Freischütz, die Meistersinger von Nürnberg und Arabella. Der Freischütz wird auch wegen der Mitwirkung von Ernst Kozub als Max und Gottlob Frick als Kaspar geschätzt. In Menottis Hilfe, Hilfe! Die Globolinks! vollbrachte sie als überkandidelte Madame Euterpova eine komödiantische Meisterleistung. Darüber hinaus gibt es nur ganz wenige offizielle Schallplattenaufnahmen – darunter Mendelssohns Sommernachtstraum unter Erich Leinsdorf bei RCA – mit ihr. Am 17. April 2020 ist Arlene Saunders gestorben. Carl Meffert/RW

„o schönste Schäf’rin mein“

 

Bisher hat Hyperion jede Folge der Aufnahmen aller Lieder von Johannes Brahms solistisch unterschiedlich besetzt. Das scheint ein Prinzip dieser Edition zu sein. Kontinuität garantiert hingegen Graham Johnson, der bei sämtlichen bisherigen Teilen am Klavier gesessen hat. Mit Vol. 9 ist jetzt der irische Tenor Robin Tritschler an der Reihe. Er wurde an der Royal Irish Academy of Music ausgebildet und debütierte 2013 als Narr in Wozzeck. Es folgten Belmonte, Don Ottavio, Ferrando, Narraboth, Graf Almaviva und Nemorino an diversen Häusern und bei Festivals auch auf dem europäischen Kontinent und in Übersee. Er ist gut im Geschäft, zumal er sich auch ein solides Lied-Repertoire sowie die großen Passionen von Bach erarbeitet hat.

Tritschler singt einundzwanzig Solotitel und mit der Sopranistin Harriet Burns weitere neun Nummern der Sammlung „Deutsche Volkslieder“, darunter die anspielungsreiche Nummer eins „Sagt mir, o schönste Schäf’rin mein“. Damit sind 24 von insgesamt 49 dieser Volkslieder im Kasten. Auf der Harriet Burns gewidmeten CD waren beide bereits gemeinsam mit dem Zyklus beschäftigt. Man darf gespannt sein, welche Sänger neben dem ebenfalls schon beteiligten Benjamin Appl die noch ausstehenden Titel dieses populären  Brahms-Opus übertragen bekommen. Mit „Mondnacht“ und „In der Fremde“ sind zwei Eichendorff-Vertonungen zu hören, die zuvor Robert Schumann in seinen „Liederkreis op. 39“ aufgenommen hatte. Die Frage, wer besser abschneidet, stellt sich nicht. Brahms gelingen in seinen deutlich späteren Vertonungen eigenständige Werke, die den Vergleich mit dem Vorgänger nicht zu scheuen brauchen. Wäre der Tenor nicht so gut zu verstehen sein, dieselben Textvorlagen fielen nicht gleich auf. Tritschler sind Poesie und Lyrik, die beide Varianten auszeichnen, in die Stimme gelegt. Mit „Feldeinsamkeit“ und „Vergebliches Ständchen“ hat er zwei der schönsten Brahms-Lieder im Programm. Das ist einerseits ein Glück, andererseits sitzt ihm aber auch eine starke Konkurrenz im Nacken. Er behauptet sich aber mit seinem ganz eigenen klaren Erzählstil, der offenbar auch durch die Erfahrungen als Evangelist geprägt ist. „Vergebliches Ständchen“ wird – wieder mit Harriet Burns – im Duett gesungen. So hatte es auch der Komponist festgelegt. Erst in der Konzertpraxis war es zum Sololied geworden (Die CDs sind im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei Note 1 erhältlich.)

 

Mit der jungen englischen Sopranistin Harriet Burns war in Vol. 8 (CDJ33128) eine CD-Debütantin aufgeboten worden. Ein Geburtsdatum findet sich nicht, weder im Booklet noch auf ihrer Homepage oder sonstwo im Netz. Der Nachwuchs gibt sich gern geheimnisvoll und zeitlos wie einst Marlene Dietrich. Aus gewissen Eckdaten wie Ausbildung und ersten Auftritten geschlossen, dürfte sie um die Dreißig sein. Neben Liedern hat sie sich Opernpartien wie Zdenka, Susanna und Marzelline zugelegt  und erfolgreich an diversen Wettbewerben teilgenommen. Sie scheint bei ihrer Karriereplanung nichts zu überstürzen. Eine CD wie diese kann hilfreich sein, den Weg zum Erfolg zu ebnen. Der Einstieg ist mit dem „Spanischen Lied“ op. 6 gut gewählt.

Dabei handelt es sich um dasselbe von Paul Heyse übersetzte Volkslied, dem Hugo Wolf später in seinem Spanischen Liederbuch anhand der ersten Zeile den Titel „In dem Schatten meiner Locken“ gab. Mit Orchesterbegleitung floss es in seine Oper Der Corregidor ein. Brahms klingt nicht so leicht und frivol wie Wolf. Er tut sich etwas schwerer mit dem Thema. Harriet Burns fordert ihn heraus, indem sie etwas von der moderneren Wolf‘schen Herangehensweise Brahms beimischt. So mein Eindruck. Alles in allem offenbart die Programmauswahl die Stärken ihres durch und durch lyrischen Soprans, der wunderbar aufblühen kann wie in den beseelten „Sechs Gesängen“ op. 7, in denen auch Gedichte von Eichendorff und Uhland vertont wurden. Sie sind deutsche Romantik pur, und Harriet Burns offenbart einen tiefen Sinn und eine Begabung für derlei Repertoire. Wenngleich es hier und da mit der Wortdeutlichkeit hapert, so vermag sie stets musikalisch auszudrücken, worum es geht. Das ist ein deutlicher Hinweis auf ein sehr intensives Studium der Lieder. Aber es reicht noch nicht. Brahms, der sehr wählerisch war bei der Auswahl seiner Texte, muss in jedem Moment verständlich gesungen werden. Gelingt es der Künstlerin, ihren Vortrag sprachlich zu perfektionieren, wird von ihr – daran habe ich nicht den geringsten Zweifel – noch viel zu hören sein.

 

Der Bariton Benjamin Appl, der Vol. 7 bestreitet, hat sich dem Liedgesang verschrieben (CDJ33172). Vieles deutet darauf hin, dass er diesen Weg konsequent weitergeht. Auftritte, die er auf seiner eigenen Homepage ankündigt, sind vornehmlich diesem Genre verpflichtet. Operntermine finden sich nirgends. Nur ein paar Arienprogramme. Dabei hat dieser Sänger durchaus einschlägige Erfahrungen beispielsweise als Graf in Mozarts Figaro in London oder als Aeneas in Purcells Oper Dido and Aeneas beim Aldeburgh Festival gesammelt. Er sieht blendend aus, ist groß gewachsen und charmant im Auftreten. Schon rein äußerlich bringt er also alle Voraussetzungen für eine Bühnenlaufbahn mit. Sängerisch sowieso. Opernhäuser wären gut beraten, den jungen Bariton mit einer passenden Aufgabe zu locken. Wann, wenn nicht jetzt? Seine CD wurde im Dezember 2016 produziert. Mit achtundzwanzig Titeln in fast achtundsiebzig Minuten ist das Fassungsvermögen erreicht. Berücksichtigt ist fast die gesamte Schaffensperiode von Brahms. „Liebe und Frühling I und II“ aus den „Sechs Gesängen für eine Tenor- oder Sopranstimme“, die der zwanzigjährige Komponist der verehrten Schriftstellerin Bettina von Arnim, die damals im achtundsechzigsten Lebensjahr stand, widmete, bilden den Auftakt. Am Schluss stehen acht Nummern aus den „Deutschen Volksliedern“. Brahms liegt Benjamin Appl. Seine Stimme ist technisch perfekter geworden. Das weiche, sensible Timbre mit hohem Wiedererkennungswert findet bei diesem zur Schwermut neigenden Komponisten womöglich noch mehr inhaltliche und formale Entsprechung als bei Schubert. Getragene Passagen gelingen besser als die schnellen Läufe. Geht die Stimme nach oben, scheint sie an Halt zu verlieren und büßt auch an Wohlklang ein. Appl sollte sich noch mehr zurücknehmen, etwas ökonomischer agieren und nicht alles Pulver zu früh verschießen. Es muss gestalterisch immer noch eine Reserve nach oben sein. Er neigt dazu, Passagen zu übersingen. Kritische Einwände gelten zudem technischen Details. Konsonanten sind eine Herausforderung für Sänger. Das wird gleich beim ersten Liedanfang der CD deutlich: „Wie Rebenranken schwingen“. Satt „Wie“ ist da „Whie“ zu hören. Das eingeschobene h sollte weg.

 

Doch nun der Reihe nach. Hyperion arbeitet an der Edition nun schon das zwölfte Jahr. Das ist ein ziemlich langer Zeitraum für so ein überschaubares Unternehmen. Brahms hat 204 Sololieder hinterlassen. Es besteht die Gefahr, dass es in Vergessenheit gerät, bevor es noch zu Ende gebracht ist. Die Konkurrenz schläft nicht. Eine Gesamtaufnahme ist auch mit Juliane Banse, Iris Vermillion, Andreas Schmidt und Helmut Deutsch am Klavier bei cpo zu haben. Zudem drängt eine CD nach der anderen auf den Markt. Besonders junge Sängerinnen und Sänger entdecken Lieder für sich, die auch kostengünstiger eingespielt werden können als Arien mit Orchesterbegleitung. Nicht auszuschließen ist, dass pekuniäre Gründe künstlerische überlagern. Allgegenwärtig sind die Legenden, deren große Schatten bis in die Gegenwart hineinreichen. Nicht immer zum Vorteil der nachgewachsenen Generation. In jüngster Zeit gab es diverse Anlässe, die Lebenswerke von Christa Ludwig, Elisabeth Schwarzkopf oder Brigitte Fassbaender neu zu editieren. Auch Jessye Norman, Janes Baker und Dietrich Fischer-Dieskau müssen genannt werden. Sie alle haben sich während ihrer gesamten Karriere immer wieder intensiv und nachhaltig mit Brahms auseinander gesetzt. An der Ludwig kommt niemand vorbei, der sich Brahms zuwendet. Wie ich finde, hat sie von allen dokumentierten Kolleginnen und Kollegen den tiefsten Ausdruck für diesen Komponisten gefunden.

2008 war die Mezzosopranistin Angelika Kirchschlager als erste für de Edition in London ins Studio gegangen. Ihre Vorteile für Vol. 1 (CDJ3121) waren Muttersprachlichkeit, Erfahrung und Stimmlage. Brahms verträgt dunkle Frauenstimmen gut. An die Ludwig darf allerdings niemand denken, wer sie hört, zumal sie mit „Von ewiger Liebe“ eines der Lieder im Programm hat, das die inzwischen Einundneunzigjährige einst, begleitet von Geoffrey Parsons (EMI), für die Ewigkeit festgehalten zu haben schien. Mit seiner unendlichen schwermütigen Melodie klingt es bei ihr wie ein kleiner Tristan. Die Kirchschlager singt Brahms klarer, härter, zupackender und damit wohl auch moderner. Sie bleibt allerdings das Geheimnis schuldig.

 

Fast zwei Jahre vergingen, bis sich Christine Schäfer für Vol. 2 anschickte (CDJ33121). Obwohl nahezu gleichaltrig mit der Kollegin klingt sie jünger und zarter, was vornehmlich auf ihren Sopran zurückzuführen sein dürfte. Darauf ist auch ihre Auswahl zugeschnitten mit den „Ophelia-Gesängen“ – im Gegensatz zu Richard Strauss komponierte Brahms fünf an der Zahl – und diversen kecken Mädchenliedern. Obwohl seine CD eher eingespielt wurde als die von Christine Schäfer, wurde der 1984 in Hamburg geborene Tenor Simon Bode für Vol. 3 bestimmt (CDJ33123). Er machte als Tamino in Hannover auf sich aufmerksam und gab auch Liederabende. Stimmlich ist er das, was ich einen Sympathieträger nennen möchte. Hyperion hatte mit seiner Verpflichtung eine glückliche Hand. Sein Tenor klingt offen und sonnig. Er geizt nicht mit Gefühlen beim Vortrag und nimmt Brahms ungestüm mit Leidenschaft, Feuer und Hingabe. Ob bei „Lerchengesang“, „Abenddämmerung“ oder „An eine Äolsharfe“, man könnte die Textvorlagen mitschreiben, wenn er singt – so deutlich ist der Vortrag.

 

Für die grüblerischen „Vier ernsten Gesänge“ ist der wagnererfahrene niederländische Bassbariton Robert Holl genau richtig. Brahms komponierte sie ein Jahr vor seinem Tod, das eigene irdische Ende ahnend. Der Zufall will es, dass der Säger der Uraufführung, Anton Sistermans, auch aus den Niederlanden stammte. Der Zyklus bildet den machtvollen Abschluss von Vol. 4 (CDJ33124). Mit „Verzagen“, „Todessehnen“, „Mein Herz ist schwer“ oder den drei „Heimweh-Liedern“ aus Op. 63 erweist sich Holl als künstlerischer Gewährsmann für Brahms’sche Schwermut. Er breitet diese Gesänge mit großer Ruhe und Gelassenheit aus. Er hetzt nicht. Und er badet auch nicht in Weltschmerz. Vielmehr vermittelt Holl den Eindruck, dass Schwermut nicht nur Last, sondern auch Befähigung ist, sich tief in die Dinge des Lebens und der Natur zu versenken. Sein Brahms klingt versöhnlich und hoffnungsvoll.

 

Neben seinem umtriebigen Wirken auf internationalen Opernbühnen pflegt der englische Bariton Christopher Maltman den klassischen Liedgesang. Ihm sind die „Romanzen aus L. Tieck’s Magelone“ – so der originale Titel – übertragen worden. Sie füllen Vol. 5 aus (CDJ33125). Es gab immer wieder Versuche, die einzelnen Romanzen mit erklärenden Prosatexten aus der „Wundersamen Liebesgeschichte der schönen Magelone und des Grafen Peter von Provence“, die Ludwig Tieck nach einem alten Volksbuch neu erzählt hat, zu verbinden. Brahms wollte diese Verknüpfung nicht und lehnte einen entsprechenden Vorschlag seines weitblickenden Verlegers ab. Für ihn sollten die Lieder, die er Romanzen nannte, für sich stehen. Er war seit frühester Jugend mit dem Werk Tiecks vertraut. Brahms irrte offensichtlich, indem er seine eigene literarische Bildung auch beim Publikum voraussetze. Wer die Prosatexte von Tieck nicht im Gedächtnis mit sich trägt, kann den Romanzen nicht in dem Maße folgen, wie es notwendig ist. Sie nehmen immer wieder direkten Bezug zum Ganzen. Deshalb wurde bei Einspielungen und im Konzert gern die Mischform gewählt. Dietrich Fischer-Dieskau und Brigitte Fassbaender – um zwei Interpreten zu nennen – haben sogar gesungen und gesprochen. Maltman singt die „Magelone“ wie von Brahms komponiert, elegant und nicht unsinnlich. Inhaltlich aber teilt sie sich auch deshalb nicht mit, weil sein Deutsch nicht perfekt genug ist.

 

Eine in London entstehende Liedersammlung kommt natürlich nicht ohne Ian Bostridge aus, der mit Vol. 6 in Erscheinung tritt (CDJ33126). Obwohl mit dem deutschen Liedgut sehr vertraut, kommt auch er sprachlich an Grenzen. Das wäre das kleinere Übel, würde er bei seiner Interpretation nicht so stark überziehen. Ganze Passagen klingen grell und fahrig. Er bleibt zu oft an Äußerlichkeiten hängen und findet nicht in das poetische Zentrum der Lieder, die über weite Strecken wie Chansons vorgetragen werden. Ist das gar beabsichtigt? Versucht der Tenor einen neuen, ungewöhnlichen Ansatz in der Brahmsinterpretation? Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn es denn überzeugender gelungen wäre. Mit Opus 32 und Opus 96 singt Bostridge zwei in sich geschlossene Sammlungen. Mit Blick auf die bisherigen Einspielungen ist das eher selten. Doch Hyperion wäre nicht Hyperion, würden in einen abschließenden Schritt die Aufnahmen nicht neu gemischt – nach Opuszahlen und in der Abfolge des Entstehend die Lieder ohne Opuszahlen (We0). So fände dann zusammen, was zusammen gehört. Dieses sinnvolle Prinzip wurde bereits bei der Aufnahme aller Schubert-Lieder praktiziert. Die umfangreichste Gruppe sind mit 49 Nummern die „Deutschen Volkslieder“, die Brahms erst gegen das Ende seines Lebens geordnet hat. Vier hatte Angelika Kirchschlager aufgenommen, sechs Christine Schäfer, drei Simon Bode, acht Benjamin Appl, sieben Harriet Burns. Bleiben noch einundzwanzig übrig. Es muss also weitergehen mit den Aufnahmen. Begleiter und Inspirator des Unternehmens ist der Pianist Graham Jonson, der auch schon bei Schubert am Flügel gesessen hatte. In den Booklets steuerte er Analysen und musikwissenschaftliche Betrachtungen zu allen Liedern bei. Es gibt vielerlei Gründe, auf die Fortsetzung gespannt sein (Foto oben: facebookseite Robin Tritschler). Rüdiger Winter

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Verzweiflung und Übermut

 

Singt eigentlich Felicity Palmer noch? Ja, sie singt noch. Für Mai 2020 war die inzwischen Fünfundsiebzigjährige als Maria Thins in der Uraufführung der Oper Girl with e Pearl Earring von Stefan Wirth am Opernhaus Zürich angekündigt. Ob daraus aus gegebenem Anlass etwas wird, muss sich erst noch zeigen. Nun taucht ihr Name auf einer neuen CD mit Liedern und Balladen auf, die im Wesentlichen von Stéphane Degout bestritten wird. Erschienen ist sie bei harmonia mundi (HMM 902367). In „Edward“ von Johannes Brahms ist sie Partnerin des französischen Baritons. Die Ballade ist ein abgründiger Dialog zwischen Sohn und Mutter um Vatermord. Die aus Schottland stammende Textvorlage wurde von Johann Gottfried Herder ins Deutsche übersetzt. Von dem schaurigen Stoff hatte sich der junge Brahms nach eigenem Bekunden bereits für die erste seiner „Vier Balladen für Klavier op. 10“ inspirieren lassen. Später griff er den Text in seinen „Balladen und Romanzen für zwei Singstimmen op. 75“ direkt auf. Er lässt mit verteilten Rollen singen. Das macht die Interpretation eindeutig. Die Palmer stattet ihren Part mit den Resten ihrer einst schönen Stimme opernhaft aus und macht sehr deutlich, wer in der Geschichte die treibende Kraft ist.

Degout ist dadurch die Möglichkeit gegeben, den Sohn als fremdbestimmte tickende Zeitbombe darzustellen, verdruckst wie eine Shakespeare-Gestalt. Die Wirkung ist stark – und ganz anders, als das zum Beispiel Brigitte Fassbaender und Peter Schreier in der berühmten Einspielung der Deutschen Grammophon hinbekommen. Und wenn es um Balladen geht, ist auch Carl Loewe nicht weit, dessen Werk zu einem erheblichen Teil aus dieser musikalischen Form besteht. In jüngster Zeit wenden sich Sänger verstärkt diesem Komponisten zu. Das ist überaus erfreulich. Loewe tritt aus seinem Schatten heraus, in den er auch durch einen falsch verstandenen und sehr betulichen Interpretationsansatz historischer Gesangschulen geraten war. Degout singt auch seine „Edward“-Version und drückt damit der CD gemeinsam mit seinem Pianisten Simon Lepper den Stempel des Besonderen auf. Den Vortragenden stellt sie vor große gestalterische Herausforderungen, weil die Dichtung nicht mit verteilten Rollen ausgeführt wird sondern als innerer Monolog erscheint. Es ist, als ob der Sohn die Stimme der Mutter wie im Wahn in sich hört und sich dazu angestiftet fühlt, das Schwert gegen den Vater zu erheben. So klingt es denn auch. Degout gelingt eine packende und gnadenlose Wiedergabe, die in der umfangreichen Loewe-Diskographie ihresgleichen sucht. Was ist noch am Angebot? „Belsatzar“ und „Die beiden Grenadiere“ von Robert Schumann, „Der Feuerreiter“ von Hugo Wolf und jede Menge Franz Liszt, darunter „Die drei Zigeuner“ und „Es war ein König in Thule“. Bei der Ballade „Die Nonne und der Ritter“, die Nummer eins in den „Vier Duetten op. 28“ tritt die Mezzosopranistin Marielou Jacquard hinzu.

 

Als einen Zyklus verstehen der libanesisch-amerikanische Tenor Karim Sulayman und seine Pianistin Yi-heng Yang ihre CD mit Liedern von Franz Schubert, die bei Avie erschienen ist (AV2400). Der Titel: „Where only stars can hear us“. Wie der Sänger im Booklet verkündet, wollen sie mit und in den Liedern das „das Licht finden“. Diesem ambitionierten Anspruch folgt die Zusammenstellung des Programms. Eingeleitet wird es vom „Lied eines Fischers an die Dioskuren“, das den Nachthimmel über dem Meer beschwört, gefolgt von „Die Sterne“ und „Die Sternennächte“. „Alinde“ wird bang, wenn die Sonne im Meer versinkt. Die „Nacht und Träume“ könnten nach einem gelungenen Auftakt noch etwas mehr schweben – in Ruhe schweben. Insgesamt sind siebzehn Lieder zu hören. Zuletzt schließt sich an den „Nachtgesang“ nach Goethe das von Klopstock gedichtete „Rosenband“ an. Nicht immer werden die musikalischen Linien gehalten. Die Höhe ist oft knapp, der Anstieg unstet. „Geuß, lieber Mond, geuß deine Silberflimmer“, heißt es im Lied „An den Mond“ nach einem Gedicht von Ludwig Christoph Heinrich Hölty. Geuß, geußen? Das ist wieder ein Fall für das Wörterbuch der Brüder Grimm. Dort wird es mit verschwenden im Sinne von etwas verschenken gedeutet. Sulayman singt es sehr genau, und deutet es stimmlich so, dass sich der Sinn wie von selbst ergibt. Vom Timbre her hat sein Tenor viel zu bieten, auch wenn er mitunter etwas rau klingt. Dieser Sänger ist nicht auf Schönheit aus, sondern auf Wahrhaftigkeit im Ausdruck. Schubert kann das vertragen. Im „Erlkönig“ aber verselbständigt sich der hochdramatische Ansatz dann doch zu sehr. „Yi-heng und ich bieten Ihnen einen Blick in unsere kollektive Einsamkeit und Trauer als Menschen auf dieser schönen Erde“, schreibt der Sänger im Booklet.

 

Unter den Titel „Reine de Couer“ haben die Sopranistin Hanna-Elisabeth Müller und die Pianistin Juliane Ruf fünf Liederzyklen gestellt: „Sechs Gesänge op. 107“ sowie „Sechs Gedichte und Requiem op. 90“ von Robert Schumann, „La courte paille FP 178“ und „Fiancailles pour rire FP 101“ von Francis Poulenc, sowie „Walzer-Gesänge nach toskanischen Liedern von Ferdinand Gregorovius op. 6“ von Alexander von Zemlinsky. Erschienen ist die CD bei Pentatone (PTC 5186 810). Es ist guter Brauch geworden, dass sich Interpreten in Booklets sehr persönlich zur Programmgestaltung äußern. Das war in der Vergangenheit nicht so. Was mitzuteilen ist, sollte sich einzig in der Interpretation vermitteln. Ein neues und individuelles Mitteilungsbedürfnis über den Gesang hinaus dürfte den Erfahrungen mit sozialen Medien geschuldet sein. Hanna-Elisabeth Müller weiß sich gut zu erklären. Die Idee zu dem Album, in dem „die Liebe und das Leben, die Höhen und Tiefen der menschlichen Seele im Mittelpunkt stehen“ habe sie schon lange begleitet. „Wie unterschiedlich die Dichter und Komponisten mit diesen Themen umgegangen sind!“ Der tiefe Schmerz in Schumanns „Herzeleid“ oder die drängende Ungeduld der „Schwalbe“ von Zemlinsky „zeigen zwei Seiten der Liebe – Hoffnung und Verlust, Verzweiflung und Übermut“. Tatsächlich vermag die Sängerin auch darzustellen, was ihr durch den Kopf gegangen ist. Schumann gelingt ihr besonders gut. Stimmungen und Gefühle, mitunter nur angetippt, geraten in ihrer Interpretation auffällig zeitlos. Als ob eine junge Frau von heute Einblick in ihrer Seele gibt, auch wenn die Mädchen – wie bei Schumann – in der Spinnstube sitzen, was sie längst nicht mehr tun. Rüdiger Winter