Emphase bei Max Lorenz

 

Also doch! Seit langem kursierte in Sammlerkreisen das Gerücht, dass sich ein kompletter dritter Aufzug von Richard Wagners Tristan und Isolde unter der Leitung von Hans Knappertsbusch, mitgeschnitten 1947 in Zürich, erhalten habe. Einige Szenen, auch aus dem ersten Aufzug, waren immer mal wieder aufgetaucht. Sogar auf einer LP beim Label Anna. Nun die Gewissheit. Der Schlussakt ist bei Weitblick veröffentlicht worden (SSS0227-2). Klangtechnische Wunder sind nicht zu erwarten, dafür künstlerische. Dem Mitschnitt des Schweizer Rundfunks ist sein Alter anzuhören. Wenn es aber darauf ankommt, erhebt sich die Musik über schnödes Bandmaterial. Und am Ende habe ich mich gefragt, Stereo, was ist das eigentlich? Noch hat auch das fortschrittlichste Aufnahmeverfahren keinen Tristan wie Max Lorenz, der in dieser Aufnahme singt, hervorgebracht. Gut, es gibt viele solide bis ausgezeichnete Rollenvertreter, solche, die auch noch leben – und auftreten. Die genauer und immer auf den Noten singen. Und die auch völlig zu Recht gefeiert werden von ihren Fans.

Doch die Emphase, die Lorenz vorlegt, dieses sich aufzehren in der Figur, dieses eins werden, dieses Leiden mit und an Tristan – das ist verloren gegangen. Nicht nur das. Lorenz überzeugt auch deshalb noch immer, weil ihm der Text geradezu heilig ist. Während er einzelne Töne schon mal sehr frei in Angriff nimmt, hält er sich immer sklavisch ans Wort. Da rutsch ihm nichts durch. Er mutet seinem Publikum kein Textbuch – heute wäre es ein Laufband am oberen Bühnenrand – zu. Bei ihm versteht man jeden Buchstaben und jedes Wort. Man könnte locker mitschreiben. Wagner verwendet bekanntlich eine üppige Interpunktion in seinen selbst verfassten Textbüchern. Diese dient letztlich der genauen Aussprache und der Aktion. Gerade im Tristan wimmelt es nur so davon. Es vergeht kaum eine Zeile, in der sich kein Apostroph findet. Es gibt die mit Anführungs- und Abführungszeichen versehene wörtliche Rede. Auf einen Doppelpunkt kann auch schon mal ein Gedankenstrich folgen und so weiter. Ich habe mir dann doch ein Textbuch gegriffen, um festzustellen, dass Lorenz mit dieser höchst individuellen sprachlichen Zeichengebung souverän und penibel zugleich umgeht.

Es handelt sich bei diesem ungekürzten dritten Aufzug um den Mitschnitt aus einer Bühnenaufführung vom 5. Juni im Züricher Stadttheater im Rahmen von Festspielen, die nach wie vor in diesem Monat stattfinden. Daraus erklärt sich auch die luxuriöse Besetzung. Knappertsbusch sorgte für den großen, in seiner Spannung nie nachlassenden Zusammenhalt und blieb seiner Neigung treu, bestimmte Details atemberaubend und leicht selbstverliebt auszumalen. Die Isolde wurde von Kirsten Flagstad gesungen, die nach Kriegsende international an die großen Erfolge in den dreißiger und vierziger Jahren anschließen konnte. Ihre Stimme hatte nichts von der majestätischen Ausstrahlung eingebüßt. Für die aus der Schweiz stammende Mezzosopranistin Elsa Cavelti ist die Brangäne ein Heimspiel gewesen. Der stimmgewaltige Bulgare Lubomir Vischegonow gab den König Marke. Wie Andreas Boehm, der als Kurwenal besetzt war, gehörte er zum Opernensemble in Zürich, wechselte aber ein Jahr später an die Metropolitan Opera in New York. Rüdiger Winter