Von ewiger Liebe

 

Es ist vollbracht! Hyperion hat seine Einspielung sämtlicher Lieder von Johannes Brahms abgeschlossen. Den Schlusspunkt setzt die österreichische Mezzosopranistin Sophie Rennert mit Vol. 10 (CDJ33130). An die zwölf Jahre hat sich die in Londoner Firma, deren Namen auf einen der Titanen in der griechischen Mythologie zurückgeht, dafür Zeit gelassen – Fügung oder Kalkül? Die neueste und zugleich letzte CD erweist sich schon deshalb als fulminantes Finale des ambitionierten Unternehmens, weil gleich mehrere Glanznummern aus dem Schaffen des Komponisten Berücksichtigung finden, für nahezu jeden Freund des Liedes unverzichtbar. Die Mainacht oder Von ewiger Liebe? Ich kann mich nicht entscheiden. Höre ich das eine Lied, ist mir nach dem anderen – und umgekehrt.

Liebestreu steht gleich am Beginn, „Immer leiser wird mein Schlummer“ zwar auf einem hinteren Platz, doch damit ganz und gar nicht unter ferner liefen. Nahezu perfekt kann sich die warme Stimme von Sophie Rennert in den Zwei Gesägen für eine Altstimme, Viola und Klavier op. 91Gestillte Sehnsucht und Geistliches Wiegenlied, das auch auf Weihnachtsplatten zu finden ist, – entfalten. Dabei scheinen Ihr Mezzo und der schattige Ton des Streichinstruments eins zu werden. In den Zigeunerliedern flammt Leidenschaft auf, die aber nur einen scheinbar Gegensatz zur Schwermut der anderen Gesänge darstellt, weil die Solistin auch hier den für Brahms so typischen melancholischen Unterton herausfindet. Jeder, der gern Brahms hört, pflegt seine eigenen Vorblieben. Er hat insgesamt zweihundert Lieder aus allen Schaffensperioden hinterlassen, Volksliedbearbeitungen und mehrstimmige Gesänge nicht mitgezählt. Die Edition kommt auf 249 Titel, weil die 49 Deutschen Volkslieder berücksichtigt wurden. Ohne sie hätte etwas gefehlt. Auch in ihnen hat sich Brahms so typisch verewigt, dass sie aus seinem Werk nicht wegzudenken sind. Sophie Rennert singt die verbleibenden sechs, darunter „Da unten im Tale“ mit einem der höchsten Bekanntheitsgrade.

Im unverzichtbaren Liedführer von Reclam, der oft aufgelegt und erweitert wurde, schreibt der Musikwissenschaftler Werner Oehlmann: „Brahms hat dem Lied die innere Größe zurückgegeben, die Schubert ihm erworben hatte und die es danach in der Hand kleinmeisterlicher Spezialisten zu verlieren drohte.“ Seine Melodie habe sich in der Berührung mit dem Volkslied gebildet, „vorzüglich dem alten, dem er besondere Liebe und intensives Studium zuteilwerden ließ“. Hyperion hat die einzelnen Folgen solistisch unterschiedlich besetzt. Dadurch ist der Überblick etwas erschwert. So erstreckt sich auch die Volksliedersammlung über mehrere CDs. Kontinuität garantiert hingegen Graham Johnson, der durchgehend am Klavier sitzt. 2008 war die Mezzosopranistin Angelika Kirchschlager, Österreicherin wie Sophie Rennert als erste für die Edition ins Studio gegangen (Vol. 1 CDJ3121). Ihre Vorteile waren ebenfalls Muttersprachlichkeit und Stimmlage. Brahms verträgt dunkle Frauenstimmen gut. Mit Blick auf die nun fertiggestellte Edition fällt auf, dass auch sie schon das Lied Von ewiger Liebe und „Da unten im Tale“ im Angebot hatte. Es gibt diese Titel also zweimal. Warum, das wird nicht deutlich. Beider Interpretationen unterscheiden sich dahingehend, dass es bei Angelika Kirschläger etwas rauer, härter, zupackender klingt – und damit wohl auch moderner. Sie bleibt allerdings oft das Geheimnis schuldig.

Fast zwei Jahre vergingen, bis sich Christine Schäfer für Vol. 2 anschickte (CDJ33121). Obwohl nahezu gleichaltrig mit ihrer Kollegin Kirchschlager, die den Anfang für die Edition machte, klingt sie jünger und zarter, was vornehmlich auf ihre Stimmlage zurückzuführen sein dürfte. Darauf ist auch die Auswahl ihres Programms zugeschnitten, das aus dreiunddreißig Titeln besteht. Darunter sind als eine Art Mittelpunkt die Ophelia-Gesänge. Im Gegensatz zu Richard Strauss komponierte Brahms fünf an der Zahl: „Wie erkenntlich dein Treulieb“, „Sein Leichenhemd weiß“, „Auf morgen ist Sankt Valentins Tag“, „Sie tragen ihn auf der Bahre bloß“ sowie „Und kommet er nicht mehr zurück?“. Abgerundet wird das Programm von diversen Mädchenlieder, die Christine Schäfer mit viel Charme, hintegründigem Witz und und Innigkeit darbietet.

Obwohl seine CD eher eingespielt wurde als die von Christine Schäfer, wurde der 1984 in Hamburg geborene Tenor Simon Bode für Vol. 3 bestimmt (CDJ33123). Er machte als Tamino in Hannover auf sich aufmerksam und gab auch Liederabende. Stimmlich ist er das, was ich einen Sympathieträger nennen möchte. Hyperion hatte mit seiner Verpflichtung eine glückliche Hand. Sein Tenor klingt offen und sonnig. Er geizt nicht mit eigenen Gefühlen beim Vortrag und nimmt Brahms ungestüm mit Leidenschaft, Feuer und Hingabe. Ob bei Lerchengesang, Abenddämmerung oder An eine Äolsharfe, die Texte ließen sich mitschreiben – so deutlich ist der Vortrag.

Für die grüblerischen Vier ernsten Gesänge ist der wagnererfahrene niederländische Bassbariton Robert Holl genau richtig. Brahms komponierte sie ein Jahr vor seinem Tod, das eigene irdische Ende ahnend. Der Zufall will es, dass der Säger der Uraufführung, Anton Sistermans, auch aus den Niederlanden stammte. Der Zyklus bildet den machtvollen Abschluss von Vol. 4 (CDJ33124). Mit Verzagen, Todessehnen, „Mein Herz ist schwer“ oder den drei Heimweh-Liedern aus Op. 63 erweist sich Holl als künstlerischer Gewährsmann für Brahms’sche Weltflucht. Er breitet diese Gesänge mit großer Ruhe und Gelassenheit aus. Er hetzt nicht. Und er badet auch nicht in Weltschmerz. Vielmehr vermittelt Holl den Eindruck, dass Schwermut nicht nur Last, sondern auch Befähigung ist, sich tief in die Dinge des Lebens und der Natur zu versenken. Sein Brahms klingt versöhnlich und hoffnungsvoll.

Neben seinem umtriebigen Wirken auf internationalen Opernbühnen pflegt der englische Bariton Christopher Maltman den klassischen Liedgesang. Ihm sind die Romanzen aus L. Tieck’s Magelone – so der originale Titel – übertragen worden. Sie füllen Vol. 5 aus (CDJ33125). Es gab immer wieder Versuche, die einzelnen Stücke mit erklärenden Prosatexten aus der Wundersamen Liebesgeschichte der schönen Magelone und des Grafen Peter von Provence, die Tieck nach einem alten Volksbuch neu erzählt hat, zu verbinden. Brahms wollte diese Verknüpfung nicht und lehnte einen entsprechenden Vorschlag seines weitblickenden Verlegers ab. Die Lieder, die er Romanzen nannte, sollten für sich stehen. Er war seit frühester Jugend mit dem Werk Tiecks vertraut. Brahms irrte offensichtlich, indem er seine eigene literarische Bildung auch beim Publikum voraussetze. Wer die Prosatexte von Tieck nicht im Gedächtnis mit sich trägt, kann den Romanzen nicht in dem Maße folgen, wie es notwendig ist. Sie nehmen immer wieder direkten Bezug zum Ganzen. Deshalb wurde bei Einspielungen und im Konzert gern die Mischform gewählt. Dietrich Fischer-Dieskau und Brigitte Fassbaender – um zwei Interpreten zu nennen – haben sogar gesungen und gesprochen. Maltman singt die Magelone wie von Brahms komponiert, elegant und nicht unsinnlich. Inhaltlich aber teilt sie sich auch deshalb zu wenig mit, weil sein Deutsch zu wünschen übrig lässt.

Eine in London entstandene Liedersammlung kommt natürlich nicht ohne Ian Bostridge aus, der mit Vol. 6 in Erscheinung tritt (CDJ33126). Obwohl mit dem deutschen Liedgut sehr vertraut, kommt auch er sprachlich an Grenzen. Das wäre das kleinere Übel, würde er bei seiner Interpretation nicht so stark überziehen. Ganze Passagen klingen grell und fahrig. Er bleibt zu oft an Äußerlichkeiten hängen und findet nicht in das poetische Zentrum der Lieder, die über weite Strecken wie Chansons vorgetragen werden. Ist das gar beabsichtigt? Versucht der Tenor einen neuen, ungewöhnlichen Ansatz in der Brahmsinterpretation? Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn es denn überzeugender gelungen wäre. Mit Opus 32 und Opus 96 singt Bostridge zwei in sich geschlossene Sammlungen. Mit Blick auf die bisherigen Einspielungen ist das eher selten. Doch Hyperion wäre nicht Hyperion, würden in einen abschließenden Schritt die Aufnahmen in einer finalen Ausgabe nicht neu gemischt – nach Opuszahlen und in der Abfolge des Entstehend die Lieder ohne Opuszahlen (We0). So fände dann zusammen, was zusammen gehört. Dieses sinnvolle Prinzip wurde bereits bei der Aufnahme aller Schubert-Lieder praktiziert.

Der Bariton Benjamin Appl, der Vol. 7 bestreitet, hat sich dem Liedgesang verschrieben (CDJ33172). Vieles deutet darauf hin, dass er diesen Weg konsequent weitergeht. Seine CD wurde im Dezember 2016 produziert. Mit achtundzwanzig Titeln in fast achtundsiebzig Minuten ist das Fassungsvermögen erreicht. Berücksichtigt ist fast die gesamte Schaffensperiode von Brahms. Liebe und Frühling I und II aus den Sechs Gesängen für eine Tenor- oder Sopranstimme, die der zwanzigjährige Komponist der verehrten Schriftstellerin Bettina von Arnim, die damals im achtundsechzigsten Lebensjahr stand, widmete, bilden den Auftakt. Am Schluss stehen acht Nummern aus den Deutschen Volksliedern. Brahms liegt Benjamin Appl. Seine Stimme ist technisch perfekter geworden. Das weiche, sensible Timbre mit hohem Wiedererkennungswert findet bei diesem Komponisten womöglich noch mehr inhaltliche und formale Entsprechung als bei Schubert. Getragene Passagen gelingen besser als die schnellen Läufe. Geht die Stimme nach oben, scheint sie an Halt zu verlieren und büßt auch an Wohlklang ein. Appl sollte sich noch mehr zurücknehmen, etwas ökonomischer agieren und nicht alles Pulver zu früh verschießen. Es muss gestalterisch immer noch eine Reserve nach oben sein. Er neigt dazu, Passagen zu übersingen. Kritische Einwände gelten zudem technischen Details. Konsonanten sind eine Herausforderung für Sänger. Das wird gleich beim ersten Liedanfang der CD deutlich: „Wie Rebenranken schwingen“. Satt „Wie“ ist da „Whie“ zu hören. Es aspiriert. Das eingeschobene h gehört da nicht hin.

Mit der jungen englischen Sopranistin Harriet Burns war in Vol. 8 (CDJ33128) eine CD-Debütantin aufgeboten worden. Ein Geburtsdatum findet sich nicht, weder im Booklet noch auf ihrer Homepage oder sonst wo im Netz. Der Nachwuchs gibt sich gern geheimnisvoll und zeitlos wie einst Marlene Dietrich. Aus gewissen Eckdaten wie Ausbildung und ersten Auftritten geschlossen, dürfte sie um die Dreißig sein. Neben Liedern hat sie sich Opernpartien wie Zdenka, Susanna und Marzelline zu Eigen gemacht und erfolgreich an diversen Wettbewerben teilgenommen. Sie scheint bei ihrer Karriereplanung nichts zu überstürzen. Eine CD wie diese kann hilfreich sein, den Weg zum Erfolg zu ebnen. Der Einstieg ist mit dem Spanischen Lied op. 6 gut gewählt. Dabei handelt es sich um dasselbe von Paul Heyse übersetzte Volkslied, dem Hugo Wolf später in seinem Spanischen Liederbuch anhand der ersten Zeile den Titel „In dem Schatten meiner Locken“ gab. Mit Orchesterbegleitung floss es in seine Oper Der Corregidor ein. Brahms klingt nicht so leicht und frivol wie Wolf. Er tut sich etwas schwerer mit dem Thema. Harriet Burns fordert ihn aber heraus, indem sie etwas von der moderneren Wolf‘schen Herangehensweise beimischt. So mein Eindruck. Alles in allem offenbart die Programmauswahl die Stärken ihres durch und durch lyrischen Soprans, der wunderbar aufblühen kann wie in den beseelten Sechs Gesängen op. 7, in denen auch Gedichte von Eichendorff und Uhland eingeflossen sind. Deutsche Romantik ist zu hören – und Harriet Burns offenbart Sinn und Begabung für derlei Repertoire. Wenngleich es hier und da mit der Wortdeutlichkeit hapert, so vermag sie stets musikalisch auszudrücken, worum es geht. Das ist ein Hinweis auf ein sehr intensives Studium der Lieder. Aber es reicht noch nicht. Brahms, der sehr wählerisch war bei der Auswahl seiner Texte, muss in jedem Moment verständlich gesungen werden. Gelingt es der Künstlerin, ihren Vortrag sprachlich zu perfektionieren, wird von ihr – daran habe ich nicht den geringsten Zweifel – noch viel zu hören sein.

Mit Vol. 9 kam der irische Tenor Robin Tritschler an die Reihe (CDJ33129). Er wurde an der Royal Irish Academy of Music ausgebildet und debütierte 2013 als Narr in Wozzeck. Es folgten Belmonte, Don Ottavio, Ferrando, Narraboth, Graf Almaviva und Nemorino an diversen Häusern und bei Festivals auch auf dem europäischen Kontinent und in Übersee. Er ist gut im Geschäft, zumal er sich auch ein solides Lied-Repertoire sowie die großen Passionen von Bach erarbeitet hat. Tritschler singt einundzwanzig Solotitel und mit der Sopranistin Harriet Burns weitere neun Volkslieder- Nummern, darunter das anspielungsreiche erste Lied „Sagt mir, o schönste Schäf’rin mein“.  Mit Mondnacht und „In der Fremde“ sind zwei Eichendorff-Vertonungen zu hören, die zuvor Robert Schumann in seinen Liederkreis op. 39 aufgenommen hatte. Die Frage, wer besser abschneidet, stellt sich nicht. Brahms gelingen in seinen deutlich späteren Vertonungen eigenständige Werke, die den Vergleich mit dem Vorgänger nicht zu scheuen brauchen. Wäre der Tenor nicht so gut zu verstehen, dieselben Textvorlagen fielen nicht gleich auf. Tritschler sind Poesie und Lyrik, die beide Lied-Varianten auszeichnen, in die Stimme gelegt. Mit Vergebliches Ständchen und Feldeinsamkeit hat er zwei der schönsten Brahms-Lieder im Programm. Das ist einerseits ein Glück, andererseits sitzt ihm aber auch eine starke Konkurrenz im Nacken – angefangen bei Angelika Kirchschläger. Sie singt die Feldeinsamkeit nämlich ebenfalls. Tritschler behauptet sich aber mit seinem ganz eigenen klaren Erzählstil, der offenbar auch durch die Erfahrungen als Evangelist geprägt ist. Vergebliches Ständchen wird – wieder mit Harriet Burns – im Duett gesungen. So hatte es auch der Komponist festgelegt. Erst in der Konzertpraxis war es zum Sololied geworden.  Rüdiger Winter