Rudolf Kempe in Bayreuth

 

Wer sich als Ersatz für die coronabedingte Absage der Bayreuther Festspiele 2020 sein ganz persönliches Festival in den eigenen vier Wänden veranstalten will, hat die Qual der Wahl. Was auflegen oder in den DVD-Player schieben? Ein Ring sollte es schon sein. Schließlich wäre die Tetralogie, mit der 1876 das Festspielhaus eröffnet wurde, in neuer Inszenierung durch den jungen Österreicher Valentin Schwarz über die Bühne gegangen. Ebenfalls als Premiere stand Der Ring des Nibelungen von Richard Wagner 1960 auf dem Spielplan. Erstmals lag die Regie in den Händen von Enkel Wolfgang. Er löste die erste Nachkriegsdeutung seines Bruders Wieland ab und wurde anfangs kritisch beäugt. Doch schon im zweiten Jahr legte sich die Skepsis. Zustimmung überwog. Mit dieser Arbeit etablierte sich Wolfgang Wagner endgültig auch als Regisseur.

Die musikalische Leitung lag in den Händen des Bayreuth-Neulings Rudolf Kempe. Während Orfeo (C 928 613Y) die Reprise von 1961 in seiner Festspielserie mit dem ausdrücklichen Segen der Festspielleitung herausgeben hatte, erinnert sich PanClassics (Note 1) jetzt des Premieren-Mitschnitts, der allerdings längst in gut sortierten Sammlungen zu finden sein dürfte (PC 10418). Golden Melodram brachte ihn in den Achtzigern in einer schwarzen Sammelbox auf den Markt. Eine emsige Plattform in Übersee verschickt ihn wahlweise auf CD oder als Link über das Internet. Für die Angabe im Booklet, wonach dieser Ring 2011 auch bei Myto erschienen sein soll, habe ich keinen Beleg gefunden. Vielmehr sind von diesem Label alle vier Teile aus dem Jahr 1962 u. a. bei Melodram überliefert (immer noch die beste Technik, dank des Tonmeisters Stefan Felderer). Es empfehlt sich, beide Mitschnitte vergleichend auf sich wirken zu lassen.

 

Für die neue Ausgabe spricht zunächst einmal die Versammlung der zwölf CDs in einer gefälligen platzsparenden Box. Gestandene Wagnerianer lieben es haptisch, wollen etwas in der Hand haben. Ein solides Booklet enthält alle wesentlichen Informationen wie Besetzungen, Aufnahmedaten und Tracklisten. Michael Tanner steuert einen lesenswerten Text über die Inszenierung von Wolfgang Wagner und seine Sänger bei und lässt Probleme, die sich „aus dem Mangel an Vorbereitungszeit erklären“, nicht unerwähnt. Mich stören Patzer und Ungenauigkeiten nicht. Sie sind ein zutiefst menschlicher Faktor. Wer Übertragungen aus Bayreuth hört, wird Ohrenzeuge des Entstehens und Werdens und nicht der Vollendung im Sinne musikalischer Exaktheit, wie sie allenfalls unter Studiobedingungen zu erzielen ist. Bayreuth ist Werkstatt, wo unter schwierigen Bedingungen und in relativ kurzer Zeit komplexe Musikdramen erarbeitet werden. Und das nicht nur hinter verschlossenen Türen sondern auch in aller Öffentlichkeit. Das Publikum im Saal und an den Radioapparaten rund um den Erdball ist Zeuge dieses Ringens um Annäherung. Die Mitschnitte sind auch deshalb so interessant, weil sie – wie beim Kempe-Ring – künstlerische Prozesse über mehrere Jahre hintereinander dokumentieren.

Doch nun zurück ins Jahr 1960. Kempe, so Tanner, habe – wie die meisten Dirigenten vor ihm – feststellen müssen, „dass die Koordination der Bühne und des Orchesters von einer Position aus, wo keiner den anderen hören konnte, eine große Herausforderung war“. Die Eröffnungspremieren bilden das in sehr gutem Mono ab. So steht das Klangbild als entscheidender Vorzug auf der Habenseite der Neuerscheinung. Exemplarisch ist die erste Rheingold-Szene. Kempe findet tastend hinein, lässt es fließen. Mal etwas behäbig, gar stockend, dann breitet und üppig. Der Dirigent gibt den Solisten Zeit, sehr viel Zeit. Er hetzt sie nicht. Dorothea Siebert (Woglinde) und Claudia Hellmann (Wellgunde) bringen hörbar Bayreuth-Erfahrung mit und greifen der Debütantin Sona Cervená als Floßhilde schwesterlich unter die Arme. Erstmals singt der 1909 in Prag geborene Otakar Kraus den Alberich in Bayreuth. Offenbar hat ihn Kempe aus London mitgebracht, wo er 1957 in der Produktion in Covent Garden sein Alberich gewesen ist. Davon gibt es bei Testament einen Mitschnitt. Internationale Berühmtheit erlangte Kraus durch Nick Shadow in der Uraufführung von Stravinskys The Rake’s Progress 1951 in Venedig. Mit Robert Lloyd, Willard White, John Tomlinson und Gwynne Howell hatte er gleich vier Schüler, die später berühmt wurden. Ein Schönsänger war Kraus nicht. Bei ihm überwiegt das gestalterische Element. Mich stört, dass die Stimme gelegentlich zu sehr schwingt. Sein Fluch im Rheingold verflüchtigt sich rasch in Sprechgesang. Mit der Rolle, die er auch im Siegfried und in der Götterdämmerung verkörpert, ist er weit gereist. Nun gehörte er zu den Stützten dieses Zyklus, in dem er bis 1963 auftrat. Er singt deutlich und versiert, im Vergleich mit seinem Kollegen Gustav Neidlinger, der mit dem Alberich Musikgeschichte schrieb, etwas harmloser. Sein Markenzeichen ist die Genauigkeit, die fast an Wortklauberei grenzt. Es lässt nicht vergessen, dass Wagner seinen Sängern vor allem Deutlichkeit ins Stammbuch schrieb. Kraus zelebriert den oft belächelten Stabreim, der im Rheingold auf die Spitze getrieben scheint. Plötzlich wird deutlich, dass Wagner mit seinen Alliterationen die Sänger auch stilistisch an die Kandare nahm.

 

Hermann Uhde, der seit 1951, dem Jahr des Neubeginns, dabei war, singt den Wotan im Rheingold, den er schon einmal 1952 gegeben hatte, und den Wanderer. Es war seine letzte Saison. Stimmliche Abnutzungserscheinungen, die er durch Gestaltungswillen zu relativieren versteht, sind nicht zu überhören. Majestätisch klingt er nicht, ehr kernig und resigniert, womit er der Rolle seinen ganz eigenen Stempel aufdrückt. In der Walküre probiert sich der Amerikaner Jerome Hines als Wotan aus. 1961 übernahm er dann auch im Rheingold. Den Wanderer aber blieb er Bayreuth schuldig. Nach dem etwas glücklosen Uhde war es im Jahr drauf James Milligan. Mit Ausnahme des Holländers Anton van Rooy, der den Wotan von 1897 an sang, dürfte bis in die 1960er Jahre kein anderer Ausländer besetzt gewesen sein. Nach dem ewigen Hans Hotter, der in mindestens sechs Spielzeiten hintereinander als Wotan in Bayreuth Wurzeln geschlagen hatte und auch unter Kempe gelegentlich einsprang, waren plötzlich neue Töne zu vernehmen. Der vierzigjährige Hines verbreitet Frische in Stimme und Erscheinung, versehen mit einem Schuss Beliebigkeit. Ohne Schaden zu nehmen, kommt er über die nicht enden wollenden Erzählungen im zweiten Aufzug der Walküre. Da hatte ihm Hotter, der mehr Geheimnis und Spannung hineinlegte, einiges voraus. Bei Hines dauern sie gefühlt noch etwas länger. Dennoch hört er sich sehr gut an. Milligan war gerade mal dreiunddreißig. Ihm sollten nur noch wenige Monate bleiben. Er starb im November desselben Jahres bei einer Probe in Basel an den Folgen einer Herzkrankheit. Auf der Schwelle zur Weltkarriere. Um so einen ist es wirklich schade. Er hatte das Zeug für einen Heldenbariton mit einer tragfähigen und stabilen Mittellage, aus der er sich gewaltig steigern konnte. Davon weiß er 1961 vor allem in der Rätselszene im ersten Siegfried-Aufzug Gebrauch zu machen. Sein Deutsch ist nahezu perfekt. So auf den Punkt wie er singt heute kaum jemand mehr. Dem ersten Eindruck nach lässt die Stimme auf einen reiferen Sänger schließen. Ein derartiges Volumen und diese Kraft sind für sein Alter ungewöhnlich. Noch sind nicht alle Kanten und Ecken dieser Naturstimme abgeschliffen. Das wirkt zusätzlich reizvoll. Für mich ist James Milligan die eindrucksvollste Gestalt des Mitschnittes von 1961, mit dem ihm nun ein klingendes Denkmal gesetzt wurde. Nur in wenigen anderen Aufnahmen hat er mitgewirkt. Einiges gibt es von Arthur Sullivan, aus Kanada hat sich ein Messiah erhalten und bei der EMI ein Glyndebourne-Idomeneo, in dem er den Arbace singt.

In den drei Sommern, die Rudolf Kempe als Ring-Dirigent in Bayreuth verbrachte, stand ihm Gottlob Frick mit seinem ehernen Bass als unerschütterlicher Hunding und Hagen zur Verfügung. Auch er eine sichere Bank für gutes Gelingen. Mit einem kernigen Donner, der in der Gewitterszene mächtig auftrumpft, gab Thomas Stewart 1960 seinen Einstand in Bayreuth. Bis 1972 war er ständiger Gast und hinterließ als Amfortas, Holländer und Wotan bleibende Spuren. Der Zufall wolle es, dass er zum Abschied für Franz Mazura nochmals als Gunther einsprang. Ein Kreis hatte sich geschlossen. Im eigenwilligen Tenor von Gerhard Stolze erkennen dessen Bewunderer, zu denen ich mich auch zähle, einen der besten Loge. Immer herauszuhören, agiert er verschlagen und empathisch zugleich. Stolze, dem eine besondere schauspielerische Begabung zu Gebote stand, konnte sich – dem Halbgott gleich – in die unterschiedlichsten Figuren verwandeln. Selbst für die kleinsten Rollen war er sich nicht zu schade, was in Bayreuth zu seiner Zeit besonders geschätzt wurde. Schon 1951 ist er als ein Knappe im Parsifal und als Augustin Moser in den Meistersingern dabei gewesen. Bis 1969 gehörte er zum solistischen Inventar.

Und Siegfried? „Der bläst so munter das Horn.“ Was Hagen im ersten Aufzug der Götterdämmerung so treffend über den Helden bemerkt, liest sich wie eine Beschreibung der Leistungen von Hans Hopf. Obwohl schon 1951 als Walther von Stolzing in den Eröffnungs-Meistersingern unter Herbert von Karajan und als Solist bei der von Wilhelm Furtwängler geleiteten 9. Sinfonie von Beethoven mit dabei – Mitschnitte sind offiziell bei der EMI erschienen – sollten acht Jahre bis zu seiner Rückkehr auf den Hügel im Jahr 1960 verstreichen. Bis 1964 sang er durchgehend den Siegfried – mit unvergleichlichem Timbre – versiert, zuverlässig, robust. An die Stelle von Jugendlichkeit setzt er Erfahrung. Etwas knapp fällt hin und wieder die Höhe aus. Es gab in seiner Anwesenheit nie eine doppelte oder gar alternative Besetzung, geht aus den Annalen der Festspiele hervor. Hopf sagte auch nie ab. An seiner Unersetzbarkeit ließ er nicht den geringsten Zweifel. Dadurch erweist er sich als eine der Stützen dieser Produktion. Rekordverdächtige neunzehn Jahre – von 1951 bis 1970 – hielt Wolfgang Windgassen den Festspielen die Treue. Er war 1960 als betont lyrischer und in sich gekehrter Siegmund besetzt, der gegen Ende des ersten Aufzug stimmlich zu kämpfen hat. Ihm zur Seite als Sieglinde die Schwedin Aase Nordmo-Loevberg, die ein makelloses Deutsch singt, in den dramatischen Steigerungen aber an Grenzen kommt. Regine Crespin folgte ihr im Jahr darauf. Eine Muster an vorbildlicher Diktion ist Hertha Töpper, die nach etlichen kleinen Rollen 1960 zur Fricka aufgerückt war, im Folgejahr aber durch die fulminantere Regina Resnik ersetzt wurde. Erstmals trat Birgit Nilsson 1960 mit ihren Trompetenhöhen als Brünnhilde in Erscheinung, wurde aber in der Walküre durch Astrid Varnay ersetzt. Die nun ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie die erste Brünnhilde im Nachkriegs-Bayreuth gewesen ist. Rüdiger Winter

 

Foto oben: Rudolf Kempe/ findagrave/peterboroughWeitere Information zu den CDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei https://www.note1-music.com/shop/. und bei und bei www.naxosdirekt.de.