Archiv des Autors: Rüdiger Winter

Hertha Töpper

 

Nicht immer ist die Karriere einer Sängerin so genau auf Tonträgern dokumentiert wie bei Hertha Töpper. Als die vermutlich erste Aufnahme gilt der Wachgesang der Brangäne aus Wagners Tristan vom 12. Oktober 1950 aus der Grazer Oper, der ein großes Talent erahnen lässt. Die Stimme ist ruhig und sicher, die Atemreserven scheinen endlos. Bereits fünf Jahre zuvor hatte sie an diesem Haus mit der Ulrica im Maskenball von Verdi debütiert. Graz ist ihre Heimatstadt. Dort wurde sie am 19. April 1924 geboren. Sie wuchs in einem musikalischen Elternhaus auf. Ihr Vater ist Musiklehrer gewesen. Noch vor dem Abitur nahm sie Gesangsunterricht. Seit 1949 war sie mit dem zwanzig Jahre älteren Komponisten Franz Mixa verheiratet, der auch Einfluss auf ihre weitere stimmliche Entwicklung genommen haben dürfte.

Bayreuth wurde bereits 1951 für die ersten Nachkriegsfestspiele auf die junge Sängerin aufmerksam. Sie sang die Floßhilde in Rheingold und Götterdämmerung sowie die Siegrune in der Walküre. Im selben Jahr eroberte sie sich das Publikum in München als Octavian im Rosenkavalier (Foto oben / isoldes-liebestod.net) von Richard Strauss, der eine ihre Paraderollen wurde und ihr auch für 1962 und 1963 einen Vertrag mit der Metropolitan in New York eintrug, was in diesen Jahren noch viel bedeutete. Es gibt mindesten zwei Mitschnitte der Oper auf CD. Strauss blieb ein wichtiger Komponist für die Töpper. Sie sang auch die Clairon in Capriccio, die auf einer Gesamtaufnahme unter Clemens Krauss verewigt ist, die Adelaide in der Arabella und die Gaea in der Daphne, die der Bayerische Rundfunk sogar filmisch produzierte. An der Münchner Staatsoper war sie 1957 an der Uraufführung der Oper Die Harmonie der Welt von Paul Hindemith beteiligt.

Nicht eben kurz ist die Liste der Plattenaufnahmen, die alle Genres berühren. Sogar ein Querschnitt durch den Bettelstudent von Millöcker und eine Gesamtaufnahme von Suppés Banditenstreiche sind dabei. Untrennbar verbunden ist der Name von Hertha Töpper mit den Münchner Bach-Produktionen des Dirigenten Karl Richter, der sie auch auf viele Gastspielreise mitnahm. Richter schätzte an ihr die Disziplin und die schnörkellose Stimme, die sich gut in das Ensemble einpasste, einen festen Sitz hatte und technisch perfekt war. Zu Bach-Kantaten-Einspielungen ging sie auch nach Leipzig. Von 1971 bis 1981 hatte sie eine Professur für Gesang an der Musikhochschule in München, wo sie bereits 1955 zur Kammersängerin ernannt worden war. Am 28. März 2010 ist Hertha Töpper im Alter von fünfundneunzig Jahren gestorben. Rüdiger Winter

„Immer dem Bache nach“

 

Der niederländische Bariton Thomas Oliemans hat eine beachtliche Diskographie vorzuweisen, wozu auch Schuberts Winterreise gehört. Jetzt ist bei B Records Die schöne Müllerin hinzugekommen (LBM 025). Begleitet wird er von dem aus Edinburgh stammenden Pianisten Malcolm Martineau. Die Neuerscheinung wurde bei einem Konzert am 3. Juni 2019 im Pariser Théâtre de l’Athénée mitgeschnitten. Der Sänger hat es aber eilig, so der erster Eindruck. Im ersten Lied schlägt er zunächst ein rasantes Tempo an, das alsbald wieder zurückgenommen wird. Er passt es den jeweiligen Inhalten und Situationen an. Kommen die Steine, „selbst so schwer sie sind“ ins Spiel, scheint sich der Wanderer Schuhe mit Bleisohlen angelegt zu haben. So geht das weiter. Das Tempo gibt sich wechselhaft, und es wird auch nicht mit Pausen gespart. Oliemans, der auf Opernbühnen sehr aktiv ist, bringt – unterstützt von seinem Pianisten – ein starkes theatralisches Element in seine Interpretation ein und punktet dabei mit genauer Diktion. Die größte Wirkung wird dann erzielt, wenn er sich Zeit lässt und die lyrischen Passagen gedankenverloren auskostet wie bei den „Trockenen Blumen“. Dem Klang ist nicht anzumerken, dass es sich um einen Mitschnitt handelt. Alle störenden Geräusche sind eliminiert. Das Cover hätte man sich etwas sinnlicher gewünscht.

 

Jasper Schweppe klingt jünger, als er in Wirklichkeit sein dürfte. Eine Angabe über sein Geburtsjahr habe ich nicht gefunden. Der Beginn der Ausbildung 1969 am Konservatorium in der niederländischen Stadt Zwolle mit dem Studium der darstellenden Musik ist zumindest ein Hinweis auf sein Alter. Später absolvierte er das Royal Conservatory in Den Haag. Musikalisch ist er breit aufgestellt, hegt eine große Verehrung für Monteverdi und pflegt auch Werke von Rameau. Schweppe singt in namhaften Chören seiner Heimat und gibt auch Sololiederabende. Bei Et’Cetera hat er eine Einspielung von Franz Schuberts Die schöne Müllerin vorgelegt (KTC 1653). Sein Begleiterin ist die Japanerin Riko Fukuda. Schweppe hat sich zu einer schlichten und schnörkellosen Interpretation entschlossen. Bei ihm klingt der Zyklus wie eine Sammlung von Volksliedern. Im Booklet gibt er Einblick in sein Konzept: „In meiner Interpretation dieser Lieder versuche ich, den Absichten Schuberts so nahe wie möglich zu kommen, indem ich nicht so sehr vom Belcanto ausgehe, sondern von der Deklamation des Textes.“ Er wolle dem „Gesangsstil unserer heutigen Zeit entgehen“ und trete an „Schuberts Lieder vom 18. Jahrhundert aus“ heran. Das funktioniert natürlich nur dann, wenn die Lieder so deutlich und klar gesungen werden wie durch Schweppe. Die Authentizität wird noch dadurch gesteigert, dass ein Instrument des deutsch-österreichischen Klavierbauers Conrad Graf von 1827. Vier Jahre zuvor hatte Schubert seine Müllerin komponiert.

 

Darf es noch eine Schöne Müllerin sein? Bitte schön! Bo Skovhus hat bei Capriccio seine zweite Aufnahme des Liederzyklus von Franz Schubert veröffentlicht (C5290). Die erste war 1997, begleitet von Helmut Deutsch, bei der EMI herausgekommen. Jetzt sitzt Stefan Vladar am Klavier. Dazwischen gab es ein Schubert-Album bei Sony. Neben seiner Tätigkeit auf internationalen Opernbühnen hat der aus Dänemark stammende Bariton stets den Liedgesang gepflegt. Skovhus und sein Pianist schlagen ein zügiges Tempo an. Sie brauchen nur etwas mehr als neunundfünfzig Minuten. Das ist vergleichsweise wenig. Andere nehmen sich mehr Zeit. „Das Wandern ist der Müllers Lust“: Der berühmte Beginn wird nicht idyllisch und gemächlich ausgebreitet. Unrast liegt darin, wenn nicht gar Hatz. Als sei einer auf der Flucht mit unbekanntem Ziel. Nur weg, ja nicht stehenbleiben oder gar zurückblicken. Da Skovhus ein vorzügliches, ja beispielhaftes Deutsch ohne Akzent singt, kann er sein hoch individuelles Herangehen nicht nur musikalisch, sondern auch sprachlich überzeugend vermitteln. Selbst bei solchen im Tempo verhalten angelegten Liedern wie Die Danksagung an den Bach oder Trockene Blumen ist die Unrast im Untergrund spürbar. Erst am Schluss, in Des Baches Wiegenlied, kommt dieser Müllerbursche zur Ruhe – weil er nicht mehr kann. Er haucht sein Leben aus, wirkt wie hingestreckt, wie gefällt. Er ist am Ende. Den Liederzyklus so aufregend vermittelt, liegt kein Wagnis darin, den unzähligen Aufnahmen noch eine hinzuzufügen.

 

Bei Gramola hat Matthias Helm seine Version mit dem Gitarren-Duo Hasard herausgebracht  (99065), bei Ars Klemens Sander mit traditioneller Klavierbegleitung durch Ehefrau Uta Sander (38535). Beide singen Bariton. Länger und länger wird die Liste der Aufnahmen. Ungebrochen ist das Interesse an diesem Liederzyklus. Es scheint, als nehme das Reproduktionstempo zu. In Studios womöglich noch mehr als im Konzertsaal. Waren Einspielungen vor fünfzig Jahren ein exklusives Ereignis, kann einem heutzutage schon mal eine Neuerscheinung durchrutschen. Auf Wiederauflagen ist kein Verlass. Wer nichts verpassen will, muss sofort zugreifen. Angesichts der Fülle wird es nicht einfacher, die Übersicht zu behalten. Zumal sich Sänger mit großer Entschlossenheit und Entdeckerfreude dem Lied zuwenden – zum Glück nicht immer nur ein und denselben Titeln oder den berühmten Zyklen. Zuwachs in den Katalogen gibt es vor allem durch Vielfalt. Neben Schubert, Brahms, Wolf, Schumann oder Strauss treten fast vergessene Komponisten wie Ludwig Thuille (1861-1907), Johann Friedrich Reichardt (1752-1814) der späte Berliner Schumann mit Vornamen Georg (1866-1952) oder Heinrich von Herzogenberg (1843-1900) aus ihrem Schattendasein hervor. Namentlich das Label cpo überrascht mit derartigen Ausgrabungen. Freunde des Liedgesangs leiden also nicht an Entzugserscheinungen. Zu keiner Zeit wurden mehr Lieder aufgenommen als heute.

 

CD Muellerin SanderNiemand hat mehr einen genauen Überblick, wie oft die Schöne Müllerin aufgenommen wurde. Zu den offiziellen Produktionen treten die Radioaufnahmen, die nicht immer auf Platte gelangt sind, die einmaligen Übertragungen in Rundfunk und Fernsehen, die heimlichen privaten Mitschnitte. Auf der französischen Internetseite Operacritiques werden mehr als 180 verschiedene Aufnahmen genannt, deren Herkunft bis auf ganz wenige Ausnahmen belegbar ist. Die erste geschlossene Wiedergabe sang der österreichische Tenor Franz Naval 1909 für Odeon in den Zylinder. Mit leichten Kürzungen, als sei er in Eile. Das straffe Tempo war der begrenzten Aufnahmetechnik geschuldet, die in den Kinderschuhen steckte. Seine Aufnahme kann noch heute bestehen. Bereits 1902 hatte Naval das Müllerinnen-Lied Der Neugierige eingespielt, noch früher, nämlich 1901, sang der Bassist Paul Knüpfer den Titel Ungeduld für die Deutsche Grammophon Aktien-Gesellschaft. Die Firma wird, wie damals üblich, sogar mit scharfer Stimme angesagt. Einzelne Nummern aus dem Zyklus sind mit Beginn der Schelllackära häufig anzutreffen. Noch in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre hat Elisabeth Schwarzkopf das Lied Ungeduld gleich dreimal aufgenommen. Danach sind einzelne Aufnahmen fast nicht mehr anzutreffen. Gesamtaufnahmen wurden die Regel. Bis auf wenige Ausnahmen wurde immer auf Tonträgern stets in der Originalsprache gesungen. Germaine Martinelli wählte 1935 für Malibran eine französische Übersetzung, Georgi Vinogradov 1954 eine russische und Beno Blachut um 1960 oder etwas später eine tschechische. Viel mehr Ausnahmen sind nicht nachzuweisen.

LP Muellerin Fischer-Dieskau

Dietrich Fischer-Dieskau hat die „Schöne Müllerin“ mit Prolog und Epilog aufgenommen. Das Bild zeigt die Vorderseite einer historischen Schallplattenausgabe.

Dietrich Fischer-Dieskau, Hermann Prey, Fritz Wunderlich oder Peter Schreier haben die Müllerin mehrfach eingespielt bzw. bei Konzerten mitschneiden lassen. Sie sind Spitzenreiter. Einmal hat Fischer-Dieskau gemeinsam mit dem legendären Begleiter Gerald Moore den Zyklus sogar mit gesprochenem Prolog und leicht gekürztem Epilog eingespielt. Schubert hatte 1823 nicht alle Lieder der gleichnamigen Gedichtsammlung von Wilhelm Müller komponiert. Weggelassen wurden „Das Mühlenleben“, „Erster Schmerz, letzter Schmerz“, „Blümlein Vergießmein” und eben Prolog und Epilog. Der ironische Grundton der einleitenden und abschließenden Betrachtungen, die dem Zyklus eine völlig andere Perspektive geben, waren Schuberts Sache nicht. Dennoch wäre es konsequent und gewiss nicht unspannend gewesen, an den entsprechenden Stellen der Aufnahme die übrigen Texte auch gesprochen einzufügen. Dann nämlich hätte Fischer-Dieskau, der ein exzellenter Rezitator gewesen ist, im Epilog nicht die einleitenden zehn Zeilen weglassen müssen, die sich nämlich auf die Tatsache beziehen, dass der Zyklus aus insgesamt fünfundzwanzig Gedichten besteht. Eine Rumpflösung ist immerhin besser als gar keine. Dennoch hat diese Variante keine Nachahmer gefunden.

Die beiden Produktionen leben nicht zuletzt davon, dass sie sich einem Vergleich mit berühmten früheren Einspielungen entziehen. Dafür sind sie zu unkonventionell. Es handelt sich um CD-Premieren in der Karriere von Helm und Sander, die den Fotos nach noch jünger aussehen, als sie in Wirklichkeit sein dürften. So soll es wohl auch sein. Angaben über ihre Geburtstage finden sich nirgends, nicht auf den Homepages, nicht in der gewöhnlich allwissenden Online-Enzyklopädie Wikipedia. Derlei biographische Zurückhaltung ist in dieser Generation keine Seltenheit. Sie will jung sein – und es immer bleiben. Jedenfalls haben beide nach meinem Eindruck das rechte Alter für die Lieder. Denn was sich in der Geschichte zuträgt, das widerfährt nicht dem reifen Manne. Das geschieht in jungen Jahren. Matthias Helm und Klemens Sander haben beide bei Robert Holl, Jahrgang 1947, studiert. Holl hat den Liedgesang intensiv gepflegt, wovon zahlreiche einschlägige Aufnahmen, darunter auch Schuberts Müllerin, Zeugnis ablegen. Es ist erfreulich, dass er seine Erfahrungen weitergibt. Auch neue Sichtweisen in der Interpretation brauchen den kontinuierlichen Unterbau in Form des Wissens der vorangegangenen Generation.

 

CD Muellerin Helm (Foto)

Der Bariton Matthias Helm (Mitte) mit seinen Begleitern Stephan Buchegger (links) und Guntram Zauner (rechts), die das Duo Hasard bilden. Das Foto von Reinhard Wimroither ziert die Rückseite des Gramola-Booklets.

Die Schöne Müllerin mit Gitarrenbegleitung, zu der sich Helm entschlossen hat, ist keine Erfindung der Neuzeit. Nachdem der Liederzyklus von Franz Schubert 1825 in fünf Heften beim Wiener Verlag Sauer & Leidesdorf erstmal gedruckt vorlag, kam schon wenig später eine Bearbeitung für Singstimme und Gitarre in Umlauf. Ob Schubert selbst Gitarrenbearbeitungen vorgenommen hat, ist nicht bekannt. In Wien hatte das Instrument Dank des dort wirkenden Gitarrenbauers Johann Georg Stauffer (1778 bis 1853) einen guten Ruf. Es dürfte weit verbreitet gewesen sein, auch deshalb, weil es in der Anschaffung deutlich günstiger ist als ein Piano. Peter Schreier war einer der ersten Tenöre, der sich 1978 bei den Salzburger Festspielen vom Gitarristen Konrad Ragossnig begleiten ließ. Dieser hatte gemeinsam mit seinem englischen Kollegen John William Duarte eine eigene Fassung erarbeitet, um „den musikalischen Substanzverlust auszugleichen, der durch die zeittypischen Reduktionen und spieltechnischen Erleichterungen entstand“, wie der Musikwissenschaftler Michael Struck-Schloen im Booklet der Eterna-Einspielung von 1982 schreibt, die nun von Berlin Classics vertrieben wird. Die Popularität des transportablen, leicht zu erlernenden Instruments, das auch Schubert leidlich beherrscht habe, prädestinierte es „vor allem zur empfindsamen Begleitung im häuslichen Rahmen“, so Struck-Schloen weiter. Mit dem Duo Hasar, das aus Stephan Buchegger und Guntram Zauner besteht, hat Helm gleich zwei Begleiter. Das gibt mehr Fülle, zugleich eröffnen sich größere klangliche Möglichkeiten. Das Duo hat das Arrangement selbst besorgt. Nichts ist daran auszusetzen. Wer allerdings auf dem Grunde des Gedächtnisses die traditionelle Klavierbegleitung mitlaufen lässt, kann sich des gelegentlichen Eindrucks nicht erwehren, als stehe der Sänger neben den Gitarren etwas auf verlorenem Posten. Der Klang des Klaviers schafft nach meinem Eindruck mehr Halt, umgibt die Stimme wie ein virtueller Raum, ein Raum, in der sie sich am Ende doch besser entfalten kann. Helm braucht mit reichlich 62 Minuten bald zehn Minuten weniger als Sander. Das fällt nur beim Nachrechnen auf, nicht beim Hören. Letztlich lassen sich beide Sänger Zeit genug, um die Lieder verständlich herüberzubringen, die Geschichte in aller gebotenen Ruhe und Ausführlichkeit zu erzählen und sich nicht in Hast zu verlieren. Ein zu schnelles Tempo kann zum Feind des Vortrages werden.

Auf der Habenseite dieser Aufnahmen steht ein hohes Maß an Wortdeutlichkeit. Nicht selten kennt das Publikum die eingängigen, volksliedhaften Verse auswendig. Ob man will oder nicht, es findet ganz automatisch ein ständiger Abgleich zwischen dem Gehörten und dem eigenen Gedächtnis statt. Stimmt etwas nicht oder ist etwas anders, fällt das sofort auf. Helm singt noch genauer als Sander, der etwas großzügiger in der Anwendung mancher Buchstaben ist. „Vom Wasser haben wir’s gelernt, vom Wasser“, heißt es gleich im ersten Lied. Bei Sander wird in der Wiederholung aus dem „vom“ ein „von“. Zunächst scheint eine Passage im zweiten Lied „Wohin?“ rätselhaft. Im Text, der im Booklet abgedruckt ist, heißt es: „Und immer frischer rauschte, / Und immer heller der Bach.“ In allen Aufnahmen, die ich kenne, folgt der Sänger diesen Worten. Auch Fischer-Dieskau, der sich in seinem langen Künstlerleben sehr intensiv mit dem Werk beschäftigte. Sander ersetzt das Wort „frischer“ durch „heller“, was zu Folge hat, dass der Bach „immer heller, und immer heller rauscht“. Sinnwidrig ist das nicht. Ist es aber richtig? Das „Schubert Lied-Lexikon“ aus dem Bärenreiter-Verlag gibt dem Sänger Recht. Dort wird der Text genauso abgedruckt, wie Sander ihn singt. Sollte es also zwei verschiedene Fassungen geben? Eine Erklärung habe ich nicht gefunden.

So könnte der junge Franz Schubert ausgesehen haben. Bewiesen ist es nicht. Die Kreidezeichnung soll von Leopold Kuppelwieser stammen, der zum Freundeskreis Schuberts gehörte.

So könnte der junge Franz Schubert ausgesehen haben. Bewiesen ist es nicht. Die Kreidezeichnung soll von Leopold Kuppelwieser stammen, der zum Freundeskreis Schuberts gehörte/ Wiiki.

Derlei Haarspaltereien fallen angesichts der frischen Vortragsweise nicht ins Gewicht. Sowohl Sander als auch Helm wählen einen unkonventionellen, ja lockeren Stil und kommen dadurch dem Zyklus auf eine sehr zeitgemäße Weise nahe. Sie betonen damit – ob nun gewollt oder mehr intuitiv – einen deutlichen Unterschied zu jenen dem Intellekt verpflichteten Sängern wie Fischer-Dieskau. Sie betreiben keine Exegese. Im Booklet der Sander-CD liest sich das so: „Die Geschichte ist rasch erzählt – und bei aller Liebe zu den wunderschönen, scheinbar launigen Melodien – ganz schön schauderhaft. Ein Müllerbursche befindet sich auf Wanderschaft und verliebt sich hoffnungslos in des neuen Meisters Tochter. Die schöne Müllerin wendet sich lieber dem Jägersmann zu, dem Müllergesell bleibt der finale Freund: Er geht in den Bach.“ Falsch ist das auch nicht. In dem als Interview angelegten Text von Daniel Wagner kommt auch der Sänger selbst zu Wort. „Also ganz gesund war der sicher nicht“, urteilt Sander über den Müllerburschen. „Das muss wahrscheinlich so sein, wenn man richtig krank vor Liebe ist.“ Anfangs sei noch alles lustig. Da werde gewandert und gesungen. Wirklich? Ist es nicht vielmehr so, dass sich bereits im zweiten Lied die bange Frage stellt, ob „das denn meine Straße ist“? Und ist es tatsächlich nur der Bach, der da rauscht? „Es singen wohl die Nixen tief unten ihren Rhei’n.“ Nixen sind Fabelwesen, die den Menschen Gefahr und Tod bringen. Ist das Schicksal des jungen Wanderers nicht schon besiegelt, bevor er auf die schöne Müllerin trifft?  Rüdiger Winter

Sehr überzeugend

 

Noch eine Salome? Noch eine! Die wievielte eigentlich? Andreas Ommer listet in seinem „Verzeichnis aller Operngesamtaufnahmen“, das in der zweiten Ausgabe als CD-ROM (zeno.org.) aber nur bis 2007 reicht, fast achtzig Aufnahmen auf. Dazu kommen noch die Produktionen in bewegten Bildern. Der Onlinehandel hat derzeit mindestens zehn verschieden DVDs im Angebot. Vertreten sind Regisseure mit sehr unterschiedlichen Handschriften – von traditionell üppig bis hin zu Regietheater pur mit optischen Anleihen bei der Gegenwart. Fast jede Erwartung wird bedient. Mangel herrscht also nicht. Neuerscheinungen treffen auf harte Konkurrenz.

Naturgemäß wird immer dieselbe Fassung gespielt und angeboten, weil es bei Salome im Vergleich zu vielen anderen Werken keine Striche, die aufzumachen sind, und keine verschiedenen Versionen gibt. Unterschiede beschränken sich einzig auf die Besetzungslisten und die Produktionsstandorte. Es gibt viele Gründe, sich trotz des Überangebots eine neue Aufnahme zuzulegen. Da es sich heutzutage mehr oder weniger um Liveproduktionen handelt, lassen sich die Eindrücke im Opernhaus zuhause überprüfen oder – wenn es besonders gut gefallen hat – auf Knopfdruck wiederholen. Die DVD-Neuerscheinung von RCO – dem eigenen Label des Royal Concertgebouw Orchestra Amsterdam (LC-14237) – fährt Solisten auf, die ihre Rollen auch anderswo mit Erfolg gesungen haben und singen.

Allen voran die Schwedin Malin Byström, die als Salome beispielsweise auch schon in London zu hören war. Sie ist sehr vielseitig unterwegs und scheut auch die Operette nicht. Ihr üppiger Sopran hat Kritiker zu Vergleichen mit Kiri Te Kanawa veranlasst. Doris Soffel ist als Herodias optisch schon in der Inszenierung von Nicolaus Lehnhoff 2011 in Baden-Baden dokumentiert (Unitel/Arthaus). Ihre Professionalität erlaubt es ihr, sich in Inszenierungen aller Couleurs ganz selbstverständlich zurechtzufinden. Und wäre die Bühne stockdunkel, man würde ihre Anwesenheit auch dann noch spüren, so stark ist die darstellerische und stimmliche Präsenz dieser Künstlerin. Ihr erster Auftritt grenzt an Magie, als sei alles nur darauf hin inszeniert. Sie übernimmt und degradiert den stimmlich bestens aufgelegten Herodes (Lance Ryan), der sich mal eine Pause vom schweren Wagner-Helden-Fach gönnt, zur Memme, als die er im Stück selbst ja auch angelegt ist.

Doris Soffel ist als Herodias bei ihrem ersten Auftritt in magisches Licht getaucht und beeindruckt einmal mehr durch ihre unglaubliche Professionalität. Foto: DVD/Screenshot

Evgeny Nikitin hat seine Erfahrungen als Jochanaan vor allen am Mariinsky-Theater in St. Petersburg gesammelt. Mit seinem kernigen Bassbariton trumpft er eifernd und mächtig auf und kann auch seine vielen Tattoos ausstellen, als müsste es so sein. Sehr anrührend ist es, wenn der Page (Hanna Hipp) den jungen Syrier Narraboth (Peter Sonn) küsst, nachdem der sich selbst getötet hat. Er ist der einzig in der Geschichte, der wirklich liebte. Und niemand nimmt auch nur die geringste Notiz davon.

Der belgische Regisseur Ivo van Hove verlegt Teile der Handlung in einen Raum, der an eine Hotellobby erinnert. Diese klein gehaltene Handlungsebene ist – einem Guckkasten gleich – nach hinten gesetzt, während sich Salome meist auf der kargen überdimensionierten Vorderbühne – der Terrasse mit der Zisterne – bewegt. Als würde sie nicht dazugehören, als sei sie von der Gesellschaft ausgeschlossen. Sie ist Außenseiterin, was während der gesamten Vorstellung niemals außer Acht gerät. Die Schlussszene ist nichts für schwache Nerven. Sie gerät blutig. Daniele Gatti lädt das Orchester effektvoll wie mit Stromstößen auf. Und so ist diese Salome keine Salome zuviel. Rüdiger Winter

Dramatisch und subtil

 

Das Londoner Label Hyperion ist mit seiner Edition der Lieder von Franz Liszt bei Vol. 6 angelangt (CDA68235). Bestritten wird diese CD von Julia Kleiter. Am Flügel begleitet sie Julius Drake, der gefordert ist, weil bei diesem Komponisten der Klaviersatz nicht selten betont anspruchsvoll und üppig ausfällt. Schließlich war der Komponist als Pianist eine Legende. Auf seinem Spiel beruht seine enorme Berühmtheit. Heinrich Heines „Loreley“ – um ein Beispiel anzuführen – wird vom Klavier verschwenderisch umrankt. Die Sängerin setzt ein wenig atemlos ein, als ob ihr plötzlich ein Gedanke durch den Kopf schießt, auf den sie so nicht gefasst war. Das ist ein interessanter Ansatz, der in der Vertonung angelegt ist und jegliche Ähnlichkeit mit der etwas früher entstandenen volksliedhaften Version von Friedrich Silcher leugnet. Liszt hat ein versöhnlich ausklingendes dramatisches Kunstlied geschaffen, das in der ersten Fassung (1841) von Julia Kleiter bewegend gesungen wird. Überaus melodiös heben drei Lieder aus Friedrich Schillers Wilhelm Tell an – „Der Fischerknabe“, „Der Hirt“ und „Der Alpenjäger“ an. Für alle drei fand Liszt, der in Weimar, wo Schiller zuletzt lebte und starb, nachhaltige Spuren hinterließ, charakteristische Motive. Nicht gespart an Erfindungsreichtum hat der Komponist auch bei „Die Macht der Musik“ auf einen Text von Prinzessin Helene zu Mecklenburg-Schwerin (1814-1858). Mit gut zehn Minuten Länge wird die Form des Liedes arg strapaziert. Die Interpretin lässt sich davon nicht beeindrucken und gelangt zu einem in sich geschlossenen Vortrag. Zu hören sind unter anderen noch vier Kompositionen nach Versen von Victor Hugo, „Mignons Lied“ nach Goethe und „Wo weilt er?“ nach Rellstab.

Im Werk von Liszt stellen Lieder einen festen Posten. Mehr als achtzig Titel sind überliefert. Einige davon wurden mehrfach umgearbeitet. Die Transkriptionen der Lieder von fremder Hand – darunter Schubert, Beethoven und Schumann – gehören zu seinem Meisterwerken. In der Mehrzahl vertonte Liszt deutsche Gedichte. Goethe, Schiller, Heine, Uhland und Rückert waren seine bevorzugten Dichter. In Anlehnung an Heinrich Heine sollten diese Werke als „Buch der Lieder“  verteilt auf mehrere Hefte herausgegeben werden. Von diesem Plan rückte Liszt aber wieder ab, weil nicht alle frühen Lieder später seinem eigenen Werturteil standhielten. Enge biografische Bindungen an Frankreich, Ungarn und Italien brachten es mit sich, dass er auch Texte aus diesem Kulturkreis vertonte. Liszt kann getrost als eine europäische Erscheinung gelten, was ihm im Lichte unserer Zeit so modern macht. Der französische Tenor Cyrille Dubois, der sowohl auf Opernbühnen als auch in Konzertsälen unterwegs ist, legte bei Aparte eine CD mit Liszt-Liedern vor. Begleitet wird er von seinem Landsmann Tristan Raës (AP200). Beide haben zusammen bereits mehrere Preise gewonnen.

Mehr als die Hälfte der Lieder sind deutschsprachig. Dubois hat es sich also nicht leicht gemacht. Er singt ein fabelhaftes Deutsch. Sein leichter Akzent stört überhaupt nicht. Im Gegenteil. Wir Deutsche hören es schließlich ganz gern, wenn sich Franzosen unserer Sprache bedienen. In Schlagern, Filmen oder im Theater wurde ein exotischer Kult daraus. Dubois spielt aber nicht damit. Er kann und will nur seine Herkunft nicht verleugnen. Und das ist gut so. Wichtiger ist, dass er mit dem Vortrag die Inhalte transportieren kann. Wie in der „Loreley“, der Deutschen liebsten Gedichte von Heine, das um die vierzigmal vertont wurde. Keine der Kompositionen wurde so populär wie die von Friedrich Silcher (1789-1860), die sich in ihrer volkstümlichen Schlichtheit auch jenen Menschen einprägt, die nicht wissen, was eine Note ist. Liszt verlässt ausgetretene Wege und spürt der tiefen Melancholie der Sage nach. Dubois singt die zweite Fassung von 1856. „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten.“ Der berühmte Beginn klingt bei ihm fast nebensächlich. So, als würde er von einem plötzlichen Einfall heimgesucht, der ihm fortan nicht mehr aus dem Sinn geht. Immer tiefer versenkt er sich in die Geschichte. Die musikalische Linie stellt sie wie von selbst ein und entwickelt sich so, dass Stimme und Klavier eins werden wie bei vielen Liedern von Franz Liszt, der bekanntlich ein begnadeter und gefeierter Pianist gewesen ist. In „Bist du“ findet der Sänger die typische Kompositionsweise von Liszt noch deutlicher heraus. Diesem Lied liegt ein Gedicht des russischen Dichters Elim Metschersky (1808 – 1844) zugrunde. Metschersky, der vor allem durch Liszt in Erinnerung geblieben ist, entstammte einer einflussreichen Adelsfamilie und suchte wegen seiner anfälligen Gesundheit das milde Klima von Nizza. Das Lied „O lieb, so lang du lieben kannst!“ gibt der Neuerscheinung den Titel. Es ist auf ein Gedicht von Ferdinand Freiligrath (1810–1876), einem Zeitgenossen des Komponisten, vertont worden. Die Melodie formte Liszt auch für seinen Klavier-Liebestraum Nr. 3.

In Reclams 1300 Seiten umfassenden Liedführer (Axel Bauni, Werner Oehlmann, Lilian Sprau und Klaus Hinrich Stahmer), einem mehrfach aufgelegten und erweiterten Standardwerk des Genres, heißt es: „Das Geheimnis der Lisztschen Lieder ist ihre Subtilität.“ Wem der Sinn für die Höhe des Gefühls fehle, auf der sie sich bewegten, der werde ihnen hilflos gegenüberstehen – doch „wer sich bemüht, sich in ihre Sphäre hineinzufühlen, dem bedeuten sie einen hohen, fast erotischen Bereich romantischer Idealität“. Ob Dubois diese Sätze gelesen hat? Er macht sich nämlich genau die darin zusammengefasste Erkenntnis zu Eigen und unterscheidet sich damit von manch anderer Interpretation, die nicht annähernd so gut ist wie die seine. Der Titel-Hit erweist sich allerdings nicht als Selbstläufer, klingt in der aufsteigenden Höhe sogar etwas penetrant. Doch wenn er den lyrischen Fluss der meisten Gesänge zeichnet wie mit einem Silberstift, dann entführt er sein Publikum, getragen vom Klavier, tatsächlich in jene Sphären, von denen die Autoren des Liedführers so präzise sprechen. Die CD ist nicht einen Moment langweilig. Dubois schafft mit seinem Vortrag keine Distanz. Er nimmt die meisten Lieder wörtlich, lässt sich schwärmerisch von jenen Gefühlen leiten, denen Liszt durch Musik und Texte Ausdruck verleiht. Für das Liedschaffen des Komponisten ist diese CD eine gute Empfehlung.

Diana Damrau hat bei Erato, begleitet von Helmut Deutsch, Lieder von Liszt eingespielt.

An Bemühungen, die Lieder von Liszt einem breiten Publikum bekannt zu machen, hat es nicht gefehlt. Nicht selten wirken die historischen Aufnahmen wie gut gemeinte Pflichtübungen, die am Ende doch viel Langweile verbreiten. Michael Raucheisen nahm im Rahmen seiner berühmten Liededition für den Reichsrundfunk mindestens achtzehn Titel auf. Beteiligt waren Erna Berger, Tiana Lemnitz, Lea Piltti, Emmi Leisner, Gertrude Pitzinger, Karl Erb, Hanns-Heinz Nissen, Rudolf Bockelmann und Hans Hotter. Elisabeth Schwarzkopf hatte Liszt noch in ihrer späten Zeit im Repertoire. Einen Liederabend 1973 in London eröffnete Hanne-Lore Kuhse aus der DDR gleich mit sechs Liedern dieses Komponisten. Der umtriebige Dietrich Fischer-Dieskau dürfte mit seiner Edition der Deutschen Grammophon, die etwa die Hälfte des Liedschaffens umfasst, der Platzhirsch auf dem Musikmarkt sein. Das englische Label Hyperion legte eine Gesamtaufnahme vor, an der Angelika Kirschlager, Sasha Cooke, Matthew Polenzani und Gerald Finley beteiligt sind. Für Centaur nahm der amerikanische Tenor Daniel Weeks eine Liszt-CD auf, während die deutsch-amerikanische Mezzosopranistin Marylin Schmiege für Orfeo ins Studio ging. Eine höchst ambitionierte Produktion legte die ungarischen Hungaroton vor. Dabei sind sechs Lieder in unterschiedlichen Versionen eingespielt wurden, darunter das aufgeregte „Freudvoll und leidvoll“, das Dubois in der Fassung von 1848 singt. Insgesamt gibt es deren drei.

Als sensible Interpretin der Lieder von Liszt erwies sich Diana Damrau auf ihrer von Helmut Deutsch begleiteten CD bei Erato, die seit der Veröffentlichung im Jahr 2011 nichts von ihrer Frische und Wirkung eingebüßt hat. Sie kann als weibliches Pendant zur aktuellen Einspielung von Dubois gelten. Rüdiger Winter 

Auf den Wogen des Lebens …

 

Enoch Arden von Richard Strauss erfreut sich eines ungebrochenen Interesses. Zuletzt hatte die umtriebige Brigitte Fassbaender das Melodram in Stuttgart öffentlich dargeboten und war damit auch ins Radio gekommen. Ihr rüstiger Auftritt bescherte der Achtzigjährigen viel Beifall und Aufmerksamkeit. Nun bringt eine prominente CD-Neuerscheinung fast schon unbarmherzig in Erinnerung, welchen besonderen Umständen das Opus entsprang. Es ist eine Danksagung an den legendären Schauspieler Ernst von Possart (1841-1921), der als Intendant in München dem aufstrebenden Komponisten und Dirigenten unter die Arme gegriffen hatte. Beide bestritten gemeinsam auch die ersten Aufführungen. Davon hat sich keine Aufnahme erhalten, wohl aber gibt es einige Platten, auf denen Possart mit dem Pathos der Jahrhundertwende seine Zuhörerschaft in Bann schlägt, wenn nicht gar ins Mark trifft. Enoch Arden, ein Werk, das nach einem Schauspieler mit großer theatralischer Bandbreite verlangt. So einer ist Bruno Ganz. Wie Possart war auch er ein berühmter Hamlet und Franz Mohr. Myrios classics hat seine Einspielung jetzt auf den Markt gebracht (MYRO25). Begleitet wird er am Klavier von Kirill Gerstein. Produziert wurde im Herbst 2016. Am 16. Februar 2019 ist Bruno Ganz mit 77 Jahren gestorben.

Das Dokument kann getrost als Vermächtnis gelten. Es lebt von seiner Stimme, braucht die Bilder nicht. Ist die CD im Player erst einmal in Gang gesetzt, das wilde Vorspiel verstrichen, kommt man Bruno Ganz sehr nahe, hängt an seinen Lippen, die nicht zu sehen sind. Er breitet das dramatische Geschehen mit der ihm eigenen Melancholie aus. Als sei das Ende schon im Anfang gegenwärtig. Die Spannung lässt über mehr als sechsundfünfzig Minuten hinweg nie nach. Es ist als verwandele sich der Erzähler unmerklich in die titelgebende Figur. Mit seinen monologischen Passagen gibt das der Text her. Insofern erweist es sich als glückliche Wahl, das Melodram von einem Mann im fortgeschrittenen Alter darbieten zu lassen. Denn Enoch Arden stirbt verlassen und einsam – nicht den Jahren, sondern seinem Schicksal nach – als alter und gebrochener Mann. Auch wer die Geschichte gut kennt, hört sie von diesem Schauspieler wie zum ersten Mal. Gnädige Kürzungen straffen den Fortgang der Handlung. Hier und da findet sich Worte um der Deutlichkeit Willen ersetzt. Aus „Dorfgeklätsch“ – um so ein Beispiel zu nennen – wird „Dorfgeschwätz“. Dann wieder verweigert sich Ganz sprachlicher Modernisierung indem er an dem schönen alten Wort „Fürbasswandern“ festhält. An die Substanz des Melodrams gehen die diskreten Änderungen nicht. Am Zustandekommen der Aufnahme hat der Pianist Gerstein einen größeren Anteil als seine sensible musikalische Begleitung. Wie er im Booklet berichtet, musste er Bruno Ganz erst zu dem Projekt überreden.

 

Dietrich Fischer-Dieskau wäre nicht Dietrich Fischer-Dieskau, hätte er vom Melodram nur eine Aufnahme hinterlassen. Es gibt deren drei. Mindestens. Wer weiß, vielleicht finden sich mit der Zeit noch weitere Einspielungen. Tüchtig wie er war, kann man sich da nie sicher sein. Die erste entstand bereits Mitte der sechziger Jahre für die Deutsche Grammophon mit Jörg Demus am Klavier. Sie ist offenbar nie auf CD gelangt. Jedenfalls habe ich keine Übernahme gefunden. Unter dem Gelblabel wurde 2005 eine zweite Version gemeinsam mit anderen Melodramen herausgegeben. Diesmal begleitete Burkhard Kehring. Auf dem Cover spaziert Fischer-Dieskau durch einen goldenen Blätterwald. Ein stimmungsvolles Bild aus dem Spätherbst eines erfüllten Lebens. Er hatte die aktive Sängerlaufbahn längst beendet und ging auf die achtzig zu. Seine Sprechstimme war erstaunlich jung und frisch geblieben. Eine gewisse Brüchigkeit fällt unter der technischen Beherrschung des unverwechselbaren Organs nicht sonderlich ins Gewicht. Im Gegenteil. Sie kann als interpretatorische Nuance ausgelegt werden. Wer gut singen gelernt hat, der kann in der Regel gut sprechen. Bis ins hohe Alter. Mit Enoch Arden wankt schließlich eine am Schicksal gebrochene Gestalt heran. Es kann nicht schaden, wenn ihn der Vortragende mit einer gehörigen Portion eigener Lebenserfahrung ausstattet. Bei Fischer-Dieskau ist das herauszuhören.

 

Mit der bislang dritten Produktion, die 1993 beim WDR in Köln mit Gerhard Oppitz am Klavier entstand, hatte unlängst Hänssler Classic überrascht (HC16048). Alle drei verfügbaren Einspielungen unterscheiden sich allerdings nicht so gravierend voneinander, als dass sich beim Hören ein verdreifachter Gewinn einstellte. Fischer-Dieskau bleibt – wie könnte es auch anders sein – immer er selbst. Es gibt bei ihm erstaunliche Gemeinsamkeiten zwischen dem Klang der Sprech- und der Singstimme. Egal, in welcher Form er sich äußert, er ist immer auf Anhieb zu identifizieren. Er neigte schon früh zum Rezitieren. Und war in den sechziger Jahren mit der damals außerordentlich beliebten Schauspielerin Ruth Leuwerik verheiratet. Der Hang zum Drama, zum Sprechen war immer da. So hatte er beispielsweise eine Aufnahme von Schuberts Schöner Müllerin mit gesprochenem Prolog und Epilog versehen. Fischer-Dieskau kam also im Alter lediglich aufs Rezitieren zurück, er musste es für sich nicht neu erfinden oder erst entdecken. Mit den großen Barden der Schauspielkunst konnte er es hingegen nicht aufnehmen. Enoch Arden dauert in der zuletzt veröffentlichten Aufnahme an die fünfzig Minuten. Obwohl zweigeteilt, stellt sich mit der Zeit eine gewisse Redundanz im Vortrag ein. Fischer-Dieskau wirkt auch eine Spur zu vornehm und drückt sich zu gewählt aus. Manchmal will das nicht zu der bewegten und in Teilen auch rauen Seemannsgeschichte passen.

Enoch Arden kann nach einem Missgeschick nicht mehr eigenständig als Fischer arbeiten. Er verlässt seine Familie, um für deren Unterhalt auf jenem Schiff als Hochbootsmanns anzuheuern, auf dem er in jungen Jahren schein einmal gedient hatte. Frau Annie und die Kinder lässt er in der Obhut seines Freundes Philipp zurück, der auf seine stille Art immer noch in Annie verliebt ist, die ihm aber einst den eigenwilligen Enoch vorgezogen hatte. Das Schiff gerät auf seiner Reise nach China in schwere Seenot. Gemeinsam mit zwei Kameraden kann sich Enoch auf eine Insel retten. Die Gefährden sterben, er bleibt für zehn Jahre auf dem Eiland gefangen, bis er zufällig gerettet wird. Gealtert und durch die Entbehrungen schwer gezeichnet, findet er in seinen Heimatort zurück, wo er längt für tot erklärt worden ist. Annie lebt nun mit Philipp zusammen. Der Heimkehrer gibt sich nicht zu erkennen. Er siecht gebrochenen Herzens einsam dahin und offenbart sein Schicksal erst auf dem Totenbett der Wirtsfrau Miriam, die sich seiner angenommen und ihn beherbergt hatte. „Ein Schiff! Ein Schiff! Ich bin gerettet!“ Das sind seine letzten Worte.

 

Das Melodram „Enoch Arden“ geht auf eine Ballade des englischen Dichters Alfred Tennyson (1809 – 1892) zurück. Foto: Wikipedia

Die Geschichte erzählt der englischen Dichter Alfred Tennyson (1809 – 1892) in einer Ballade. Er erzählt sie wortreich und ausschweifend, die Vorgeschichte inbegriffen. Tennyson entstammte bescheidenen bürgerlichen Verhältnissen. Sein Vater war Priester und Lehrer. Ausgestattet mit den finanziellen Zuwendungen einer Tante, begann er ein Studium am renommierten Trinity College in Cambridge. Dort begegnete er auch dem zwei Jahre jüngeren Arthur Henry Hallam (1811 bis 1833). Sie wurden Mitglieder im legendären Apostel-Debattierclub, in dem sich unter Bezugnahme auf die Zahl der Jünger Jesu die jeweils zwölf besten Studenten bei Tee und Sardellen-Sandwiches trafen, um über Religion, Kunst und andere gesellschaftliche Themen zu diskutieren. Tennyson und Hallem arbeiteten an einem gemeinsamen Gedichtband, unternahmen Reisen und verbrachten die Ferien zusammen. Sie begaben sich sogar in geheimer Mission in die Pyrenäen, um in England gesammelte Spenden an Aufständische zu übergeben, die gegen den spanischen König Ferdinand VII. kämpften. Der hatte, nachdem er den Fängen Napoleons entkommen war, seine eigene Herrschaft mit äußerst brutalen Mittel befestigt und die anderen europäischen Königshäuser gegen sich aufgebracht.

Arthur Henry Hallam war ein emger Freund des Dichters Tennyson. Motive aus gemeinsamem Erleben flossen in die Ballade „Enoch Arden“ ein. Foto: Wikipedia 

Hallam verliebte sich in die Schwester des Freundes, was nicht ohne Spannungen geblieben sein dürfte. Es besteht kein Zweifel, dass diese Erfahrungen in der Ballade im Dreierverhältnis zwischen Enoch, Philipp und Annie ihren literarischen Niederschlag fanden. Erst zweiundzwanzig Jahre alt, starb  Hallam auf der Durchreise nach Prag  in einem einem Wiener Hotel an den Folgen eines Schlaganfalls. Den Tod des Freundes hat Tennyson, der zu einem der beliebtesten und gefeiertsten Dichter Englands aufstieg und als Peer in den Hochadel erhoben wurde, nie verwunden. 1850 veröffentlichte er „In Memorian A.H.H.“ eines seiner umfänglichsten Gedichte, an dem er siebzehn Jahre lang gearbeitet haben soll. Es ist der Erinnerung an Arthur Henry Hallam, dessen Namen er später auch dem eigenen Sohn gab, gewidmet. Enoch Arden erschienen im Jahr 1864 und erfreute sich auf Anhieb größten Zuspruchs. Auch weit über England hinaus. In Deutschland waren gleich mehrere Übersetzungen in Umlauf. Beim Druck wurde nicht gespart. Verlage überboten sich bei der prächtigen Ausstattung. Es gab Ausgaben mit Goldprägung und Illustrationen. Im Reclamverlag erschienen Auflagen für das kleine Geld. Daraus erklärt sich, dass die Ballade noch heute antiquarisch so häufig zu finden ist. Die wohl bekannteste deutsche und von Strauss verwendete Übersetzung stammt von Adolf Strodtmann, der auch selbst als Schriftsteller tätig war. Der Stoff wurde mehrfach verfilmt, Maler und Grafiker fühlten sich davon angezogen.

 

Der Komponist Ottmar Gerster erzielte 1936 mit der Oper „Enoch Arden“ einen seiner größten Erfolge. Szenen daraus sind als Schallplatte des DDR-Labels „Nova“ erschienen. Eine CD-Überspielung gibt es nicht.

Mit seiner Oper Enoch Arden oder Der Möwenschrei landete der Komponist Ottmar Gerster 1936 einen seiner größten Erfolge, der allerdings nicht bis in die Gegenwart anhielt. Die Oper mit teilweise geänderten Namen der Handelnden und vereinfachten Handlungsabläufen ist in einem traditionellen und einprägsamen Stil gehalten und entsprach damit den ästhetischen Vorstellungen im Nationalsozialismus. Gerster, der auf Hitlers so genannter Gottbegnadetenliste stand und damit vor Kriegseinsatz geschützt war, machte seine zweite Kariere in der DDR, wo er zeitweise Direktor der Musikhochschule Weimar gewesen ist. Von der Oper, die damit beginnt, dass Enoch Aarden erneut in See sticht, ist eine Rundfunkproduktion von 1965 überliefert, die in Teilen auf dem der neuen Musik vorbehaltenen DDR-Label Nova herausgekommen ist. Sie wird von Kurt Masur dirigiert. Die Titelrolle singt der im Februar 2020 verstorbene Heldenbariton Hajo Müller, der die meiste Zeit am Nationaltheater Weimar verbrachte. Als Anni, die bei Gerster Annemarie heißt, war die ebenfalls in Weimar engagierte Sopranistin Ingeborg Zobel besetzt, meine erste Marschallin und Fidelio-Leonore. Sie folgte dem Regisseur Harry Kupfer an die Semperoper Dresden und gastierte oft in Leipzig und an der Berliner Staatsoper. Eine Veröffentlichung des Opernquerschnitts auf CD wäre zumindest unter historischen Gesichtspunkten interessant und wünschenswert. Jüngst hat der Stoff als Ballett mit Musik von Gustav Mahler in Münster neue Aufmerksamkeit gefunden.

 

Jon Vickers beeindruckte in seiner Aufnahme bei VAI in englischer Sprache als Rezitator.

Nicht nur Dietrich Fischer-Dieskau hat sich das Werk erschlossen und damit viel für dessen Verbreitung getan. Mit seinem Namen bürgte er quasi für die Qualität dieses Melodrams. Die bereits erwähnte Brigitte Fassbaender nahm Enoch Arden 2013 im Rahmen der von ihr betreuten Gesamtaufnahme aller Lieder von Richard Strauss für das Label Two Pianists Records auf. Der Heldentenor Jon Vickers war über siebzig, als er für das Melodram in englischer Sprache ins Studio ging. Michael York ist einer der berühmtesten Interpreten unter den Schauspielern, die das Werk reizte. In der Produktion mit dem Pianisten Glenn Gould für CBS war Claude Rains, der Captain Renault aus dem Casablanca-Film, der Rezitator. Seine Anhänger sehen ihn als unerreicht. Dass sich auch Gert Westphal damit versuchte, muss gar nicht erst besonders herausgestellt werden. Rüdiger Winter

Klänge des Nordens

 

In Manchester eilt man mit Weile. Nun endlich erfolgt die lange erwartete Vollendung des Zyklus der sieben Sinfonien von Jean Sibelius mit dem Hallé Orchestra unter seinem Chefdirigenten Mark Elder, der 2020 zudem sein bereits 20-jähriges Jubiläum als dortiger musikalischer Leiter feiern kann. Auch die nun vorgelegten Sinfonien Nr. 4 und 6 erscheinen auf dem Eigenlabel des Orchesters (CD HLL 7553).

 Mit einigem Recht kann man behaupten, dass man sich damit die beiden am seltensten gespielten Sinfonien bis zum Schluss aufgehoben hat. Die a-Moll-Sinfonie ist ohne Frage der düsterste Beitrag des Finnen zur Sinfonik, komponiert zwischen 1910 und 1911 und ob ihrer Trostlosigkeit von der Kritik von Anfang an nicht unbedingt verstanden. Elder wählt gemessene Tempi, gerade im Vergleich mit Karajans Klassiker für die Deutsche Grammophon Gesellschaft aus den 1960er Jahren. In den Ecksätzen ist er mit jeweils beinahe zwölf Minuten deutlich langsamer unterwegs. Man könnte nicht behaupten, der pechschwarze Kopfsatz würde dadurch entstellt – im Gegenteil, überzeugender hat man das selten vernommen. Im darauffolgenden Allegro ist Elder mit gut fünf Minuten zeitlich nur unwesentlich hinter Karajan, dem Satzcharakter durchaus gerecht werdend. Vermutet man dort zunächst eine gewisse Entspannung, zieht die Dramatik bald wieder spürbar an. Der langsame Satz, mit Il tempo largo umschrieben, ist über weite Strecken ein Ruhepol und mit annähernd 13 Minuten Spielzeit völlig im Rahmen. Insgesamt scheint Elder mehr dem spätromantischen Tonfall verpflichtet, verzichtet er doch auf ein allzu grelles Ausreizen der Modernität, welche diesem Werk innewohnt (so beispielhaft in Roschdestwenskis Einspielung für Melodija). Nie war Sibelius seinem Altersgenossen Mahler ähnlicher als in der Vierten – ein eher fruchtloses Treffen der beiden Komponisten, die sich zwar respektieren, aber nicht wirklich verstanden, ein paar Jahre zuvor, 1907, mag dann doch einen Eindruck hinterlassen haben. Freilich dürfte auch Sibelius‘ zeitweise ernstlich angeschlagene Gesundheit in diese Sinfonie eingeflossen sein. Im Finalsatz, abermals ein Allegro, setzt sich unerwartet doch ein zuversichtlicherer Gestus durch, über dem freilich eine latente Bedrohung bestehen bleibt; die Coda klingt neuerlich pessimistisch und seltsam ungewiss aus. Indem Elder in diesem Finale das Tempo, verglichen mit anderen Dirigenten, deutlich zurücknimmt, erzielt er ein völlig neues Hörerlebnis.

 Die Sechste von 1922/23 präsentiert sich ungleich freundlicher. Als einzige unter Sibelius‘ Sinfonien steht sie in keiner konkreten Tonart, sondern ist größtenteils im dorischen Modus komponiert. Den Tonschöpfer selbst erinnerte sein Werk „an den Duft des ersten Schnees“ und „reinstes Quellwasser“. Tatsächlich ist die „Cinderella der sieben Sinfonien“, wie sie der Musikwissenschaftler Gerald Abraham treffend nannte, eine sehr lyrische, unheroische, fast zarte Komposition, was häufig fälschlich mit Leichtgewichtigkeit gleichgesetzt wird. Interessanterweise gleichen sich Elders und Karajans Spielzeiten (DG) hier nahezu (8:53 – 6.00 – 3:45 – 10:03). Dies gilt auch für die wirklich formidable Lesart, welche Paavo Berglund in seinen späten Jahren auf dem Eigenlabel des London Philharmonic Orchestra vorlegte. Auf die Sechste muss man sich einlassen können. Elders warme Interpretation trägt ihren Teil dazu bei dies zu ermöglichen und bietet den nötigen Kontrast zur dunklen Vierten. Es ist ein über weite Strecken optimistisches Werk, das sich gleichwohl jedem Anflug von Pathos entzieht. Obwohl klassisch viersätzig, ist die Musik doch ständig im Fluss – eine Entwicklung, die Sibelius in seiner einsätzigen Siebenten dann perfektionieren sollte.

Die klangliche Seite der 70-minütigen CD ist erfreulich ausgefallen: eher dunkel, bassstark und nicht zu spitz klingend. Wieder diente die bewährte Bridgewater Hall in Manchester als Aufnahmeort, an welchem die Einspielungen im August 2018 (Nr. 4) und im Jänner 2019 (Nr. 6) entstanden. Ein dreisprachiges Booklet (Deutsch, Englisch, Französisch) rundet die Sache erfreulich ab. So findet der Sibelius-Zyklus des Hallé einen gelungenen Abschluss, den man besonders wegen der Vierten haben sollte. Daniel Hauser

 

Es geht weiter, und zwar chronologisch, was den im Entstehen befindlichen Sibelius-Zyklus des jungen finnischen Dirigenten Santtu-Matias Rouvali, 34, anbelangt. Verantwortlich zeichnet das Label Alpha mit Sitz in Paris. Diesmal stehen die hochberühmte Sinfonie Nr. 2 sowie die recht selten eingespielte Suite König Christian II. im Mittelpunkt (Alpha 574). Binnen weniger Jahre avancierte Rouvali zu einem der angesagtesten Dirigenten der jungen Generation, übernahm 2017 die traditionsreichen Göteborger Symphoniker (mit denen dieser Zyklus bestritten wird) und wurde 2019 zum nächsten Chefdirigenten des Philharmonia Orchestra in London designiert, Amtsantritt 2021. Dass dies gute künstlerische Gründe hat, zeigte Rouvali spätestens mit seiner von der Kritik einhellig gelobten Einspielung des Sibelius-Erstlings (Alpha 440).

Was hebt die Neuaufnahme der Zweiten aus der mittlerweile schier unüberschaubaren Masse hervor? Nun, zum Einen die wirklich sehr gute Klangtechnik, die voll auf der Höhe der Zeit ist. Eher dunkel timbriert, kommt sie dem Werkcharakter entgegen. Ein Blick auf die Spielzeiten zeigt, dass sich Rouvali lieber etwas mehr als zu wenig Zeit nimmt, ohne zu schleppen. Sie sind nahezu identisch mit Karajans erster Einspielung mit dem Philharmonia Orchestra: Zehn Minuten für den Kopfsatz, vierzehn und eine halbe für den langsamen zweiten Satz, sechs Minuten für das quirlige Scherzo und schließlich etwa fünfzehn für das monumentale Finale. Das allein ist freilich kein Qualitätskriterium, wie deutlich flottere (etwa Paul Paray) wie auch bedeutend getragenere Lesarten (gerade der späte Bernstein in Wien) zeigten. Und doch ist diese brandaktuelle Interpretation weit mehr als Mittelmaß. Der ab und an eher als Präludium zu Größerem dargebotene Kopfsatz gerät bei Rouvali nicht zum etwas banalen Auftakt, sondern hat Gewicht. Heimlicher Höhepunkt das stellenweise wirklich sehr tiefschürfende getragene Andante, wo die gewaltige Dynamik der Aufnahme ihre Überlegenheit demonstrieren kann. Der Spannungsbogen im intermezzohaften Vivacissimo steigert der Dirigent gekonnt bis zum schlussendlichen Durchbruch, wo dann allerdings erst pessimistische Töne dominieren. Es ist bei Rouvali ein hartes, keineswegs von Anfang an entschiedenes Ringen zwischen Dunkelheit und Licht, zwischen Unterdrückung und Freiheit. Dass die Finnen dieses Stück als eine Art musikalische Unabhängigkeitserklärung an den Zaren begriffen (das Land war noch bis 1917 nordwestlichster Part des Russischen Kaiserreiches), darauf wurde an anderer Stelle bereits verwiesen. Gleichwohl waren es wohl doch primär private denn politische Umstände, die diese Komposition tatsächlich beeinflussten. In der überwältigenden Coda können die Göteborger Symphoniker nochmal ihre ganze Klasse im nordischen Repertoire ausspielen. Rouvali vermeidet, dass es allzu einseitig erstrahlt, woran die tiefen Bässe und die grummelnden Pauken ihren Anteil haben, alles schon ausbalanciert und durchhörbar, keine Extreme. Dies geht dann allerdings ein klein wenig auf Kosten der intensiven, geradezu unerbittlichen Gluthitze und Rauschhaftigkeit, die ein Barbirolli oder Szell zu entfachen imstande waren, indem sie die Blechbläser zuletzt ganz ungehemmt wild herausfahren ließen. Vielleicht aber klingt Rouvalis Sibelius auch schlichtweg richtig finnisch, denn man fühlt sich etwas an Osmo Vänskäs Wiedergabe mit der Sinfonia Lahti (BIS) erinnert, die in die monumentale Sibelius-Edition (68 CDs, über 80 Stunden Spielzeit) aufgenommen wurde.

Die fünfsätzige, etwa 25-minütige König Christian II.-Suite ist mehr als eine bloße Zugabe. Zeitlich ist sie etwas vor der zweiten Sinfonie zu verorten, steht also im selben Spannungsverhältnis zu den als Besatzern empfundenen Russen im Lande. Das Beiheft misst der Elegie, in der Suite an zweiter Stelle, die größte Bedeutung bei; einst fungierte sie als Ouvertüre der kompletten Schauspielmusik. Interessant ist im Grunde gerade die Hintergrundgeschichte, handelt sie doch vom letzten König der sogenannten Kalmarer Union, also der unter einem Herrscher vereinigten drei nordischen Reiche Dänemark, Norwegen und Schweden (damals noch inklusive Finnland), freilich unter allzu starker dänischer Vorherrschaft, welche die Schweden in den offenen Aufstand trieb und am Ende auch die mit großen Mühen erfochtene Erlangung ihrer Unabhängigkeit zur Folge hatte. Christian II. selbst endete tragisch, verlor nicht nur Schweden, sondern wenig später auch die Krone und die Freiheit, Jahrzehnte lang in Haft dahin vegetierend. Dies vielleicht auch als warnendes Beispiel für den Zaren gedacht. Rouvali holt das Beste aus dieser Musik heraus, die eben doch nicht ganz die einmalige Klasse der Sinfonie Nr. 2 aufweisen kann.

Summa summarum geht es also geglückt weiter. Die Spuren dieses Zyklus wird man nach menschlichem Ermessen gespannt weiterverfolgen können. Demnächst im heimischen Wiener  Theater. Daniel Hauser

 

Mit einer neuen Gesamtaufnahme der Sinfonien von Jean Sibelius fielen die Berliner Philharmoniker im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Rahmen. 2015 wurde der 150. Geburtstag des finnischen Komponisten begangen. Sibelius wurde am 8. Dezember 1865 in Hämeenlinna geboren. Die Neuerscheinung als Eigenlabel der Philharmoniker ist dem Ereignis allein durch die Präsentation angemessen (BPHR150071). Es braucht aber ein Regal mit mindestens fünfundzwanzig Zentimetern Tiefe, um die Box im Querformat neben anderen Alben angemessen unterbringen zu können. Die äußere Gestaltung ist nicht die einzige Besonderheit. Für die sieben Sinfonien sind vier herkömmliche CDs reserviert. Alternativ werden die Werke noch als höchstaufgelöste Audio-Blu-ray sowie im Bildformat als Concert Videos angeboten. Beide können in Blu-ray-Playern abgespielt und am TV-Schirm gesteuert werden. Es empfehlen sich allerdings zusätzliche gute Lautsprecher, weil bei Wiedergabe über die Fernsehlautsprecher die Möglichkeiten nicht annähernd ausgeschöpft werden können.

Die hroße Sibelius-Box der Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle auf ihrem Eigeblabel wird hier in Kürze aus besprochen - Kollege Winter arbeitet daran./ G. H.

Mit dieser Produktion kommt die digitale Realität für relativ wenig Geld in die privaten Haushalte. Ob diese Form der Datenträger zukunftsfähig oder wieder nur eine Zwischenlösung ist, muss sich zeigen. Irritierend ist bei allem Respekt die voluminöse Verpackung. Ich stelle mir das neue Zeitalter eigentlich kleiner, portabler und auch platzsparender vor. Mit so einem Kasten lässt sich nicht auf Reisen gehen. Andererseits sollen wir uns ja in unseren vier Wänden auf Musik einlassen, in aller Ruhe und Konzentration, bei einem Glas Weines tief in ein bequemes Fauteuil versenkt. Sibelius gibt das her. Er ist nichts für nebenbei, egal, wer am Pult welchen Orchesters steht. Die Berliner Philharmoniker werden von ihren Chef Simon Rattle geleitet, der die Sinfonien zum Jubiläum auch vor Publikum aufführte. Besucher können ihre Live-Eindrücke überprüfen. Wer nicht selbst dabei war, ist es nun wenigstens am Bildschirm. Rattle hat sich immer mit Sibelius beschäftigt. Als er 2002 nach Berlin kam, brachte er bereits eine Gesamtaufnahme mit, die er für die EMI mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra eingespielt hatte. Sie war 1991 veröffentlicht worden und ist – jetzt bei Warner – auch noch zu haben. Rattle ist zwischen 1980 und 1998 Chef dieses Klangkörpers gewesen. Im Vergleich schneidet die neue Aufnahme um Längen besser ab. Nicht so sehr in der Deutung dieser Musik als in der raffinierten technischen Ausführung. Die ist unschlagbar. Sibelius ist – wenn man so will – ein ideales Medium für akustische Herausforderungen. Er wurde bereits für Schelllackplatten produziert und trat seinen Siegeszug um die Welt noch in Mono an. Es ist nicht das Geringste dagegen einzuwenden, wenn die raffinierten Klangstrukturen seiner Sinfonik mit ebenso raffinierten Verfahren auf Tonträger transformiert werden und unter die Leute gebracht werden.

Rattle hat dafür das richtige Gespür. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, als er in Berlin antrat – unkonventionell, jung, der klassischen Musik in sehr klassischen Konzerten ein ganz neues Gesicht gab. Er scherte sich nicht um die mächtigen Vorbilder, die auch wie dunkle Schatten auf dem Berliner Konzertbetrieb lasteten. Sein Sibelius ist nicht vergrübet. Das Blech klingt nicht „schmutzig“, sondern hell und glasklar. Unter dem Eindruck dieses Dirigenten möchte ich nicht verzichten wollen auf Barbirolli oder Ormandy. Rattle will ja auch mit der Vergangenheit nicht brechen, was auch gar nicht gehen würde, schon gar nicht mit diesem traditionsreichen Orchester, vor dem schon der Komponist höchst selbst bei der triumphalen deutschen Premiere seiner 2. Sinfonie am 12. Januar 1905 stand. In der Edition wird auf dieses bemerkenswerte Datum ausdrücklich verwiesen. Rattle will Sibelius in der Gegenwart platzieren holen – mit allen Mitteln, die dafür auch technisch zur Verfügung stehen. Das ist sein Verdienst wie es auch durch diese bemerkenswerte Neuerscheinung, der eine große Verbreitung zu wünschen ist, zum Ausdruck kommt.

Genau kann ich mich nicht mehr daran erinnern, wie die zweite Sinfonie von Sibelius in meine Hände gelangte. Dafür ist es zu lange her. Es war wohl eine ehr beiläufige Anschaffung. Vielleicht auch eine Empfehlung. Ich schleppte die Schallplatte nach Hause, legte sie auf und war von dieser Musik auf Anhieb hingerissen. Das Gewandhausorchester Leipzig spielte unter der Leitung von Carl von Garaguly. Es mag aufregendere Interpretationen geben – von Roshdestwenski etwa, Barbirolli, Maazel, Bernstein oder Berglund. Die Auswahl ist enorm. Kaum ein anderes Werk von Sibelius ist so oft eingespielt worden wie dieses. Noch immer wächst der Katalog. Zumal um das Jubiläum herum. Sibelius ist eher noch im Kommen, als dass er in Vergessenheit geriete. Der Philosoph Theodor W. Adorno sollte nicht Recht behalten, als er Sibelius in mehreren Schriften als rückwärtsgewandt schmähte, gegen Mahler und Schoenberg ausspielte und ihn auf das Niveaus eines Amateurs herabsetze. Adorno hasste an Sibelius, wofür dieser vom Publikum geliebt wurde. Wobei diese Liebe und Verehrung oft auch missverständlich ist. Den Finnen auf grandiosen Naturschilderungen festnageln zu wollen, halte ich für einen Irrtum. Er lässt sich davon zwar inspirieren, aber seine Werke sind meist seelische Bekenntnisse. Depressiv, dunkel, eine Musik am Abgrund, eine Musik, die nicht wärmt. Es kommt mir so vor, als scheine durch die  Töne immer nur die Mitternachtssonne. Sibelius war im Grunde ein unglücklicher, zerrissener Mensch, der alle Tiefen durchschritt, die das Leben bereithält. Er komponierte keine Alpensinfonie wie sein Zeitgenosse Richard Strauss.

 

Sibelius - Decca-EditionDecca hat ihr Archiv durchsucht. Fundstücke wurden in eine Edition mit elf CDs gepackt: Sibelius Great Performances (478 8598). Der Titel stimmt immer. So viele Aufnahmen es auch gibt, völlig daneben liegt keine. Im Gegenteil. In der Menge drückt sich die Vielfalt aus. Decca hat sich für die Gesamtaufnahme der sieben Sinfonien mit dem London Symphony Orchestra unter Anthony Collins entschieden. Es ist die zweite Gesamtaufnahme aus den Kindertagen der Langspielplatte, aufgenommen Anfang der 1950er Jahre. Erstmals hatte Sixten Ehrling die Sinfonien in Stockholm eingespielt. Collins, der sich als Komponist von Filmmusik einen Namen machte, bemüht sich um eine sehr genaue und exakte Wiedergabe, die in heutigen Ohren mitunter etwas trocken und spannungsarm klingt. Als historisches Ereignis ist sie aber unbestritten. Collins gilt als ein Wegbereiter von Sibelius, zumal er auch mit sinfonischen Stücken bekanntmachte, die bis dahin weitgehend unbekannt waren.

Zweimal – und das aus meiner Sicht völlig zu Recht – ist in der Edition die 2. Sinfonie vertreten. Neben Collins nimmt sich Pierre Monteux des Werkes an. Finlandia findet sich gar viermal. Beide Stücke – die Sinfonie und die sinfonische Dichtung – sind am populärsten geworden. Während sich Hans Rosbaud mit den Berliner Philharmonikern bei Finlandia um Schönklang bemüht (1955), schlägt Charles Mackerras am Pult des London Proms Symphony Orchestra (1958) herbe Töne an (1958). Erik Tuxen mit dem Dänischen Rundfunkorchester (1954) und Eduard van Beinum am Pult des Concertgebouw Orchestra (1957) liegen irgendwo dazwischen (1954). Nähe zu Tschaikowski, die Sibelius oft angekreidet wurde, ist nicht zu überhören. Das Werk ist auch deshalb interessant, weil es politische Positionen von Sibelius erkennen lässt. Seine Entstehungsgeschichte ist eng verknüpft mit den Bestrebungen der Finnen, innerhalb des russischen Reiches, zu dem sie seit 1809 gehörten, mehr nationale Eigenständigkeit zu gewinnen. Sibelius war Teil dieser Bewegung. 1899 gelangte in Helsingfors – das ist die schwedische Form von Helsinki – ein neues Werk zur Aufführung, das aus einer Ouvertüre und sechs Orchesterstücken bestand, zu denen Szenen aus dem finnischen Leben dargestellt wurden. Die Form war etwas störrisch, doch ungewöhnlich. Aus dem sechsten Tableau ging in überarbeiteter Form Finlandia hervor. Die übrigen Teile haben gekürzt als Scènes Historiques Eingang ins Gesamtwerk gefunden. Sibelius soll sich zunächst dagegen gewehrt haben, Finlandia einen Text unterzulegen. Er ließ sich aber umstimmen. Anlass dafür war 1939 der Überfall der Sowjetunion auf Finnland. Dieser Krieg endete der mit der Einverleibung finnischer Gebiete, darunter Teile Kareliens. In einer besonderen Fassung ist dem hymnischen Teil Musik ein Gedicht des Finnen Veikko Antero Koskenniemi untergelegt. Hier eine Übersetzung ins Deutsche:

Sibelius - Naxos BelshazzarO Finnland, sieh, nun endlich will es tagen, / die Nacht vergeht, ist sie auch schwarz und lang. / Hör, wie die Lerche, die noch schluchzt in Klagen, / bald alle Himmel füllt mit dem Gesang. / Und alle werden frei zu atmen wagen. / Dein Morgen naht, geliebtes Vaterland! / Finnland, erhebe dich aus dunkler Stunde, / den neuen Tag begrüß‘ offen und frei./ Die alte Kraft, von der wir haben Kunde, / zerbreche auch die jüngste Sklaverei. / Kein Herr schlug je dir tödlich eine Wunde. / Dein Tag bricht an, geliebtes Vaterland.

Leopold Stokowski soll dafür geworben haben, diesen Gesang zur Nationalhymne aller Länder zu küren. Ein Gedanke, der mir so faszinierend wie naiv erscheint. Schließich brauchte ja nur „Finnland“, das in dem Vers zweimal vorkommt, durch das jeweilige andere Land ersetzt zu werden. Lediglich Biafra, das sich in den 1960er Jahren kurzzeitig von Nigeria abspaltete und keine internationale Anerkennung fand, folgte dieser Idee. Decca entschied sich in der Box für die am weitesten verbreitete Orchesterfassung.

 

Mehr als hundert Lieder hat Sibelius komponiert, meist in schwedischer Sprache. Finnland gehörte bis Anfang des 19. Jahrhunderts zu Schweden. Schwedisch ist noch heute eine der offiziellen Landessprachen. Oft eingespielt, haben sich die Lieder – ähnlich den von vokalen Einsprengseln durchsetzten Theatermusiken – im Konzertbetrieb nie durchgesetzt. Obwohl deutsche Opernhäuser und Konzertagenten selbst vor Tschechisch und Russisch – oder dem, was sie dafür halten – nicht zurückschrecken, sind nordische Sprachen deutlich unterrepräsentiert. Kirsten Flagstad hatte Lieder von Sibelius ständig im Repertoire. Die Einspielung von vierzehn Titeln in der Orchesterfassung für Decca aus dem Jahr 1958 gehören zum eisernen Bestand dieses Labels und haben auch in der neuen Edition ihren Platz. Die Flagstad stand damals im Herbst ihrer Karriere. Noch einmal versammelt sie all ihre individuellen stimmlichen Mittel zu majestätischer Entfaltung. Die Aufnahmen glänzen wie altes Gold. Der Flagstad gelingt das Wunder, sprachliche Grenzen durch stimmliche Pracht zu überwinden, als seien es Vokalisen, Stimmungen, Farben, die sie vorträgt und keine in Musik gesetzten Texte. Höstkväll (Herbstabend) ist dafür ein treffendes Beispiel. Var det en dröm? (Was es ein Traum?) ebenfalls. „Bitte schön, hier mein schönstes Lied“, soll der Komponist gesagt haben, als er das Manuskript der Sängerin Ida Ekman übergab. Fällig ist eine Neuauflage der Lieder gewesen, die Birgit Nilsson mit einem Wiener Opernorchester unter Bertil Bokstedt 1965 für die Decca einspielte. Da es Überschneidungen mit dem Programm der Flagstad gibt, drängt sich ein Vergleich regelrecht auf. Ihre Stimme ist zwar intakter als die der älteren Kollegin. Mit deren Ausdruck und Beseeltheit kann sie es aber nicht aufnehmen.

 

Sibelius - Bernstein DVDEine Klasse für sich ist Sibelius mit Leonard Bernstein. In seinen späten Jahren hat er zwischen 1986 und 1990 Anlauf zu einer neuen Produktion der Sinfonien mit den Wiener Philharmonikern genommen. Es blieb bei den Sinfonien Nummer 1, 2, 5 und 7, mitgeschnitten im Konzert, bei C Major nun auch als Blu-ray (732404). Ton und Bild sind gleichermaßen wie gestochen. Sie lassen die Erinnerung an die kunterbunten verwaschenen Filme vergessen, die mal durch die Bezahlklassiksender geschoben wurden. Jetzt erst wird deutlich, wie sinnstiftend die Regie gearbeitet hat. Die Hinlenkung zu einzelnen Instrumenten oder ganzen Gruppen im rechten Moment legen dem Zuschauer die Struktur der Sinfonien offen. So schön und lehrreich zugleich kann Musik am Bildschirm sein! Bernstein ist mitten hineingestellt. Er berauscht die Musiker, das Publikum und sich selbst. Sein Sibelius ist ganz ungezügelte Hingabe und Leidenschaft. Dafür wurde er geliebt. Doch Vorsicht! Vier Sinfonien hintereinander sind nicht zu schaffen. Zu groß ist die emotionale Wucht, die Bernstein niederprasseln lässt. Es empfiehlt sich, sich die Werke einzeln vorzunehmen.

 

Sibelius - Naxos PelleasEin Dirigent unserer Tage hat sich in der Sibelius-Rezeption allein dadurch verdient gemacht, dass er den Blick auf das Gesamtwerk neu schärft – der charismatische Finne Leif Segerstam, der auch 285 Sinfonien komponiert hat. In seinen neuen Einspielungen mit dem Turku Philharmonic Orchestra für Naxos widmet er sich den Theatermusiken. Sie gehören für mich zu den spektakulärsten Ereignissen im Gedenkjahr. Diese farbigen, facettenreichen und kräftigen Kompositionen offenbaren ein starkes dramatisches Talent. In seiner vorzüglichen Biographie (eine Besprechung weiter unter) vertritt Volker Tarnow die Auffassung, Sibelius hätte „der größte Opernkomponist Skandinaviens“ werden können. In Bayreuth und München hörte er noch im zu Ende gehenden 19. Jahrhundert Wagners Parsifal und fühlte sich für das eigene Schaffen beflügelt. Pläne gab es reichlich. Am Ende lief es auf den kurzen Einakter Die Jungfrau im Turm hinaus, 1896 in Helsinki uraufgeführt und seither zu einem Schattendasein verurteilt. Wenngleich in einzelnen Szenen von betörender Schönheit, fehlt der Zusammenhalt. Die kurze Oper zerfällt in aufwühlende Einzelteile und dürfte auf dem Konzertpodium größere Chancen haben als auf einer Bühne.

Sibelius - Xaxos JedermannInzwischen sind bei Naxos fünf CDs erschienen, darunter die komplette Bühnenmusik zum Schauspiel Pelléas et Mélisande von Maurice Maeterlinck (8.573301), welches Debussy als Vorlage für seine gleichnamige Oper diente. Im Gegensatz zu diesem ist Sibelius direkter, einschmeichelnder in der musikalischen Erfindung, weniger geheimnisvoll und entrückt. Als Reaktion des schwedischen Schriftstellers August Strindberg auf Materlincks Symbolismus gilt sein Bühnenstück Svanevit (Schwanenweiß). Die Musik dazu wird von einem Hornsignal eingeleitet, das mit seinen zehn Sekunden als eigenständiger Teil ausgewiesen ist. Ein unglaublicher Einfall! (8.573341). Zudem hat sich Segerstam die Bühnenmusik zu Jedermann vorgenommen (8.573340). Das Schauspiel von Hugo von Hofmannsthal war auch ins Finnische übersetzt worden. Sibelius, der viele Male in Deutschland und Österreich weilte, dürfte es schon im Original gekannt haben. Die Musik hebt gewaltig an, als würde zum letzten Gericht geblasen und verdichtet sich in der Mitte zu einem erschütternden Largo, aus dem ich schon die Metamorphosen von Strauss heraushöre, obwohl diese erst dreißig Jahre später entstanden sind.

Sibelius - Naxos King ChristianKuolema (Der Tod) und Kung Kristian II (König Christian II.) füllen die nächste CD (8.573299). Kuolema untermalt das Schauspiel des Finnen Arvid Järnefelt, Kung Kristian ein Theaterstück von Adolf Paul, der Schwede war, sich die meiste Zeit seines Lebens aber in Berlin aufhielt. Er war mit Sibelius, August Strindberg und Edvard Munch eng befreundet. Solche Beziehungen und Lebensstationen ragen in viele Werke von Sibelius hinein. Kristian (1481-1559) war König von Dänemark und Schweden. Finnland war zu seiner Zeit Teil Schwedens. Bis heute beruht das große Ansehen dieses Königs darauf, dass er sich auf die Seite der im Aufblühen begriffenen Städte und der Kaufleute, die daran großen Anteil hatten, stellte und die Macht des Adels zurückdrängte. Inhalt des Stückes sind weniger die politischen Verhältnisse als die Beziehung von Kristian zu seiner Geliebten Dyveke Sigbritsdatter, der unheilvolle Einflüsse auf den König nachgesagt wurden und die offenbar einem Giftmord zum Opfer fiel. Von großer Sympathie für Dyveke, deren Schicksal in der nordischen Kunst oft thematisiert wurde, scheint die Musik getragen. Andererseits wirkt sie aber auch aus sich heraus, ohne dass es genauer Kenntnisse der historischen Hintergründe bedarf. Eine knappe Suite aus der Schauspielmusik hatte sich schon zu Lebzeiten von Sibelius durchgesetzt. Er dirigierte sie oft selbst. In der Decca-Sammlung wird sie von Alexander Gibson mit dem London Symphony Orchestra gespielt.

 

Sibelius - Ondine LemminkainenBei Sibelius stellt sich hartnäckig die Frage nach den Quellen, aus denen sich viele seiner Werke speisen. Muss man die kennen? Bei Finlandia liegen die Dinge noch vergleichsweise einfach. Ist es aber unabdingbar, sich durch den Kosmos der fünfzig Gesänge des finnischen Nationalepos Kalevala zu arbeiten, um die Lemminkäinen-Legenden, die eines der zentralen Werke sind, zu verstehen? Von den einzelnen Fassungen gar nicht zu reden. Ondine hat sie in einer neuen Einspielung des Finnischen Rundfunkorchesters unter Hannu Lintu produziert (ODE 1262-5), gekoppelt mit Pohjola’s Tochter. Der Schwan von Tuonela – mal an zweiter, mal an dritter Stelle der Legenden positioniert – führt auch ein eigenständiges Leben in Konzerten und Einspielungen. Anklänge an die Vorspiele der jeweils dritten Aufzüge von Tristan und Meistersinger sind nicht zu überhören. Im Epos umkreist der heilige Schwan die Toteninsel Tuonela. Lintu, Jahrgang 1967 und gebürtiger Finne, dürfte mit dem mythischen Metaphern vertraut sein. Er zieht seine Hörer in diese dunklen Geschichten hinein und erspart ihnen nicht den Blick in Abgründe, die Sibelius so vertraut waren. Rau und gnadenlos raunt es aus dem Orchester. Lemminkäinens Abenteuer sind keine Strandspaziergänge. Nach Mord und Todschlag werden menschliche Körper zerteilt – und schließlich wieder zusammengesetzt.

Wer sich auf den Weg zu Jean Sibelius macht, sein Werk genauer erkunden will, findet sich auf einer Bildungsreise wieder. Sie führt nicht nur in den Norden Europas sondern quer durch den Kontinent, den er selbst oft durchquerte. Er war das, was man einen Europäer nennt. Allein deshalb ist er auch im Jahr seines 150. Geburtstages so zeitgemäß.     Rüdiger Winter

 

Sibelius - Buch TarnowEin hoch interessantes Buch, das sich untertreibend Biografie Sibelius nennt, hat Volker Tarnow im Henschelverlag herausgegeben – und das Versprechen, das es indirekt auf den ersten Seiten in leicht ironischem Tonfall gibt, nicht nur informierend, sondern auch unterhaltend zu sein, erfüllt es bis zur letzten Seite. Sein Sujet macht es dem Buch leicht, auch dem in puncto Musikgeschichte bereits Belesenen noch viel Neues zu bieten, kann dieses aus der Tatsache ziehen, dass man über die Geschichte Finnlands und seiner Komponisten, von denen außer Sibelius kaum einer bekannt ist, wenig weiß, obwohl sie einer der interessantesten ganz Europas ist im Hin- und Hergerissensein des Landes zwischen Russland/Sowjetunion und Deutschland oder Schweden, wozu noch kommt, dass die Oberschicht Schwedisch und die Unterschicht Finnisch sprach, eine Art Klassenkampf sich in der Benutzung der jeweiligen Sprache ausdrückte, der auch Individuen wie Sibelius innerlich spaltete. Im ersten Kapitel Das klassische Niemandsland geht der Autor zurück bis vor das Jahr 1792, vor dem der in Un Ballo in Maschera gemeuchelte Gustav III. im Geburtsort des Komponisten eine Kirche erbauen ließ, die wie ein Opernhaus aussieht. So ist dann im Verlauf des Werks auch von einigen Versuchen Sibelius‘ die Rede, eine Oper zu komponieren, wobei es nur zu einem Einakter, Die Jungfrau im Turm, kommt, dessen Libretto hochpolitischen Inhalt vermuten lässt.

Sibelius komponierte im Verlauf seines stets von Krankheiten gezeichneten und trotzdem langen Lebens acht Sinfonien, der klassischen Wiener Schule verpflichtet und sich dem Einfluss Brahms‘ wie Wagners entziehend, von denen die letzte verloren ging, wohl von ihm selbst verbrannt wurde. Der Verfasser liefert, eingebettet in das chronologisch aufgebaute Buch, detaillierte Interpretationen derselben, auch die anderen, zu diversen Gelegenheiten komponierten Stücke, angefangen von den „Luftschlössern“ des Sechzehnjährigen, werden knapper charakterisiert. Der Erneuerer der Sinfonie zu sein dürfte keine zu gewagte Aussage über Sibelius sein. Als grundsätzliche Frage stellt sich die, ob Sibelius den finnischen Nationalstil kreierte oder ob der finnische Nationalstil Sibelius beeinflusste.

Anekdotisches, wie die Übernahme des Vornamens Jean von den Visitenkarten des verstorbenen Onkels, steht neben der Auseinandersetzung um finnischen Symbolismus oder finnischen Jugendstil. Das Musikleben der Städte Berlin, Wien und Paris wie das der USA wird anschaulich aus der Sicht des Komponisten geschildert. Sibelius‘ Erstlingswerke, so Kullervo, werden mit denen zeitgenössischer Komponisten verglichen, der Einfluss der Runengesänge aus Karelien und des Epos‘ Kalevala untersucht. Ein Rückblick auf die Geschichte der Tonarten fehlt nicht, ebenso wenig wie ein Hinweis und eine Erklärung zum von Sibelius benutzten Orgelpunkt.

Nicht unterschlagen wird die Hemmungslosigkeit des Komponisten, was Alkohol- und Tabakkonsum betrifft, nur unterbrochen durch ein Krebsleiden, das Buhlen um eine russische Pension bei gleichzeitigem Komponieren „antirussischer“ Musik wie der Karelia-Suite. Die Gastspiele auf dem Weg zur Pariser Weltausstellung und in Paris selbst werden ebenso geschildert wie der Aufenthalt in Italien, die Mär vom patriotischen Gehalt der 2. Sinfonie als solche entlarvt, Sibelius als Dirigent, so der Berliner Philharmoniker, gewürdigt. Nicht nur die Sinfonien werden eingehend analysiert, auch das Violin-Konzert, durch Jascha Heifetz ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt, und die Streichquartette sowie die Lieder, auch auf deutsche Texte, Bühnenmusiken, so zu Der Sturm und Jedermann werden vom Verfasser berücksichtigt. Von einer Eroberung Englands ist die Rede, von der Annäherung an die Atonalität in der 4. Sinfonie, vom heiklen Jägermarsch für die in Deutschland ausgebildeten, im finnischen Bürgerkrieg kämpfenden Finnen.

Wie andere skandinavische Künstler auch traf Sibelius seine Entscheidung für Weiß gegen Rot und für Deutschland gegen die SU. „Strikter Antikommunismus“ dient als Erklärung wie auch die doppelte Rolle, die Sibelius als „finnischer Patriot“ und als Mitglied des „schwedischsprachigen Bürgertums“ spielte. Sehr lustig ist die Bemerkung des Verfassers, dass „Sibelius-Hasser wieder einmal, leider nur nachträglich, den Faschismus besiegen“. Dieser Ton ist eine der angenehmen Seiten des Buches, aber nicht die einzige, die das Lesen von Anfang bis Ende ertragreich wie vergnüglich werden lassen. Ein Anhang aus Vita, Diskographie, Anmerkungen, Ortsnamenkonkordanz und Personenregister genügt wissenschaftlichen Ansprüchen. 288 Seiten, Henschel Verlag, ISBN 978-3-89487-941-9     Ingrid Wanja

 

Sibelius und Flagstad

Herzliches Einvernehmen am festlich gedeckten Teetisch: Die Sängerin Kirsten Flagstad zu Besuch bei Jean Sibelius in seinem Landhaus Ainola, das nach der Ehefrau des Komponisten, Aino, benannt ist. Es liegt etwa vierzig Kilometer von Helsinki entfernt und ist ein Museum. Wer sich näher informieren will über das Haus, den Hausherren, seinen Lebenslauf, sein Schaffen und die einzelnen Werke, braucht nur diesem Link zu folgen. – Das große Foto oben, das uns Norbert Baumbauer zur Verfügung stellte, zeigt in einem Ausschnitt das Sibelius-Denkmal in Helsinki. Es wurde 1967, zum zehnten Todestag des Komponisten, im Stadtteil Töölö enthüllt. Der Entwurf stammt von der finnischen Künstlerin Eila Hiltunen. R. W.

Trost für den „armen Ernesto“

 

Die Aufnahme hatte in Sammlerkreisen längst die Runde gemacht: Gaetano Donizettis Oper Don Pasquale vom 18. Januar 1962 Im Mitschnitt aus dem Prinzregententheater in München. Zunächst war er von Techno-Audio angeboten worden, einer Firma, die unter anderen auf hochwertige und passgenaue Wiedergabetechnik spezialisiert ist. Das war ungewöhnlich, hatte aber einen simplen Grund. Klaus-Peter Grasse, der Inhaber des Unternehmens, ist Mitglied der Fritz-Wunderlich-Gesellschaft in Kusel, dem Geburtsort des Sängers. Wunderlich gibt den Ernesto im obigen Don Pasquale in deutscher Sprache. Jetzt erschien die Aufnahme bei Profil Edition Günter Hänssler, hat eine Bestellnummer und nimmt somit ihren festen Platz auf dem Musikmarkt ein, wo sie offenbar auch leichter zu vertreiben ist und einem größeren Kundenkreis zugänglich gemacht werden kann (PH19075).

Wunderlich geht immer. Wer schon fast alles hat, möchte schließlich alles haben. Auch mehr als fünfzig Jahre nach seinem Unfalltod ist sein Ruhm nie erloschen. Mit diesem deutsch gesungenen Don Pasquale erfährt die ohnehin sehr umfangreiche Diskographie nochmals eine Erweiterung. Der „ewig junge“ Wunderlich, seinerzeit auf dem Höhepunkt seiner Karriere, dominiert das Ensemble und lässt die tüchtige Erika Köth als Norina etwas reif erscheinen. Er hat die Frische und Unbekümmertheit in der Stimme, sie bringt den Zauber ihres frühen Witwenstandes vornehmlich durch Kunst hervor. Und das gelingt ihr gut. So gut, dass sie für ihre Cavatine „Auch ich versteh‘ die feine Kunst“ im ersten Akt gefeiert wird. Schließlich hat sie in der Oper schon durch die zwischenzeitliche Verkleidung als kapriziöse Ehefrau des gefoppten Hagestolz Pasquale, den Kurt Böhme mit der ihm eigenen humorvollen Routine versieht, die viel Zuspruch auf sich zieht, darstellerisch einen schwierigen Part zu bewältigen. Aus Wunderlich singt es wie von selbst heraus, wenn er sich in seiner berühmten Arie als „armer Enesto“ bemitleidet wird, um alsbald entschlossen in die Fremde aufbrechen zu wollen, damit er Norina vergisst. Das Publikum tröstet ihn mit viel Beifall.

Die vergnügliche Vorstellung, von Meinhard von Zallinger am Dirigentenpult angefeuert, vergeht auch an den Lautsprechern wie im Fluge. Ensemble und Publikum teilen sich den Spaß an der Aufführung. Obwohl deutsch gesungener Donizetti heute nicht mehr so recht vorstellbar ist. Einen Vorteil hatten solche Übersetzungen schon: Der größte Teil des Publikums konnte ihnen bis in alle Einzelheiten folgen. Der Mitschnitt, dessen Herkunft nicht eindeutig geklärt ist (Radio? Hausmitschnitt?), offenbart es. Im Booklet reicht Autor Lother Brandt die Vermutung weiter, dass die Aufnahme von Fritz Wunderlich selbst, einem Technik-Fan, stammt. „Trotz so aufwändiger wie behutsamer Restauration bleiben einige Fehler und Artefakte der teilweise beschädigten Mono-Bänder unüberhörbar.“ Die historische Bedeutung des Dokuments rechtfertige aber die Veröffentlichung. Ein Urteil, dem ich mich gern anschließe. Rüdiger Winter

Auf dem Meer der Lust

 

Melodramen III. Mit der schon auf dem Cover in Großbuchstaben präzise benannten Neuerscheinung bei Thorofon wird aus einer losen Folge eine ambitionierte, ja einzigartige Edition. Bislang waren zwei Alben mit je drei CDs herausgekommen. Den Auftakt bildete „Auf dem Meer der Lust in hellen Flammen …“ (CTH2633/3). Die Fortsetzung „Flügel musst du jetzt mir geben!“ (CTH26453) ließ mit dem ehr diskreten Vermerk Melodramen II auf der Rückseite eine Weiterführung erwarten. Die gibt es nun (CTH26594). Diesmal wurden gar vier CDs gefüllt. Es hätten wohl auch zehn und mehr sein können. Die einschlägige Literatur scheint unerschöpflich zu sein. Spiritus Rector des Unternehmens ist Peter P. Pachl. Er deklamiert auch bei den gut fünfzig einzelnen Titeln selbst und wird am Klavier von Rainer Maria Klaas begleitet, der auch mit eigenen Melodramen vorgestellt wird, die veranschaulichen, wie robust sich die Form bis in die Gegenwart hinein behauptet. Pachl, der sich als Regisseur, Intendant, Hochschullehrer und Musikschriftsteller einen Namen gemacht hat, fügt seinem vielseitigen und umtriebigen Wirken mit diesen Produktionen eine weitere Facette hinzu. Geboren in Bayreuth, spricht er mit hohem Wiedererkennungswert. Seine fränkische Herkunft schlägt noch immer durch. Die Klarheit des Vortrages kommt den Werken in ihrer Mischung aus Wort und Musik zugute.

Mit der Sammlung macht Pachl Lust darauf, sich mit dieser etwas in Vergessenheit geratenen kleinen Form, die ihren Höhepunkt im 19. Jahrhundert hatte, erneut zu beschäftigen. Im Booklet beruft er sich oft auf Max Steinitzer (1864-1936), der ein Jugendfreund von Richard Strauss war, selbst komponierte und musikalische Bücher und Schriften verfasste, darunter eine Betrachtung zur Entwicklungsgeschichte des Melodrams, die um 1910 in Leipzig erschien. Mit der geballten Edition wird das Melodram als in sich geschlossene und eigenständige musikdramatische Gattung neu entdeckt. Und zur Diskussion gestellt. Abermals sind die meisten Werke nie zuvor auf Tonträgern erschienen. Nicht einmal deren Existenz lässt sich auf Anhieb nachweisen. In Büchern nicht und nicht im allwissenden Netz. Pachl dürfte über Jahre intensiv geforscht haben. Das ist ein Wert für sich.

Ein Name lässt gleich an zweiter Stelle der Trackliste aufhorchen: Bedrich Smetana (1824-1884). Der Komponist der Verkauften Braut, in deren Originalpartitur auch ein deutscher Text eingetragen ist, den Nikolaus Harnoncourt 2011 als Grundlage einer viel gerühmten Aufführung in Graz verwendete, versah die Ballade „Der Fischer“ von Goethe mit einem romantisch dahin fließenden Klaviersatz. In der Version des aus Böhmen stammenden Camillo Horn (1860-1941) ist die Ballade in der Auftaktbox der Edition zu hören. Zudenke Fibich (1850-1900), der wie Smetana auf dem Vysehrader Friedhof in Prag begraben liegt, verarbeitete „Der Blumen Rache“ von Ferdinand Freiligrath, die auch Pfitzner und Loewe als Lieder vertont hatte, zum Melodram. Von dieser Dichtung fühlte sich auch Julis Metz inspiriert, dessen Lebensspuren und -daten sich verloren haben. Pachl kommt im Booklet zu dem Schluss, dass seine „lautmalerisch strukturierte Version“ im Vergleich mit Fibich „erfüllt von einem stark gesanglich tendierten Duktus“ ist. Ein Unikat der besonderen Art stellt „Helges Treue“ nach einem Text von Moritz Graf Strachwitz dar. Als Komponisten sind Franz Liszt (1811-1886) und Felix Draeseke (1835-1913) genannt. Liszt, der mit der vor Blasphemie warnenden „Lenore“ von Gottfried August Bürger selbst ein bedeutendes Melodram hinterließ, hatte seinem fünfundzwanzig Jahre jüngeren Schützling geholfen, das erstes Opus in die richtige Form zu bringen und gilt deshalb als Koautor. Mit „Der Mönch von Bonifazio“ ist aber auch ein eigenständiges Opus von Draeseke berücksichtigt worden, das auf einer Dichtung von Conrad Ferdinand Meyer fußt. Gleich mit vier Nummern ist Wilhelm Kienzl (1857-1941) der vornehmlich durch seine Oper Der Evangelimann in Erinnerung blieb, überproportional vertreten. Seine flott eingeleitete „Brautfahrt“ nach Eichendorff und der an eine Enzianblüte gerichtete theatralische Monolog mit dem Titel „Von einer Genziane“ sind Glanzpunkte der neuen Box. Zusätzlich erklingen zwei Klavierstücke von Kienzl, mit denen der Pianist Klaas – wie auch bei der Fuga für Klavier von Siegfried Wagner – vom Begleiter zum Solist wird. Es dürfte Pachl, ein Bedürfnis gewesen sein, den Sohn Richard Wagners, der kein eigenes Melodram hinterlassen hat, musikalisch im Umkreis des Genres zu platzieren. Schließlich gilt er als Siegfried-Wagner-Experte, brachte etliche seiner Opern auf die Bühne und legte eine große Biographie vor.

Obwohl Robert Heger (1886-1978) in diversen Nachschlagewerken nicht nur als Dirigent berühmter Operneinspielungen genannt wird, sondern auch als Komponist, ist sein Nachlass in Vergessenheit geraten. Mit „Die Jüdin von Worms“ nach Wilhelm Brandes, der ein bedeutender Wilhelm-Raabe-Forscher war, wird ein Werk mit einer kraftvollen Einleitung und dramatischen Zwischenspielen aus der Versenkung geholt, das mehr als zwanzig Minuten in Anspruch nimmt. Länger dauert mit gut vierundzwanzig Minuten nur „Das klagende Lied“ von Gustav Lewin (1869-1938), das in der zweiten Editionsfolge alternativ von Josef Pembaur d.J. (1875-1950) zu finden ist, der fünf Minuten weniger braucht. Lewin stimmt musikalisch sehr empfindsam in die Geschichte von den beiden Königskindern ein. In der literarischen Vorlage von Martin Greif klingen Motive an, die Gustav Mahler für seine gleichnamigen Kantate in Märchen Bechsteins und der Brüder Grimm fand. Mit Lewin wird eines Komponisten gedacht, den die Nationalsozialisten in den Tod trieben. Obwohl er bereits in den 1920er Jahren vom jüdischen zum christlichen Glauben übergetreten war, sah er sich am Konservatorium in Weimar, wo er als Lehrer wirkte, heftigen antisemitischen Angriffen ausgesetzt, die ihn schließlich veranlassten, die Nahrungsaufnahme zu verweigern. Gedemütigt und entehrt starb er 1938.

Eleonore Prohaska (1785-1813) kämpfte als Mann verkleidet in den Befreiungskriegen und starb an den Folgen einer schweren Verwundung. Beethoven komponierte zu dem verschollenen Schauspiel „Leonore Prohaska“ des Preußischen Geheimsekretärs Friedrich Duncker die Musik. Daraus wurde das Melodram für die Edition gewählt.

Als Beitrag zum Beethoven-Jahr 2010 kann eine Szene aus Dunckers Schauspiel „Leonore Prohaska“ gewertet werden. In einige seiner Werke – Fidelio und in die Schauspielmusiken zu Egmont und König Stephan – hat der vor 250 Jahren geborene Komponist Melodramen eingebaut. Die 1785 in Potsdam geborene Unteroffizierstochter hatte sich ein männliche Identität zugelegt und 1813 unter dem Namen August Renz Zugang zum Lüzowschen Freikorps verschafft. Noch im selben Jahr wurde sie so schwer verwundet, dass sie wenig später starb. Das Drama ist verschwollen. Überliefert sind lediglich die von Beethoven vertonten drei Szenen sowie ein Trauermarsch, erstmals eingespielt von Claudio Abbado für die Deutsche Grammophon und inzwischen auch auf CD gelangt. Als Melodram, begleitet von einer Glasharfe, ist die Abschiedsszene der Leonore angelegt, bei Abbado von der Schauspielerin Karoline Eichhorn vorgetragen. Pachl spricht dieselben Versen, die mit den Worten „Du, dem sie gewunden“ beginnen. Sie werden im Booklet als CD-Erstveröffentlichung ausgebeben, was irritiert. Der schon erwähnte Steinitzer nennt das Melodram „eine kleine Szene zu Leopold Dunckers Drama“. Kannte er den Zusammenhang nicht? Wie auch immer. Auf jeden Fall dürfte es das erste Mal sein, dass Leonores Abgesang von einem Mann eingespielt wurde. Steinitzers eigenes Melodram „Die Braut von Corinth“ findet sich in Folge zwei. Damit ist die Reihe der Namen nicht erschöpft. „Das Mädchen vom Glück“ geht auf Heinrich Neal (1870-1940) zurück, der Kapellmeister in Heidelberg war. Als Hofkapellmeister in Gera wirkte der aus dem thüringischen Rudolstadt stammende Carl Kleemann (1842-1923), der das Melodram „Das begrabene Lied“ hinterließ. Der 1901 geborene und erst 1992 gestorbene Theodor Wünschmann(1901-1942), der mit „Der Todspieler“ in Erscheinung tritt, gilt noch als noch Spätromantiker. Denselben Text von Münchhausen komponierte auch Victor von Woikowsky-Biedau (1866-1935), ein Oberregierungsrat beim Preußischen Statistischen Landesamt in Berlin, der sich nebenbei musikalisch betätigte. In einer anderen musikalischen Liga spielt der Russe Anton Arensky (1861-1906), der bei Rimski-Korsakow und Tschaikowski studiert hatte und mit seinen packenden „Nymphen“, für die Turgenew die Vorlage lieferte, in die Edition einging.

Gelegentlich gleicht auch diese Neuerscheinung der Einladung zu einer Bildungsreise. Wer sich darauf einlässt, muss sich in seine tiefer gelegenen Bildungsschichten hinablassen, manchen Tops entschlüsseln, gelegentlich auch schon mal im Grimm’schen Wörterbuch nachschlagen oder sich mit überkommenen Begriffen und Formulierungen auseinandersetzen, deren Gebrauch riskant geworden ist. „Auf dem Meer der Lust in hellen Flammen …“ Die Zeile, die der Auftaktbox ihren Namen gab, ist so ein Beispiel. Sie entstammt dem Gedicht „Mischka an der Marosch“ von Nicolaus Lenau. Die Alliteration wirkt gewollt. Es gibt Titel, die griffiger sind. Auch bei Lenau. Mit Marosch ist – in deutscher Schreibweise – der Fluss Mureș gemeint, der durch Ungarn und Rumänien fließt. Mischka heißt ein Zigeuner, der sich an einem Grafen rächt, weil dieser seine Tochter verführte. Politisch korrekt ist das nicht. In der Literatur – und damit in manchen Melodramen – wimmelt es vor Begriffen und Anspielungen, deren gegenwärtiger Gebrauch vor allem deshalb schwierig ist, weil der Kontext verschwimmt und die historische Einordnung mühsam ist. Geschichte und Schauplatz haben beim Österreicher Lenau einen biografischen Bezug, was nicht unwichtig ist für das Verständnis seines Werkes. Er wurde 1802 in Ungarn geboren, wo sein Vater als habsburgischer Beamter tätig war. Die so ausschweifende wie melancholische Dichtung wurde von dem bereits erwähnten Pembaur d. J.  zu einem Melodram verarbeitet.

„Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“: In mittleren Teil seiner Edition hatte Pachl dieses Werk von Rainer Maria Rilke gleich zweifach aufgenommen. Einmal von Casimir von Pászthory, der das Werk 1914 mit Klavierbegleitung versah, zum anderen in der Bearbeitung durch Viktor Ullmann aus dem letzten Jahr des Zweiten Weltkrieges 1944. Der 1886 in Budapest geborene Pászthory kam schon in jungen Jahren nach Deutschland, ging dann nach Wien, wo er Jura studierte und sich bald der Musik zuwandte. Er war NSDAP-Mitglied. Vornehmlich komponierte er musikdramatische Werke und Lieder, die vergessen sind. Einzig seine 1942 entstandene Oper Tilmann Riemenschneider kam 2004 in Würzburg wieder auf die Bühne. Ullmann, dessen Eltern vom jüdischen zum katholischen Glauben übergetreten waren, hatte – wie Pászthory – auch in Wien zunächst juristische Studien aufgenommen und war schließlich Kompositionsschüler Schönbergs geworden. Sein Melodram entstand im KZ-Ghetto Theresienstadt, wohin ihn die Nationalsozialisten verschleppt hatten. Dort fand auch die erste Aufführung statt. Wenige Wochen danach wurde Ullmann in Auschwitz ermordet.

Gegensätzlicher können die Hintergründe beider Kompositionen nicht sein. Rilkes Prosastück, das in seiner Verdichtung Züge eines Gedichts trägt, traf schon kurz nach seiner Veröffentlichung auf ein damals vorherrschendes fatalistisches Lebensgefühl. Der Erste Weltkrieg lag in der Luft. Allenthalben war die Begeisterung für den Waffengang weit verbreitet. Vor diesem Hintergrund hatten Heldentod-Geschichten Konjunktur. Rilkes Werk eröffnete 1912 mit der Nummer eins und einer Auflage von zehntausend Exemplaren die berühmte Inselbücherei und war sofort vergriffen. Inzwischen hat die Auflage die Millionen-Grenze weit überschritten. Das schmale Bändchen steht in fast jedem Bücherschrank, wurde genauso anteilnehmend gelesen – wie auch eklatant missverstanden. Bis auf den Vorspann verarbeitete Pászthory den gesamten Text. Er benötigt dafür mehr als eine halbe Stunde. Es gibt sehr melodiöse und elegische Momente. Wenn – um ein Beispiel anzuführen – die Rede auf „ein altes trauriges Lied“ kommt, „das zu Hause die Mädchen auf den Feldern singen, im Herbst, wenn die Ernten zu Ende gehen“, dann tönt aus dem Klavier eine entsprechende Melodie. Und wenn das Wachtfeuer brennt, dann tanzen die Flammen wie am Schluss von Wagners Walküre. Ullmann hält am Vorspann, der nicht ganz unwichtig ist für das Verständnis der Geschichte, fest. Dafür kürzt er an anderen Stellen und verdichtet damit den dramatischen Gehalt. Seine Tonsprache wirkt härter und unsentimental. In Booklet vermerkt Pachl musikalische Gemeinsamkeiten beider Werke und vermerkt, „dass Ullmann Pászthorys Version nicht unbekannt war“. Auch solche Verknüpfungen, durch die sich immer neue Zeitfenster öffnen, sind nicht nur ein nebensächlicher Aspekt dieser nun komplettierten Melodram-Sammlung (Bild oben: Giulio Aristide Sartorio (1816-1932) „La Sirena“ im deutlichen Bezug zu Goethes Gedicht  Antikoerperchen). Rüdiger Winter

 

Gondelfahrt im Mondschein

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Schubertiade. Der Begriff hat sich bis in die Gegenwart erhalten. Festival in Hohenems, Schwarzenberg, Dürnstein und anderswo nennen sich so. Schubertiaden – das waren ursprünglich private musikalische Zusammenkünfte in Wiener Salons, bei denen Franz Schubert am Flügel saß, umringt von Freunden, Enthusiasten und Künstlern, denen er neue Kompositionen vorspielte. So ließ sich deren Wirkung auf Publikum testen. Bei einer diese Veranstaltungen erlebte auch die Winterreise – als „ein Kreis schauriger Lieder“ angekündigt – ihre erste Aufführung. Schubertiade ist auch der Titel einer neuen CD, die von BR Klassik, dem Eigenlabel des Bayerischen Rundfunks, herausgegeben wurde (900528). Sie verdient diese Bezeichnung zu Recht. Denn auf dem Programm stehen Werke, die wenig Verbreitung fanden und immer noch im Wartestand ihrer Entdeckung zu verharren scheinen. Sie stehen im Schatten der populären Meisterwerke und haben gewiss nicht deren Tiefe. Wer sich also im Werk Schubert nicht bis in alle Einzelheiten auskennt, für den mag dieser oder jener Titel der CD eine ganz persönliche Uraufführung sein. Einer stärkeren Verbreitung dürfte auch entgegenstehen, dass sie für heutige Hörgewohnheiten ungewöhnlich besetzt sind. Es braucht Chöre, Solisten und ein Klavier, das aber nicht immer zum Einsatz kommt.

Julius Schmidt: Franz Schubert am Klavier/Wikipedia

Drei Lieder Wehmut, Ewige Liebe, FluchtD (Deutschverzeichnis) 825, die es zusammen auf vierzehn Minuten bringen, sowie Sehnsucht D 656 werden vom Männerchor a cappella dargeboten, Ständchen D 920 zusätzlich mit Alt-Solo (Merit Ostermann) und Klavier. Gott in der Natur D757 und Der 23. Psalm Gott ist mein Hirt D 706 sind mit Frauenchor und Klavier besetzt. In Nachthelle! D 892 teilen sich Tenor (Andrew Lepri Meyer), Männerchor und Klavier. Es wird mit dieser CD offenkundig, wie meisterhaft Schubert auch dieses Genre beherrschte. Und ich nehme mir ganz fest vor, künftig noch viel mehr Chormusik zu hören und nach einschlägigen Aufnahmen Umschau zu halten. Beim ersten Titel – Der Gondelfahrer D 809 – wird der Männerchor vom Klavier begleitet. Das Hauptmotiv hat Ohrwurmcharakter. Man wird es nicht wieder los. Es geht einem tagelang durch den Kopf. Deshalb ist das Lied auch bei Laienchören sehr beliebt. Es beruht auf einem Text von Johann Mayerhofer. Der war ein sehr enger Freund des Komponisten und Gast bei den ersten Schubertiaden. Beide teilten sich drei Jahre lang ein Zimmer in Wien. Der depressiv veranlage Mayrhofer stürzte sich 1836 aus dem Fenster seines Dienstgebäudes in den Tod. In dem Lied wird das nächtliche Venedig zum Sehnsuchtsort, wo die Erdensorgen genommen werden und die Barke „aller Schranken los“ dahin gleitet. Alle „schlummern friedlich“ und „nur der Schiffer wacht“. Schubert erhebt durch seine musikalische Erfindung auch derlei gestelzte Verse zu hoher Kunst. Im Booklet wird von Florian Heurich vermerkt, dass er „eine ganz besondere, romantisch verklärte Nachtstimmung“ kreiert, in der „das Glitzern des Mondlichts auf den venezianischen Kanälen heraufbeschworen wird“. Es singen die Herren des Chores des Bayerischen Rundfunks. Sie sind perfekt aufeinander abgestimmt und bringen sogar eine räumliche Wirkung hervor.

Der Pianist Justus Ziehten spielt einen Flügel aus der Klaviermanufaktur Érard aus den 1870er Jahren. Seinerzeit sind diese Instrumente in den Salons und Häusern wohlhabender Privatleute weit verbreitet gewesen, heißt es im Booklet. Sie könnten als Inbegriff der bürgerlichen Musikkultur abgesehen werden. „Die Bauart und Mechanik dieses Flügels wurde um 1840 entwickelt, also erst zwölf Jahre nach Schuberts Tod, dennoch weist er eine klangliche Nähe zu Hammerklavier der Schubertschen Zeit auf. Durch die technischen Neuerungen wird jedoch ein substanzreicheres Klangspektrum erzielt. Dadurch besitzt das Instrument auch die nötige Fülle zur Begleitung von größeren Chorbesetzungen.“ Dem Gondelfahrer-Lied ist diese Fülle nach meinem Eindruck etwas abträglich. Als störe sie den nächtlichen Zauber im Mondesschein. Für alle anderen Titel gilt das so nicht. Ihnen gereicht die akustisch markante Begleitung durchweg zum Vorteil. Ihrem großen Finale strebt die Neuerscheinung mit Mirjams Siegesgesang D 942 für Sopran-Solo (Christina Landshamer), Chor und Klavier zu. Die Prophetin Mirjam, Schwester von Moses und Aaron, gilt als eine der großen Frauengestalten im Alten Testament. Während des Auszugs der Israeliten aus der ägyptischen Knechtschaft führte sie den Freudentanz der Frauen an. Mit dieser Kantate – der Text stammt von Franz Grillparzer – ist der prächtig disponierte Chor des Bayerischen Rundfunks in gemischter Zusammensetzung zu hören. Sie dauert fast zwanzig Minuten. Die Solistin, legt ihren Part betont lyrisch an und hat keine Mühe, extreme Höhen zu erreichen. Zum besseren Verständnis kann es allerdings nicht schaden, den im Booklet abgedruckten Text mitzulesen. Auch alle anderen Vorlagen finden sich. Rüdiger Winter

Franz Mazura

 

Franz Mazura blickte auf eine der längsten Karrieren als Sänger zurück. Am 22. April 1924 in Salzburg geboren, studierte er an der Musikhochschule Detmold, wo er noch während seiner Ausbildung als Schauspieler auftrat. Seine Bühnenpräsenz dürfte nicht zuletzt auf diese frühe Erfahrung im Sprechtheater zurückzuführen gewesen sein. Er debütierte 1949 in Kassel, wirkte anschließend in Braunschweig und kam schließlich an das Nationaltheater Mannheim, dem er sich über viele Jahre verbunden fühlte. Gastspiele führten ihn an alle großen Opernhäuser der Welt. Bei den Bayreuther Festspielen galt er über zweieinhalb Jahrzehnte als eine der festen Stützen der wechselnden Ensembles. Erstmals trat er dort 1971 als Gunther in der Götterdämmerung auf – in einer ehr undankbare Rolle, der er auch in der abgefilmten Ring-Jubiläums-Inszenierung von Patrice Chereau ein starkes Profil verlieh. Mazura wertete die Figur derart auf, dass die Zuschauer auch dann gebannt waren, wenn er nicht zu singen hatte. Stand er auf der Bühne, stellte sich ganz automatisch Spannung ein. In Bayreuth wurde er auch als Klingsor, Gurnemanz und Alberich geschätzt. Einmal, nämlich 1988 in der Inszenierung von Harry Kupfer, war er auch als Wanderer im Siegfried besetzt. Ein Mitschnitt lässt ahnen, dass diese Aufgabe mit seinen stimmlichen Fähigkeiten nicht perfekt zu vereinbaren gewesen ist.

Noch 2019 machte er als der wohl älteste Strumpfwirker Hans Schwarz in den Meistersingern von Nürnberg an der Berliner Staatsoper von sich Reden. Zu seinen Altersrollen zählte auch Schigolch in der Lulu von Alban Berg. In der von Friedrich Cerha fertig orchestrierten dreiaktigen Version desselben Werkes, die 1979 in Paris unter großer Aufmerksamkeit der internationalen Musikwelt uraufgeführt wurde, war er der Dr. Schön. Auch davon haben sich faszinierende Ton- und Filmaufnahmen erhalten, während er in gängigen Opern wie Fidelio (Pizarro) oder Tosca (Scarpia), die er ebenfalls im Repertoire hatte, offiziell kaum dokumentiert ist. Mazura, dessen Bassbariton betont charaktervolle Züge trug, dürfte vor allem als Vertreter des Repertoires der Außenseiter in Erinnerung bleiben. Im Alter von 96 Jahren starb er am 23. Januar 2020 (Foto Wikipedia). RW

Umfassende Fülle

 

Ein Volontariat hatte mich Ende der sechziger Jahre nach Stadtroda verschlagen, eine kleine Stadt im thüringischen Holzland. Als ich das beschauliche Zentrum erkundete, fiel mir an einem mit Fachwerk geschmückten Haus eine Gedenktafel mit folgender Inschrift auf: Geburtsstätte des Leiters der Bayreuther Festspiele und Künders deutscher Musik Professor Julius Kniese, geboren 21. 12. 1848, gestorben 22. 4. 1905. Ich war wie elektrisiert, weil diese Entdeckung mit meinen ersten Gehversuchen zusammenfiel, die ich durch das Werk Wagners unternahm. Ein Bibliothekar, mit dem ich darüber ins Gespräch kam, klärte mich über die Bedeutung dieses Mannes auf. Durch Liszt ist er mit Wagner bekannt geworden, nahm an der Grundsteinlegung des Festspielhauses in Bayreuth teil und hat bei der Uraufführung des Parsifal assistiert. Nach dem plötzlichen Tod des Komponisten 1883 war er bei der Weiterführung der Festspiele die feste Stütze der Witwe Cosima. Kniese gründete auch eine Stilbildungsschule, in der Sänger speziell für Wagners Musikdramen herangebildet werden sollten.

Julius Kniese/ Wikipedia

Begraben liegt er auf dem Bayreuther Stadtfriedhof. Mein kenntnisreicher Gesprächspartner schenkte mir auch ein Buch, das er kurzerhand aus seinen Bibliotheksbeständen aussortierte. Der Kampf zweier Welten um das Bayreuther Erbe, erschienen 1931 bei Theodor Weicher in Leipzig, herausgegeben von Julie Kniese. Das war die Tochter (die auch einen Eintrag bei Wikipedia besitzt und eine bekannte Kinderbuchautorin war). Schnell hatte ich herausgefunden, dass sie noch lebte. Und zwar ganz in meiner Nähe, in Weimar. Auf einen Brief folgte die freundliche Antwort. Ich wurde eingeladen und fand mich im neunzehnten Jahrhundert wieder. Wie eingesponnen in ihre Erinnerungen lebte diese fast neunzigjährige Frau in ihrem mit Devotionalien vollgestopften Haus. Sie trug eine Haube und ein langes schwarzes Seidenkleid, dem man die Jahre ansah. Aus einer Schachtel wurde der originale Briefwechsel zwischen ihrem Vater und Liszt hervorgeholt. Ihre eigenen Erinnerungen an Liszt waren sehr anschaulich. Sie habe als Kind auf seinem Schoß gesessen und dufte ihn an seinem langen weißen Haaren ziehen. Für das Bayreuth der Enkel Wagners hatte die muntere Greisin nur Spott übrig. Erneuerung empfand sie als Verrat. Wenn es nach ihr ginge, dürfe Wagner nur so aufgeführt werden wie es der Meister selbst in Bayreuth vorgemacht habe. Alle seine Anweisungen seien von ihrem Vater in einem Tagesbuch festgehalten worden. Danach müsse für alle Ewigkeit verfahren werden. Und so schließt das von ihr herausgegeben Buch mit den Worten: „Bayreuth aber lebt, solange es das Geheimnis seines Meisters treu hütet und heilig hält, solange die Träger der Idee im Banne seines Geistes stehen und wirken.“

 

Band I der Richard-Wagner-Bibliographie von Steffen Prignitz bei Königshausen und Neumann

Das Buch von Julie Kniese ist auch in dieser Neuerscheinung: „Richard Wagner Bibliographie zu Leben und Werk 1833-2013“ verzeichnet. Sie wurde von Steffen Prignitz zusammengestellt und ist im Würzburger Verlag Königshausen & Neumann erschienen (ISBN 979-3-8260-6663-4). Prignitz hatte 2011 an der Universität Rostock über Wagner promoviert. In dem zweibändigen Werk mit 1700 Seiten gibt es keine Anekdoten. Es handelt sich um eine streng wissenschaftliche Arbeit, um einen Versuch, die Fülle an Wagnerliteratur einzelnen Gebieten und Themen zuzuordnen. Nach einer Darstellung Allgemeiner Grundlagen und Hilfsmittel zur Bibliographie finden sich unter Gesamt- und Überblicksdarstellungen Einführungen zu Leben und Werk, Zeittafeln, Chroniken oder Gelegenheitsreden. Der dann folgende Teil geht in die biographischen Einzelheiten und listet Literatur zur Familie, zu Frauen, Künstlern, einzelnen Persönlichkeiten auf, zu denen Wagner in Beziehung stand und die ihrerseits Einfluss auf ihn nahmen. Oft und genau beschrieben sind die Stationen seines bewegten Lebens, das erst spät in Venedig und Bayreuth in sichere Bahnen geriet. Themen von Darstellungen sind seine Gesundheit, diverse Krankheiten, der Umgang mit Geld, die Kleiderordnung, der Aberglaube, die Freude am Wandern, sein Humor oder die Gewohnheit, Weihnachten zu feiern. Auch die Haustiere – Wagner liebte vornehmlich Hunde – bilden ein eigenes Unterkapitel. Schließlich werden noch mehr als hundert einzelne Personen – beginnend mit Franz Abt, Komponist und Kapellmeister, und endend mit dem Kirchenmusiker Franz Xaver Witt, genannt, die in der Wagner-Literatur einen eigenen Platz einnehmen. Wagners Gedankenwelt und deren Beziehungen bilden ein besonders stattliches Kapitel. Publikationen, die diesem Bereich zuzuordnen sind, beschäftigen sich mit seinem philosophischen Denken, seinem Antisemitismus, der ihm bis in die Gegenwart anhängt, und seiner Haltung zu diversen historischen Ereignissen wie der Revolution 1848, an der er sich mit schwerwiegenden Folgen für sein weiteres Leben selbst beteiligt hat.

Jaja der Richard: Richard Wagner/ Giuseppe Becce und Mathilde Wesendonck/ Miriam Horwitz im Stummfilm, Deutschland 1913, „Richard Wagner. Eine Filmbiographie anlässlich des 100. Geburtstages des großen Meisters“ auf ARTE © FWMS/ZDF Foto: ZDF; „Bild: Sendeanstalt/Copyright“.tv

Teil V und VI zum Werk und zur Rezeptions- und Forschungsgeschichte sind mit rund tausend Seiten die umfangreichsten Kapitel der Bibliographie. Nichts von alldem, was Wagner hinterlassen hat, vollendet oder nur als Plan oder Entwurf, was ihn also thematisch umtrieb, ist der Forschung und der Aufmerksamkeit diverser Autoren entgangen. Selbst das erste Trauerspiel „Leubald“, das der Fünfzehnjährige verfasste, ist Gegenstand von sechs einzelnen Veröffentlichungen. Wer sich einen Überblick zur Literatur, die Meisterwerke betreffend, verschaffen will, muss durch zig Seiten blättern. Jedes Lied und jedes noch so kleine Klavierstücke gilt als erforscht. Zur Rezeptionsgeschichte gehört das Wirken namhafter Regisseure und Bühnenbildner, die sich mit den Musikdramen Wagners auseinander gesetzt und sich darüber auch schriftlich geäußert haben. Deshalb wird Joachim Herz, der mit seinem Ring des Nibelungen in Leipzig vieles von dem vorwegnahm, was Patrice Chereau 1976 unter großem Aufsehen auf die Bühne des Bayreuther Festspielhauses brachte, auch als Verfasser gründlicher Analysen erwähnt, sein französischer Kollege hingegen, der derlei nicht hinterließ, taucht nur im Personenregister auf.

 

In auffällig bescheidenen Unterkapiteln geht es auch um Sänger und Schallaufnahmen. Es wird deutlich, dass sich die entsprechende Literatur dem Umfang nach in Grenzen hält. Eine große Zahl von Büchern hat das Thema nicht als alleinigen Gegenstand, was für den Einzug in die Diskographie wohl nicht genügte. Es muss sich schon zwingend alles um Wagner drehen – wie in dem mehrbändigen Werk „Biographie eines Stimmfachs“ über die frühen Wagner-Tenöre von Einhard Luther, dem einstigen Moderator des Senders Freies Berlin, der unzähligen Rundfunkhörern Oper und ihre Interpreten nahe gebracht und konzertante Aufführungen seltener Werke organisiert hat. „Das goldene Zeitalter des Wagner-Gesangs im Spiegel der Tonquellen“ ist eine gelistete Arbeit von Michael Seil, für die es auch eine akustische Entsprechung gibt. Seil ist der Herausgeber der ambitionierten CD-Edition „The Cosima Era“, die auf zwölf CDs 305 Aufnahmen von 93 Sängern, die zwischen 1876 und 1906 in Bayreuth aufgetreten sind, zusammenführt – klanglich hervorragend aufgefrischt vom Berliner Klangrestaurator Christian Zwarg.

Auch die Beilage-Bildchen in den Packungen von Liebigs Fleischextrakt widmeten  sich  dem Leben von Richard Wagner. Hier die  erste Aufführung des Siegfried-Idylls zu Weihnachten 1870 im Treppenhaus der Villa in Tribschen. Anlass war der 33. Geburtstag von Wagners Frau Cosima, die den gemeinsamen Sohn Siegfried auf dem Arm trägt. Wagner leitete die intime Darbietung selbst. Die Literatur zu dem Werk, das ursprünglich „Tribschener Idyll“ hieß, und seinem Schweizer Entstehungsort findet sich in der Bibliographie.

Obwohl es unzählige Schallaufnahmen von Wagners Werken gibt, die viele Regalmeter füllen, hält sich die spezielle und vertiefende Literatur zu diesem Thema in Grenzen. Folglich fällt das entsprechende Kapitel in der Bibliographie mit nur neun Verweisen sehr schmal aus. In Autobiographien von Sängern – um ein Beispiel zu nennen – nimmt Wagner und sein Werk aussagekräftige Kapitel in Anspruch. So wird der auf  Wagner spezialisierte Tenor Jess Thomas zwar in anderem Zusammenhang erwähnt, nicht aber mit seiner Autobiographie, die im Titel sogar Bezug auf ein Zitat aus den ersten Aufzug der Walküre nimmt: „Kein Schwert verhieß mir der Vater“. Ähnlich stellt sich die Lage in den Büchern von Theo Adam dar, der seine größten Erfolge im Wagner-Fach sammelte.

Der Autor Steffen Prignitz/ Foto Richard Wagner Verband Mecklenburg-Vorpommern. ev

Für seinen ersten Titel griff er auf einen Ausspruch von Hans Sachs im dritten Aufzug der Meistersingern von Nürnberg zurück: „Seht, hier ist Tinte, Feder, Papier…“ Und er analysierte die Rolle aus seiner eigenen Sicht, hinterließ damit auch ein packendes Stück Wagner-Literatur. Hingegen genügte wohl die Erwähnung des Komponisten im Titel der broschierten Diskographie von John Hunt „Six Wagnerian sopranos“ für Listung in dem großen Werk. Darin werden neben Wagner-Aufnahmen auch zahlreiche andere Produktionen anderen Komponisten erwähnt. Andererseits sind Titel über Schallaufnahmen den Themen zugeordnet, mit denen sie sich explizit beschäftigen. Ein solches Beispiel ist das Buch „Ring Resounding“ von Jon Culshaw, dem legendären Decca-Produzenten, in dem die Entstehung der ersten Studioeinspielung der Tetralogie mit Georg Solti am Pult der Wiener Philharmoniker geschildert wird. Es ist bisher nicht ins Deutsche übersetzt worden.

Eine Bibliographie dieses Ausmaßes ist wie ein großer Baum mit unzähligen Ästen, die sich in Höhe und Breite immer mehr ausdehnen und einem kräftigen Wurzelwerk in der Tiefe. Alle Verzweigungen hängen miteinander zusammen, sind aus demselben Kern erwachsen. Es wird deutlich, welche Wirkung Richard Wagner in seiner Zeit und bis in unsere Tage hinein entfaltet hat. Über keinen anderen Komponisten dürfte so viel geschrieben worden sein wie über ihn. Insofern dient die bedeutende Neuerscheinung nicht nur der wissenschaftlichen Forschung, sie stellt auch für jene Musikfreunde und Sammler, die von Wagner fasziniert sind und ihr eigens Wissen erweitern wollen, eine Fundgrube für neue Anregungen dar. Wie der Herausgeber Steffen Prignitz in der Einleitung vermerkt, gibt es „Beiträge zur Wagnerforschung in mindestens 35 Sprachen. Er geht davon aus, dass nach derzeitigem Erkenntnisstand bis zu fünfundzwanzigtausend Titel realistisch sind. Rüdiger Winter (Foto Richard Wagner Denkmal im Berliner Tiergarten/ oben Winter)

Suche nach Heimweh

 

Mehr geht nicht. Die Sopranistin Anna Lucia Richter hat eine CD mit einer Laufzeit von fast einundachtzig Minuten aufgenommen. Das Programm besteht ausschließlich aus Liedern von Franz Schubert. Es beginnt mit „An den Mond“ und endet mit „Der Hirt auf dem Felsen“. Die CD kam bei Pentatone heraus (PTC 5186 839). Auf dem hübsch ausgemachten Cover fällt die junge Sängerin vom Himmel herab wie ein Engel von Tintoretto. Es ist Brauch geworden, Liedproduktionen unter ein bestimmtes Thema zu stellen. Diesmal geht es um Heimweh. Ein weites Feld. Schubert und seine Textdichter versprechen reiche Ernte. Für das Vorwort im Booklet hat die Künstlerin sogar das Grimm’sche Wörterbuch befragt und erfahren, dass das Wort Heimweh Anfang des 18. Jahrhunderts in den allgemeinen Sprachgebrauch einging. Und sie fragt sich, ob denn Heimweh „nicht eigentlich der Wunsch“ sei, im Außen etwas zu finden, was sich eigentlich nur im Innen selbst erschaffen lasse.

Die lyrischen Titel liegen ihr mehr als der balladenhafte „Zwerg“, bei dem die Stimme in dem Bemühen, das dramatische Geschehen farbenreich auszuschmücken, an Grenzen kommt. Grelle, gar schrille Töne sind bewusst gewählt, können aber nicht recht überzeugen. Die sind in der so genannten Blumenballade „Viola“ nach einem Text von Schuberts Freund Franz von Schober nicht erforderlich. Sie besteht aus neunzehn Versen, denen Anna Lucia Richter mit dezenter Gestaltung Zusammenhalt gibt, so dass die dreizehn Minuten wie im Fluge vergehen. Dieses Werke ist selten zu hören und gleicht einer Entdeckung im CD-Programm. Innig schließen Ellens drei Gesänge mit dem „Ave Maria“. Es ist ja nicht so, dass dieses berühmte und fast schon überstrapazierte Schubert-Lied ein Selbstkäufer für jeden lyrischen Sopran ist. Eiserne Schlichtheit ist vonnöten, damit es nicht ins Gefällige abgleitet. Die Sängerin, die sich eindrucksvoll auch sprechend mit dem kleinen Melodram „Abschied von der Erde“ versucht, bringt sie auf. Am Flügel begleitet Gerold Huber, die Klarinette im „Hirt auf dem Felsen“ spielt Mattias Schorn.

 

Mit der Produktion der Lieder von Hugo Wolf auf Texte von Johann Wolfgang Goethe hat Stone records begonnen. Erschienen ist Vol. 1 mit neunzehn Titeln (5060192780918). Die Neuerscheinung ist Bestandteil einer Edition sämtlicher Lieder. Goethe war ein vom Komponisten bevorzugter Dichter. Schon der Fünfzehnjährige versuchte sich an seinen Versen. Um die fünfzig von Wolf veröffentlichte Lieder gehen auf Goethe-Gedichte zurück. Darunter sind einige der schönsten Erfindungen dieser Gattung. Wer sich nun zu neuen Aufnahmen anschickt, trifft auf eine schier übermächtige Konkurrenz. Schon zu Beginn der 1930er Jahre wurden in London Aufnahmen mit den seinerzeit besten Sängern vom Produzenten Walter Legge gemacht. Legges spätere Frau Elisabeth Schwarzkopf hat sich den Liedern von Wolf bis zur Perfektion im Studio und auf den Konzertpodien in aller Welt gewidmet. Wolf prägte auch die lange Karriere von Dietrich Fischer-Dieskau, der sogar ein Buch über den österreichischen Komponisten veröffentlichte. Diese Aufnahmen sind nie vom Markt verschwunden und werden unter Kennern wegen ihrer Maßstäblichkeit nach wie vor hoch geschätzt. Doch sie sind historisch, in Teilen sogar noch in Mono.

Es braucht also auch frische, unverbrauchte Ansätze. Heutiges Publikum will auf Tonträgern hören, wen es live erlebt. Solchem Begehren tragen die neuen Einspielungen voll und ganz Rechnungen. Dafür werden wohl auch gelegentliche Ungenauigkeiten in der sprachlichen Gestaltung hingenommen. Bis auf die schwedische Mezzosopranistin Katarina Karnéus stammen alle Mitwirkenden – nämlich Louise Alder, Fflur Wyn (Sopran), Rowan Hellier (ebenfalls Mezzo), Adrian Tompson (Tenor), Roderick Williams (Bariton) und Neal Davies (Bassbariton) – aus Großbritannien. Sie sind bestens präpariert, haben die Lieder gut studiert. Begleitet werden sie von ihrem Landsmann Sholto Kynoch, der schöne eigene Akzente setzt. Rüdiger Winter

Frankophiles Bekenntnis

 

Bereits nun gut zwei Jahre steht der sympathische britische Dirigent Robin Ticciati, 36, an der Spitze des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin. Seine Berufung, soviel kann man schon heute sagen, hat sich ausgezahlt. Dass er eine Vorliebe insbesondere für die französische Musik hat, konnte man anhand seiner mittlerweile ganz ansehnlichen Diskographie erahnen. Nun legt Linn (CKD 623) erneut in Koproduktion mit dem Deutschlandfunk Kultur einen weiteren Beleg für diese Annahme vor. Claude Debussys spätromantische Nocturnes sowie das Requiem von Maurice Duruflé, eine der erfolgreichsten Vertonungen einer Totenmesse im 20. Jahrhundert.

Fraglos sind die dreisätzigen Nocturnes, vollendet 1899, vom Impressionismus beeinflusst, wie schon beim berühmten Vorgängerwerk Prélude à l’après-midi d’un faune. Konkret waren es die ebenfalls als Nocturnes betitelten Gemälde des amerikanischen Malers James McNeill Whistler, die Debussy inspirierten. Die Rolle eines Vorspiels nehmen dabei die lyrischen Nuages ein, welche sich durch eine schemenhafte Atmosphäre auszeichnen. Die im Zentrum stehenden Fêtes sind ein ungleich weltlicheres, von Trompetenklängen geprägtes Stück mit Feierlaune. In den abschließenden Sirènes kehrt der Komponist wiederum zum ruhigeren Tonfall zurück, verleiht dem Satz allerdings eine spürbare Melancholie, welche durch den Einsatz eines textlosen Frauenchores, welcher die undefinierbaren Sirenengesänge symbolisiert, unterstrichen wird. An gelungenen Einspielungen besteht kein Mangel – darunter Abbado in Boston und Boulez in Cleveland (beide DG) –, doch kann sich Ticciatis Neuinterpretation durchaus neben den besten behaupten, wozu auch die Linn-typisch ausgezeichnete Tontechnik beiträgt (aufgenommen zwischen 19. und 22. März 2019 im Großen Sendesaal des Hauses des Rundfunks Berlin).

Sowohl der gregorianische Gesang als auch das über ein halbes Jahrhundert zuvor entstandene Requiem von Fauré prägten Duruflés Komposition, die Ticciati in der 1947 entstandenen Urfassung vorlegt, welche sich teils stark von den späteren Bearbeitungen für Orgel und Chor (1948) und für Kammerorchester (1961) unterscheidet. Interessant vor allem, dass in dieser Einspielung auf den eigentlich vorgesehenen Bariton-Solisten verzichtet wird, dessen Part von Unisono-Bässen übernommen wird – ein vielleicht nicht völlig idiomatisches, gleichwohl letztlich überzeugendes Vorgehen. Solistisch dafür der Mezzosopran von Magdalena Kožená, deren dunkler Tonfall sich als dem Werke angemessen erweist. Wirklich herausragend der von Gijs Leenaars einstudierte Rundfunkchor Berlin, der einen Großteil des Requiems dominiert. Tatsächlich erreicht diese moderne Digitaleinspielung beinahe die legendäre, vom Komponisten höchstselbst verantwortete Aufnahme mit dem Orchestre Lamoureux von 1959 (Erato) – und weist nahezu exakt dieselben Spielzeiten auf. Das informative Booklet mit einem Essay von Stephen Walsh rundet diese Produktion auf hohem Niveau ab und lässt sie als so etwas wie die moderne Referenz für beide Werke erscheinen. Daniel Hauser

 

Robin Ticciati hat seit seinem Amtsantritt als Chefdirigent des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin Akzente gesetzt, die sich vom gängigen Repertoire deutlich abheben. Dazu gehören auch Werke französischer Komponisten. Mit L’enfance du Christ und Roméo et Juliette führte er gleich zwei große Schöpfungen von Hector Berlioz auf. Ein dankbares Publikum fand auch die Musik von Claude Debussy zu dem Mysterienspiel Le martyre de Saint Sébastien von Gabriele D’Annunzio. Deutschlands Hauptstadt Berlin versteht sich gern als europäische Metropole. Der erst 35-jährige britische Dirigent Ticciati füllt diesen hohen Anspruch auf seine Weise aus. Es scheint kein Zufall zu sein, dass die ersten CDs mit seinem Berliner Orchester ein französisches Programme zum Inhalt hat. Bei LINN Records, wo auch schon mehrere Einspielungen mit dem Scottish Chamber Orchestra herausgekommen sind, wurden nun Debussys La Mer und die Ariettes oubliées sowie Pelléas et Mélisande und das Vorspiel zur Oper Pénelopé von Gabriel Fauré vorgelegt, Made in Lithunia – auch das ein zusätzlicher europäischer Aspekt (CKD 550). Es handelt sich um Studioproduktionen, die in der Berliner Jesus-Christus-Kirche entstanden. Wegen ihrer exzellenten Akustik dient sie schon seit fünfzig Jahren als Aufnahmestudio. Viele legendäre Einspielungen unter Dirigenten wie Furtwängler, Karajan, Barbirolli, Böhm, Fricsay und Abbado haben den Namen der Kirche in alle Welt getragen. Ticciati knüpft also in Zeiten, wo aus Kostengründen der Mitschnitt immer öfter die Aufnahme unter Studiobedingungen ersetzt, an eine große Tradition an.

Die stimmungsvollen Ariettes oubliées sind im Gegensatz zu den anderen Stücken der CD nicht eben häufig zu finden auf dem Musikmarkt. Ursprünglich wurde dieser Liederzyklus nach Versen von Paul Verlaine, dem sich Debussy künstlerisch verbunden fühlte, für Singstimme und Piano komponiert. Dichter und Komponist begegneten sich in der Suche nach neuen rhythmischen Ansätzen und Klangfarben des Ausdrucks. Verlaines Verse entfalten durch die Musik eine zusätzliche Dimension. Instrumentierte wurde sie von dem australischen Komponisten, Bratscher und Dirigenten Brett Dean, Jahrgang 1961. Mit seiner Orchestrierung ist er nicht auf eigene Ambitionen aus. Debussy bleibt Debussy. Nur Kennern dürfte erkennen, dass der Zyklus von fremder Hand in dieser diskreten und verantwortlichen Weise bearbeitet worden ist. Schon dieser Besonderheit wegen, werden die Lieder zum Mittelpunkt der CD. Solistin ist Magdalena Kozená, die Ende 2018 in der Berliner Philharmonie bei einer szenischen Aufführung des Messias unter Ticciati mitwirkte. Man kennt sich also. Während es ihr bei Händel etwas an Tiefe gebrach, gelingen ihr die stimmlich in der Mittellage angelegten Lieder ganz vorzüglich. Es ist ein Genuss, ihr zuzuhören. Rüdiger Winter

Nadezda Kniplová

 

Sie war eine echte Hochdramatische. Ihr standen unerschöpfliche stimmliche Reserven zur Verfügung. Und sie besaß eine stählerne Höhe. Die Partien des Fachs machten ihr nicht die geringste Mühe. Wenn da nicht die Sprache gewesen wäre, die deutsche Sprache! Die nämlich stand der am 18. April 1932 in Ostrava geborenen tschechischen Sängerin Nadezda Kniplová oft im Wege. Vor allem dann, wenn sie Wagner sang. Und der stand nun einmal im Mittelpunkt ihres Wirkens. Bereits als Ortrud hatte sie nach gründlicher Ausbildung am Prager Konservatorium und etlichen anderen Stationen am Nationaltheater der Stadt debütiert.

Prag erwies sich als Sprungbrett in internationalen Musikzentren. Für die letzte von drei Vorstellungen der Walküre, mit der 1967 die Salzburger Osterfestspiele ins Leben gerufen wurden, holte Herbert von Karajan die Kniplová als Brünnhilde. Bei der Reprise im folgenden Jahr war sie auch dabei. 1968 ging sie als Brünnhilde zudem ins Studio. Hans Swarovsky nahm den kompletten Ring des Nibelungen auf. Das Orchester setzte sich aus Mitgliedern der Tschechischen Philharmonie und des Orchesters des Prager Nationaltheaters zusammen. Zuletzt war dieser Ring bei Hänssler neu herausgegeben worden. Sammler schätzen die Klarheit und technische Prägnanz, mit der die Stimmen eingefangen wurden. Im Falle der Kniplová und auch des Siegfrieds von Gerald McKee treten dadurch die in der sprachlichen Gestaltung liegenden stimmlichen Defizite umso deutlicher hervor. Den zweiten Ring mit Nadezda Kniplová als Brünnhilde nahm Wolfgang Sawallisch ebenfalls 1968 bei der RAI in Rom auf. Er wurde von Myto veröffentlicht. Ihr messerscharfes, unliebenswürdiges Timbre war Geschmackssache. Man hörte sie immer heraus.

Berühmt wurde die Sopranistin aber auch durch Partien in ihrer Muttersprache. Im vom Charles Mackerras dirigierten Zyklus von Janácek-Opern bei der Decca ist sie die Kabanicha in der Katja Kabanova. Bei der EMI und bei Supraphon entstanden im Abstand von zehn Jahren, nämlich 1968 und 1978, weitere Einspielungen der Jenufa. Beide Male singt sie die Kostelnicka. Prominent besetzt ist sie bei Einspielungen der Smetana-Opern Dalibor (Milada) und Libuse (Titelrolle) in Prag. Im Katalog von Supraphon finden sich zudem das War Requiem von Britten und einige Solo-Recitals mit den Wesendonck-Liedern und dem separat eingespieltem Schlussgesang der Brünnhilde aus der Götterdämmerung. Am 14. Januar 2020 starb Nadezda Kniplová, die nach ihrem Bühnenabschied als Gesangspädagogin wirkte, im Alter von 87 Jahren in ihrer Geburtsstadt. R.W.

Klassenkampf und Goldrausch

 

Dass Hanns Eisler (1898-1962), der landläufig vermutlich berühmteste DDR-Komponist, zeitlebens österreichischer Staatsbürger war, obwohl ihm gerade in Wien viel Ablehnung entgegengebracht wurde, darf gleichsam als bezeichnend gelten für diesen bedeutenden und widersprüchlichen Künstler, dem die DDR ihre Nationalhymne verdankte. Soweit ging Eislers Bekenntnis zum neuen ostdeutschen Staatssozialismus offenbar nicht, sich formal um die dortige Staatsbürgerschaft zu bemühen. Obwohl in Leipzig geboren, verlebte er seine Jugend in Wien. Und doch sollte ihn am Ende seines Lebens doch gerade die Verbindung nach Leipzig neuerlich beschäftigen. 1959 gab nämlich das dortige Gewandhausorchester die nun von Capriccio (C5368) vorgelegte Leipziger Sinfonie in Auftrag, vor deren Fertigstellung der Komponist freilich starb. Erst 1998, anlässlich des 100. Geburtstages Eislers, wurde das Werk von seinem Komponistenkollegen Tilo Medek (1940-2006) vervollständigt und am 8. Oktober 1998 im Leipziger Gewandhaus uraufgeführt. Es sollten weitere zwei Jahrzehnte ins Land gehen, ehe 2018 die Weltersteinspielung dieser Leipziger Sinfonie – beinahe zwangsläufig in Leipzig – zustande kam. Das MDR-Sinfonieorchester Leipzig unter der Leitung von Jürgen Bruns liefert eine makellose Darbietung der schroffen Tonsprache. Im Grunde genommen besteht das Werk aus Montagen von Eislers Filmmusiken aus den 1950er Jahren, die in der frühen DDR zustande kamen. Einzig der erste Satz stammt noch gänzlich aus Eislers eigener Feder; den Schlusssatz musste Medek sogar vollständig selbst rekonstruieren. Dazu bediente er sich, um Authentizität bemüht, des reichhaltigen von Eisler hinterlassenen Œuvre. Obwohl bekennender Kommunist, wusste auch Hanns Eisler selber nicht so recht, wieso er diese Sinfonie überhaupt schrieb, wie aus einer Äußerung kurz vor seinem Ableben 1962 bekannt ist. Das kaum zwanzigminütige Stück besteht gleichwohl ganz klassisch aus vier Sätzen. Für das Finale bediente sich Medek des 1957 entstandenen Linken Marsches, diesen freilich leicht verfremdend, um es nicht zur glorifizierenden Apotheose des Sozialismus verkommen zu lassen. Obwohl es sich also um eine Rekonstruktion handelt, darf man in gewisser Weise vom musikalischen Testament Eislers sprechen.

Die neun Sätze umfassenden Trauerstücke aus Filmpartituren von 1961/62 wurden für diese Einspielung von Jürgen Bruns und Tobias Faßhauer 2015 arrangiert und wiederum mit dem MDR-Sinfonieorchester eingespielt. Grundlage war wiederum Filmmusik der heute praktisch vergessenen Filme Aktion J und Esther. Ihre genuine Herkunft kann diese fragmentarisch anmutende Musik schwer verleugnen, ist das längste Stück doch gerade zweieinhalb Minuten lang. Sie bedarf für ihre volle, vom Komponisten beabsichtigte Wirkung wohl tatsächlich des filmischen Kontexts – eine gewisse grundsätzliche Problematik bei einer isolierten Aufführung von Filmmusik außerhalb des Lichtspielhauses.

Von ihren Dimensionen her am ausgedehntesten dann die halbstündige Filmmusik zum preisgekrönten französischen Dokumentarfilm Nuit et Brouilliard (Nacht und Nebel) von Alain Resnais (1956). Die verstörende Dokumentation behandelt die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau ein Jahrzehnt zuvor. Die vorliegende Aufnahme wurde 2015 mit dem Kammersymphonie Berlin, wiederum unter Bruns, im Berliner Konzerthaus eingespielt. Diese Partitur hat nun den Vorteil, dass sie noch ohne Einschränkungen vollständig der Hand Eislers entstammt, daher auch weniger zusammengeschustert daherkommt und interessanterweise auch ohne den Film ihre Wirkung entfaltet. Bereits für diese Filmmusik bediente er sich teilweise einer vorherigen Komposition, nämlich seiner eigenen Schauspielmusik für Johannes R. Bechers 1953 entstandene Tragödie Winterschlacht um die Schlacht von Moskau im Zweiten Weltkrieg. Die Musik, bestehend aus 13 Sätzen, ist, dem furchtbaren Sujet angemessen, grimmig, eindringlich und perfekt abgestimmt auf die Filmsequenzen in Schwarzweiß (das KZ Auschwitz unmittelbar nach der Befreiung 1945) und Farbe (das zerfallende KZ Auschwitz 1955). Sie steht qualitativ den in dieser Ära entstandenen Werken von Prokofjew und Schostakowitsch in nichts nach. Mit einigem Recht darf Nacht und Nebel als das Hauptwerk auf dieser CD gelten. Eine in allen Aspekten formidabel geglückte und wichtige Ergänzung nicht nur für Eisler-Enthusiasten, die außerdem hervorragend klingt. Daniel Hauser

 

Das fängt nicht gut an: Auf dem Cover dieser Neuerscheinung ist ein Gemälde zu sehen, das 1929 entstand. Gemalt hat es Otto Griebel und nicht Giebel – wie es im Copyright-Hinweis im Innern des Booklets schwarz auf weiß heißt. So ein Fehler, gewiss nicht mehr als ein harmloser Vertipper, macht stutzig. Wird denn alles andere stimmen? „Internationale“ hat Griebel sein Gemälde genannt, das zum Bestand des Deutschen Historischen Museums Berlin gehört. Der Maler wurde 1895 im sächsischen Meerane geboren und starb 1972 in Dresden. Stilistisch wird er der Neuen Sachlichkeit zugerechnet. Einerseits gibt das Bild eine Vorstellung von Arbeitern als Masse. Andererseits löst sich diese Masse in individuellen Figuren auf. Masse erscheint nicht als gesichtslose Ansammlung von Personen einer bestimmten sozialen Gruppierung, sondern bildet die Summe von einzelnen Menschen mit hochindividuellen Gesichtern. Im Original ist das Bild fast zwei Meter breit und lässt eine ungleich stärkere Wirkung zu als in dieser geschrumpften Form.

Was Griebel gemalt hat, setzte Hanns Eisler in Töne. Wenigstens auf dieser CD, bei der es sich um Vol. 1 einer neuen Edition der Lieder dieses Komponisten handelt, erschienen bei MDG (613 2001-2). Eisler, so ist im sehr lesenswerten Text des Booklets von Steffen Schleiermacher, dem Pianisten der Produktion, zu lesen, dürfte an die fünfhundert Lieder komponiert haben, die einschlägigen Nummern aus Bühnen- und Filmmusiken mit eingerechnet. „Bei dieser auf vier CDs konzipierten Sammlung kann es also nicht um das gesamte Liedschaffen des Komponisten gehen, sondern um eine möglichst repräsentative Auswahl der klavierbegleiteten Lieder“, heißt es. Die meisten Kompositionen folgen Texten von Bertolt Brecht, mit dem Eisler eng zusammengearbeitet hat. Eine Ausnahme bildet gleich als Auftakt das „Bankenlied“ von Jean Baptiste Clement (1836 – 1903), einem französischen Sänger, der sich sozialistischen Ideen verschrieben hatte. Walter Mehring hat den Text ins Deutsche übertragen. Komponiert wurde es für Ernst Busch, der es schneidend und anklagend vorgetragen hat in diversen Einspielungen. Schleiermacher verweist auf den aktuellen Bezug, der sich derzeit allerdings am ehesten in Parteitagsreden der Linken findet. Holger Falk, der Sänger der Lieder, betont in seinem Vortrag gemeinsam mit seinem Pianisten die rasanten musikalischen Strukturen, den Einfallsreichtum und weniger die klassenkämpferische Absicht. Das ist so auch bei den anderen Liedern zu beobachten, mit denen es politisch heftig zur Sache geht. Damit setzt sich der Bariton von althergebrachten Interpretationen deutlich ab. Es ist, als würden diese Gesänge salonfähig und ihre Duftmarke aus Arbeiterschweiß abgeschüttelt. Das Publikum hört hin und lässt sich einen guten Wein dazu einschenken. Anders sind diese historischen Gesänge so kompakt wohl kaum zu ertragen.

 

Hanns EislerKalifornische Ballade: Wer sich auf diese CD einlässt, wird mit einem spannenden Kapitel Zeitgeschichte konfrontiert. Erschienen ist sie bei Berlin Classics (0300933BC). Bei der Ballade handelt es sich um eine Rundfunkerzählung, 1932 in Berlin begonnen, 1934 im Londoner Exil fertiggestellt. Der Kommunist und Jude Eisler hatte sich nach der Machtergreifung Hitlers vor der Verfolgung durch Flucht in Sicherheit bringen müssen. Die Dramatik der historischen Umstände dieses Werkes spitzte sich nochmals dadurch zu, dass der mit Eisler befreundete Textdichter, der Schriftsteller Ernst Ottwalt, 1936 in Moskau verhaftet und in ein sibirisches Lager verschleppt wurde, wo er 1943 umgekommen ist. Eine Oper stalinistischen Terrors – alles nachzulesen im so ausführlichen wie informativen Text im Booklets von Peter Deeg und Jürgen Schebera.

Erstmals wurde das Stück beim Rundfunk in Brüssel in flämischer Sprache ausgestrahlt, gesungen von Ernst Busch, der ebenfalls ins Exil gegangen war. Die lange Zeit als verschollenen gegoltene Aufnahme auf Lackfolienplatten ist erst kürzlich aufgespürt worden. Sie findet sich auf der CD gemeinsam mit einer Produktion in Originalsprache, die 1968 beim DDR-Rundfunk entstanden ist. Diesmal ist Hermann Hähnel der Solist. Beide sind sich nicht unähnlich in Timbre und Ausstrahlung. Sie verkörpern einen Typ, wie er Eisler vorgeschwebt haben mag für seine Komposition, die sich dem neuen Medium Rundfunk zuwendet und mit althergebrachten bürgerlichen Kunstformen bricht. Busch ist noch schärfer im Ton und pointierter im Ausdruck als Hähnel. Er verfügt über ein breiteres Gestaltungsspektrum.

Thematisiert wird die Lebensgeschichte des umstrittenen Ländereibesitzers Johann August Suter, der 1834 aus der Schweiz nach Amerika ausgewandert war und als „Kaiser von Kalifornien“ zu zweifelhaftem Ruhm kam. Als auf seinem Boden Gold entdeckt wurde, löste das den sagenhaften Goldrausch aus, dem Suter, der auch Sklaven hielt, selbst mit eigenen Soldaten nicht mehr Herr werden konnte. Er verlor seinen Besitz und starb 1880 völlig verarmt in Washington. Eine Geschichte, die Schriftsteller und Regisseure in ihren Bann zog. Eisler und Ottwalt nutzten sie für eine scharfe Kapitalismus-Kritik. Ergänzt wird das Programm der neuen CD mit Ausschnitten aus diversen Bühnen- und Filmmusiken, darunter Die letzte Nacht (1929/1930), Kamrad Kasper (1932) und Draw the Fires, die englische Fassung des Theaterstücks „Feuer aus den Kesseln“ von Ernst Toller. Vier Lieder für Arbeitermütter, die 1932 entstanden, das Lied „Die Spaziergänge“ aus dem Film Kuhle Wampe von 1932, der „Fallada“-Song aus der Märchenrevue Es war einmal singt Gisela May. Die im Dezember des vergangenen Jahres verstorbene Sängerin war 1957 von Hanns Eisler entdeckt und gefördert worden. Barbara Ranke