Reichas „Lenore“

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Lenore fährt aus dem Schlaf empor. „Bist untreu Wilhelm oder tot?“ Preußen und Österreich haben ihre verlustreiche Schlacht um Prag beendet. Doch der Verlobte kehrt nicht zurück. Er ist gefallen. Die verzweifelte Braut hadert. „Bei Gott ist kein Erbarmen“, ruft sie aus. Was half das Beten? „Kein Sakrament mag Leben den Toten wiedergeben.“ Bei den Worten der Tochter ergreift die Mutter angstvolles Schauern. Sie weiß, dass Gotteslästerung in die Hölle führt. Und Wilhelm? Der erscheint schließlich als Toter, zerrt Lenore auf seinen Rappen und reitet mit ihr durch die gespenstische Nacht direkt in sein Grab. Die Prager Schlacht – die zweite im Siebenjährigen Krieg – fand am 6. Mai 1757 statt. Die Ballade Lenore von Christoph August Bürger, die sich direkt darauf bezieht, entstand allerdings erst 1773. Ungeachtet dessen kann getrost von einem Stück zeitgenössischer Gegenwartsliteratur gesprochen werden, das noch lange nach seinem Entstehen enormes Aufsehen erregte. Blasphemie ist bis in die Gegenwart ein heißes Eisen geblieben und kann unter bestimmten Umständen noch immer auch juristische Folgen haben. Lenore wird mit dem Tode bestraft. Nicht durch ein irdisches Gericht. Schlimmer noch. Ohne Gottes Segen sinkt sie in die Erde.

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Antonín Reicha hat die Ballade zur Kantate für drei Solisten – das sind Lenore, die Mutter, Wilhelm – einen Erzähler, Chor und Orchester verarbeitet. Sie besteht aus zwei Teilen und wird mit einer großen Ouvertüre eingeleitet, die an die zehn Minuten beansprucht und mehr sinfonische Dichtung denn Vorspiel ist. Darin offenbaren sich das Können Reichas, sein Einfallsreichtum und seine Kompositionstechnik. Eine Aufnahme, die 2001 in Prag entstand, wurde jetzt von Orfeo erneut aufgelegt (MP1903). Dafür gibt es einen gewichtigen Anlass. Am 26. Februar 1770 wurde Reicha in Prag geboren. Damit ist er neben Ludwig van Beethoven der zweite Komponist, dessen 250. Geburtstages in diesem Jahr gedacht wird. Im Gegensatz zu jenem wurde um Reicha bisher kaum Aufhebens gemacht. Lediglich aus Brno ist eine Aufführung der Kantate bekannt worden. In Reichas Biographie gibt es sogar einen sehr direkten Bezug zu Beethoven. Beide kannten sich gut und hielten Freundschaft. 1785 war Reicha nach Bonn gekommen und spielte in der Kurfürstlichen Hofkapelle die zweite Flöte, während Beethoven Bratschist gewesen ist. Nachdem das Orchester aufgelöst wurde, ließ sich Reicha als Musiklehrer in Hamburg, später in Wien nieder und übersiedelte schließlich 1808 nach Paris. Dort fand er bereits nach einem Jahr eine dauerhafte Anstellung am Konservatorium und trat 1818 die Nachfolge von Étienne Nicolas Méhul als Professor für Komposition an. Namhafte Komponisten gingen durch seine Schule, darunter Franz Liszt, Hector Berlioz, Charles Gounod, César Franck und Friedrich von Flotow. Reicha selbst hinterließ ein reiches eigenes Werk aus Sinfonien, Konzerte und Messen. Zahlenmäßig den größten Posten bildet die Kammermusik. Sie ist auch am häufigsten auf Tonträgern anzutreffen. Viele Produktionen sind tschechischer Herkunft. Für die Tschechen ist Reicha einer der Ihren, was sich auch in der Namensnennung niederschlägt. Bei ihnen wird er Antonín Rejcha geschrieben, während er im deutschsprachigen Raum Anton und in Frankreich Antoine-Joseph Reicha heißt. Bei der Suche nach Schallplatten, CDs und Literatur sollte dies in Betracht gezogen werden. Zurück zu seiner Lenore.

Antonín Reicha wurde mm 26. Februar 1770 in Prag geboren. Damit ist er neben Beethoven der zweite Komponist, dessen 250. Geburtstages in diesem Jahr gedacht wird. 1825 entstand dieses Porträt. Foto: Wikipedia

Im Booklet schreibt Rainer Aschemeier: „Zu Reichas Zeit war Bürgers Ballade ein literarischer ,Smash Hit‘ – in ganz Europa, teils als Raubdruck auf Flugblättern weit verbreitet. Sie galt noch bis ins 20. Jh. als eines der bekanntesten epischen Gedichte deutscher Sprache, gerät heute leider aber zunehmend in Vergessenheit.“ In seiner Darstellung durch Bürger scheint ihr Thema trotz bemerkenswerter Erzählperspektive obsolet. Die Ballade ist kein historisierendes Werk. Im Mittelpunkt stehen nicht die herrschenden Majestäten und ihre politischen Ambitionen. Dargestellt finden sich die Folgen des Krieges für Lenore, das Mädchen aus dem Volke, das den Verlust des Mannes, dem sie versprochen ist, nicht als Helentod für das Vaterland empfinden kann. Ihr Leben hat ohne ihn keinen Sinn mehr. Mit der Eins-zu-eins-Vertonung konnte die Ballade offenbar auch nicht auf Dauer gerettet werden, wenngleich Reicha musikalische Akzente setzt, die über die Intentionen des Dichters hinausgehen. Es würde sich also durchaus lohnen, der Kantate mehr Aufmerksamkeit zu widmet, sie wenigstens hin und wieder öffentlich zu geben.

Die auch von HR2 Kultur als Europakonzert übertragene Aufführung im Februar in Brno wurde vom Tschechischen Philharmonischer Chor und dem Philharmonischen Orchester der Stadt unter der Leitung von Dennis Russell Davies bestritten. Dramatisch wirkungsvoll aufgeladen, litt die rasante Darbietung nach meinem Eindruck für die deutschsprachigen Hörer unter der eingeschränkten Wortverständlichkeit. Wer gnädig darüber hinweghörte und seine Bürger-Ausgabe mit den Text zur Hand hatte, machte die Bekanntschaft mit einem gewaltigen Werk, das kühn den Rahmen der traditionellen Kantate sprengt und rasante opernhafte Züge annimmt. Im Vergleich dazu geht Frieder Bernius, der Dirigent der Orfeo-Einspielung das Werk diskreter, teils gar sanfter an. Er kommt von der Kirchenmusik und fühlt sich der historischen Aufführungspraxis verpflichtet. Als Orchester stehen im die Virtuosi di Praga zur Verfügung, die gleich dem ebenfalls mitwirkenden Prague Chamber Choir erst 1990 und damit gut zehn Jahre vor der Aufnahme geründet wurden. Beides sind keine traditionellen sinfonischen Ensembles wie die Klangkörper in Brno, was den Intentionen von Bernius entgegen kommt. Für mich besteht kein Zweifel, dass Lenore bei Reicha an der Seite ihres Wilhelms doch noch Ruhe und Frieden findet. Eindeutig und unmissverständlich ist die Musik bei dem Paar, wenngleich die Geister bis zum Schluss wild und drohend mahnen: „Mit Gott im Himmel hadre nicht!“ Die Grablegung wird zum Requiem.

Obwohl keine Muttersprachler unter den Mitwirklenden sind, kommt der deutsche Balladentext sehr gut zur Geltung und macht Lust, sich ihn wieder genauer zuzuwenden. Die wichtige Aufgabe des Erzählers, der quasi durch die Handlung führt, wurde dem amerikanischen Tenor Corby Welch übertragen, der seinerzeit noch lyrischen Partien sang, inzwischen vornehmlich im Wagner-Fach unterwegs ist. Camilla Nylund bringt für die furchtlose und selbstbewusste Lenore alle Voraussetzungen mit, während die Mutter von Pavia Vykopalova in ihren Mahnungen, Vorhaltungen und düsteren Ahnungen dunkler und besorgter klingen und sich stimmlich deutlicher absetzten könnte. Noch bevor Orfeo die Lenore einspielte, entstand 1986 eine Aufnahme beim tschechischen Label Supraphon. Mit Magdalena Hajossyova als Lenore und Venceslava Hruba-Freiberger als Mutter wirken zwei Sängerinnen mit, die auch in Deutschland, vornehmlich in der DDR sehr bekannt und geschätzt waren. Der Tschechischer Philharmonischer Chor und das Prager Kammerorchester wurden von Lubomir Matl geleitet. Zuletzt ist diese Lenore 2000 aufgelegt worden und zumindest antiquarisch noch immer zu haben.

Der Dichter Gottfried August Bürger auf einem Gemälde von Johann Heinrich Tischbein dem Jüngeren, das 1771 entstanden ist. Foto: Wikipedia

Von dem literarischen Stoff fühlten sich auch andere Komponisten angezogen. Franz Liszt schrieb 1857 sein erstes Melodram nach der Ballade von August Bürger, das bei Hyperion herausgekommen ist, wobei der Pianist Leslie Howard den Schauspieler Wolf Kahler begleitet. Wie nicht anders zu erwarten, hat auch Dietrich Fischer-Dieskau eine Einspielung mit Burkhard Kehring bei der Deutschen Grammophon hinterlassen, die von seinem bemerkenswerten Können als Vortragskünstler zeugt. Ich kann mich nicht satt daran hören. Vollständige vertont wurde die Dichtung von Johann Friedrich Reichardt. Eine Aufnahme findet sich bei YouTube mit der Altistin Käthe Röscke, einer renommierten Oratoriensängerin, die mir in ganz jungen Jahren Johann Sebastian Bach bei Konzerten in der Jenaer Stadtkirche nahe brachte. Aufgenommen das an die achtzehn Minuten lange Stück 1972 im Händelhaus Halle. Joachim Raff setzte sich 1872 musikalisch in seiner 5. Sinfonie mit der Geschichte auseinander und Henri Duparc komponierte 1875 die sinfonische Dichtung Lénore. Den italienischen Komponisten Antonio Smareglia inspirierte die Ballade im Jahre 1876 zu dem Opus Leonora, sinfonia descrittiva. Carl Loewe berichtet in seiner autobiographischen Skizze davon, dass die Ballade in seinem Elternhaus in Löbejün geschätzt und regelmäßig laut gelesen wurde. Vertont hat er sie allerdings nicht, was ich als sehr schade empfinde. Gewiss hätte er ein Meisterwerk zustande gebracht. Das für die Beschäftigung mit dem Liedgesang so unerlässliche wie unerschöpfliche The LiederNet Archive im Internet listet noch viel mehr Komponisten auf, darunter Johann André (1741-1799), Friedrich Ludwig Emelius Kunzen (1761-1817), die Österreicherin Maria Theresia von Paradis (1759-1824), die in Wien enge Kontakte zu Joseph Haydn und Mozart unterschielt. Von Kindheit an blind trat sie bei Gastspielreisen vor dem französischen König Ludwig XVI. und seiner Gemahlin Marie Antoinette sowie vor König Georg III. in London auf. Nebenbei widmete sie sich der Komposition von Liedern, Kantaten, Opern und Orchesterstücken. Der aus Böhmen stammende Vaclav Krtitel Tomasek (1774-1850) hörte Beethoven als Pianist in Prag und besuchte ihn später auch in Wien. Auch sein Nachlass umfasst alle Genres, einschließlich einer Lenore. Johann Rudolf Zumsteeg war ein Jugendfreund von Friedrich Schiller, den er auch der Karlsschule kennengelernt hatte. Sein Lebensmittelpunkt war Stuttgart. Außer Opern hinterließ er vor allem Balladen. In der Literatur findet sich Lenore bei Edgar Allen Poe. Ihren Namen gab er der toten Geliebten in seinem Gedicht „Der Rabe“. Auch den bildenden Künstlern hat Bürger mit seiner Lenore ein packendes Thema beschert. Wie bei Wikipedia zu erfahren ist, versuchten sich achtzig 80 Künstler – Maler wie Bildhauer – an dem Stoff. Rüdiger Winter

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Vorausgeschickt wird auf der CD die Leonoren-Ouvertüre Nr. 2, ungestüm wie die Egmont-Musik und das Florestan-Thema fein auskostend gespielt vom Philharmonischen Staatsorchester Hamburg unter der Leitung von Gerd AlbrechtDie Egmont-Tragödie aus Hollands finsterster Zeit beginnt zwar wie ein Trauermarsch, endet aber mit einer mitreißenden Steigerung wie der vorweggenommene endgültige Triumph des tapferen Geusenvolks, den sein Anführer nicht mehr erleben durfte. Klärchen ist in der Aufnahme Ruth Ziesak mit zartem Sopran, der voll kindlichen Übermuts das Volksliedhafte von „Die Trommel gerührt“ betont. „Freudvoll und leidvoll“ wird sehr innig, sich in einen Taumel hineinsteigernd gesungen. Noch an der guten alten Sprachkultur orientiert ist Ulrich Tukur, der die Texte spricht. Wundervoll intensiv zeichnen die Zwischenaktmusiken die Stimmung des jeweiligen Abschnitts der Tragödie nach, die 4. mit einer schaudern machenden Ahnung des bevorstehenden Todes. Nicht nur, weil auf dem Markt wenig vertreten, verdienen es die Werke, besonders in dieser Ausführung, wieder dem Publikum vorgestellt zu werden (Orfeo MP 1903). Ingrid Wanja  

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Die Abbildung oben zeigt einen Ausschnitt aus der  Illustration der Historienmalers und Grafikers Franz Kirchbach von 1896 zur Ballade „Lenore“ von August Bürger. Foto: Wikipedia; weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

  1. Carlos Solare

    Es gibt ebenfalls eine interessante Vertonung des Lenore-Stoffes als Oper, wobei das Libretto einige wörtliche Zitate aus der Bürger-Ballade enthält (meist bei den Passagen in direkter Rede). Die nicht uninteressante Musik stammt vom Grazer Schubert-Freund Anselm Hüttenbrenner, ist allerdings bislang weder gedruckt noch aufgeführt worden (mindestens nicht in unserer Zeit).

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