Drei neue Alben haben eines gemeinsam – die Mitwirkungen des Tenors Benedikt Kristjánsson. Gleich zweifach wurde die Johannespassion von Johann Sebastian Bach vorgelegt, dazu der Messiah von Georg Friedrich Händel. In jedem einzelnen Fall handelt es sich um ganz spezielle Editionen. Die Johannespassion für Tenor allein, Cembalo, Orgel und Schlagwerk erschien bei Podium Records (Bezug nur direkt unter der Adresse shop@podium-esslingen.de), in der zweiten Fassung kam die Johannespassion bei Coviello Classics heraus (COV 92007), während der Messiah in der Dublin Version bei Accentus Music (ACC 30499) veröffentlicht wurde. Die Solo-Passion ist ein Mitschnitt im Rahmen des Podium-Festivals Esslingen von 2019, wo sie auch erarbeitet wurde. Kristjánsson war damit durch mehrere Städte getourt und hatte auch in Berlin Station gemacht – in der alternativen Veranstaltungsstätte Radialsystem, einem ausgedienten Abwasserpumpwerk im Szenebezirk Friedrichshain.
„Herr, unser Herrscher, dessen Ruhm in allen Landen herrlich ist.“ Der Bach-erfahrene junge Sänger beginnt tatsächlich mit dem Eingangschor – für Tenor allein, begleitet von Elina Albach an Cembalo und Orgel sowie von Philipp Lamprecht am aufwändigen Schlagwerk. Da kein Rezitativ gestrichen wurde, geraten die wortreichen Berichte der Passionsgeschichte zur Quintessenz des Werkes. Sie sind die Stärken des Sängers, der aus Island stammt und des Deutschen so mächtig ist, dass kein einziger Buchstabe des Bibeltextes verloren geht. Sie „führeten … Jesum“ vor das Richthaus, Pilatus „hörete“ das Wort und „satzte“ die Überschrift auf das Kreuz, der Rock war „gewürket“, die Mutter „stund“ bei dem Kreuz, in dessen Nähe sich ein „Garte“ befand – und so weiter. Es ist, als würde Kristjánsson mit seinem Vortrag Exegese betreiben. Er singt wie zum Mitschreiben. Klar, hell, höhensicher und ohne die geringste Ermüdungserscheinung – fast unterbrochen mehr als achtzig Minuten lang. Er brauchte – zumindest bei der Vorstellung in Berlin – keine Noten, keinen Spickzettel und auch keinen Schluck aus der Wasserflasche, wie er sich im Konzertleben leider eingebürgert hat. Diese Meisterschaft im Umgang mit dem Wort ist denn auch die Voraussetzung für das Gelingen dieser pausenlosen Produktion.
Verzichtet wird auf etliche Arien, auf die man bei jeder Aufführung wartet. Das ist natürlich bitter. Auch die beiden Tenorarien „Ach, mein Sinn“ und „Erwäge, wie sein blutgefärbter Rücken“ sind weggelassen. Dafür singt Kristjánsson die gewöhnlich dem Sopran vorbehaltene Arie „Ich folge dir gleichfalls“ mit allen Wiederholungen, auch das Bass-Arioso „Betrachte, meine Seel, mit ängstlichem Vergnügen“ und die Bassarie „Mein teurer Heiland“, bei denen er in der Tiefe etwas in Bedrängnis gerät, die Altarie „Es ist vollbracht“ und das Tenor-Arioso „Mein Herz, in dem die ganze Welt“. Letztlich bleibt die Auswahl etwas rätselhaft. Nach alter Tradition wird das Publikum zur Gemeinde und ist angehalten, die Choräle zu singen. In Berlin lagen dafür Notenblätter mit den Texten aus. Zu Bachs Zeiten dürfte das nicht nötig gewesen sein. Dabei übernimmt Kristjánsson die Rolle des Vorsängers und Dirigenten. Tatsächlich wird auch auf dem Mitschnitt kräftig eingestimmt. Nur einmal, nämlich bei dem Choral „Christus, der uns selig macht“ tritt für die Singstimmen das Schlagwerk ein, was in seiner Unverhofftheit große Wirkung hat. Hörer, die sich mit der Johannespassion ein wenig auskennen, dürften sie in jedem Moment wiederfinden. Selbst dann, wenn kurze Choreinwürfe vom Solisten als Melodram vorgetragen werden. Die Bearbeitung erweist sich dem Original gegenüber als äußerst respektvoll. Für die schrillen Kreuzigungsrufe des Chores wird eine sehr eindrückliche Lösung gewählt, die man natürlich nur sehen und von einer CD nicht hören kann. Kristjánsson bewegte dabei nur tonlos die Lippen – als sollte das Unaussprechliche auch unausgesprochen bleiben. In den solistischen Schlusschor stimmen die Cembalistin und der Schlagzeuger, die durch ihr Können und ihre Virtuosität vergessen lassen, dass gewöhnlich ein Orchester begleitet, mit ein.
Zu einer Entdeckung gerät auch die Johannespassion, die Johann Sebastian Bach Karfreitag 1725, ein Jahr nach der Uraufführung der ersten Fassung aus gleichem Anlass wiederum in Leipzig aufführte. Als Grund für die Bearbeitung wird angenommen, dass nicht an zwei aufeinanderfolgen Jahren mit identischen Werken aufgewartet werden sollte. So betreffen denn auch die auffälligensten Änderungen die Chöre zu Beginn und zum Schluss. Der neue Eingangschor „O Mensch, bewein dein Süde groß“, klingt nicht mehr so erhaben und ausladend. „In ihrem intimeren Tonfall schien uns die zweite Fassung der Johannespassion ideal für eine Aufführung und eine Aufnahme, die ohne Dirigenten ganz aus dem Innenleben der musikalischen Linien heraus gesteuert wird, aus dem Hören aufeinander, im Geben und Nehmen spontaner Ideen“, so der Organist Peter Uehling im Booklet. Er ist Mitbegründer des Ensembles Wunderkammer, das die Produktion mit zwölf Instrumentalisten musikalisch bestreitet. Was Uehling beschreibt, teilt sich denn auch überzeugend mit. Noch ist die Wirkung auf das Publikum das beste Argument für das Gelingen einer Aufnahme. Sie klingt sehr durchsichtig – fast zerbrechlich. Selbst eine dezente Laustärke am heimischen Abspielgerät bedeutet nicht die geringste Einschränkung. Im Gegenteil. Die Intimität der Einspielung wird dadurch nach meiner Erfahrung noch zusätzlich betont.
Es gibt keinen klassischen Chor. Seine großen Aufgaben in der Passion sind dem Solistenensemble AElbgut übertragen, das 2018 gegründet wurde. Es setzt sich aus Isabel Schicketanz (Sopran), Stefan Kunath (Alt), Florian Sievers und Tobias Mäthger (Tenor) sowie Martin Schicketanz (Bass) zusammen. Alle haben sie eine gründliche musikalische Ausbildung absolviert und sich der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts verschrieben. Sie vollbringen den Spagat, dass zwischen ihren solistischen Auftritten und dem Zusammenwirken im Ensemble kein Gegensatz aufkommt. Das geht nur mit Disziplin. Sie wollen dem Werk dienen und sich nicht durch Vereinzelung und Extravaganzen hervortun. Den Jesus singt der Bassist Felix Schwandtke, der um die dreißig sein dürfte. So klingt er auch. Das ist insofern ein Vorteil, weil Jesus uns nicht als salbungsvoller Verkünder entgegen tritt sondern als ein von seiner Mission überzeugter junger Mann, der er der Überlieferung nach auch gewesen ist. Schwandtke ist in seinem Repertoire nicht streng auf Barockmusik festgelegt. An der Semperoper Dresden hat er sogar den Bogdanowitsch in Lehárs Lustiger Witwe gesungen.
Benedikt Kristjánsson tritt diesmal „nur“ als Evangelist in Erscheinung. In Berlin habe ich ihn auch schon in einer klassischen Aufführung der ersten Fassung zusätzlich mit den Arien gehört. Obwohl zart und empfindsam im Ausdruck, ist seine vibratoarme Stimme im Fundament fest und unerschütterlich. Dabei erweckt er nicht den Eindruck, besonders ökonomisch vorgehen zu müssen, hier etwas zu sparen, dafür an anderer Stelle zuzugeben. Kristjánsson ist immer zu hundert Prozent bei der Sache, bis zum letzten Ton. Seine Stärke ist neben dem unverwechselbaren jugendlichen Timbre, die Sicherheit in der Beherrschung der Partie. Er hat sie bis zum Perfektionismus studiert. So gut studiert, dass – wie bei der Johannespassion für Tenor allein – alle Besonderheiten und Eigenwilligkeiten der Lutherischen Sprache bewahrt bleiben. Nichts verwischt oder versinkt im Unbestimmten. Deutlichkeit wird zu dem, was sie sein soll und muss – nämlich Deutung. So ein Ebenmaß ist selten. Er verfügt über eine sehr biegsame Stimme mit festem Sitz. Sein Vortrag ist stilistisch makellos – und tief im Ausdruck, auf den er sich deshalb so konzentrieren kann, weil ihn keine technischen Probleme plagen.
Eine der Stärken von Kristjánsson ist es, aus dem Stand den Ton zu treffen. Das kommt ihm gleich zu Beginn des Messiah zugute, womit die dritte Neuerscheinung folgt. Unmittelbar nach der Symphony ist der Tenor zur Stelle: „Comfort ye, my people.“ Er muss nicht erst hinein finden in die Passage, er ist gleich mittendrin. Mit schier endlosem Atem spannt er die Töne in diesem Accompagnato-Rezitativ zu einem weiten Bogen auf, um anschließen fast nahtlos in die mit Koloraturen gespickte Arie „Ev’ry valley shall be exalted“ überzugehen. Wenn das so perfekt gelingt wie hier, ist eine Aufführung – salopp formuliert – so gut wie gelaufen. Für seine Einspielung mit der Gaechinger Cantorey hat deren Chef Hans-Christoph Rademann die Fassung der Uraufführung gewählt. Noch bevor der Messiah seinen auch von zeitweiligen Misserfolgen in London gesäumten steinigen Siegeszug um die Welt antreten konnte, war er 1742 erstmals in Dublin erklungen. Händel hatte – ganz Profi – das Werk mehrfach den jeweils aktuellen Aufführungsbedingungen angepasst. Eine „definitive“ Fassung gebe es daher nicht, stellt der Musikwissenschaftler Henning Bey im Booklet heraus. Da die Sänger erst nach der Komposition feststanden, habe er Teile für deren individuelle Fähigkeiten eingerichtet. Die Altistin Susanna Cibber, die vor allem für ihrer musikalische Ausdruckskraft bewundert wurde, kannte und schätzte Händel bereits seit ihrer Mitwirkung in der Erstaufführung seines Oratoriums Deborah, ist aus dem Booklet zu erfahren. „Händel dürften daher weniger ihre stimmlichen Qualitäten, sondern mehr ihre außergewöhnlichen gestalterischen Fähigkeiten angesprochen haben.“ Damit erkläre sich der rote Faden ausdrucksstarker Alt-Arien, die sich durch die Erstfassung ziehen.
Der Part ist in der neuen Aufnahme dem Alto Benno Schachtner übertragen. Er entscheidet sich für eine völlig unspektakuläre Darbietung und trägt die Arien stilistisch gradlinig und verinnerlicht vor. Und das ist auch gut so, weil wir nicht einmal erahnen können, wie einst die Cibber gesungen hat. Der Sopran ist Dorothee Mields, eine gesuchte Fachfrau für Barockmusik. Ihre gut gebildete Stimme bereitet durchweg Vergnügen. Schade, dass der Sopran im Werk am wenigsten zu tun. Ich hätte ihr gern länger zugehört. Tobias Berndt, der Bass, kommt aus dem Dresdener Kreuzchor, nahm noch Unterricht bei Dietrich Fischer-Dieskau und hat sich als Konzertsänger im In- und Ausland etabliert. Seine Stimme blüht in der Höhe erst richtig auf, wo es für andere knapp werden kann. Am Pult sorgt der Dirigent Rademann für eine sehr schwungvolle mit prächtigen Blechbläsern versehene Darbietung. Rüdiger Winter
Das Foto oben zeigt Benedikt Kristjánsson während der „Johannespassion für Tenor allein“, die in der Thomaskirche Leipzig produziert und Karfreitag vom Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) gesendet wurde/ Screenshot aus der Sendung. Diesmal war ein Vokalquartett mit Isabel Meyer-Kalis und Julia Sophie Wagner (Sopran), David Erler (Altus), Wolfram Lattke (Tenor) und Gotthold Schwarz (Bass) dabei. Schwarz ist der Thomaskantor und hatte auch die Leitung. Die Choräle sangen Mitglieder verschiedener Chöre im In- und Ausland, die per Video zugeschaltet waren. Weitere Information zu den CDs/DVDs im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei https://www.note1-music.com/shop/.