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Auf dem Musikmarkt geht es zu wie im persönlichen Leben. Von Zeit zu Zeit trifft man gute alte Bekannte gern. Wiederbegegnung in großer Zahl beschert eine neue Edition der Deutschen Grammophon zu 100 Jahren Salzburger Festspiele (00289 483 8722 GM 58, 58 CDs mit dickem Booklet). Sie haben vornehmlich durch die Pflege klassischer Musik und darstellender Kunst ihren international unangefochtenen Ruf bewahrt. Im Mittelpunkt steht seit jeher der berühmteste Sohn der Stadt, Wolfgang Amadeus Mozart, dessen Geburtshaus in der Getreidegasse ein Wallfahrtsort für Besucher aus aller Welt ist. Am Beginn aber stand nicht Mozart sondern Jedermann, das Spiel vom Sterben des reichen Mannes. Geschrieben hatte es nach dem Vorbild spätmittelalterlicher Mysterienspiele Hugo von Hofmannstahl. Die Uraufführung fand bereits 1911 in Berlin unter der Leitung von Max Reinhardt statt. Der führte auch bei der ersten Aufführung am 28. August 1920 in Salzburg Regie. Genau genommen hätte Jedermann an den Beginn der Edition platziert gehört – als programmatisches Entre und nicht an den Schluss. Sei‘s drum. Schließlich stellt die Verlagerung in die Bonusabteilung auch eine Heraushebung dar. Geboten wird die Studioproduktion, die 1958 nach einer Salzburger Inszenierung entstand. Sie gilt zu Recht als legendär. Mit Will Quadflieg in der Titelrolle, Ernst Deutsch als Tod und Martha Wallner als Buhlschaft wird ein derart üppiges dramatisches Ereignis geboten, das auch dem Letzten klar werden lässt, warum dieses sonderbare Werk unter den gegebenen Umständen dauerhaft so wirkungsmächtig ist. Die Aufnahme erschien zunächst als Schallplatte, später als CD und war inzwischen nur noch antiquarisch zu haben. Eine neue Auflage tat not.
Die für Dramaturgie und Publikationen des Festivals zuständige Margarethe Lasinger und der Musikkritiker Richard Osborne lassen im umfänglichen Booklet die Geschichte der Festspiele von den Anfängen, die weit vor dem Gründungsjahr liegen bis in die Gegenwart kurz und knapp aufleben. Eine zutiefst bewegende Zutat gibt es auf einer weiteren Bonus-CD mit eigenen Erinnerungen des einstige Festspielpräsidenten Bernhard Paumgartner (1887-1971). Als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt, berichtet er still und ergreifend, wie er als Kind noch Brahms und Bruckner begegnete. Paumgartner war Dirigent, Komponist und Schriftsteller. Als begnadeter Mozartinterpret kommt er mit dem 1952 von ihm gegründeten Kammerorchester Camerata Academia zum Zuge. Als Übernahme von zwei Schallplatten, die 1961 im Großen Festspielhaus in Stereo produziert wurden, erklingen unter anderen die Sinfonien Nr. 26 und 30, zwei Arien mit Rita Streich und gesondert neun innig vorgetragene Arien mit Maria Stader.
Es liegt in der Natur der Sache, dass die Edition nicht alle großen Namen, die sich mit ihren Leistungen in die Annalen des Festival eingetragen haben, berücksichtigen kann. Obwohl Wilhelm Furtwängler, Elisabeth Schwarzkopf oder Dietrich Fischer-Dieskau – um nur diese drei zu nennen – über Jahre zu den gefeierten Stars gehörten, sind sie nur deshalb nicht dokumentiert, weil sie vertraglich an andere Firmen gebunden waren. Die Deutsche Grammophon kann sich nur aus ihrem eigenen Katalog bedienen. Und der ist bekanntlich üppig genug. Achtundfünfzig CDs sind in null Komma nichts gefüllt. Vierzehn Opern beanspruchen den meisten Platz. Mozart ist nur dreimal vertreten, was bei seiner Bedeutung für die Festspiele nicht viel ist. Bis auf wenige Ausnahmen spielen immer die Wiener Philharmoniker, und es singt der gelegentlich verstärkte Chor der Wiener Staatsoper. Idomeneo war 1961 die zweite Inszenierung. Sie wurde musikalisch von Ferenc Fricsay betreut, während sein ungarischer Landsmann Georg Solti zehn Jahre zuvor bei der ersten szenischen Aufführung am Pult stand. Gespielt wurde jeweils die von Paumgartner erarbeitete Fassung. Fricsay beginnt wuchtig und hält diesen erhabenen Stil bis zum Schluss durch. Dieser Idomeneo steht exemplarisch für den Mozart-Stil der Zeit. Ihren geglückten Einstand gibt Pilar Lorengar als Illia, der noch Pamina und Ismene in Mitridate folgen sollten. Elisabeth Grümmer lässt als wild auffahrende Elettra vergessen, dass sie die Fünfzig erreicht hatte. Sie absolvierte ihre vorletzte Saison in Salzburg. Waldemar Kmentt, der 1955 klein angefangen hatte, sang nach dem Ferrando mit dem Idomeneo seine zweite Hauptrolle. Ernst Haefliger, in der Oper sein Sohn Idamante, klingt wenigstens genauso alt wie der Vater, wenn nicht älter. Er blieb nur für zwei Spielzeiten.
Einzug in die Edition hielten auch die sattsam bekannten und wiederholt aufgelegten Mitschnitte von Cosi fan tutte (1974) und Don Giovanni (1977), dirigiert von Karl Böhm. Im Gegensatz zu Idomeneo, der eine Aufführung vom 26. Juli 1961 abbildet, sind diese Gesamtaufnahmen in lupenreinem Stereo aus mehreren Vorstellungen zusammengeschnitten und klingen wie Studio. Und auch wieder nicht. Mein stärkster Einwand gegen dieses Verfahren besteht darin, dass die Atmosphäre gleich mit herausgefiltert wird. Wenn Solisten unter größter Anspannung fast schon Wunder vollbringen, Gundula Janowitz als Fiordiligi die so genannte Felsenarie zu einem fulminanten Höhepunkt geführt oder Peter Schreier Ferrandos Arie „Un‘aura amorosa“ stilistisch einzigartig mit Triller zu Ende gebracht hat, kann es nur eines folgen – tobender Applaus. Ist der getilgt, findet die unter diesen Umständen einzig mögliche Auflösung nicht statt. Das ist unbefriedigend. Nicht zuletzt ihr frischer Sound hat die Aufnahme gut durch die Jahrzehnte gebracht. Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass die Janowitz und Brigitte Fassbaender (Dorabella) ihre achtzigsten Geburtstage längst hinter sich haben. Reri Grist, die Despina, steht gar im achtundachtzigsten Jahr. Nicht mehr unter den Lebenden sind Schreier, Hermann Prey (Guglielmo) und Rolando Panerei (Alfonso). Böhm liebte seinen Mozart dramatisch. 1977 lässt er den Don Giovanni gleich mit den ersten Takten der Ouvertüre in die Hölle fahren. Der Mitschnitt mit dem rasanten Sherrill Milnes in der Titelrolle kam sogar in der DDR heraus, weil mit Anna Tomowa-Sintow (Donna Anna) und Schreier, diesmal als Ottavio, zwei Sänger mitwirkten, die an der Ostberliner Staatsoper unter Vertrag standen und dort außerordentlich beliebt waren.
Böhm, der bereits nach dem so genannten Anschluss Österreichs an Hitlerdeutschland 1938 in Salzburg den Giovanni dirigierte, hatte seine Karriere nach dem Ende des Dritten Reiches, in das er – obwohl kein NSDAP-Mitglied – verstrickt war, unbeschadet fortsetzen können. Er gehörte zum unverzichtbaren Inventar. Kein Wunder also, dass die meisten Aufnahmen der Edition mit seinen Namen verbunden sind. 1947, als das Festival nach zögerlichem Neuanfang zu altem Glanz zurückfand, erschien Böhm wieder am Pult, um Arabella von Richard Strauss in neuer Inszenierung von Günther Rennert zu dirigieren. „Wir sind nicht grad‘ sehr viel, nach dem Maß dieser Welt – wir laufen halt so mit als etwas zweifelhafte Existenzen.“ Was Arabella sehr freimütig bei der ersten Begegnung mit Mandryka von sich gibt, will plötzlich in die Zeit passen wie niemals zuvor und niemals danach. Der bekannte Premierenmitschnitt vom 12. August ist als älteste Opernproduktion in die Edition eingegangen. Lisa Della Casa, später die wohl berühmteste und perfekteste Arabella, singt hier noch die Zdenka. In der Titelrolle ist die reife Maria Reining zu hören, die Strauss innig wie Mozart singt, was so falsch nicht ist. Etwas kurzatmig tastet sich Hans Hotter durch den Mandryka. Besser liegt ihm der Sir Morosus in Die schweigsame Frau von Strauss, die 1959 auf den Spielplan gesetzt wurde. Einen fulminanten Einstieg in Salzburg legten dabei Fritz Wunderlich als Henry und Hermann Prey als Barbier hin. Auch Hilde Güden, die ihre besten Salzburger Jahren hinter sich hatte, muss genannt werden. Dank dieser Sänger konnte es keine spätere Aufnahme mit diesem Mitschnitt vom 8. August aufnehmen. Sein Platz in der Edition ist verdient. Als Dirigent hatte Karl Böhm bereits 1935 die Dresdener Uraufführung betreut, die mit einem politischen Eklat endete. Strauss hatte durchsetzte, dass sein jüdischer Librettist Stefan Zweig, der bis zu seiner Flucht ins Exil 1934 selbst viele Jahre in Salzburg lebte, auf dem Programmzettel genannt wurde. Naziprominenz blieb dem Opernhaus fern. Nach nur drei Wiederholungen wurde das Werk abgesetzt und nirgends sonst in Deutschland aufgeführt. Strauss trat „aus gesundheitlichen Gründen“ als Präsident der Reichsmusikkammer zurück.
Den außerordentlich hohen musikalischen Standard der fünfziger Jahre bezeugt die ebenfalls von Böhm geleitete Ariadne auf Naxos mit Lisa Della Casa in der Titelrolle, Hilde Güden (Zerbinetta), Irmgard Seefried (Komponist), Paul Schöffler (Musiklehrer ) und dem noch nicht vierzigjährigen Rudolf Schock, der den Bacchus mit einer überbordenden Trunkenheit versieht, wie sie selten wieder zu hören war. Böhm, der mit Richard Strauss befreundet gewesen ist, übernahm 1969 auch die Wiederaufnahme des Rosenkavalier, der sich seit 1929 neben Mozart als eines der Markenzeichen des Festivals herausstellt hatte. In der ersten Aufführung sang noch Lotte Lehmann. Diesmal waren Christa Ludwig die Marschallin, Theo Adam der Ochs, Tatiana Troyanos der Octavian und Edith Mathias die Sophie. Der Mitschnitt lässt die gewohnte Delikatesse vermissen. Die Ludwig klingt zu schwer. Adam, der erstmals für Salzburg verpflichtet worden war, flüchtet sich zu oft in Sprechgesang, wenn ihm die Noten auszugehen scheinen. Den für die Partie unerlässlichen wienerischen Dialekt bleibt der Sachse Adam schuldig. Was er diesbezüglich von sich gibt, wirkt allzu sehr eingeübt. Als einziges Werk ist der Rosenkavalier zweifach vertreten in der Edition, was angesichts seiner engen Bindung an die Festspielgeschichte angemessen ist. Böhms Version hält für mich den Vergleich mit Herbert von Karajan nicht stand. Der gebürtige Salzburger hatte am 26. Juli 1960 mit einer neuen Produktion dieser Komödie für Musik das Große Festspielhaus eröffnet. Lisa Della Casa war die Marschallin. Elisabeth Schwarzkopf, die zunächst nur eine Vorstellung sang, übernahm in den folgenden Jahren und bekam die Rolle auch in der berühmten Verfilmung, was ihre Kollegin nicht gefreut haben dürfte. Auf der Besetzungsliste stehen zudem Sena Jurinac (Octavian), Hilde Güden (Sophie) und Otto Edelmann (Ochs). Karajan war von 1956 bis 1960 künstlerische Leiter der Festspiele und blieb ihnen auch danach eng verbunden. 1948 hatte er mit Glucks Orfeo ed Euridice die erste Opernaufführung in der Felsenreitschule geleitet. Mitgeschnitten wurde die Wiederaufnahme am 5. August 1959 am selben Ort, die – wie sich das gehört für einen richtigen Mitschnitt – schon mit Beifall zur Begrüßung des Maestro beginnt. Für sein Alter ist der Sound optimal. Und doch klingt kein Dokument der gesamten Edition in meinen Ohren historischer als dieses. Gleich mehrere Gründe lassen sich ausmachen. Erst Mitte der fünfziger Jahre war die historische Aufführungspraxis mit Gründung der Cappella Coloniensis sehr zaghaft belebt worden. Karajan blieb davon unerreicht. Er lässt Gluck durch und durch romantisch spielen, groß besetzt, breit und mächtig. Giulietta Simionato ist für die Vorklassik nicht geboren und dürfte mit der Eboli, die sie im Jahr zuvor ebenfalls unter Karajan gesungen hatte, ganz offensichtlich besser bedient gewesen sein als mit dem Orfeo. Dieser italienische Don Carlo – nach Falstaff und Otello – erst die dritte Verdi-Oper auf dem Festspielplan – darf natürlich auch nicht fehlen, schon wegen der anrührenden Sena Jurinac als Elisabetta und der idiomatisch auf den Punkt agierenden Herren Cesare Siepi (Filippo), Ettore Bastianini (Rodrigo), Eugenio Fernandi (Carlo), Marco Stefanoni (Inquisitore) und Nicola Zaccaria (Un Frate). Nicht unerwähnt soll Anneliese Rothenberger bleiben, die als Stimme von oben puren Luxus verbreitet, wie er in Salzburg zu Karajans Zeiten ganz selbstverständlich war. Die Inszenierung lag übrigens in den Händen von Gustaf Gründgens, der zuvor bei Shakespeares Wie es euch gefällt in Erscheinung getreten war. 1962 legt Karajan mit Verdi nach und brachte Il Trovatore in eigener Regie auf die Breitwandbühne des Festspielhauses. Bis auf kleine Rollen war das Ensemble international und wäre so auch an der Scala oder der Met denkbar gewesen. Nach der Donna Anna in den Jahren zuvor kam Leontyne Price nun als Leonora wieder, die Simionato als Azucena, Bastianini als Luna und Zaccaria als Ferrando. Seinen einzigen Salzburger Sommer badete Franco Corelli in Wogen des Beifalls, die dem Mitschnitt vom 31. Juli erhalten blieben. Dieser Trovatore – darin besteht für mich nicht der geringste Zweifel – ist als eines der aufregendsten Verdi-Dokumente in die Geschichte eingegangen. Das von Traditionen geprägte und inspiriere Festspielgeschehen in der beschaulichen Stadt am Fuße der Ostalpen war eins geworden mit dem hektischen internationalen Opernbetrieb.
Aus einem Totenhaus von Leos Janacek büßt viel von seiner Wirkung ein, wenn das Werk nur in der tschechischen Originalsprache zu hören und nicht auch zu sehen ist. Claudio Abbado betreute es 1992 in nur einer einzigen Saison. Ein seltsam exklusives Dasein führte auch Verdis La Traviata in Salzburg. Wie am laufenden Band gab es 1995 gleich neun Vorstellungen mit wechselnden Besetzungen der Titelrolle, die von Riccardo Muti geleitet wurden. Für die nächste Neuinszenierung – diesmal von Willy Decker – reiste für sieben Abende Anna Netrebko als Violetta an. Die Premiere mit Rolando Villazon (Alfred) und Thomas Hampson (Giorgio Germont) kam auch ins Fernsehen und findet sich als Audiospur in der Edition. Dirigiert hat Carlo Rizzi. Übrigens verlief der erste Auftritt der Netrebko bei den Salzburger Festspielen ehr unauffällig. Bei konzertanten Aufführungen des Parsifal 1998 – die erste war dem Andenken des Dirigenten Georg Solti gewidmet – war sie ein Blumenmädchen. Beschlossen wird die Opernabteilung mit Peter Tschaikowskis Eugen Onegin von 2017. Sie wurde musikalisch von Daniel Barenboim gleitet, der in Salzburg meistens als Orchesterdirigent auftritt. Es war seit jeher Brauch bei den Festspielen, dass sich Opernaufführungen mit diversen Konzerten abwechseln. In der Edition finden sich neben den schon bei Opernproduktionen genannten Dirigenten Zubin Mehta, Leonard Bernstein, James Levine, Pierre Boulez. Liederabende sind für die Deutsche Grammophon offensichtlich nicht mitgeschnitten worden. Damit konnte ein ganz wichtiges Kapitel der Festivalgeschichte in diese Sammlung nicht einbezogen werden, was mehr als bedauerlich ist. Rüdiger Winter
Das große Foto oben eröffnet den Blick auf die berühmte Skyline der Festspielstadt. Im Vordergrund die große Brücke über die Salzach. Foto: Winter