Archiv des Autors: Rüdiger Winter

Leidenschaft und lange Beine

 

Eines Tages rief mich eine Freundin an, mit der ich unzählige Stunden bei Musik verbracht hatte: „Schalt‘ das Fernsehen ein. Diesen Sänger musst du hören und sehen!“ Ich schaltete – hörte und sah Philippe Jaroussky. Zum ersten mal. Das ist ewig her, und ich weiß auch nicht mehr, was er sang. Das alles klingt jetzt nach Jugenderinnerung. Doch ganz so schlimm ist es nicht. Wenngleich, ein bisschen schon. Jaroussky hat seine Karriere von zwanzig Jahren begonnen. Im Leben eines Sängers ist das eine lange Zeit, zumal er nicht als Chorknabe in Erscheinung trat. Dem Anlass hat Erato gemeinsam mit Warner ein Album mit drei CDs gewidmet (0190295375553). Unter dem Titel Passion sind im wesentlichen Ausschnitte aus seinen bisher erschienen Einspielungen zusammengefasst. Wenn man so will, haben wir es mit einer schmalen Ausgabe gesammelter Werke dieses Sängers zu tun.

Wer dessen nähere Bekanntschaft bisher nicht gemacht haben sollte, ist mit dieser Auswahl sehr gut bedient. Im Idealfall folgt daraus eine intensive Beschäftigung. Die originalen Recitals sind greifbar und werden auch im Booklet vorgestellt. Jaroussky hat ein einnehmendes Wesen. Vornehmlich auf dem Konzertpodium verbreitet er Demut vor der Musik, die er gerade vorträgt. Ist er mit einem Ensemble unterwegs, versteht er sich als dessen Teil. Eher tritt er hinter die Kolleginnen und Kollegen zurück, als dass er sich in den Vordergrund schiebt. Nach Vorstellungen mit kräftezehrenden Zugaben, die sich der aufgeputschte Saal erzwang, habe ich ihn oft am Autogrammtisch im Gespräch mit seinem Publikum gesehen. Immer freundlich, stets nach den Namen fragend, um sie mit der eigenen Unterschrift in eine wenn auch flüchtige Beziehung zu setzen, als sei man befreundet. Das kommt an. Philipp Jaroussky ist immer auf der Suche nach neuen Betätigungsfeldern. Dabei betätigt er sich auch musikwissenschaftlich. In unserem Onlinemagazin Operalounge sind Konzerte und zahlreiche CDs, die in dem neuen Album zumindest gestreift werden, besprochen worden. Drei Beispiele dokumentieren die Vielseitigkeit des französischen Countertenors:

 

La storia di Orfeo (Erato 0190295851903). Diese CD enthält Szenen aus drei der bedeutendsten Opern, die sich der Geschichte des Sängers aus der griechischen Mythologie angenommen haben: L’Orfeo von Claudio Monteverdi und Antonio Sartorio sowie Orfeo von Luigi Rossi. Gemeinsam ist ihnen auch die Entstehungszeit im siebzehnten Jahrhundert. Jaroussky hätte zig CDs mit Ausschnitten aus thematisch einschlägigen Werken produzieren können. Allein bis 1798 sind mindesten fünfzig Opern nachweisbar. Der Stoff hat auch in den folgenden Jahrhundert Komponisten nicht losgelassen bis hin zu Ernst Krenek (1926), Philip Glass (1993) und Ricky Ian Gordon (2005). Ende offen. Auf der Basis der drei Werke hat Jaroussky „eine Art Mini-Oper zusammengestellt“, wie er im Booklet schreibt. Es handele sich um „eine Kantate für zwei Stimmen und Chor, in deren Zentrum sich wieder nur die beiden Protagonisten, Orpheus und Eurydike befinden“. Jede Oper vertiefe mehr oder weniger einen Aspekt der Geschichte. Sartorio und Rossi würden dem Glück des verliebten jungen Paares Raum geben, ebenso der Szene mit dem Schlangenbiss, der Eurydike den Tod bringt. Monteverdi konzentriere sich auf die Suche nach Eurydike in der Unterwelt, die in einer Arie gipfele, dem zauberhaften „Possente spirito“. Der Sänger nennt diese Arie einzigartig in der Geschichte der Oper und greift damit die gängige Expertenmeinung auf. Orfeo beschwört darin den sagenhaften Fährmann Charon, ihn, den Toten gleich, in die Unterwelt zu geleiteten, wo er die Gattin wiederfinden will. Denn er sei ja selbst tot, habe kein Herz mehr, nachdem ihm die geliebte Gattin gestorben sei. Jaroussky gibt sich demütig mit der Feststellung, dass er die Arie „hier mit Countertenor-Stimme zum ersten Mal auf CD zu singen wage“. Ist es geglückt? Ja. In Anbetracht die vielen Aufnahmen, die Jaroussky im Laufe seiner Karriere vorgelegt hat, fällt eine Bewertung zwar nicht leicht. Ich scheue mich aber nicht, von einer seiner besten Leistungen zu sprechen. Gesanglich und interpretatorisch. Viel mehr geht nicht. Orfeo scheint wirklich nicht mehr von dieser Welt. Daran hat das begleitende Schweizer Kammerorchester, die Barocchisti, mit seinem dunklen Klängen erheblichen Anteil. Es ist auf Barockmusik und historische Aufführungspraxis spezialisiert und wird von Diego Fasolis geleitet. Große Aufgaben sind dem Chor übertragen worden. Sie werden vom Coro della Radiotelevisione aus der italienischen Schweiz mit Delikatesse erfüllt. Partnerin von Jaroussky ist die ungarische Sopranistin Emöke Baráth. 1985 geboren, begann sie ihre Ausbildung an der Franz-Liszt-Musikakademie in Budapest, die sie später am Luigi-Cherubini-Konservatorium in Florenz fortsetzte. Mehrfach preisgekrönt, widmet sie sich vornehmlich Barockopern und Oratorien dieser Zeit. Auch mit Liederabenden tritt sie hervor und legte bereits etliche Einspielungen vor. Beide singen Duette, die Sopranistin ist aber auch einzeln zu hören, so mit der berührenden zweigeteilten Szene „Orfeo tu dormi / Se desti pieta“ aus der Sartorio-Oper. Es hätte auch mehr sein dürfen von ihr. Platz dafür wäre auf der mit nur vierundsechzig Minuten gefüllte CD gewesen.

 

Green – Mélodies françaises: Philippe Jaroussky ist im Café Procope eingekehrt. In dieser CD spielt dieses berühmte Pariser Etablissement im Quartier Latin eine wichtige Rolle: Green – Mélodies françaises sur poèmes de Verlaine. Es gibt ein Foto, das den Lyriker Paul Verlaine, der von 1844 bis 1896 lebte, im Café zeigt. Es stammt aus seinem Todesjahr. Der Dichter allein auf einem Sofa sitzend, vor ihm der Tisch mit der weißen Marmorplatte. Darauf Schreibzeug, ein nicht näher bezeichnetes Getränk, reichlich bemessen in Glas und Karaffe, der Stock und der Hut. Hüte auf Tischen bringen Unglück, heißt es. Für Verlaine war Unglück keine Bedrohung mehr. Seine zermürbende Liebe zu dem zehn Jahre jüngeren Arthur Rimbaud endete tragisch. Verlaine schoss auf Rimbaud und musste dafür ins Gefängnis. In dieser Zeit entstanden die „Romances sans paroles“, die Lieder ohne Worte. Den Titel der Sammlung soll Verlaine bei Mendelssohn entliehen haben. Green ist ein Gedicht draus. „Hier siehst du Blätter, Früchte, Blumenspenden / und hier mein Herz, es schlägt für dich allein. / Zerreiß es nicht mit deinen weißen Händen / lass dir die kleine Gabe teuer sein.“ Verlaine gilt als typischer Vertreter des Symbolismus. Jaroussky hat die Wahl, kann sich an dem reichen Werk bedienen – und ist fündig geworden für sein Album, das aus zwei CDs besteht (Erato 0825646166954). Green ist gleich in drei verschiedenen Varianten vertreten – von Gabriel Fauré, André Caplet und Claude Debussy, der dem Dichter übrigens als Kind zufällig begegnet war. Caplet nimmt sich mit mehr als drei Minuten doppelt so viel Zeit wie Fauré, der eine Minute einundvierzig braucht. Debussy liegt mit zwei Minuten sechzehn dazwischen. Caplet (1878-1925) wiederholt die letzte Zeile „… und lass mich, da du schläfst ein wenig ruhn“. Bei ihm klingt das Lied zudem mit einem Nachspiel aus. Allein deshalb hinterlässt es die größere Wirkung.

Der Dichter Paul Verlaine 1896 im Café Procope im Pariser Quartier Latin/ Wki.

Wie Green werden viele der insgesamt zwanzig ausgewählten Gedichte Verlaines in bis zu drei unterschiedlichen Vertonungen dargeboten. Darin besteht ein großer Reiz. Der Dichter hat auf Komponisten eine starke Anziehungskraft ausgeübt. Kaum ein anderer ist in Frankreich ist so oft vertont worden wie er. Jules Massent fühlte sich genauso inspiriert wie Camille Saint-Sains, Arthur Honegger, Ernest Chausson oder Reynaldo Hahn. Die Stile wechseln wie die Komponisten jünger werden. Das Verbindende ist die Sprache, die für sich genommen ein unverwechselbares Flair entfaltet. Benoit Duteurtre zitiert in seinem lesenswerten Essay im Booklet den Dichter René Chalupt aus einer Studie von 1949: „Das Originelle an Verlaine war, dass er in seinen Gedichten eine neue Musik hören ließ. Musikalisch ist der Auftakt des Albums einschmeichelnd, fast verführerisch. „Im alten einsamen Park, wo es fror, / traten eben zwei Schatten hervor. / Ihre Augen sind rot, ihre Lippen erblassen, / kaum kann man ihre Worte fassen“, lauten die ersten Zeilen von „Colloque sentimental“ in der Komposition von Léo Ferré (1916-1993). Ferré war einer der erfolgreichsten Chansonniers des 20. Jahrhunderts, der auch selbst komponierte. Seine Platten und seine Konzerte im Pariser Olympia sind Legende. Vom Streichquartett wird die Melodie aufgenommen, die das Klavier vorgibt. Jaroussky zieht seine Zuhörer auf einen Schlag tief in dieses Repertoire hinein, das er seinen „geheimen Garten“ nennt. Man kommt nicht davon los, bleibt dabei. Das Album schließt nach knapp zwei Stunden mit Colombine, von Georges Brassens in Töne gesetzt. Brassens, der bis 1981 lebte, war nicht nur ein erfolgreicher Schriftsteller und Dichter, sondern machte sich ebenfalls als Chansonnier einen Namen weit über die Grenzen seiner französischen Heimat hinaus.

 

Mit Sacred Cantatas (Erato 08256 46491599): Mit diesem Album ist der Countertenor bei Johann Sebastian Bach und Georg Philipp Telemann angekommen. Er hatte sein erstes deutsch gesungenes Programm vor Publikum in Berlin ausprobiert. Jaroussky war 2015 im Konzerthaus am Gendarmenmarkt Artist in Residence. Er liebt Berlin, wie er in Interviews immer wieder bekundet. Ihm nimmt man das ab. Berlin sei so ganz anders als andere Städte in Deutschland, so der Weitgereiste in einem ihm gewidmeten Beitrag im einschlägigen Saisonheft des Konzerthauses. „Es ist die perfekte Stadt für Kunst und Künstler. Nicht zu teuer, frei und wenig reglementiert. Kunst ist hier lebendig.“ Inzwischen sind Auftritte in Berlin so etwas wie Heimspiele. Mit dem Freiburger Barockorchester, das ihn auch in Berlin begleitete, wurde die Aufnahme produziert. Jaroussky beginnt mit Bachs „Vergnügte Ruh, beliebte Seelenlust“. Er hat auf der CD weitestgehend hinter sich gelassen, was vor Publikum nicht ganz optimal ausgefallen war. Die Stimme ist nicht mehr so unstet, tiefe Töne haben einen besseren Sitz, Verblendungen sind perfekter. Mit der Wortverständlichkeit, die bei diesen Kantaten unabdingbar ist, weil sie vom Wort her kommen, hapert es nach wie vor. Bei der Telemann-Kantate „Der am Ölberg zagende Jesus“ fand und findet Jaroussky zu seinen phänomenalen Möglichkeiten zurück. Dies dürfte auch daran liegen, dass Telemann weniger streng klingt als Bach. Opernhafte Züge mit schwungvollen musikalischen Einschüben sind allgegenwärtig. Jaroussky betont sie ausdrücklich, denn sie kommen ihm entgegen. Dieser Eindruck vermittelte sich auch bei der Passionskantate „Jesus liegt in letzten Zügen“, die ebenfalls von Telemann stammt. In diesem Werk gibt es mit der Arie „Mein liebster Heiland“ einen Höhepunkt, dem Jaroussky in der Bach-Kantate „Ich habe genug“ noch einen hinzu gibt. Mit der Arie „Schlummert ein, ihr matten Augen“ lässt er vieles vergessen, was an kritischen Einwänden vorzubringen ist.

Diese Bach-Kantate findet sich auch auf einer DVD, die dem CD-Album beiliegt und es etwas teurer macht. Mit dieser Kopplung setzt sich dieses Album von anderen Produkten mit ähnlichen Programmen zusätzlich ab. Jaroussky drückt Bach und Telemann ohnehin schon seinen eigenen Stempel auf. Nicht aus Eitelkeit, sondern nach Maßgabe seiner individuellen stimmlichen Möglichkeiten, die bei jeder Musik, die er singt, als unverwechselbares Markenzeichen durchschlagen. Er ist immer auf Anhieb zu erkennen. Ob deutsche Komponisten für ihn eine weitere Option sind, oder ob es bei einer Episode bleibt, muss sich erst zeigen. Entschieden ist offenbar nichts. Jedenfalls ist auch die DVD ein Zeugnis der Annäherung. Der schnörkellose Produktionsraum, die Musiker in schlichter Kleidung. Technik. Mikrofone, Kabel, Pulte statt Kronleuchter und Polsterstühlen. Mitten drin Jaroussky als Teil eines anstrengenden kollektiven Bemühens um Bach.

Jaroussky wäre nicht Jaroussky, hätte er nicht auch einige Neuigkeiten in diesem der Rückschau gewidmeten Album zu bieten. Für Januar 2020 ist eine CD mit Liedern von Franz Schubert angekündigt. Diese Neuerscheinung wird von einer Konzertreihe durch zahlreiche Städte begleitet. Vorab zu hören sind schon mal „Du bist die Ruh“ und „Ständchen“. Begleitet von Jerome Ducros entwickelt er eine ganz eigene musikalische Linie. Führt sie in höhere Lagen, müssen auch schrille Töne hingenommen werden, die schwerlich als Eigenart der Interpretation abzutun sind. Jaroussky wird älter. Er hat die vierzig überschritten. „Selbst nach all den Jahren ist meine Leidenschaft für die Musik nicht kleiner geworden, und ich hoffe, sie noch lange mit Ihnen teilen zu können“, schreibt er im Booklet. Das wünscht wohl auch sein Publikum. Rüdiger Winter

 

Das Foto oben ist Teil einer Porträtfolge von Simon Fowler / Erato – Warner Classics. im Booklet der Neuerscheinung.  

CD-Debüt mit Loewe & Co.

 

„Herr Oluf reitet spät und weit / Zu bieten auf seine Hochzeitleut …“ Auf Hochzeitleut bieten? Ein Blick in das Deutsche Wörterbuch der Grimms offenbart den Sinn der schönen Wendung, die Johann Gottfried Herder in die Übersetzung der Ballade unbekannter Herkunft aus dem Dänischen hat einfließen lassen. Sie findet sich in dem Wort Aufgebot wieder, mit dem eine Hochzeit noch heute in den Standesämtern öffentlich bekanntgegeben wird. Herr Oluf will sich also vermählen, trifft aber – was nicht vorgesehen ist – bei seiner Ankündigungstour auf Erlkönigs Tochter, deren Zauber er gar zu schnell unterliegt. Er ist anfällig. Und am Hochzeitstage selbst, als bereits Met und Wein gereicht werden, fehlt er. Die Verwunderung währt nicht lange. Herr Oluf ist als Toter heimgekehrt. Carl Loewe hat die Ballade „Herr Oluf“ 1821 im Alter von fünfundzwanzig Jahren komponiert. Sie ist also ein Frühwerk und gehört neben „Treuröschen“ und „Walpurgisnacht“ zu den Drei Balladen op. 2. Darin offenbart sich sein außergewöhnliches dramatisches Talent. Namhafte Sänger in großer Zahl haben sich ihr gewidmet, darunter Josef Greindl, Hermann Prey, Dietrich Fischer-Dieskau, Thomas Quasthoff, Robert Holl, Kurt Moll, Thomas Hampson und wie sie alle heißen.

Jetzt ist Konstantin Krimmel hinzugekommen. Er hat das Stück ins Programm seiner Debüt-CD Saga aufgenommen, die bei Alpha Classics (Alpha 549) erschien. Von Loewe gibt es mit „Tom der Reimer“, „Erlkönig“ und „Odins Meeresritt“ noch drei weitere Zugnummern, die ohne künstlerisches Zutun allerdings nicht automatisch zum Selbstläufer werden. Vielmehr muss der Sänger gerade bei den populären Stücken darauf achten, etwas zu geben, was die Vorgänger so noch nicht angeboten haben. Bei Krimmel höre ich eine feine Dramaturgie. Er baut Spannung auf, indem er innerhalb einzelner Stücke sehr geschickt mit dem musikalischen Fluss und dem Rhythmus arbeitet. Mal hält er inne, mal zieht er an. Am Beginn ist oft noch nicht klar, wie es endet. Es ist, als ob sich Handlungen erst während des Vortrages entwickeln. Selbst wer die literarischen Vorlagen genau kennt, bleibt gespannt, wie es weitergeht. Mir ist es so ergangen. Pausen zwischen Versen und Gedanken werden genauso zum Ausdrucksmittel wie Interpunktionen. Dabei hat Krimmel in Doriana Tchakarova am Flügel eine versierte Partnerin, die seinen Intentionen folgt, zugleich aber auch eigene Akzente setzt. Die beiden sind ein ideales künstlerisches Paar.

Der Sänger ist grade mal sechsundzwanzig Jahre alt. Ganz so jung klingt er nicht. Vielmehr wirkt die Stimme des Baritons mit rumänischen Wurzeln ziemlich fest, kerngesund und belastbar. Er hat ein breites Ausdrucksspektrum zur Verfügung. Er weiß, was er singt. Krimmel erfasst die dichterische Struktur der Balladen genau. Er baut seine Interpretation vom Wort her auf. Dafür hat er mit der akribischen Deutlichkeit des Vortrags die denkbar besten Voraussetzungen. Bei ihm sind – um ein Beispiel zu benennen – die Hochzeitleut am Beginn der Ballade von Herrn Oluf wirklich Hochzeitleut und keine Hochzeit(s)leut. Authentischer habe ich Loewe in jüngster Zeit nicht gehört. Schon gar nicht aus so jungem Munde. Man könnte mitschreiben, was er singt. Der Abdruck der Texte im umfänglichen Booklet wirkt da fast schon wie Hohn.

Loewe, wenngleich mit vier Balladen bevorzugt bedacht, ist nur eine von vier Säulen des Albums. Daneben sind Franz Schubert mit „Der Zwerg“, „Gruppe aus dem Tartarus“ und „Prometheus“, Robert Schumann mit „Belsatzar“, „Die feindlichen Brüder“ und „Die beiden Grenadiere“ zu hören. Zugleich kann das Publikum seine Bekanntschaft mit Adolf Jensen auffrischen, der 1837 in Königsberg geboren wurde und 1879 in Baden-Baden starb. Er wurde von Liszt gefördert, studierte beim Niels Wilhelm Gade in Kopenhagen und war mit Brahms befreundet. In seinem Schaffen sind Lieder der größte Posten. „Murmelndes Lüftchen“ wurde auch Elisabeth Schwarzkopf aufgenommen. „Waldgespräch“, bei den Krimmel dramatisch etwas überzieht, schafft eine interessante Verbindung zu Schumann, der das Eichendorff-Gedicht in seinen berühmten Liederkreis op. 39 aufnahm. Zwischen beiden Kompositionen liegen aber Welten. An die geheimnisvolle Stimmung, die Schumann schafft, kommt der hochdramatische Jensen, von dem noch „Die Braut“ und „Rübezahl“ im Angebot sind, nicht heran. Rüdiger Winter

Winterreisen

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Franz Schuberts Winterreise ist längst keine Tabuzone für Interpreten mehr. Der katalanische Opernsänger Xavier Sabata sagt: „Warum sollte nicht auch ein Countertenor dieses Werk singen dürfen, wenn es ihm gelingt, die tiefen inneren Konflikte, Gefühle und Bedeutungen des Stückes herauszuarbeiten?“ Nach seiner Beobachtung fühlten sich viele Menschen wohl, wenn sie etwas in eine bestimmte Schublade stecken könnten. Das könne vielleicht sogar eine gewisse Sicherheit vermitteln. „Aber Musik oder Kunst darf man kein Label aufkleben.“ Sabata hat jetzt bei Berlin Classics seine Winterreise vorgelegt (0301309BC). Begleitet wird er von Francisco Poyato. Die Aufnahme entstand im Sommer 2019 in Zusammenarbeit mit SWR2. Der Sender stellte sein Studio in Kaiserlautern zur Verfügung und knüpft damit an eine lange und ergebnisreiche Tradition beim Südwestrundfunk an, Sänger zu fördern und bekannt zu machen. Sabata ist kein Neuling. Auf dem Gebiet der Barockmusik hat er sich einen Namen gemacht. Davon zeugen auch etliche CD-Produktionen. Neu ist die Erweiterung seiner Repertoires. Bei der Winterreise dürfte es nicht bleiben.

In dem im Booklet abgedruckten Interview mit Angelika Völkel, dem auch die vorangegangenen Äußerungen entnommen sind, bekennt er sich auch dazu, ein „Freund des Entdeckens“ zu sein. Zweifel und Bedenken sind seine Sache nicht. Sonst hätte er sich wohl nicht auf die Winterreise einlassen können, bei der jedem Solisten und jeder Solisten ein Gebirge von berühmten und weniger berühmten Vorgängern im Nacken sitzt. Wenn er die Winterreise singe, dann wolle er „dieses Wesen verstehen, das sich mitteilen will. Mir geht es dann nicht darum, eine perfekte Gesangstechnik abzuliefern“. Davon ist die Einspielung tatsächlich weit entfernt. Mitunter singt er wie mit zwei Stimmen, nämlich immer dann, wenn er nach unten geht. Daran muss man sich erst gewöhnen. Sein Deutsch ist im Großen und Ganzen sehr gut. Für deutsches Liedgut aber nicht gut genug. Bei etwas mehr Sorgfalt würde die Aussprache perfekter sein. Der „Lindenbaum“ ist kein Lintenbaum. „Ich schnitt in seine Rinde“ klingt wie „Ich schnitt in seiner Rinde…“ Solcherart sind die störenden Details, die hätten ausgefeilt werden können. Da Zeug dafür hat der Sänger. Er wirkt auch als Schauspieler. Sabata verlangt seinen Hörern einiges ab. Die müssen den Zyklus schon sehr gut kennen, um ihm inhaltlich folgen zu können. Seine Interpretation halte ich nicht unbedingt für geeignet, um das Werk kennenzulernen. Sie erweitert aber das Ausdrucksspektrum, und ist ja schließlich auch ein Wert für sich. Ich bleibe gespannt.

Das Cover könnte einem Fachbuch über Depressionen entnommen sein. Tief in sich versunken stützt ein Mann seinen Kopf auf eine Hand. Sein Blick geht ins Leere. Er scheint am Ende. Ohne Hoffnung. Ohne Ausweg. „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh‘ ich wieder aus.“ Mit dem düsteren Foto wird eine neue Winterreise von Franz Schubert illustriert, die bei Orfeo erschienen ist, gesungen von Pavol Breslik (C 934 191). Ob es sich bei der dargestellten Person um den Sänger selbst handelt, bleibt unbestimmt. Es ist auch nicht so wichtig wie die Botschaft, die davon ausgehen soll. So düster und verloren, wie das Cover erwarten lässt, hebt der Zyklus „schauerlicher Lieder“ – so soll sich Schubert selbst ausgedrückt haben – dann doch nicht an. Was zuvorderst auffällt, ist der Klang. Die Stimme scheint von etwas weiter her zu kommen, und es wird dem Zuhörer, der es nicht vorab nachgelesen hat, alsbald klar, dass es sich um eine Liveaufnahme handelt, mitgeschnitten zwischen dem 5. und 7. September 2018 im Markus-Sittikus-Saal in Hohenems. Dessen Akustik genießt international einen guten Ruf und wird vor allem von Freunden des Liedgesangs und der Kammermusik geschätzt.

Für die Aufnahme sind offenbar nicht alle technischen Möglichkeiten genutzt worden. Sie klingt zu hallig, manchmal sogar hart. Wären einige Publikumsgeräusche beibehalten worden, es hätte dem Eindruck nicht geschadet. Dann wäre diese Winterreise noch deutlicher als das kenntlich, was sie letztlich ist – ein bemerkenswertes Live-Ereignis, bei dem nicht alles perfekt gelingt weil auch die Spontaneität zu ihrem Recht kommen will. Breslik, der am Flügel von Amir Katz begleitet wird, bringt viel von der Dramatik und den Stil ein, die er für seine Auftritte auf den Opernbühnen in aller Welt braucht. Nicht immer ist die Höhe stabil. Mit Fortschreiten des Werkes – etwa beim Lied „Einsamkeit“ auf der Hälfte – kommt der Opernsänger immer mehr durch. Das ist kein Manko. Im Gegenteil. Es macht für mein Empfinden sogar den besonderen Reiz der Interpretation aus. Breslik hatte nach eigenem Bekunden „von Anfang an großen Respekt“ vor der Winterreise, denn sie verlange ihrem Erzähler alles ab, sagt er in einem Gespräch mit seinem Pianisten, das im Booklet abgedruckt ist. „Zuerst hatte ich Bedenken, ob eine Tenorstimme dafür gut geeignet ist, und diese Zweifel habe ich immer wieder.“ Eigentlich ist das ganz gut so, denn der Zweifel ist bekanntlich nicht der schlechteste Ratgeber für einen Sänger, der es von Mal zu Mal noch besser machen will.

„Vom Abendrot zum Morgenlicht ward mancher Kopf zum Greise.“ Mit dieser Zeile wird in Schuberts Winterreise der dritte Vers des Liedes „Der greise Kopf“ eingeleitet. Die Grafiker des Booklets der neuesten Aufnahme des Zyklus von Ian Bostridge bei Pentatone haben das etwas zu wörtlich genommen (PTC 5186 764). Mit Hilfe eines Computerprogramms ließen sie den englischen Tenor und seinen Begleiter Thomas Adès auf dem Deckblatt drastisch altern. Sie sind nur noch ein Schatten ihrer selbst. Ausgemergelt und ausgezehrt – als hätte sie selbst die strapaziöse Winterreise hinter sich. Ein gewisser Mut gehört dazu. Nur, muss das sein? Erschließt sich das? Sollte nicht vielmehr die künstlerische Qualität statt eines solchen Gags für eine Neuerscheinung einnehmen? Wie dem auch sein, ein Hingucker ist das in Sepia gehaltene Album allemal.

Wie Bostridge in seinem Einführungstext herausstellt, ist die Winterreise seit drei Jahrzehnten zentraler Bestandteil seines musikalischen Lebens. Er hat sie bereits zweifach aufgenommen, einmal davon als Film – bei Warner Classics in einer Box mit Müllerin und Schwanengesang herausgekommen (0825646204182). Diesmal war ihm vor allem die inspirierende Zusammenarbeit mit Adès, der eher als Komponist hervorgetreten ist, Anlass, sich abermals im Studio auf das Werk einzulassen. In der Tat wird die Aufnahme stark, gar gleichberechtigt, vom Klavier her geprägt. Adès setzt starke Akzente. Es überlässt der Singstimme nicht das Feld, sondern trägt seinerseits dazu bei, für jedes Wort, jeden Gedanken oder jedes Gefühl einen eigenen Ausdruck zu suchen und gleichzeitig immer wieder mit dem Sänger zusammen zu finden. Keiner von beiden macht sein eigenes Ding. Darin liegt die Stärke der Aufnahme. Die Stimme von Bostridge ist nicht schöner geworden. Für die Winterreise muss das auch nicht zwingend sein. Auch sein Deutsch ist nicht besser geworden. So schleichen sich viele Ungenauigkeiten ein, die nicht mehr als individueller Ausdruck durchgelassen werden können.

An der Verknüpfung von Sprache und Musik ist bei seiner Winterreisen-Aufnahme dem 1983 in Böblingen geborene Bariton Johannes Held gelegen. Er ist neben seinem Sängerberuf auch als Sprecher tätig. Gemeinsam mit dem Pianisten Daniel Beskow tritt er regelmäßig in einem szenischen Winterreisen-Projekt auf. „Die Vermeidung des Körperlichen im Liedgesang und der Wunsch der Wächter über die Gattung, nur die Stimme für den Ausdruck zu nutzen, waren mir immer suspekt, und ich wollte herausfinden, welche expressiven Möglichkeiten Schuberts Lieder offenbaren, wenn man sich erst einmal traut, das seit den 50er Jahren gebräuchliche Format zu überwinden“, so Held. Mit seinem Begleiter sei er sich darüber im Klaren gewesen, dass „wir damit nicht nur auf Gegenliebe stoßen würden“. Die dabei gesammelten Erfahrungen sind nun in eine klassische Studioeinspielung eingegangen, die bei ARS Produktion erschienen ist (ARS 38 562). Damit seien sie am Ende wieder Anfang angekommen, „bei der Musik von Schubert und den Gedichten von Wilhelm Müller. Denn bei aller Suche nach einem neuen Format wollten wir doch immer dem Text treu sein“. Das hört man denn auch. Sogar sehr stark. So stark, dass die Musik gelegentlich in den Hintergrund zu geraten droht. Held singt sehr genau und deutlich. Und so offenbart sein Vortrag denn auch die Schönheiten der Müllerschen Lyrik, was einen Wert für sich darstellt und die Neuerscheinung mit einem besonderen Reiz ausstattet.

Aber seit wann besteht die Winterreise denn aus fünfundzwanzig einzelnen Nummern? Im Original sind es doch nur vierundzwanzig. Genau hingesehen – und hingehört, wird das erste Lied „Gute Nacht“ zunächst instrumental vorgetragen, ganz zum Schluss dann gesungen wiederholt. Der Kanadier Philippe Sly legt bei Analekta (AN 2 9138) eine Adaption für Bassbariton, Klarinette, Posaune, Akkordeon, Violine, Klavier und Drehleier vor. Angesichts der Fülle traditioneller Einspielungen haben sich Bearbeitungen inzwischen als eine ernst zu nehmende Möglichkeit etabliert, der Interpretation neue Perspektiven zu eröffnen. Sly geht ziemlich radikal ans Werk, ohne Schubert zu beschädigen. Dessen musikalische Erfindungen bleiben weitgehend unangetastet, Bearbeitung ist Zugabe, nicht Reduktion. Der junge Sänger und sein Ensemble Le Chimera Projekt scheinen herausfinden zu wollen, welche Wirkung diese vor fast zweihundert Jahren entstandenen Lieder heutzutage entfalten können. Es ist, als ob sie ein Update Schuberts mit der Gegenwart vollziehen. Tempoverschiebungen verstärken eine im Werk angelegte Gangart, die immer wieder ins Nichts zu führen droht. In dieser Interpretation ist die innere Reise durch das Eis noch gefährlicher und aussichtsloser. Einzelne Wörter werden sängerisch regelrecht seziert. Es drängt sich die Frage auf, ob die Sprache des Dichters überhaupt auszudrücken vermag, was dem Werk innewohnt. Es klingt nie schön. Dabei hätte Philippe Sly durchaus das Zeug für einen traditionellen Vortrag mit Klavierbegleitung. Dafür müsste er allerdings an seinem Deutsch arbeiten. In der vorliegenden Aufnahme wirkt sein Akzent als Ausdrucksverstärker für Fremdheit und Isolation.

Eine Diskographie der Winterreise ist mir nicht bekannt. Dabei täte sie Not. Es gibt Verzeichnisse von Operneinspielungen, sogar mit Kommentaren. Bedeutende Sänger sind mit ihren Aufnahmen, darunter auch Lieder, in der Regel auch gut diskographisch dokumentiert. Einen Redaktionsschluss kann es dabei nicht geben, denn es kommen immer neue Titel hinzu. Bei der Winterreise müssen Sammler ihre Bestände, die eigenen Listen und das Gedächtnis befragen. Als erste komplette Einspielung gilt die des Baritons Gerhard Hüsch von 1933. Zuvor hatte es nur stark gekürzte Aufnahmen gegeben, darunter mit Richard Tauber. Einzelne Lieder tauchen bereits früher in den Katalogen auf. Eine besondere Vorliebe scheint es für den „Leiermann“, das letzte Lied der Winterreise, gegeben zu haben. Er wurde 1910 sogar schon in St. Petersburg von Lev Sibiriakov, einem Bass, in russischer Übersetzung aufgenommen und kann sich noch heute hören lassen, auch wenn die Anklänge an das Idiom russischer Volksmusik nicht zu leugnen sind.

Ödnis und Leere. Es marschiert. Erst nach und nach lösen sich aus einer Ansammlung von Geräuschen Klänge heraus, die ihre Herkunft nicht verleugnen können – und wollen. Der Komponist und Dirigent Hans Zender hatte 1993 eine – wie er es nennt – komponierte Interpretation von Schuberts Winterreise vorgelegt, die sich im Konzertbetrieb etabliert hat. Der Tenor Julian Prégardien bietet bei Alpha-Classics.com die neueste Aufnahme an (Alpha 425). Schon sein Vater Christoph Prégardien hatte sich des Werkes angenommen. Liedgesang liegt in der Familie. Ich habe diese Version der Winterreise noch nie live gehört, kann mir aber gut vorstellen, dass sie unter diesen Bedingungen noch wirkungsvoller sein dürfte als aus Lautsprechern. Wer gute Kopfhörer zur Verfügung hat, wird noch mehr raffinierte Details entdecken. Es geht sehr dramatisch zu. Aus der introvertierten Zwiesprache des Sängers mit dem Klavier in der Originalfassung wird über weite Strecken ein sehr bildhaftes und expressives Theaterstück, in dem Passagen sogar gesprochen werden. Dadurch erfährt die Textvorlage von Wilhelm Müller eine stärkere Betonung. Das „small orchestra“ – die Deutsche Radiophilharmonie unter der Leitung von Robert Reimer – klingt so klein nicht. Streicher, Holzbläser, Horn, Trompete, Saxophon und diverses Schlaginstrumentarium entfalten mitunter mächtige Wirkungen, die es ratsam erscheinen lassen, den Klangregler am Abspielgerät zurückzudrehen. Gitarre und Akkordeon setzten traditionelle, volksliedhafte, mitunter gar rührende und zu Herzen gehende Akzente. Zender malt mit Tönen. Wenn – um nur ein Beispiel zu nennen – im Lied „Wasserflut“ die Tränen des unglücklichen Wanderers in den Schnee fallen, die Flocken das „heiße Weh“ einsaugen und „das Eis zerspringt in Schollen“, wird zu musikalischen Mitteln gegriffen, welche die Nähe zum Winter in Vivaldis Jahreszeiten nicht verleugnen können. Im Booklet, das auch einen Text von Zender enthält, wirft der Musikwissenschaftler Thomas Seedorf mehrere Fragen auf: „Wie soll man sich die Gestalt des Wanderers vorstellen? Ist er ein junger Mann oder durchläuft er eine Midlife-Krise? Erlebt er das, was er besingt, in der Realität oder nur in seiner Phantasie? Und wie ist mit Schuberts Musik umzugehen? Muss sie vor allem schön gesungen werden? Oder darf sich der Sänger auch erlauben, die Schönheit aufzurauen, Brüche und Risse hörbar werden lassen?“ Prégardien junior versucht sich in künstlerischen Antworten und schlägt sich dabei vortrefflich. Bei dieser Winterreise kann es nur von Vorteil sein, wenn der Sänger jung ist. Bei der Aufnahme war er gerade mal zweiunddreißig. Dadurch wird die Geschichte für mich glaubhafter. Schließlich ist der Vortragende in dieser Version des Zyklus nicht nur Interpret, er ist auch Darsteller. Prégardien geht es nicht um Schöngesang. Er will das Werk erfahrbar machen und greift dabei auch zu verfremdenden, charaktervollen, ja grellen Einwürfen.

Der Tenor Werner Güra beginnt seine Winterreise ausgesprochen verhalten. Tastend und ängstlich. Als wolle er nicht hinaus in diese Dunkelheit, wo „der Weg gehüllt in Schnee“ ist. Die Winterreise als Vorstellung, als Projektion. Güra lotet die einzelnen Worte und die Noten aus. Er verliert sich in Details, schmückt sie fast masochistisch aus. Die Aufnahme entstand bereits 2009 und wurde von harmonia mundi neu aufgelegt (HMA 1902066). Schon dieses höchst individuellen Einstiegs wegen ist das gerechtfertigt. Reinen Schöngesang verbietet sich Güra ausdrücklich, obwohl er dazu bekanntermaßen in der Lage ist. Alles wird Ausdruck. Lyrische Passagen, an denen auch in diesem Zyklus kein Mangel ist, klingen ehr herb, ja hart. Manches wird  fast gesprochen. Seine betont andersartige Interpretation gelingt Güra nur, weil er jedes Wort absolut verständlich herüberbringen kann. Gewisse Stellen, die im ersten Eindruck als verbesserungswürdig erscheinen, entpuppen sich im selben Moment als nicht anders gewollt. Die Begleitung ist nicht weniger eigenwillig. Christoph Berner an einem Pianoforte von 1872 agiert in voller Übereinstimmung mit seinem Solisten und überrascht mit unerwarteten Temposprüngen. Selbst die Pausen zwischen den einzelnen Liedern scheinen unterschiedlich lang. Mal gedehnt, mal nur ein kurzes Innehalten. Von Lied zu Lied gewinnt der gemeinsame Vortrag an Fahrt. Der Zuhören wird, ob er will oder nicht, hineingezogen. Er muss mit auf diese Reise. Bis zum bitteren Ende hinterm Dorf auf dem Eis beim Leiermann. Ein Ende, das so verhalten aushaucht wie diese Winterreise begann.

Matthias Goerne hat seine vierte Winterreise vorgelegt. Nach den Audioeinspielungen mit Alfred Brendel (Decca), Christoph Eschenbach (harmonia mundi) und Graham Johnson (hyperion) ist eine Aufnahme in bewegten Bildern bei Cmajor / Unitel (738008) zu finden. Es handelt sich um die visuelle Umsetzung des Liederzyklus durch den südafrikanischen Designer und Regisseur William Kentridge beim Festival in Aix-en-Provence 2014. Mit dieser Produktion ist Goerne auch auf eine weltweite Tournee gegangen, die ihm viel Erfolg einbrachte. Kentridge ist schon in den 1980er Jahren mit Animationsfilmen über die Geschichte und die schwierigen sozialen Verhältnisse in Südafrika bekannt geworden. Damals gab es die Apartheid noch. In seiner Ästhetik wirken diese Themen bis heute nach. Auch in der Winterreise. Der Sänger und sein Pianist Markus Hinterhäuser agieren vor einer Wand, auf die mal in schneller, mal in langsamer Folge Bilder, Collagen, Sprüche, Symbole oder ein Gestrüpp geworfen wird, das an Stacheldraht erinnert. Neigungen, das Publikum belehren und agitieren zu wollen, sind unverkennbar. Nicht immer wird ein Zusammenhang mit den Liedern deutlich, vor allem dann nicht, wenn aus einer Dusche plötzlich Wasser strömt. Alles schon mal dagewesen. Auch die Friedenstaube, die durchs Bild flattert, ist in die Jahre gekommen und hat Federn gelassen. Manchmal dreht der Solist den Zuschauern den Rücken und wendet sich staunend zu den Illustration, als wollte er nachschauen, was da eigentlich hinter ihm abläuft. Was in einem Saal noch wirken mag, verpufft am Fernsehschirm, wo auch Details herausgestellt werden, die die Gesamtschau beeinträchtigen. Der eigentliche Sinn der Veranstaltung, Schuberts Winterreise neu zu deuten, gerät fast zu Nebensache. Dabei hinterlassen Goerne und sein Begleiter einen tiefen und bleibenden Eindruck, der sich den bei diesem Werk überflüssigen Ausstattungen entzieht.

Eine Text über Winterreisen, die neu oder wieder auf den Markt gelangen, kommt ohne Dietrich Fischer-Dieskau nicht aus. Zwischen dem Namen dieses Sängers und Schuberts Liedern steht so etwas wie ein Gleichheitszeichen. Fischer-Dieskau dürfte die mit Abstand meisten einschlägigen Produktionen und Mitschnitte von Schubert-Liedern hinterlassen haben, darunter mindestens achtmal die Winterreise. Stimmt diese Aufzählung, dann ist DVD-Ausgabe bei Arthaus die neunte (109317). Am Klavier sitzt Alfred Brendel. Produziert wurde die Aufnahme bereits 1979 in der prachtvollen Berliner Siemens-Villa, in der es einen eigenen Konzertsaal gibt. Ihren Mehrwert gewinnt diese Aufnahme für den ehemaligen Sender Freies Berlin (SFB) durch ihren einzigartigen Bonus. Während der Probe liefen die Kameras bereits mit, was beide Künstler zu vergessen schienen. „Das Resultat ist die Dokumentation einer völlig unbefangenen Arbeitsatmosphäre, bestimmt von persönlichem Respekt voreinander, bei gleichzeitiger großer Offenheit in der Diskussion künstlerischer Fragen“, wird im Vorspann völlig zu Recht herausgestellt. Wie kein anderer Komponist hat Schubert seine lange Karriere geprägt und er die Interpretation des Zyklus´. Der Sänger kam nie von ihm los, hat nach immer neuen Ansätzen und Ausdrucksmöglichkeiten gesucht. Die Ergebnisse sind bekanntermaßen unterschiedlich ausgefallen. Ich bevorzuge die frühen Aufnahmen, die mir nicht so gedankenschwer und ausgeklügelt vorkommen. Wenngleich Fischer-Dieskau auf mich stimmlich nie wirklich jung wirkt, finde ich sie freier und unbekümmerter. Seine einzigartige Begabung, stimmlich wie interpretatorisch, hat nicht erst mit der Zeit Gestalt angenommen. Sie war von Anfang an da – nachzuhören in seiner von Gerald Moore begleiteten Winterreise aus dem Jahr 1955 bei der Columbia/EMI, die nun bei Heritage, gekoppelt mit der Schönen Müllerin von 1951, aufgelegt wurde (HTGCD 288/9). Das Label spricht im Booklet von „debut recordings“. Das stimmt nur für die Studio-Aufnahme, denn die erste Radio-Aufnahme der Winterreise von Fischer-Dieskau entstand bereits 1952 mit Hermann Reutter am Klavier beim Westdeutschen Rundfunk in Köln und kam schon vor Jahren bei  Audite (95.580) heraus.

Hermann Prey empfand von Zeit zu Zeit ein „tiefes Bedürfnis, die Winterreise wieder zu singen“. Er freute sich „lange im Voraus darauf“, war gespannt, was er auf dieser Reise Neues erleben werden – nachzulesen in seinen Erinnerungen „Premierenfieber“. In dem Buch widmet er dem Zyklus von Franz Schubert ein eigenes Kapitel, gut fünfzig Seiten lang, mit Analysen und Gedanken zu allen 24 Lieder – und zwar aus der Perspektive des Sängers, nicht des Musikwissenschaftlers. Auf diesen Unterschied kam es Prey, an. Das Werk hatte er auf seinem langen erfolgreichen Weg immer bei sich – wie einen treuen Begleiter. Erstmals hat er die Winterreise 1952 öffentlich vorgetragen. 1981, als das Buch erschien, hielt er es für wünschenswert, sie dereinst bei seinem „allerletzten Konzert“ zu singen. SWR Music hat einen Mitschnitt von den Schwetzinger Festspielen 1987 herausgebracht (SWR19012CD). Begleitet wird Prey von Helmut Deutsch, mit dem er häufig aufgetreten ist. Im Booklet kommt der Pianist selbst zu Wort. Der Musikjournalist Thomas Voigt zitiert ihn in seinem sehr lesenswerten Text mit den Worten: „Die Winterreise war für ihn das Kernstücks seines Repertoires, ein Werk, für das er gebrannt hat. Er konnte ja locker vom Hocker singen, doch bei der Winterreise war er von äußerster Konzentration.“ Prey nimmt sich diesmal auffällig zurück, als wollte er seine Interpretation in sein Innerstes verlegen. Zunächst entsteht er Eindruck, als sei nicht nur der Wanderer sondern auch der Sänger müde geworden. Schließlich ging er auf die sechzig zu. In diesem Alter werden die stimmlichen Ressourcen knapper. Genau hingehört, erschließt sich der interpretatorische Ansatz, mit dem er vielleicht aus der Not eine Tugend macht, indem er die Deutung den eigenen Grenzen anpasst. Diese Müdigkeit ist im Kern Resignation und Selbstaufgabe. Prey erfasst das Ende auf dem Eise gleich im Anfang. Vom ersten Ton an ist klar, wie die Geschichte ausgeht. Das macht den Rang dieses Mitschnitts aus.

Eine andere Winterreise beginnt im Booklet mit einem Dank des Sängers für die Hilfe, die er beim Zustandekommen der Aufnahme von vielen Seiten erfahren hat. So etwas kommt selten vor. Dem Bariton Jasper Schweppe ist es ein Bedürfnis, die Produktion, die bei Etcetera (KTC 1534) herausgekommen ist, als ein Gemeinschaftswerk darzustellen, an dem nicht allein der Sänger Anteil hat. Das wirkt sympathisch. Schweppe kommt von der so genannten Alten Musik. Sein Repertoire wurzelt im gregorianischen Gesang. Monteverdi gehört ebenso dazu wie Rameau und Johann Sebastian Bach. Auch um zeitgenössische Werke macht er keinen Bogen. Nun Schubert. Gewiss nicht als Höhepunkt seiner Karriere, sondern als eine weitere Facette seiner musikalischen Vielseitigkeit und Neugier. Seine Winterreise ist anders, nämlich über weite Strecken ziemlich lakonisch. Sie verlässt den Dunstkreis der vielen berühmten und weniger berühmten Interpretationen, die auf Tonträgern nachzuhören sind. Vorbilder sind nicht auszumachen. Schweppe ist Holländer, studierte zunächst am Konservatorium in Zwolle, später in Den Haag. Sein Studium schloss er 1998 ab. Daraus lässt sich auf sein Alter schließen. Genaue Angaben finden sich nicht. Jedenfalls klingt die Stimme jung und hell. Was bei der Winterreise ein Vorteil sein kann. Schließlich geht es um die Geschichte eines jungen Mannes. Was ihm widerfährt auf seiner bedrückenden Reise ins eigene Innere, geschieht in der Jugend, nicht im Alter. Bei Schweppe wird die Vortragsperspektive nicht eindeutig klar. Identifiziert er sich als Vortragender mit der Geschichte oder berichtet er singend darüber. Letzteres unterstellt, ist es egal, welcher Generation er entstammt, ob es sich um einen Sänger oder um eine Sängerin handelt. Selten legt Schweppe einen dramatischen Gang ein, was ihn vor unangebrachten Übertreibungen bewahrt. Das Timbre ist trocken, die Höhe etwas knapp. Er singt ein vorzügliches Deutsch. Mit dem Fortschreiten des Zyklus gewinnt diese Interpretation, was auch drauf zurückzuführen sein dürfte, dass man sich an das Timbre und den Stil zu gewöhnen beginnt. Es wäre ungerecht, die Aufnahme vorschnell beiseite zu legen. Sie verdient eine zweite Chance. Und gar erst beim dritten Hören wird hinlänglich deutlich, dass Schweppe etwas Neues versucht. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass er damit bei jüngeren Leuten gut ankommt. Auch wegen der Begleitung. Der japanische Pianist Riko Fukuda spielt ein Fortepiano. Dieses Hammerklavier von 1830 stammt aus der Werkstatt des berühmten deutsch-österreichischen Klavierbauers Conrad Graf.

Daniel Behle hat sich gleich zweifach an dem Zyklus versucht, einmal mit Klavier, einmal mit Begleitung eines Trios. Seine CD ist bei Sony herausgekommen (2 CD 8883788232). Obwohl ich mit Bearbeitungen gewöhnlich meine Probleme habe, hier gibt es beides: Winterreise-Original und -Bearbeitung. Das ist pfiffig. Man kann wählen, sich für die eine oder die andere Variante entscheiden. Beides mögen oder daran herummäkeln. Beginnen möchte ich mit dem Lob. Daniel Behle singt, wie er kann. Er weckt keine falschen Hoffnungen, bleibt im Rahmen seiner lyrischen Möglichkeiten. Stimmlich klingt er noch viel jünger, als er es im wirklichen Leben ist. Das überzeugt. Er ist Jahrgang 1974, hatte eine gründliche musikalische Ausbildung – auch als Komponist. Behle verzichtet auf jegliche theatralische Mittel, er bleibt ganz bei der Musik. Nur vereinzelt und wohl dosiert holt er das dramatische Werkzeug hervor. Dadurch glückt ihm seine Einspielung so gut, so diesseitig. Sie ist nicht bitter, lässt einen nicht mit Tränen zurück. Wäre eine Entscheidung gefragt, meine Wahl würde auf das Original mit Klavierbegleitung (Oliver Schnyder) fallen. Setzen in der zweiten Einspielung die zusätzlichen Instrumente ein, Violine (Andreas Jahnke), Violoncello (Benjamin Nyffenegger) und wieder Schnyder am Piano, zuckt es schon mal im Ohr. Was war denn das, durchschoss es mich beim ersten Hören. Zunächst hatte ich den Eindruck, als liege plötzlich eine ganz andere Musik auf. Und dann war mir, als mische sich ein Streichquartett über einen zusätzlichen Kanal die Winterreise hinein, so wie im Radio, wenn zwei Sender aufeinander liegen. Das dürfte beabsichtigt sein, auch in seiner mitunter verstörenden Wirkung. Im letzten Lied, dem „Leiermann“, wird gar in einem Anflug die Leier simuliert. Weil es aber wie ein Dudelsack aus der Ferne kling, gerät dieser musikalische Moment zu sehr in die Nähe von Folklore. Für mich braucht gerade dieses Lied, in dem alles erstarrt, keinerlei Zutat. Es ist das Ende.

Ein düsteres Gemäuer sucht Francisco Araiza für seine Interpretation der Winterreise auf, die ebenfalls als DVD – gekoppelt mit Robert Schumanns Dichterliebe – bei Arthaus erschienen ist (101670). Sein Mantel ist aus feinstem Zwirn. Darunter trägt er braunes Sakko, schwarzes Hemd und schwarze Hose. Araiza bleibt in der Gegenwart. Mehr als zwanzig Jahre alt ist die Produktion, bei der Jean Lemaire am Klavier begleitet. Äußerlich sieht man das auch. Da ist ein gehöriger Schuss Betulichkeit beigemischt. Für die Interpretation selbst kann ich kein Verfallsdatum ausmachen. Sie wirkt ehr zeitlos, kompakt und geschlossen. Manchmal gönnt sich Araiza einen opernhaften Anklang. Schließlich war die Oper das Hauptgeschäft des Tenors. Er nimmt sich viel Zeit. Vielleicht braucht er die auch, um sich besser zu konzentrieren auf die Gattung Lied, obwohl er ganz und gar nicht unsicher wirkt. Das Deutsch des gebürtigen Mexikaners ist perfekt. Seine Winterreise kann es mit jeder anderen Einspielung aufnehmen. Die Wirkung ist noch nachhaltiger, wenn das Bild weg bleibt. Ich habe es von Zeit zu Zeit abgestellt und hatte noch mehr Gewinn von der Aufnahme.

Winterreise mit Frauenpower! Im Booklet ihrer eigenen Einspielung hatte sich die französische Altistin Nathalie Stutzmann, noch über einen Mangel an Aufnahmen mit Sängerinnen beklagt. In der Produktion von Et’Cetera werden jetzt gleich fünf Solistinnen auf einmal aufgeboten (KTC 1592). Es handelt sich um Wendeline van Houten, Merlijn Runia, Jannelieke Schmidt, Nikki Treurniet und Ellen Valkenburg, die sich am Königlichen Konservatorium Den Haag kennenlernten und zum Ensemble Coco Collektief zusammengeschlossen haben. Sie treten auch einzeln in Opern und mit Liedprogrammen auf. Ihr Pianist ist Maurice Lammerts van Bueren, der die Bearbeitung für diese ungewöhnliche Besetzung geschaffen hat. Er ist sich über das Risiko im Klaren. Wenn man die Winterreise, die „für viele Musikliebhaber mehr oder weniger heilig ist, arrangiert“, habe man das Gefühl, sich aufs Glatteis zu begeben. „Doch es geht beim Arrangieren selten um ein Verbessern des Originals. Vielmehr geht es um neue Ansätze, um eine Fassung, die neben dem Original bestehen kann.“ Daran sind Zweifel angebracht. Wenn Schubert seine Winterreise mehrstimmig hätte haben wollen, hätte er sie so komponiert. Durch die Bearbeitung wird die Struktur ohne jeden Mehrwert zerstört. Der gut gemeinte Versuch, der live noch eher vorstellbar ist als im Studio, wird zur formalen Spielerei, zumal die Stimme der Solistinnen in ihrer dissonanten Unterschiedlichkeit, die gewollt zu sein scheint, dem Zyklus keinen Halt geben. Die Winterreise ist durch die Vielzahl von Aufführungen womöglich überstrapaziert. Überfluss verführt zu Experimenten, die schnell ins Leere laufen. Wenn aber eine solche Neuerscheinung zur Beschäftigung mit dem Original anregt, dann hat sie auch einen Zweck erfüllt.

Schon frühzeitig haben sich Frauen der Winterreise bemächtigt. Lotte Lehmann ist das prominenteste Beispiel, später traten Christa LudwigBrigitte Fassbaender und – man möchte es kaum glauben – Barbara Hendricks hinzu. In der akustischen Hinterlassenschaft von Kirsten Flagstad stößt man auf die „Krähe“, die „Post“ und den „Wegweiser“. Die im Liedschaffen sehr bewanderte Elisabeth Schwarzkopf – auch das ist eine Information – hat aus gutem Grund auf Lieder aus der Winterreise gänzlich verzichtet. Bearbeitungen sind spätestens seit Franz Liszt in Mode. Er hat zwölf Lieder für Klavier transkribiert. Der „Wegweiser“ ist von Anton Webern mit Orchester versehen worden. Eine Fassung des Zyklus für Tenor und Streichquartett von Jens Josef hat Christian Elsner produziert. Der Tenor Hans Peter Blochwitz hat sich der Bearbeitung von Hans Zender zugewandt. Mit Christoph Prégardian gibt es eine Winterreise für Tenor, Akkordeon und Bläserquintett. Der gehörlose Schauspieler Horst Dittrich übersetzte den Text des 2007 in die österreichische Gebärdensprache und führte ihn in den Jahren in unter anderem in Wien und Salzburg auf. Vom Kantor und Komponist Thomas Hanelt stammt eine Bearbeitung von zwölf Liedern für gemischten Chor und Klavier. Es ließen sich noch viele andere Versionen finden.

In die Abteilung, wo die besondere musikalische Ware lagert, gehört für mich die bereits erwähnte Nathalie Stutzmann, die französische Altistin und Dirigentin. Sie ist die einzige Sängerin, die nicht davor zurück schreckte, gleich alle drei Zyklen, nämlich WinterreiseDie schöne Müllerin und Schwanengesang einzuspielen. Die Aufnahmen, die zwischen 2003 und 2008 entstanden, sind gebündelt in einer Box bei Erato herausgekommen (082564237012), wunderbar und sehr präsent im Klang. Zuvor waren sie einzeln beim Label Calliope zu haben. Für die Begleitung ist Inger Södergren zuständig, der die Sängerin nach eigenem Bekunden sehr viel zu verdanken hat. Ohne die Begegnung mit ihr, hätte sie „vielleicht niemals die Liederzyklen von Schubert aufgezeichnet“, sagt sie in einem Interview, das im Booklet abgedruckt ist. Darin wird sie auch gefragt, „ob auch andere Altistinnen Schubert aufgezeichnet haben“. Antwort: „Ich habe danach gesucht, ohne Erfolg…. Kathleen Ferrier hätte es hervorragend machen können, doch vielleicht wagte sie es nicht; schließlich sprechen wir von einer Zeit, in der es für Frauen nicht zum guten Ton gehörte, Lieder mit männlichen Erzählfiguren zu singen.“ Was nun? Die Ferrier hat sehr wohl Lieder von Schubert, nach denen ganz allgemein gefragt worden war, eingespielt, die Altistinnen Maria OlszewskaSigrid Onegin und Ernestine Schumann-Heink auch. Nachweislich nur nichts aus den besagten Zyklen. Das hätte redaktionell deutlicher gemacht werden können. Und die schon erwähnte Lotte Lehmann hat sich an ihre Winterreise immerhin bereits 1931 gewagt. Und weiter im Interview: „Die Dinge haben sich seither ein wenig geändert, auch wenn es immer noch einige hartnäckige Frauenfeinde gibt! Doch würde man sich um die kümmern, wäre das solistische Repertoire der Frauen überaus beschränkt.“ Nathalie Stutzmann gibt sich kämpferisch. Das ist ihr gutes Recht. Nur hat sie nicht so ganz Recht. Wer würde schon den Frauen ihr Repertoire streitig machen wollen? Niemand hat die Lieder gezählt, die jemals für Frauenstimmen komponiert wurden, idiomatisch und inhaltlich. Dabei müssen Frauen nicht zwangsläufig auch als Erzählerinnen in Erscheinung treten. Ob die nicht gar in der Mehrzahl sind?

Es ist die alte Frage, ob es Sinn macht, dass Frauen beim Liedgesang in die Männerrollen schlüpfen und umgekehrt. Mir ist es prinzipiell egal. Immerhin ist Fischer-Dieskau nicht der Versuchung unterlegen, zum Beispiel „Gretchen am Spinnrade“ in seine große Edition der Schubert-Lieder aufzunehmen. Zurück nun zu dem, was die Stutzmann sängerisch zu bieten hat. Das ist sehr viel. Ich finde es immer noch mutig, dass sie sich mit aller Konsequenz den Zyklen zugewandt hat. Ganz glücklich bin ich damit aber nicht geworden. Mit ihrer Erda-Stimme bringt sie für meinen Geschmack zu viel Dunkelheit hinein. Also ob die Geschichten unter der Erde oder bei Nacht spielten. Es fehlt mir Licht, das es in diesen Liedern auch gibt. Manchmal fühle ich mich gar an ein einen Altus, von dem noch die Rede sein wird, erinnert. Legt man aber derlei Einwände und Bedenken zur Seite, findet sich eine starke gestalterische Kraft. Mit leicht opernhaftem, gar veristischem Touch. Im Klavierpart werden solche Eindrücke durch starke dramatische Züge noch verstärkt. Das Spiel ist oft sehr hart, gewollt hart. Ein Schubert also, bei dem wirklich alles anders ist. Darauf zielt die Sängerin wohl auch. Das Experiment ist gelungen, wobei ich mir am Ende doch etwas mehr Wortdeutlichkeit gewünscht hätte, die nicht durchgängig geben ist.

Auf eine Winterreise, die aus dem Rahmen fällt, war ich besonders gespannt – auf die Einspielung mit dem in Israel geborenen Altus Zvi Emanuel-Marial. Er ist nicht der erste Sänger mit dieser Stimmlage, der sich die Winterreise vornimmt. Seine Einspielung erschien bei Thorofon (CTH2615). Der Auftakt dieser CD ist bewegend in seiner Schlichtheit und in seinem natürlichen Fluss. Voraussetzungen für dieses Gelingen liegen aber auch im Lied „Gute Nacht“ selbst. Es ist formal nicht sehr extrem, sondern musikalisch ausgeglichen. Schon die Nummer zwei, die „Wetterfahne“ hat es in sich und geht nicht eben leicht über die Lippen. Die Dramatik nimmt zu. Im dritten Lied „Gefrorene Tränen“ ist auch Tiefe gefragt, die nicht organisch angelegt ist in der Tessitura des Sängers. Es scheint, als müsse er sie künstlich erzeugen. Sie wirkt fremd, nicht zu seinem eigenen Organ gehörig. Über vierundzwanzig Lieder, für die Zvi Emanuel-Marial mit seinem Pianisten Philip Mayers gut siebenundsechzig Minuten braucht, stellt sich eine gewisse Redundanz ein. Ist es so, dass ein Altus diesen Brocken am Ende doch nicht durchhält? Technisch schon, nicht aber im Ausdruck? Es wäre wünschenswert, würde er weiter an der Winterreise arbeiten und in ein paar Jahren ein Resultat präsentieren, das ein größeres Spektrum hat. Seine Stärke ist die Mittellage mit ihrem leichten Hang zum Tremolo, was mir gefällt, weil ein Ausdrucksmittel daraus wird. Dieses Tremolo ist wie ein kleines inneres Beben, es illustriert Unruhe, Unglück, Verzweiflung. Wer die CD nicht nur einmal hört, sondern sie mehrfach auf sich wirken lässt, vielleicht auch mal dieses oder jenes Lied einzeln herausnimmt, freundet sich am Ende doch noch mit der Interpretation an. Sie bleibt dann kein Fremdkörper mehr im Regal zwischen Peter Anders, Hans Hotter, Christian Gerhaher oder Dietrich Fischer-Dieskau, sondern wird zur Ergänzung.  Rüdiger Winter

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Eine Winterreise szenisch bei NAXOS: Wohl alle Sängerinnen und Sänger haben sich irgendwann einmal mit Schuberts Winterreise auseinandergesetzt; auch Bearbeitungen gibt es immer wieder. Nun hat sich der Regisseur Christof Loy gemeinsam mit der schwedischen Mezzosopranistin Anne Sofie von Otter dem Liederkreis auf ganz andere Weise genähert: Im Februar 2022 gab es im Theater Basel eine szenische Bearbeitung von Schubert-Liedern, die sich unter dem Titel Eine Winterreise in einer Art Kaleidoskop mit Schuberts Leben und den in seinen Liedern zum Ausdruck gekommenen Gefühlen beschäftigt. Von der Aufführung am 21. Februar 2022 im Theater Basel wurde ein Mitschnitt gefertigt, den NAXOS als DVD herausgebracht hat. Wenn sich der Vorhang öffnet, sieht man in einen dunklen, mit warmen Braunfarben getäfelten Raum, in dessen Mitte ein Hammerflügel steht. Das Bühnenbild von Herbert Murauer soll von den Ballhäusern aus dem Ende des 19. Jahrhunderts inspiriert sein, in dem sich jetzt Stühle stapeln und die Decke baufällig ist. Die Sängerin tritt als Er auf und stellt, wie Loy es ausdrückt, Schuberts Seele dar. Daneben bewegen sich vier Tänzerinnen und Tänzer als Der Doppelgänger Nicolas Franciscus, Kristian Alm als Schuberts Freund Schober sowie als Viola Giulia Tornarolli und Matilda Gustafsson als Die Kurtisane. Neben fünf einzelnen Liedern, einigen aus der Müllerin und dem Schwanengesang werden aus der titelgebenden Wintereise nur sechs Lieder verwendet. Dazu kommen wenige Instrumentalstücke und kurze nicht vertonte Text-Fragmente aus Der Traum von Schubert und aus Wilhelm Müllers Epilog zu Die schöne Müllerin. Im Zentrum des Abends stehen die nachdrücklichen Interpretationen von Schuberts Liedern durch Anne Sofie von Otter und den in Liedbegleitung besonders profilierten Pianisten Kristian Bezuidenhout. Hier erweist sich nun die hohe Gestaltungskunst der Sängerin, die z.B. in Im Abendrot, Nachtstück oder „Einsamkeit“ ihren immer noch schlanken, in allen Lagen abgerundeten Mezzo mit perfektem Legato in wunderbarer Ruhe fließen lässt. Auch führt sie die Stimme bruchlos und ungemein flexibel durch die schnelleren Lieder wie die Taubenpost oder Die Post aus der Winterreise. Ebenso ausdrucksstark gelingen ihr und dem kongenialen Begleiter in dichtem partnerschaftlichem Musizieren die dramatischeren Lieder wie Der Lindenbaum oder Der Doppelgänger. Zu allem sind die Tänzerinnen und Tänzer in Bewegung, um die „zeitlosen Themen wie Erinnerung, Vergänglichkeit und Todesangst“ (Christof Loy) tänzerisch darzustellen. Schubert hat allerdings in seinen Liedern die jeweiligen Stimmungen, zu denen auch depressive Melancholie gehört, kompositorisch so genial gestaltet, dass sie meiner Meinung nach keiner zusätzlichen pantomimischen oder tänzerischen Illustration bedürfen. Am Schluss erhielten alle Mitwirkenden starken, begeisterten Applaus (NAXOS 2.110751).  Gerhard Eckels                         

Max Lichtegg

 

Auf den Tenor Max Lichtegg bin ich vor Jahren durch ein Foto gekommen. Es zeigt ihn als Lohengrin. Ein schöner junger Mann mit blonden Locken. Ja, so hatte ich mir meine liebste Gestalt von Wagner immer vorgestellt, die in einem Nachen von einem Schwan gezogen angefahren kommt, um der bedrängten Elsa in höchster Not beizustehen. Das Foto stammt aus einer Inszenierung der Wiener Staatsoper von 1949. Mein erster Bühnen-Lohengrin in Weimar, wo die Oper bekanntlich uraufgeführt worden ist, war einen Kopf kleiner als seine Elsa, dunkelhaarig und neigte zur Fülle. Stimmlich machte er durchaus etwas her. Ich erinnere mich an einen leichten italienischen Einschlag. Wie mag nun Lichtegg geklungen haben? Es ist keine Aufnahme und kein Mitschnitt überliefert. Das ist schade, zumal es in London Pläne für Szenen im Studio gab. Erstmals hatte Lichtegg den Lohengrin 1944 in Zürich gesungen. Kritiker konnten und wollten sich den Tenor, der in Operetten und Mozart-Opern beschäftigt war, in dieser Rolle nicht vorstellen. Schließlich kam die Neue Zürcher Zeitung zu dem Schluss: „Die unerquicklichen und teilweise wenig taktvoll geführten Diskussionen um unseren neuen Lohengrin scheinen dem Publikumszuspruche keineswegs geschadet zu haben. Sämtliche Wiederholungen waren bis jetzt ausverkauft, und an begeisterten Dankeskundgebungen fehlte es ebenso wenig.“ Lichtegg sei „sehr erfreulich in die anspruchsvolle Titelpartie hineingewachsen und hält sie nach wie vor über die Gralserzählung hinaus bewundernswert durch bis zur letzten Note“. Mit monatelanger Unterbrechung folgte in Basel, schließlich 1947 Bern, wo ein amerikanischer Agent auf ihn aufmerksam wurde, dessen Interesse ursprünglich Marko Rothmüller galt, der den Heerrufer gab. Die Folge war ein Vertrag für die USA, wo vier Konzerte zu absolvieren waren. Ein Auftritt als Lohengrin an der Mailänder Scala scheitert daran, dass Lichtegg die Rolle nicht – wie damals an diesem Haus üblich – auf Italienisch beherrschte.

Mit einem Umfang von 560 Seiten ist die Biographie von Alfred A. Fassbind im Römerhof Verlag Zürich erschienen (ISBN 978-3-905894-31-8).

All diese Fakten hat der Schweizer Sänger und Musikschriftsteller Alfred A. Fassbind in seinem Buch Max Lichtegg – Nur der Musik verpflichtet zusammengetragen. Mit einem Umfang von 560 Seiten ist es im Römerhof Verlag Zürich erschienen (ISBN 978-3-905894-31-8). Es folgt dem klassischen Muster einer Biographie, beginnt mit Schilderungen des sozialen Umfeldes in Buczacz, einer Kleinstadt in Galizien, wo Lichtegg nach offiziellen Angaben am 17. Januar 1910 als Sohn Munio des jüdischen Hutfabrikanten David Lichtmann geboren wurde und endet mit dem plötzlichen Tod des Sängers am 22. September 1992 in Zürich. Als der Junge drei Jahre alt war, zog die Familie nach Stanislaw, die Gebietshauptstadt, wo im Gefolge des Ersten Weltkriegs das Anwesen der Eltern – der Vater war bereits gestorben – niedergebrannt wurde. Dabei kamen auch die Mutter und der jüngere Bruder Benjamin ums Leben. Verloren gingen auch alle Dokumente und Nachweise, sodass das Geburtsdatum später amtlich festgesetzt wurde. In Wien fand das Waisenkind 1919 Aufnahme bei einem Onkel. Im Knabenchor der Synagoge fiel sein Stimme auf. Damit war der Weg in seine künstlerische Laufbahn vorgegeben. Nach dem Tod des Onkels bezog er 1929 die Universität als Student der philosophischen Fakultät, verfolgte nebenbei aber zielstrebig seine musikalischen Interessen und nahm Gesangsunterricht. Der renommierte Pädagoge Victor Fuchs verschaffte ihm einen kostenlosen Platz in seiner Klasse. Aus Munio Lichtmann wurde Max Lichtegg. Unter diesem Künstlernamen debütierte mit seiner ersten Opernrolle bei einer Werbevorstellung der Gesangsschüler als Almaviva in Rossinis Barbier von Sevilla. Im Buch findet sich sogar der Programmzettel wieder.

Die CD-Edition bei Andromeda gibt einen Überblick über das musikalische Schaffen des Tenors. Auf dem Cover ist er als Lohengrin zu sehen. 

Dieserart ist die dokumentarische Fülle. Man muss lange nach einer vergleichbaren Biographie suchen, die so in die Einzelheiten geht, dabei aber nicht bei der Hautperson verharrt. Im Umkreis von Lichtegg begegnen den Lesern die großen und weniger großen Namen der Zeit. Georg Solti und Lisa Della Casa müssen unbedingt genannt werden. Der ungarische Emigrant Solti lebte bis kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in der Schweiz, wo er sich auch als Pianist betätigte und Lichtegg 1946 bei der Schöner Müllerin in der Tonhalle in Zürich begleitete. Fassbind hat die Kritiken aufgetan, in denen dieser Liederabend regelrecht nachklingt. In einer dem Tenor gewidmeten CD-Edition, die beim Label Andromeda erschienen ist (ANDRCD 9127), wird diese Zusammenarbeit, die leider keine nachhaltige Fortsetzung fand, mit den Schubert-Liedern „Abschied“ und „In der Ferne“ von 1947 für die Decca belegt. Zeugnis der kurzen künstlerischen Partnerschaft mit der schon damals unverkennbaren Lisa Della Casa legt das Duett „Tat ich dir weh, verzeih‘ mir“ aus der Operette Tic-Tac von Paul Burkhard ab, der beide am Pult des Studio Orchesters von Radio Zürich auch begleitete.

Lisa Della Casa als Gräfin und Max Lichtegg als Flamand in Capriccio von Richard Strauss 1954 am Opernhaus in Zürich/ Foto Andromeda

Statt Lichtmann also Lichtegg. Nomen est omen. Für mich leuchtet die Stimme hell. Als habe sie Licht gespeichert. Sie verbreitet Wohlklang, Eleganz und Geschmeidigkeit. Es tut gut, ihm zuzuhören. Er bohrt nicht in der Tiefe, scheut Misstöne, um einem Gedanken dramatischen Nachdruck zu verleihen. Das brachte ihm den Vorwurf von Melomanen ein, zu oberflächlich zu agieren, zu unbeteiligt, zu gut gelaunt. Vieles klinge immer gleich. Ich kann diese Einwände sogar nachvollziehen, teilen möchte ich sie nicht. Denn dann müsste ich das, was ich als eine seiner Stärken empfinde, in Schwäche ummünzen. Lichtegg hat nicht das kräftigste Organ. Auch wenn er den Lohengrin bis zum Schluss mühelos durchstand, stellt sich eine gewisse Empfindlichkeit und Verletzlichkeit ein. Mir scheint, er hätte noch mehr an seiner Technik arbeiten können, um die Höhe, die gelegentlich aufgesetzt wirkt, zu stabilisieren. Man gewinnt manchmal den Eindruck, als habe er sich zu sehr auf seine Naturstimme verlassen. An Talent und Begabung gebrach es nicht. Damit war er überreich gesegnet. Immer wieder rühmen Kritiker seinen schwebenden und beseelten Vortrag. Das Timbre hat einen hohen Wiedererkennungswert und erinnert an Richard Tauber, der – wie zu lesen – sein Idol war, Josef Traxel und Karl Friedrich, die dasselbe Repertoire sangen wie er – neben Oper und Lied auch Operette.

In der ersten deutschsprachigen Aufführung von Igor Strawinskys „The Rake‘s Progress“ im Jahr 1951 in Zürich war er der Tom Rakewell/ Foto Andromeda

Sowohl das Buch als auch der akustische Nachlass vermitteln anschaulich, wie breit dieser Sänger aufgestellt war. Alfred A. Fassbind hat auch das Vorwort im Booklet der Andromeda-Edition beigesteuert und dürfte auch selbst an der Zusammenstellung maßgeblich beteiligt gewesen sein. Dadurch ist ein direkter Zusammenhang mit seinem Buch gegeben. Schon bei der Lektüre kam es mir vor, als würde Musik aus den Seiten erklingen, so plastisch sind die Beschreibungen und viele der ausführlich zitierten Kritiken. Damals konnten deren Verfasser noch Stimmen beschreiben. Gäbe es keine Tondokumente, der interessierte Musikfreund hätte zumindest eine Vorstellung von der Stimme Lichteggs gewonnen. Nun ist zum Glück kein Mangel an Aufnahmen, auch wenn der undankbare Sammler gern gerade das vermisst, was es nicht gibt. Wie den Lohengrin. Dass Lichtegg Wagner singen konnte, vermittelt die große Schlussszene aus dem ersten Aufzug der Walküre, beginnend mit „Ein Schwert verhieß mir der Vater“. Mitgeschnitten wurde sie am 14. Dezember 1947 beim USA-Gastspiel im kalifornischen Escondido. Die Tonqualität der Radioübertragung mit der originalen An- und Absage ist im Großen und Ganzen superb. Sieglinde wird von Rose Bampton, die in dieser Partie sehr gefragt war, betont energisch gesungen. Dirigent Alfred Wallenstein schlägt mit dem Los Angeles Philharmonic Orchestra ein geruhsames Tempo an, so dass beide Solisten alle Zeit der Welt haben, die berühmte Szene musikalisch genau und absolut textgetreu auszubreiten.

Georg Solti begleitete Max Lichtegg in Zürich bei Liederabenden/ Foto Andromeda

In den starken Eindruck mischt sich die Klage darüber, dass nicht mehr Wagner mit Lichtegg überliefet ist. Dafür gibt es in der Box Hoffmanns Erzählungen, Frau Diavolo, Verkaufte Braut, Freischütz, Zauberflöte und Don Giovanni – wenn auch nicht durchweg in perfektem Klang. Mozart war für Lichtegg von zentraler Bedeutung. Er sei „Balsam für die Stimme“, wird er zitiert. Selbst im Alter von 76 Jahren überraschte der Sänger noch mit der vom Klavier begleiteten Bildnis-Arie, die auch in der Box zu finden ist. „Nicht zufällig fand er als Tamino-Interpret die größte Anerkennung, und keine seiner 120 Partien hat er länger im Repertoire behalten“, so Biograph Fassbind. Seltenheitswert besitzt der Auftritt als Schujskij 1955 in Monte Carlo neben Nicola Rossi-Lemeni als Boris Godunow unter der Leitung von Otto Ackermann. Der hatte die Oper zuvor in Zürich dirigiert und bestand darauf, dass Lichtegg auch diesmal dabei war.

Von Gastspielreisen unterbrochen blieb Zürich für den Familienmensch, der die Geborgenheit schätzte, zentrale Wirkungsstätte, wo er nach Angaben des Buchautors zwischen 1940 und 1956 als festes Ensemblemitglied 44 Opernrollen gestaltete, darunter bemerkenswert viele zeitgenössische Komponisten wie Schoeck, Hindemith, Menotti und Henze. In der ersten deutschsprachigen Aufführung von Igor Strawinskys The Rake‘s Progress im Jahr 1951 war er der Tom Rakewell. Noch mehr als fünfundzwanzig Jahre später sang er die Szene „Hier steh“ – wie ein privater Mitschnitt mit Klavierbegleitung in der Box verdeutlicht – mit erstaunlicher Sicherheit. Fassbind folgt seinem Sänger auf allen Stationen, als sei er selbst dabei gewesen, und lässt auch diskrete Einblicke in persönliche Ereignisse zu. Mit ordnender Hand fügt er die Fülle des Materials zu einer reich bebilderten Beschreibung einer Lebensreise zusammen, auf der sich Leser mitgenommen fühlen können.

Max Lichtegg als Lohengrin mit Monika Huber als Elsa bei einer Aufführung der Oper 1943 in Zürich/ Foto Andromenda

Das Buch endet mit einem akribischen Rollenverzeichnis und einer Diskographie. 59 Opernrollen stehen 67 Rollen in Operetten gegenüber. Beide Seiten halten sich in etwa die Waage. Im Opernblock dominiert Mozart auch bei internationalen Gastspielen mit Tamino, Don Ottavio, Belmonte und Idomeneo. Ferrando ist lediglich mit einem Auftritt 1956 in Straßburg verzeichnet. Vergleichsweise oft sang er den Hans in der Verkauften Braut, den Alfred in der Traviata, den Herzog im Rigoletto und den Fenton im Falstaff. Sogar Don Carlos ist 1939 in Basel dokumentiert. Als Max im Freischütz war er ebenfalls in Basel und in Monte Carlo zu hören. Lohengrin sang auch an der Wiener Staatsoper, wo er in zwölf verschiedenen Werken insgesamt fünfundzwanzigmal gastierte. Den Stolzing in den Meistersingern hatte er zwar für Amerika studiert, letztlich aber nicht realisieren können. Bei den Operetten dominiert Franz Lehár mit Sou-Chong in Land des Lächelns, Goethe in Friderike, Paganini und Alexej in Zarewitsch. In Strauß-Operetten ist Lichtegg ebenfalls sehr umtriebig gewesen, so als Eisenstein in der Fledermaus, Herzog Urbino in der Nacht in Venedig und Barinkay im Zigeunerbaron.

Das Studium der Diskographie ergibt eine deutliche Diskrepanz zwischen Oper und Kunstlied auf der einen und so genannter heiterer Muse auf der anderen Seite. Es dominiert die leichte Kost. Fassbind hat insgesamt 257 einzelne Titel nachweisen können. Gesamtaufnahmen sind nicht dabei, lediglich einige Querschnitte wie durch Lehárs Lustige Witwe von 1951 (Decca) sowie ein Jahr später durch Kálmáns Gräfin Mariza und Benatzkys Weißes Rössl (Elite). Gemessen an der Diskographie würde Max Lichtegg als Operettenstar und Unterhaltungskünstler in die Musikgeschichte eingehen. Das würde ihm nicht gerecht. Und er hat auch selbst immer wieder gegen diese Image angesungen, das die Aufgaben, die ihm schon frühzeitig übertragen worden waren, mit sich brachten. Dennoch kommt mir es so vor, als habe die lebenslange Tätigkeit im leichten Fach auch sein Wirken auf der Opernbühne und als klassischer Liedsänger stimmlich nachhaltig geprägt. Wer sich davon ein Bild machen möchte, greife zum Auftrittslied des Boccaccio. Es ist, als ob Lichtegg beim Singen den Text diktiert. So genau und pointiert singt er. Wem das gelingt, der versteht sich auf Gesang aller Sparten. Rüdiger Winter

 

Das Foto oben zeigt Max Lichtegg als Lohengrin im Ausschnitt des Covers der CD-Box zu sehen, die bei Andromeda erschienen ist. Alle anderen Fotos sind dem Booklet mit Dank entnommen, Sie finden sich teilweise auch in der Biographie, die Alfred A. Fassbind über den Tenor im Römerhof Verlag verfasst hat. 

Samiel*innen

 

Noch ein Freischütz. Für Marek Janowski ist es nicht die erste Aufnahme. Er und das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin spielten die Oper 1994 im Studio für die RCA ein. Mit seiner Euryanthe hatte er zwanzig Jahre zuvor seinen Ruf als ein Sachwalter deutscher Romantik begründet. Diese in Dresden entstandene Einspielung behauptete sich auch deshalb dauerhaft am Markt, weil sie eine der ersten großen Schallplatteneinspielungen der kürzlich verstorbenen Jessye Norman ist. Sie wurde aber nie auf diese Sängerin reduziert, zumal sie keine Idealbesetzung war. Den Stempel hatte der Dirigent der Platteneinspielung aufgedrückt.

Nun ging Janowski abermals vor die Mikrophone. Diesmal im Sendesaal des Hessischen Rundfunks. Er dirigiert die Frankfurter Radio Symphony. Erschienen ist die Aufnahme bei Pentatone (PTC 5186 788; VÖ Ende Oktober 2019). Selbst übertroffen hat er sich nicht. Seine erste Einspielung ist bis heute hörenswert geblieben, nicht zuletzt wegen Peter Seiffert als Max. Sie entstand auf der Grundlage des Originals, also auch mit den Dialogen. Es wird sogar noch etwas mehr gesprochen als bei der Mutter aller Freischütz-Aufnahmen von 1958, die Joseph Keilberth für die EMI betreut hatte. Der immer wieder als zu biedermeierlich bekrittelte Text von Friedrich Kind hat heutzutage keinen guten Stand. Regisseure misstrauen ihm. Es gab viele Versuche, als besonders peinlich empfundene Stellen zu tilgen, wenigstens aber abzumildern. Dabei erwächst das gesungene Wort über weite Strecken doch sehr anschaulich und nicht unwirksam aus dem gesprochenen Text des 1821 uraufgeführten Werkes. Im Team der aktuellen Produktion wirkte der niederländischen Schauspieler Kasper van Kooten mit. In seiner Freischütz-Analyse im Booklet kommt er zu dem Schluss, dass Weber „das Singspiel als Gattung auf eine neue Ebene der Kultiviertheit“ gehoben habe. Gleichzeitig plädiert auch er dafür, die gesprochenen Dialoge zu reduzieren „ohne die Geschichte dabei unverständlich zu machen“.

Die vorliegende Version „soll es dem modernen Hörer erleichtern, die unvergängliche Frische und Kraft dieser außergewöhnlichen Oper uneingeschränkt zu erleben“. Janowski geht mit der Zeit und lässt sich auf diese Bearbeitung ein, mit der die Dialoge nach einer Vorlage von Katarina Wagner und Daniel Weber, die auch die Einstudierung übernahmen, neu erzählt werden. Als Sprecher treten Samiel (Corinna Kirchoff) und der Eremit (Peter Simonischek) in Aktion. Das Verständnis dieser Fassung, die im Booklet mitgelesen werden kann, setzt allerdings eine gewisse Kenntnis des Originals voraus, sonst kann ihr Nutzen auch vom „modernen Hörer“ gar nicht erfasst werden. In der melodramatischen Wolfsschlucht kommt die unkonventionelle Lösung vernehmlich an Grenzen. Denn dort müssen die Sänger schließlich auch sprechen. Alan Held, der amerikanische Bariton, macht dabei mit seinen Ausspracheschwierigkeiten nicht die glücklichste Figur und die viel beschworene Gleichberechtigung geht dann doch etwas zu weit, indem das nicht nur erzählende, sondern auch handelnde böse Prinzip in Gestalt des schwarzen Jägers Samiel weiblich ist. Also Samiel*innen! Dadurch fällt die Wolfsschlucht aus der Dramaturgie des Konzeptes heraus, mit dem die Probleme des Originals nicht gelöst werden. Sie wirkt wie isoliert und büßt an Dämonie ein. Auch die Szenen im Forsthaus gewinnen nicht durch die Bearbeitung. Jetzt tritt der Eremit mit milder Stimme als Erzähler auf. Gegen Ende wird er von Franz-Josef Selig sehr würdig, machtvoll und grüblerisch zugleich gesungen.

Musikalisch ist dieser Freischütz kein besonders großer Wurf. Janowski ist um Klarheit, Durchsichtigkeit und deutliche Strukturen bemüht, setzt immer wieder überraschende Akzente. Vom Holz sind betörende Klänge zu vernehmen, die Bässe werden effektvoll bemüht. Seine erste Aufnahme fand ich romantischer, stimmungsvoller und versonnener. Lise Davidsen aus Norwegen, die in diesem Jahr in Bayreuth als Elisabeth debütierte und für 2020 als Sieglinde angekündigt ist, singt die Agathe. Es scheint, als sei die 32jährige der Rolle, die ihr schwer in der Kehle liegt, bereits entwachsen. Sie klingt reif, sehr reif, singt zu groß und zu wenig lyrisch. Sie produziert einzelne schöne Töne, aber keine überzeugendes Rollenporträt. In den Szenen im Forsthaus will keine rechte Stimmung aufkommen, weil besonders hier der Erzähler mehr stört, als dass er den Fluss der Handlung erhellend befördert. Jetzt fängt auch Ännchen, die mit gebrochenem Deutsch wie eine junge Verwandte von sehr weit her wirkt, plötzlich zu sprechen an, indem sie nach dem Original von Friedrich Kind vorgeben muss, ein „grausenerregendes Beispiel“ zu kennen, das sie dann in ihrer berühmten Basen-Arie ausführt. Nach dieser unfreiwilligen Parodie macht die Russin Sofia Fomina eher zu viel als zu wenig. Sie überinterpretiert diese aus der Tradition des Singspiels kommende Arie und wird der Agathe nicht unähnlich. Max ist der meist als Heldentenor engagierte Andreas Schager. Der viele Wagner scheint nicht ganz spurlos an ihm vorübergegangen zu sein. Besonders bei herausgestellten Vokalen wie zu Beginn im Terzett „Oh, diese Sonne, furchtbar steigt sie empor!“ ist mir die Stimme zu unruhig. Schager läuft aber in seiner von einem Rezitativ raffiniert unterbrochenen Arie, die er sehr mächtig vorträgt, zu großer Form auf. Singend überzeugt der Kaspar Alan Held mehr als sprechend. Dann verliert sich sein Akzent, und er ist auch gut zu verstehen. Positiv fällt auf, dass Kaspar und Max stimmlich als etwa gleichaltrig zu erkennen sind, was für die Geschichte nicht unwichtig ist, denn schließlich kämpfen in ihnen auch zwei Rivalen um Agathe miteinander. Einen stimmgewaltigen Kuno steuert Andreas Bauer bei. Marcus Eiche ist ein energischer Ottokar, der junge begabte Christoph Filler singt den Kilian mit Biss. Mit dabei ist auch der Rundfunkchor des MDR aus Leipzig. Rüdiger Winter

Natürlich und bescheiden

 

Wer sich in der DDR mit Barockmusik beschäftigte, kam an Adele Stolte nicht vorbei. Was die gut zehn Jahre ältere Agnes Giebel im Westen war, ist sie im Osten gewesen. Vom einstige Gewandhauskapellmeister Kurt Masur ist der Ausspruch überliefert: „Wenn sie erschien, ging die Sonne auf. Ich habe immer versucht zu ergründen, wie sie trotz ihrer großen Erfolge so einfach – natürlich und bescheiden – bleiben konnte. Ich glaube, dass sie selbst die starke Überzeugungskraft ihrer Interpretationen nie angezweifelt hat.“ Das ist gut beobachtet. Die Stolte singt mit großer Sicherheit und Genauigkeit. Bei ihr kommen zuerst die Noten, danach die Ausdeutung. Ihre Stimme hat Sitz. Sie mogelt sich nicht über heikle Stellen hinweg. Eine gründliche Ausbildung und ihr Begabung bewahrten sie von Risiken jeglicher Art. Nie sang sie über ihre Verhältnisse. Um die Oper hat die am 12. Oktober 1932 im brandenburgischen Sperenberg geborene Pfarrerstochter, die schon frühzeitig mit Musik in Berührung kam, stets einen Bogen gemacht. Es sind keine Bühnenauftritte bekannt. Lediglich für eine in der deutschen Originalsprache gesungene Einspielung von Mozarts Bastien und Bastienne für das Label Eterna unter der Leitung von Helmut Koch ist sie neben Peter Schreier und Theo Adam zu hören – auch in den gesprochenen Dialogen, wobei sich vor allem bei den männlichen Solisten ein leichter sächsischer Akzent bemerkbar machte. Neben Bach-Kantaten im Rahmen der Archiv-Produktion der Deutschen Grammophon ist diese Einspielung auch in der Bundesrepublik erschienen und hat sie auch dort bekannt gemacht.

Berlin Classics hat in seiner Reference-Reihe Italienische Solokantaten von Georg Friedrich Händel aus dem Eterna-Katalog neu aufgelegt (0013972BC). Sie wurden 1970 mit Mitgliedern des Händel-Festspielorchesters Halle eingespielt. Dirigent war der damals achtundzwanzigjährige Thomas Sanderling, der bereits 1966 Musikdirektor in Halle geworden war und langsam aus dem Schatten seines berühmten Vaters Kurt Sanderling heraustrat. Stilistisch ist die schwungvolle Produktion noch der damals in Halle gepflegten DDR-Tradition verpflichtet.

Berlin Classics beließ es denn auch im Booklet bei einem Text von Walther Siegmund-Schulze (1916-1993), der in der DDR als eine Art Händel-Papst galt, ohne darauf hinzuweisen, dass er von 1972 stammt. Er war auf der Rückseite der DDR-LP abgedruckt und nahm Bezug auf die „auf dieser Schallplatte vereinigten Sopran-Kantaten“. Daraus wurden jetzt aus der Feder von Siegmund-Schulze die „auf dieser CD vereinigten Sopran-Kantaten“. Das ist eine unnötige Mogelpackung. Rüdiger Winter

Hommagen an Birgit Nilsson zum 100.

 

Im Nachklapp des 100. Geburtstages von Birgit Nilsson hat die Swedish Society, das Label ihres Heimatlandes, Puccinis Turandot in schlichter Form neu aufgelegt. Es handelt sich um die Studioaufnahme der RCA von 1959. Erich Leinsdorf leitet Chor und Orchester der Oper Rom (SD 1166/7). Ein halbes Jahr zuvor hatte die Nilsson als Turandot bei der Saisoneröffnung der Mailänder Scala Triumphe gefeiert und damit ihre Position im internationalen Musikbetrieb nachhaltig gefestigt. Die Rolle war fortan für fast zwanzig Jahre mit ihrem Namen verknüpft. Kaum eine andere Sängerin kam an ihr vorbei. Mitschnitte aus unterschiedlichen Jahrgängen und eine zweite Studioproduktion liefern Beweise ihrer Unschlagbarkeit. 1959 ist die Stimme wie aus einem Guss, auch in extremer Lage völlig makellos. Sie könnte noch viel weiter hinauf, würden ihr nicht durch die Partitur Grenzen gesetzt. Die Tiefe, die nie ihre Stärke gewesen ist, klingt natürlich und besser angebunden als in späteren Jahren. Für Jussi Björling kam der Calaf zu spät. Stimmlich war er bereits durch Krankheit gezeichnet. Er wirkt matt und angestrengt. Im Jahr darauf ist er gestorben. Mit dem Abstand von sechzig Jahren, die seit der Aufnahme verstrichen sind, kann Renata Tebaldi als Liù nicht mehr überzeugen. Sie ist mir nicht lyrisch und jung genug. Routiniert wirkt der Timur von Giorgio Tozzi. So reduziert sich die Bedeutung dieser Einspielung letztlich doch ganz und gar auf die Nilsson.

 

„Es war als würde man von einem Laserstrahl getroffen. Gestochen scharf, im positiven Sinn, nicht aggressiv“, sagt der britische Regisseur von Opernübertragungen Brian Large über Birgit Nilsson. Er kommt in der Dokumentation „A League of her Own“ von Thomas Voigt und Wolfgang Wunderlich zu Wort. Sein Urteil ist wie ein Motto. Es macht neugierig, zieht die Zuschauer in den Film hinein, der anlässlich des hundertsten Geburtstages der Sängerin entstand und bei Cmajor/Unitel erschien, in Blu-ray und im herkömmlichen Format (800008). Eineinhalb Stunden reiht sich Clip an Clip. Fotos werden wie in einem Album aufgeblättert. Zeitzeugen geben sich die virtuelle Klinke in die Hand. Eine Weltkarriere, die sich über vier Jahrzehnt erstreckt, im Schnelldurchlauf. Manche Szene hätte ich mir noch ausführlicher gewünscht.

Auch der Tenor Jonas Kaufmann, der zu jung ist, um die Nilsson noch selbst auf der Bühne erlebt zu haben, kommt zu Wort. Er kennt keine Stimme, die „solche Dimensionen erreicht hat“. Meinungen aktiver Sänger sind auch deshalb nützlich, weil die Nilsson dadurch in der Gegenwart verortet und nicht nur als historisches Phänomen wahrgenommen wird. Sie wirkt weiter. Nicht nur als Projektionsfläche für Fans. Marilyn Horne, die genau so wie Kaufmann ihre Gesangstechnik rühmt, erinnert sich: „Für uns alle war sie wie ein Leuchtfeuer.“ Auch James Levine, der ehemalige Musikchef der Metropolitan Opera in New York, der die Nilsson gut kannte, lässt in seinem Urteil keine Zweifel aufkommen: „Es gab keine wie sie.“ Und der Regisseur Otto Schenk sagt in seiner lakonisch-trockenen Art: „Die Nilsson war die beneidetste Stimme, die ich kenne. Es kam alles mühelos. Man hat gar keine Technik gemerkt oder gespürt.“ Christa Ludwig: „Sie hatte keinerlei Schwierigkeiten. Sie konnte eben immer und jeden Tag singen.“ Angesichts ihrer Turandot, deren Auftrittsszene mit einer Filmsequenz der RAI von 1969 belegt wird, fasst der Dirigent Antonio Pappano seine Wahrnehmungen so zusammen: „Eine Stimme wie Feuer und Eis.“ Mühelos dringe sie durch den Klangteppich des Orchesters. Absolut „direkt und furchtlos“ sei der Ansatz der hohen Töne.

Die wenigen kritischen Anklänge in diesem Film kommen erst zum Schuss hin von der Sängerin selbst. Als sie 1980 nämlich zweifelt, ob es für die Elektra bei der ersten Fernsehübertragung aus der Met nicht zu spät sei. Levine und andere Kollegen widersprachen. Nein, sie sei nicht zu alt. Das Ergebnis, das in Ausschnitten zu sehen und zu hören ist, gibt der Sängerin Recht. Auch mit den Schallplatteneinspielungen wird – wie es im Film heißt – ein heikler Punkt berührt. Keine Technik war in der Lage, die Stimme realistisch einzufangen. Noch einmal Otto Schenk: „Das Wunder Nilsson war nicht auf der Platte, das Wunder war auf der Bühne mit einem vollen Orchester.“ Zitiert wird der Stimmenexperte Jürgen Kesting mit seinem Vergleich, Nilsson im Wohnzimmer zu hören sei wie Porsche fahren im Hinterhof.

Thomas Voigt ist einer der Autoren der Dokumentation. Er spricht auch den begleitenden Text auf der deutschen Tonspur. Foto: Facebook

Bis es soweit ist, wird an den vielen von Musik unterlegten Stationen ihrer glanzvollen Karriere Halt gemacht: Wien, Bayreuth, London, Mailand, New York, Stockholm, wo sie neue Rollen zuerst ausprobierte. Ihre ausführlich behandelte Herkunft von einem Bauernhof im Süden Schwedens bildet zu dem Glanz dieser Städte gar keinen Kontrast. Es scheint, als habe ihre robuste Jugend, in der sie auf dem Feld arbeitete und Kühle molk, erst die Grundlage für die lange und strapaziöse Karriere gelegt. Auf Teufel komm raus und gegen alle Widerstände wollte sie Sängerin werden. Sie überlebte die Galeerenzeit an der schwedischen Musikakademie, wo ihr der schottische Tenor Joseph Hislof, der mit einem Ausschnitt aus seiner traumhaften Gralserzählung zitiert wird, zunächst abfällig bedeutete, dass der Sängerberuf absolut nichts für Bauen sei. Man könne zwar Stimme, müsse aber auch Hirn haben. Später gestand er seinen Irrtum ein. 1946 dann das – und zwar als Einspringerin – das Bühnendebüt als Agathe unter dem unerbittlichen Leo Blech, der sie bei den Proben zu Tränen der Verzweiflung brachte. Der Erfolg war auf ihrer Seite, Publikum und Kritik eins in ihrer Begeisterung. Darauf folgte unmittelbar Verdis Lady Macbeth mit dem Dirigenten Fritz Busch, der sich fürsorglich ihrer annimmt und damit auf ganz gegensätzliche Weise zu Blech Anteil an ihrer Laufbahn nahm. Später, auf dem Höhepunkt ihres Ruhm, staunte sie selbst, dass sie sich diese Rolle habe zutrauen können. 1965 sang sie die Rolle abermals in Stockholm – und zwar für das Fernsehen. Es gibt einen Ausschnitt aus der Wahnsinnsszene. Der Aufstieg in die höchsten Lagen ist so perfekt, dass er schon in die Nähe der Lucia gerät. Und es stellt sich mir die Frage, ob ihre Stimme nicht durch den permanenten Einsatz im strapaziösen hochdramatischen Fach nicht an Leichtigkeit einbüßte, die über diesem Dokument schwebt. Diesen Film würde ich gern komplett sehen. Ob in der Garderobe, in Talk-Runden oder in Interviews: Sie war witzig, schlagfertig, auf eine unverwechselbare Art einfach und direkt. Mit ihr begann 1986 der Regisseur und Intendant August Everding seine legendäre Da-capo-Sendereihe, die es bis 1998 auf siebzig Folgen brachte.

Schließlich kehrt der Film auf anrührende Weise auf den um- und ausgebauten Bauernhof zurück, den die Nilsson, die ihre Herkunft nie verleugnete, bis zum Schuss bewohnte und der heute eine Gedenkstätte ist. In der Nähe liegt sie begraben. Ihr offenbar nicht unbeträchtliches Vermögen brachte sie in die Birgit Nilsson Foundation – das letzte große Projekt ihres Lebens – ein. Ziel dieser Stiftung ist die Anerkennung hervorragender Sänger und Musiker, die Musikgeschichte geschrieben haben. Erster Preisträger war auf ihren Wunsch 2009 Plácido Domingo, gefolgt von den Wiener Philharmonikern und Riccardo Muti. Der Preis ist mit einer Million Dollar dotiert und wird vom schwedischen König übergeben – wie der Nobelpreis. Domingo lässt das Geld den Gewinnern seines eigenen Gesangswettbewerb „Operalia“ zukommen. Da sei sicher im ihrem Sinne, sagt er im Film.

 

Szenenwechsel. Auf einem Berliner Flohmarkt fielen mir zwei Plattenkassetten in die Hände. Salome und Elektra von Strauss. Wie neu. Auf dem Deckel der Elektra prangten noch die Auszeichnungen wie Orden auf der Brust eines Feldherrn: Deutscher Schallplattenpreis und Grand Prix de Disque. Die kreisrunden Sticker waren aufgeklebt, ihre Erhabenheit mit der Fingerspitze zu ertasten. Erst in späteren Auflagen wurden sie in den Druck integriert. Ich hatte offenbar ein Original erwischt. Eines mit echtem Aufkleber. „Gutt Musik, Singer beriemt.“ Der Händler witterte ein Geschäft. Er wollte mich nicht von der Angel lassen. Für den Moment war ich tatsächlich versucht, die beiden Decca-Alben mit dem Leinenrücken für lumpige zwei Euro zu erwerben. Und damit zu retten. Zu retten vor dieser Misshandlung. Der schäbige große Pappkarton unter dem Wühltisch, den sich diese genialen Strauss-Einakter mit Heinz Erhard und Melodien von der Reeperbahn teilen mussten, schien mir nicht der passende Rahmen für die Präsentation und Aufbewahrung. Solche Kunstwerke gehören doch ins Museum, räsonierte ich vor mich hin. Wirklich?

Geht es nicht eine Nummer kleiner? Ist es nicht vielmehr auch so, dass mich beim Herumkramen in einer alten Kiste unverhofft eine schöne Jugenderinnerung heimsuchte, die ich nicht diesem profanen Flohmarktschicksal ausgesetzt wissen möchte? Da ist er nämlich wieder, dieser Schauer, als ich staunend und ergriffen neue Aufnahme im Schaufenster des Plattenladens erspähte und im Kopf schnell zusammenrechnete, wie viel für den Monat noch bliebe, wenn jetzt eine nicht geplante Ausgabe für die Salome fällig würde. Meine Generation, die sich Schallplatten oft noch von Munde absparen musste, tritt ab. Ihr Erbe hat nicht an Wert gewonnen. Landet es bei ebay oder auf einem Flohmarkt, ist das noch die gnädigste Lösung. Im schlimmsten Fall wird Vinyl als Sondermüll entsorgt. Ich werde die Schallplatte als Kulturgut nicht retten können.

La Nilsson. In der Edition der Decca zum 100. Geburtstag ihres einstigen Exklusivstars Birgit Nilsson (483 2787) am 17. Mai 2018 sind die CD-Boxen platzsparend auf das zusammengeschrumpft, was sie in Wirklichkeit sind, Tonträger. Die Aufnahmen selbst sind ja nicht verloren. Ausmaße und physisches Gewicht der repräsentativen Neuerscheinung bilden aber einen seltsamen Kontrast zu den Entwicklungen des digitalen Zeitalters, soviel Musik wie möglich auf immer kleiner werdenden Speichermedien unterzubringen oder mittels Streaming ohne mediale Zwischenlagerung auf direktem Wege von der Quelle zum Verbraucher zu bringen, unabhängig davon, wo der sich gerade aufhält. Die Edition gibt sich konservativ-großbürgerlich wie ein gedruckter Brockhaus in nüchternen Zeiten von Wikipedia. Als ob man es noch einmal zeigen will. Sammler wissen solche Angebote durchaus zu schätzen. Nicht nur der Exklusivität wegen. Obwohl auf den ersten Blick ziemlich ausladend, sind auch diese Editionen am Ende platzsparend. Gegen den Berg der vielen offiziellen Aufnahmen der Nilsson, ob nun auf LP oder CD, ist dieser feierliche Karton eine Miniaturschatulle. Uund unter dem Label der Universal-Tochter Decca sind nun auch Produkte der Deutschen Grammophon sowie von Philips und EMI einbezogen – die gesammelten Werke der Birgit Nilsson.

Für eine Künstlerin ihres Ranges ist das nicht unangemessen. Sechzehn verschiedene komplette musikdramatische Werke enthält die Edition. Im einzelnen sind das von Wagner der Ring des Nibelungen, die erste Walküre separat, Tannhäuser und zweimal Tristan und Isolde, von Weber Freischütz und Oberon, von Strauss neben Salome und Elektra auch Die Frau ohne Schatten, von Mozart zweifach Don Giovanni, von Beethoven Fidelio, von Verdi Macbeth, Un Ballo in Maschera, Aida und von Puccini Tosca, La Fanciulla del West sowie Turandot. Mehr als achtzig CDs kommen auch dadurch zustande, dass der Ring gleich zweifach vorhanden ist – als die Decca-Wiener Produktion unter Georg Solti und sowie der offizielle Bayreuther Philips-Mitschnitt unter Karl Böhm. Das schafft! Zumal das Rheingold, in dem sie als Brünnhilde nicht auftritt, nicht fehlt. Die Elektra wird wieder einmal unter Wert verkauft. Nirgends habe ich einen Hinweis darauf gefunden, dass es sich um die ungekürzte Fassung handelt. Der wesentliche Unterschied zur üblichen Aufführungspraxis besteht in der deutlich erweiterten Szene zwischen Elektra und Klytämnestra. Kurz nach „Was bluten muss“ gibt es einen großen Einschub, der musikalisch nicht aufregend ist, keine zusätzlichen Erkenntnisse bringt und den dramatischen Fluss unnötig aufhält. Für eine Sängerin ist er eine Zumutung. Carlos Kleiber wolle den Strich in einer Inszenierung mit Inge Borkh aufmachen, die aber dankend ablehnte, was ihr nicht zu verübeln ist. Aber immerhin hört man bei der Nilsson, wie es ursprünglich gedacht war. Die hat natürlich die stimmlichen Ressourcen, kann gestalterisch mit dem Zusatz aber wenig anfangen.

Elektra gibt es in der Edition zusätzlich in der für die Sängerin sehr späten Produktion der Metropolitan Opera auf DVD. Das Copyright ist mit 1981 angegeben, dem Met-Archiv zufolge handelt es sich um die Matinee am 17. Februar 1980, die im Rundfunk und Fernsehen übertragen wurde. Damals war die Nilsson über sechzig. Es war ihre letzte vollständige Opernrolle an dem Haus, wo jeder ihrer Auftritte ein Heimspiel war, seit sie 1959 als Isolde noch in der alten Spielstätte debütierte. Ihr stählerner Sopran saß aber 1980 noch gut. Unerbittlich arbeitet sie auf die hohen Töne hin, die von ihr erwartet werden. In den Feinheiten aber bleibt sie ungenau. Ganze Silben werden verschluckt, Tiefen, die nie ihre Stärke waren, bleibt sie schuldig. Das Publikum aber tobt. Immer wieder werden die Mitwirkenden, darunter Leonie Rysanek als Chrysothemis, Mignon Dunn als Klytämnestra, Donald McIntyre als Orest und der damals noch vergötterte Dirigent James Levine herausgerufen. Viele Minuten lang hält die Kamera auch hinter dem Vorhang auf das Ensemble, das ebenfalls wie im Taumel ist und sich den Anschein gibt, als könne es die Begeisterung im großen Rund des Zuschauerraumes gar nicht fassen.

Elektra ist nicht die einzige DVD in dieser Box. „Hinter die Kulissen der Götterdämmerung“ führt der BBC-Film bei der ersten Ring-Produktion für die Schallplatte in den Wiener Sofiensälen. Eine neue Auflage dieser Dokumente war überfällig. Nicht nur wegen der Nilsson als stimmgewaltiger Brünnhilde auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, die zum Schluss sogar iin den Sofiensälen mit einem leibhaftigen Pferd Grane überrascht wird, das tapfer die vielen Stufen in das obere Stockwerk des improvisierten Studios erklimmt. Auch der ungeduldige Georg Solti findet diese Idee „schön“, will aber endlich mit der Aufnahme fertig werden. Er ist omnipräsent, steht ständig unter Strom und verausgabt sich am Pult derart, dass unter dem rutschenden Beinkleid die Unterhose hervorblitzt. Aus der strengen Arbeitsatmosphäre bezieht der Film, der auch den Spiritus Rector des Unterfangens, den bescheidenen britischen Produzenten John Culshaw, ins rechte Licht rückt, seine Einzigartigkeit. In jedem Moment ist spürbar, dass etwas Großes geschieht. Ob in Gesprächen, bei der Probe, im Abhörraum oder dann, wenn die Mikrophone angeschaltet sind. Die Zeit sollte dem ambitionierten Unterfangen Recht geben. Dieser Ring hat sich als eine der erfolgreichsten Platteneinspielungen behauptet.

Das lässt sich beispielsweise vom Freischütz, der 1969 bei der EMI entstand und in der Nilsson-Box enthalten ist, nicht sagen. Er wirkt uninspiriert. Die Nilsson, die sich – genau wie ihr Max und schwedischer Landsmann Nicolai Gedda – irregeleitet darauf einließ, die Dialoge selbst zu sprechen, kann als Agathe nicht punkten. Sie weiß mit der lyrischen, in sich gekehrten Rolle nichts anzufangen. Ihr dramatisches Temperament strebt in die entgegengesetzte Richtung. Die Stimme ist viel zu groß, zu allgemein und zu eisig. Sie tönt, mehr nicht. Für die Agathe ist das Gift. Erika Köth, die zehn Jahre nach ihrem ersten Anlauf nun doch noch zu ihrem Studio-Ännchen kam, macht auf „junges Ding“ indem sie mangelnde natürliche Frische durch Keckheit zu kompensieren sucht, was scheitern muss. Dadurch verstärkt sich zusätzlich der Eindruck allgemeiner Fehlbesetzung. (Ursprünglich hatte die Köth 1958 in der berühmten Aufnahme unter Joseph Keilberth an der Seite von Elisabeth Grümmer das Ännchen singen sollen. Nach den ersten Aufnahmen wurde sie krank und durch Lisa Otto ersetzt. Ihre Szenen sind aber in einem gesonderten Querschnitt durch die Oper bei der Electrola auf LP herausgekommen.) Geadelt wird der Freischütz durch Walter Berry als Kaspar, der für mich eine der gelungensten Interpretationen der Partie vorlegt, gefolgt von Wolfgang Anheisser als Ottokar und Franz Crass als Eremit.

Ein besonders problematischer Fall für sich ist der Oberon von der DG, in dem die Nilsson als Rezia auf Plácido Domingo als Hüon trifft. Wenigstens wurde diesmal für die Dialoge auf Schauspieler zurückgegriffen, die aber – aus welchen Gründen auch immer – nicht genannt werden. Allerdings sind Sprecher und Sänger nicht kompatibel. Zumindest im Fall der Nilsson nicht. Nach dem Kentern des Schiffes erwacht Rezia mit kleiner säuselnder Sprechstimme aus ihrer Ohnmacht, um alsbald in ihrer großen Arie monströs und ausladend den Ozean, das Ungeheuer, anzurufen. Das grenzt an unfreiwillige Comedy.

In dieser geballten Ladung von Dokumenten macht die Edition auch die Grenzen von Birgit Nilsson deutlich. Grenzen, die aus der historischen Distanz noch stärker hervortreten, als es zum Zeitpunkt des Entstehens der Aufnahmen gewesen sein dürfte. Damals war die Überraschung groß, wenn Schlag auf Schlag neue Titel auf den Markt kamen. Ob Tosca oder Ballo, Fanciulla, Fidelio. Alles fand dankbare Abnehmer, die oft im Banne selbst erlebter Opernabende standen oder wenigstens am Plattenspieler dabei sein wollten. Die Nilsson jagte von einem Erfolg zum anderen, war vor allem im Wagner-Fach unersetzlich. Und wer Wagner konnte, der musste doch auch anderes können. Mit Ausnahme der Turandot gab es – wie ich finde – schon damals die meisten Titel besser und idiomatischer. Ich erinnere mich noch an die erste Veröffentlichung des Don Giovanni, der unter der Leitung von Karl Böhm in Prag eingespielt wurde – 1967, ein Jahr vor dem Prager Frühling, der unter sowjetischen Panzerketten ein jähes Ende fand. Don Giovanni am Ort seiner Uraufführung. Für sich genommen sollte das schon für die Einspielung sprechen. Es reichte nicht. Wie schon 1959 unter Erich Leinsdorf blieb die Nilsson auch diesmal der Donna Anna vieles schuldig. Ihre Interpretation ist zu sehr auf die technischen Anforderung der Partie ausgerichtet und weniger auf die inhaltlichen. Deshalb wirkt sie über weite Strecken zu professionell. Es ist zu wenig Mozart zu hören. Die ambivalente Gestalt bleibt im Unbestimmten. Schade, dass Decca nicht noch großzügiger zugekauft hat für die neue Sammlung. Der Idomeneo von 1951 aus Glyndebourne unter der Leitung von Fritz Busch wäre bestens geeignet, das Bild von Birgit Nilsson – sie sang die Elettra –    zu differenzieren. Immerhin stand eine Mozart-Rolle am Beginn ihrer internationalen Karriere.

Für mich läuft es bei der Nilsson letztlich auf Wagner hinaus – obwohl ich bei dieser Bewertung nicht an die Mödl in ihrer kurzen Glanzzeit oder an die Flagstad denken darf. Die Nilsson verkörpert den Aufbruch in das Stereozeitalter, verbunden mit der Globalisierung des Musikgeschäfts. Firmen, Labels und Agenturen bauten ihre Macht aus. Die Nilsson, der in vielen Anekdoten nachgesagt wird, dem Geld besonders gut gewesen zu sein, war Teil dieses Systems. Manche Aufnahmen erklären sich vornehmlich aus marktpolitischen Erwägungen. Warum sonst sollte im Tannhäuser Venus und Elisabeth von ein und derselben Sängerin gestemmt werden? Die Nilsson war durch diese Besetzung weder die eine noch die andere. Sie war „nur noch“ die Nilsson. Gewiss finden sich im Werk selbst Gründe, die keusche Landgrafennichte und die Liebesgöttin als Gegenpole in einer Figur zu versammeln. Nur will das auch so gestaltet sein. Der Nilsson gelingt es nicht. Indem sie sich beide Partien zumutet, reduziert sich die interessante Idee auf eine ehr sportliche Leistung, über die gestaunt werden darf, die mich aber nicht ergreift. Übrigens war sie von dieser Lösung selbst sehr überzeugt. In ihren lesenswerten und auskunftsfreudigen Memoiren La Nilsson – die Edition bedient sich des gleichen Titels – zunächst bei Krüger, dann als Taschenbuch bei Fischer erschienen, bezeichnet sie die Elisabeth als Rolle „des Sehnens und Verlangens“ ihrer Anfängerzeit in der schwedischen Heimat. „Erst einige Jahre später, als ich die verführerische Venus und die reine Elisabeth in derselben Vorstellung sang, gelang es mir besser, ihr innerstes Wesen einzufangen“, schreibt sie weiter. Davon ist 1968, als in Berlin mit der Studioproduktion unter Otto Gerdes begonnen wurde, nicht sehr viel zu spüren.

Meine liebste Aufnahme ist die erste Walküre, die 1961 und damit fünf Jahre vor der Wiener Einspielung entstand, mit Erich Leinsdorf am Pult des London Symphony Orchesters. Sie hat den ungeheuren Schwung des Aufbruchs in sich. Da greift eine nach dem Thron des Wagnergesangs. Stilistisch sicherer und freier dürfte die Nilsson selten geklungen haben. Obwohl Leinsdorf genau wie Solti zwölf Tage brauchte, klingt seine Aufnahme weniger ausgetüftelt, sondern so, als sei sie in einem Rutsch hingeworfen worden. Fast schon wie live, wie unter Strom. Wieder liefert die Sängerin in ihrem Buch, das eine Wiederauflage vertragen würde, interessante Hintergrundinformationen. Die RCA-Aufnahme war von Auseinandersetzungen, gar einem Sängerstreik, überschattet. Statt Rita Gorr hätte nämlich Grace Hoffman die Fricka singen sollen. Obwohl die Gorr bei allen Beteiligten auch hohe Wertschätzung genoss, empfand es vor allem die Nilsson als ungerecht, die unter Vertrag stehende Hoffman ausgebootet zu sehen. Wenigstens sollte sie die ihr zustehende Gage erhalten. Der Druck bis zur gütlichen Einigung soll groß gewesen sein. Könnte sich aus dieser atmosphärischen Anspannung etwas in die Aufnahme übertragen haben? Naheliegend ist es.

Ihre nachhaltigste Wirkung bezieht die Geburtstagsedition aus dem unmittelbaren Vergleich zwischen Studio und Mitschnitt. Über die bereits erwähnte Elektra hinaus gibt es sowohl beim Tristan als auch beim Ring die entsprechenden Äquivalente durch Bayreuther Live-Aufnahmen. Genau genommen müsste von „Live light“ gesprochen werden, denn der Ring wurden aus verschiedenen Vorstellungen zusammengefügt, Tristan aktweise im Festspielhaus aufgezeichnet. Dennoch: Für eine Sammlung wie diese ist so ein gebündeltes Angebot Luxus pur. Und es ist auch dringend geboten, soll dieser bedeutenden Künstlerin die Gerechtigkeit widerfahren, die ihr zusteht. In Gesprächen mit Zeitzeugen, habe ich immer wieder erfahren, dass sie auf der Bühne viel menschlicher und wärmer geklungen und deutlich mehr Gefühle zugelassen habe als vor den Mikrophonen. Offenbar fühlte sie auch durch den Kontakt mit ihren Partner, der im Theater ein anderer ist als im Studio, inspiriert. Die zahlreichen filmischen Dokumentation, die durchs Fernsehen gingen und im Netz zu finden sind, fangen ihre Natürlichkeit ein, ihren Humor und ihre Schlagfertigkeit im Umgang mit ihrer Umgebung. Eine Diva, die ihre Herkunft als Tochter vom Land, die weiß, wie man Kühe melkt, nicht verleugnet. Den elterlichen Erbhof hat sie bis zum Ende ihres langen und von Erfolg gekrönten Leben behalten, was ebenfalls in ihren Memoiren nachzulesen ist.

Und noch etwas steht auf der Habenseite der mit einem reich bebilderten Buch ausgestatteten Geburtstagsedition: die Recitals der Birgit Nilsson. Waren die von Hans Knappertsbusch betreuten Tristan-Szenen (1959) immer greifbar, gerieten der Aida-Querschnitt (1963) die Verdi-Arien (Lady Macbeth, Abigaille, Forza-Leonora und Eboli), die Szenen aus Walküre und Parsifal mit Helge Brilioth und Norman Bailey und dem jungen finnischen Dirigenten Leif Segerstam, die Wagner-Weber-Beethoven-Platte (Elisabeth, Rezia, Sieglinde, Elsa, Agathe und Fidelio-Leonore) fast in Vergessenheit. Und wer kann sich noch erinnern an die mit der Ballade aus dem Holländer und Arien aus den Feen und Rienzi gekoppelten Wesendonck-Lieder unter der Leitung von Colin Davis? Oder gar an die betörend schön gesungen Lieder aus dem „Land of the Midnight Sun“ von Sibelius, Grieg, und Rangström, die am Ende doch noch an Kirsten Flagstad denken lassen? Sie allein sprechen dafür, die Edition anzuschaffen. Rüdiger Winter

Es wagnert sehr

 

Vincent d’Indy (1851-1931) ist gewiss nicht der berühmteste französische Komponist der Spät(est)romantik. Gleichwohl wird es schwerfallen, einen dezidierteren Vertreter des Wagnerismus in Frankreich zu finden. Mit seiner 1897 uraufgeführten Oper Fervaal schuf er sogar eine Art französischen Parsifal. Er entstammte einem alten katholischen Adelshaus, war überzeugter Monarchist und hatte durch seinen Antisemitismus nicht unbedingt sympathische Züge. Auch kompositorisch ist d‘Indy gewiss dem konservativen Flügel zuzuordnen, auch wenn sich sein Stil mit Beginn des Ersten Weltkriegs nicht jeder Neuerung verschloss (wie man etwa an der Sinfonia brevis „De bello gallico“ aus den Jahren 1916 bis 1918 erkennen kann). Naxos legt nun eine Neuveröffentlichung mit kaum bekannten Werken d’Indys vor (Naxos 8.573858). Enthalten sind die die Schauspielmusiken zu Médée nach Catulle Mendès (1898) sowie zu Karadec nach André Alexandre (1890), ferner die sinfonische Dichtung Saugefleurie (1884). Bei den beiden Bühnenmusiken handelt es sich um Suiten, wobei Médée schon thematisch bedingt deutlich dramatischer und mit 27 Minuten Spielzeit auch fast dreimal so lange gerät wie die bretonisch geprägte und gerade zehnminütige Karadec-Suite. In ersterer Suite meint man auch Anklänge an Richard Strauss zu erkennen. Sehr deutlich wird der wagnerische Einfluss freilich in der 16-minütigen Tondichtung Saugefleurie, die zu Beginn ans Siegfried-Idyll gemahnt und später gar stellenweise an die gleichnamige Oper, auch wenn man d’Indy schwerlich als Epigonen des Bayreuther Meisters abtun sollte, erhält er sich doch einen charakteristisch französischen Tonfall, der auch ein wenig an seinen Lehrer César Franck erinnert.

Die auf den ersten Blick unidiomatisch wirkenden künstlerischen Ausführenden, der singapurische Dirigent Darrell Ang und das schwedische Sinfonieorchester aus Malmö, erweisen sich bei genauerer Betrachtung als überzeugend; es gelingt ihnen, die Faszination dieser selten gespielten Musik des Randrepertoires herüberzubringen. Ang legte für Naxos bereits zahlreiche von der Kritik gelobte Aufnahmen französischer Komponisten vor (darunter Bruneau, Dutilleux und Lalo); dies erfreuliche Tendenz setzt sich hier fort. Die klangliche Qualität dieser im August 2017 in Malmö eingespielten Aufnahme bietet keinen Anlass zum Tadel. Mit dieser Neuerscheinung läuft Naxos einer vor einem Vierteljahrhundert bei Marco Polo vorgelegten Vorgängeraufnahme unter Gilles Nopre den Rang ab. Sie bietet eine gute und preiswerte Alternative zu der von Chandos vorgelegten Reihe der kompletten Orchesterwerke d’Indys mit dem Iceland Symphony Orchestra unter Rumon Gamba. Einzig die kurze Spielzeit von wenig über 50 Minuten trübt den sehr guten Gesamteindruck etwas. Daniel Hauser

 

Und apropos D´Indy: auch Kammermusik findet man bei diesem interessanten Komponisten, wie Gerhard Eckels schreibt. . Weitgehend unbekannt ist vor allem hierzulande der französische Komponist Vincent d’Indy (1851-1931): Er entstammte einer alten Adelsfamilie und wuchs bei seiner Großmutter Gräfin Rézia d’Indy auf. Früh bekam er Klavierunterricht und studierte bereits ab 1865 Harmonielehre. Nach dem Krieg 1870/71, in dem er bei der Verteidigung von Paris kämpfte, veröffentlichte er seine ersten Kompositionen. Durch die Vermittlung seines Freundes Henri Duparc wurde er Schüler von César Franck, der ihn auch mit der deutschen Musik, insbesondere mit Richard Wagners Opern bekannt machte. Nach einem Besuch der Bayreuther Festspiele 1876, wo er den kompletten Ring des Nibelungen“  erlebte, wurde d’Indy ein überzeugter, geradezu glühender Wagnerianer. In seinen Kompositionen finden sich neben Wagner-Anklängen auch Einflüsse aus Naturbegegnungen und volkstümlichen Melodien. In den späten 1870- und 80er-Jahren war er als Organist und Chorleiter tätig; in dieser Zeit verfolgte er eine Reihe von Opernprojekten, doch einzig „Axel“, beeinflusst von Wagners „Parsifal“, floss später in seine fast fünfstündige Oper „Fervaal“ ein. Erst nach den Uraufführungen der Opern „Fervaal“ und „L’étranger“ (1897/1903) sowie bedeutender Orchesterwerke wie den „Istar“-Variationen (1896) und der  2. Sinfonie (1903) wurde er einer breiteren Öffentlichkeit in Frankreich bekannt. Zu seinen zahlreichen Schülern zählten u.a. Albert Roussel, Erik Satie und Edgar Varèse. In d‘Indys späten Werken wurde sein Kompositionsstil im Neoklassizismus leichter und unbeschwerter. Trotz dieses Stilwechsels blieb seine Haltung gegenüber den zeitgenössischen Strömungen eher zurückhaltend.

Wie in seiner Oper „Fervaal“ bevorzugte d’Indy in seinen vielfältigen Kompositionen aus allen Bereichen (Opern, Sinfonisches, Kammer- und Klaviermusik) offenbar die große Form: So dauert die 1907 entstandene Klaviersonate op.63 fast 45 Minuten und enthält in den drei Sätzen Introduction/Très animé/Modéré zahlreiche Unterteilungen. Sie ist mit Ausschnitten aus Tableaux de voyage op. 33, eingespielt vom französischen Pianisten und Musikwissenschaftler Jean-Pierre Armengaud, in der Reihe „Grand Piano“ bei NAXOS erschienen. Im Kopfsatz der Sonate stellt der Pianist klar die Unterschiede der vier Variationen heraus; der 2.Satz ist ein lebhaftes  Scherzo mit zwei Trios, von denen das erste beinahe Schubertschen Charakter aufweist und das zweite Walzer-Klänge suggeriert. Auch das umfangreiche Finale mit seinen kontrastreichen Abschnitten interpretiert Armengaud stilsicher. Die 1889 entstandenen „Tableaux de Voyages“ sind dreizehn Klavier-Miniaturen über Eindrücke von Reisen durch Deutschland, von denen die CD sieben enthält, dabei „Beuron“ – ein Stück mit  dem B-A-C-H-Motiv über das Benedektiner-Kloster im Schwarzwald –, „Der Regen“ oder das abschließende Stück „Traum“ (GP756).

 

Und dann noch: Der renommierte Cellist und Festspielleiter Jan Vogler hat sich mit dem Gitarristen Ismo Eskelinen zusammengetan und unter dem Titel „Songbook“ eine Reihe von kleineren Stückchen bei SONY aufgenommen. Nur zwei für die aparte Besetzung komponierte Werke befinden sich auf der CD: Es sind die drei Nocturnes von Friedrich Burgmüller (1806-1874), Bruder des durch Orchesterwerke und seine Streichquartette etwas bekannteren Norbert Burgmüller, sowie der erste Satz aus der Sonate für Gitarre und Cello des Brasilianers Radamès Gnattali (1906-1988). Alle anderen „Schmankerl“ sind für Cello und Gitarre arrangiert, deren meisterhaftes  Zusammenspiel ungemein reizvolle Klänge hervorbringt, wobei das Cello als Melodie-Instrument meist dominiert. Der Titel „Songbook“ deutet darauf hin, dass viele der gespielten Stücke Lieder oder zumindest liednah sind. Dazu zählt Paganinis „Cantabile“ aus op.17, die „Aria“ aus Heitor Villas-Lobos‘ „Bachianas Brasileiras Nr.5“  oder natürlich „Moon River“ von Henry Mancini. Von besonderem Reiz mit viel Lokalkolorit sind die kleine Reihe „Histoire du Tango“ von Astor Piazzolla und die sechssätzige „Suite Popular Espanola“ von Manuel de Falla. Insgesamt macht das Zuhören bei dieser CD mit ihren in jeder Beziehung besonderen Klängen einfach Spaß (Sony 19075959762). Gerhard Eckels

„O, wie will ich triumphieren“

 

Gottlob Frick„der schwärzeste Bass“. Dieses Markenzeichen soll der Dirigent Wilhelm Furtwängler dem Sänger verliehen haben. Es hängt ihm bis heute an wie ein Preisschild. Das muss nicht immer von Vorteil sein. Furtwängler schätzte Frick und setzte ihn auf der Bühne und im Studio ein. Mit Hundig, Rocco und König Marke ist diese Zusammenarbeit auch auf Tonträgern dokumentiert, kann also nachgehört werden. Diese Dokumente geben Auskunft darüber, was Furtwängler unter dem schwärzesten Bass verstand. Vom Gestaltungspielraum her sind den genannten Rollen gewisse Grenzen gesetzt. Bis auf Rocco machen sie auch keine Entwicklungen durch, müssen sich in keinem Duett und in keiner großen Ensembleszene stellen. Ihre Wirkung ist vornehmlich stimmlicher Natur. Nicht, dass sie sich von selbst sängen. Mit der richtigen Tessitura und Stimmfärbung hat ein Vertreter dieser Partien aber bereits viel gewonnen. Frick brauchte nur den Mund aufzumachen, um auch als bedeutender Gestalter wahrgenommen zu werden – sogar dann noch, wenn er eigentlich kaum gestaltete. Was aus ihm tönte, trug – einer Erbmasse gleich – dramatisches Potenzial in sich.

Mit der neuen Box wird des 25. Todestages des Sängers gedacht. Den Anstoß gab der Ehrenpräsident der Gottlob-Frick-Gesellschaft, Hans A. Hey. 

Im Booklet einer neuen Portrait-Box bei Profil Edition Günter Hänssler wird Jürgen Kesting aus seinem Standardwerk „Die großen Sänger“ zitiert: „Das Timbre der Stimme von Gottlob Frick einmal gehört, verliert man nicht aus dem Ohr.“ Das ist trefflich formuliert. Auch ich schätze an Sängern die Wiedererkennung als eine der schönsten Tugenden. Und was bei Kesting zunächst wie ein hundertprozentiges Kompliment klingt, wirft auch Fragen auf. Mir kommt es manchmal so vor, als stünde diesem Sänger sein unverwechselbares Timbre gelegentlich auch im Wege. Ich erinnere mich an eine Diskussion im Freundeskreis, wobei Frick-Platten gehört wurden. Jemand sagte: „Der singt ja alles gleich.“ Mit so einem zugespitzten Urteil, das aber auch nicht völlig falsch ist, wird man Frick jedoch nicht gerecht. Die neue Edition, die auch im Titel mit dem eingangs erwähnten vermeintlichen Furtwängler-Zitat wirbt, will der Vielseitigkeit des Sängers in Oper, Oratorium und Lied Rechnung tragen. Furtwängler-Dokumente enthält sie nicht, was ich schade finde. Den Anstoß gab der Ehrenpräsident der Gottlob-Frick-Gesellschaft, Hans A. Hey, dem dafür im Booklet auch ausdrücklich gedankt wird. Wer auf ihn trifft, ob persönlich, am Telefon oder schriftlich, ist noch immer von diesem glühender Verehrer von Frick angesteckt wordenn. Kaum jemand dürfte sich so leidenschaftlich für das Andenken an den Bassisten engagieren wie er. Auch legendäre Sänger müssen im Gespräch bleiben, damit sie nicht zum Denkmal erstarren. Das weiß auch Hey.

Konkreter Anlass für die Neuerscheinung ist der 25. Todestag von Frick am 18. August 2019. Ein Tag, der sich für Rückschau genauso anbietet wie für Gedankenspiele, ob ein Künstler von seinem Schlage auch in der Zukunft noch eine Chance hat, wahrgenommen und verehrt zu werden. Dafür ist die Pflege des Nachlasses unerlässlich. Wie Maler in Gemälden, Dichter in Büchern oder Architekten in Bauwerken, leben Sänger in ihren Aufnahmen fort. Vor allem dann, wenn die Zeitzeugen, die sie noch auf der Bühne der im Konzert erlebt haben, allmählich abtreten. Es ist noch zu wenig anerkannt, dass Tonaufnahmen aller Art Teil des kulturellen Erbes sind, das es zu bewahren, wissenschaftlich zu erforschen und öffentlich zu machen gilt. Tonarchive werden im Gegensatz zu Museen und Bibliotheken meist nach Gutherrenart unter Verschluss gehalten. Es bleibt weitestgehend Firmen, Labels und privaten Initiativen überlassen, diesen Erbteil zu hegen, zu pflegen – und auch kritisch zu hinterfragen. Die Edition aus dem Hause Hänssler ist eine solche Initiative.

Bisher nur als LP greifbar gewesen: Die große Szene im Kabinett des Königs zu Madrid. Seine Auseinandersetzung mit dem Großinquisitor, den Kurt Böhme singt, ist ein Höhepunkt der Neuerscheinung.

Gottlob Frick ist sehr gut vertreten auf dem Musikmarkt. Kommt etwas hinzu, folgt die Frage auf dem Fuß: Was ist neu? Lohnt sich die Anschaffung?  Sammler dürften die meisten Titel kennen. Manche schätzen es aber auch, vertraute Aufnahmen in neuen Zusammenhängen gereicht zu bekommen. Eine Szenenfolge aus Verdis Don Carlos, einfach gezählt und nicht trackweise wie im Booklet, sind sieben Titel bisher nicht auf CD verfügbar gewesen. Dieser Carlos ist kein klassischer Opernquerschnitt wie die ebenfalls deutsch gesungene Aufnahme, die 1965 bei Eterna in der DDR erschien und nun im Katalog Berlin Classics zu finden ist. Produziert wurde 1963 das erste Bild des vierten Aktes – das „Kabinett des Königs zu Madrid“, wie es auf dem Eurodisc-Plattencover hieß. Es beginnt – in bestem Stereo – mit dem Philipp-Monolog „Sie hat mich nie geliebt“ (Gottlob Frick) und endet mit der Eboli-Arie „Verhängnisvoll war das Geschenk“ (Hertha Töpper). Dazwischen die unheimliche Begegnung des Königs mit dem blinden Großinquisitor (Kurt Böhme), die für mich zum Höhepunkt der Box wird. Es ist, als ob sich der Kampf zwischen weltlicher und kirchlicher Macht eben in dieser Szene wie ein gewaltiges Beben entlädt. Böhme agiert mit erbarmungsloser Kälte und giftigen, gar grellen Untertönen und verhilft so seinem Kollegen Frick dazu, den spanischen König auch mit menschlich-tragischen Zügen auszustatten. Das geht unter die Haut. Nur selten gelingen Opernszene im Studio so packend und realistisch wie hier, zumal die sich anschließende Auseinandersetzung Philipps mit der herbeieilenden Elisabeth (Hildegard Hillebrecht), in die auch Posa (Marcel Cordes) und Eboli einfallen, betont traditionell klingt, was zur Folge hat, dass Frick und Böhme noch mehr hermachen.

„O, wie will ich triumphieren“ Die Arie des Osmin aus Mozarts „Entführung“  sowie andere Opernszenen wurden von dieser Electrola-Single für die Edition überspielt. Das große Foto oben ist ein leicht eingefärbter Ausschnitt des Cover.  

Als Kontrastprogramm zu Carlos fallen zwei große Szenen aus Lortzings Zar und Zimmermann (Electrola) heraus, die nun ebenfalls erstmals auf CD greifbar sind: die Arien des Bürgermeisters van Bett „O sancta justizia“ und die Singschule „Den hohen Herrscher würdig zu empfangen“. Sie dürften einst als Singleplatte herausgekommen sein. Im Booklet wird zwar akribisch auf die Quellen – meist Electrola – mit ihren Veröffentlichungsnummern verwiesen, es wird aber nicht deutlich, in welchem Format bestimmte Aufnahmen ursprünglich erschienen sind. Käufer der Edition müssen – wenn sie das überhaupt wollen – selbst herausfinden, ob Arien oder Szenen als Einzel- oder innerhalb von Gesamtaufnahmen produziert wurden. Und sie müssen mitunter deutliche Unterschiede im Klangbild hinnehmen. Im Falle von Zar und Zimmermann ist die Quellenlage nicht so einfach. Frick war der Bürgermeister auch in einer Gesamtaufnahme und in mindestens einem Querschnitt. In dieser Position zieht er alle Register. Je nach Situation dreht er das Tempo seiner an sich schweren Stimme auf, um im nächsten Moment drei Gänge zurückzuschalten, wenn es gilt, ein Detail schwelgerisch auszukosten. Mühelos erhebt er sich aus den unterstes Registern hinauf ins Falsett. Er kann stimmlich penetrant, kleinkariert und verzweifelt sein, stolziert mit geschwellter Brust umher und macht sich im nächsten Moment bereits in Erwartung des hohen Herrschers klein wie eine Kröte. Selten hat ein Sänger in meinen Ohren so plastisch geklungen wie Frick. Es ist, ob er singend die Bilder der Szene gleich mitliefert. Sein rollendes R ist Legende. Bei aller Nonchalance im Vortrag, ist er ein Genauigkeitsfanatiker, der den Konsonanten noch mehr Aufmerksamkeit zu schenken scheint als den Vokalen. Das versetzt ihn in die Lage, Wörtern und Begriffen den ihrem Sinn entsprechenden Ausdruck zu verleihen. Er ist immer zu verstehen. In beiden Bürgermeister-Szenen entfaltet er auch sein urkomisches Talent, und ich ertappte mich – den Philipp noch im Ohr – bei der Frage, ob seine Begabung in der so genannten Spieloper am Ende nicht noch größer sei als in ernsten und seriösen Rollen. Eine Antwort wird jeder für sich finden, zumal die Edition Vorlagen in überreichem Maße bereithält.

Gottlob Frick als König Heinrich im „Lohengrin“. Die Rolle war eine seiner besten Leistungen.

Auf Osmin folgt Bartolo in Figaros Hochzeit, auf Sarastro der Commendatore im Don Giovanni –Finale als italienisches Original. Dass Basilio und Bartolo in Rossinis Barbier, Baculus in Lortzings Wildschütz, Abdul Hassan im Barbier von Bagdad sowie Falstaff in Nicolais Lustigen Weibern nicht fehlen, versteht sich von selbst.  Was noch? Mit Szenen aus Halévys Jüdin, Orffs Kluger und Egks Zaubergeige, Verdis Simon Boccanegra und Sizilianischer Vesper sowie Tschaikovskys Eugen Onegin breitet Frick die reich bemessene Aussteuer eines Vertreters seines Fachs in seiner Zeit aus. Als Bonus ausgewiesen findet sich das Lied des Henkers aus der Funkoper Tandaradei von Hans-Hendrik Wehding, der dabei selbst am Pult der Sächsischen Staatskapelle steht. Wie der Name schon sagt, wurden Funkopern nicht für die Bühne, sondern für das Radio komponiert. Ob es sich bei dem Lied, das die Virtuosität in Fricks Gesangsstil auf verblüffende Weise offenbart, um einen Ausschnitt aus der ersten Produktion dieser Funkoper, die in Dresden zustande kam, handelt, bleibt offen. Sie dürfte aber noch während Fricks Dresdner Zeit entstanden sein, denn die Stimme klingt leichter und sogar durchsichtiger als in seiner späteren Glanzzeit. Als Quelle wird lediglich ein „Band der DRA“ (Deutsches Rundfunkarchiv) genannt.

Gottlob Frick galt als bodenständiger, bescheiden gebliebener Gemütsmensch, der sich gern „in sein am Waldrand gelegenes Haus“ in Ölbronn zurückzog, „um zu jagen, zu entspannen und den großen Freundes- und Verehrerkreis … zu empfangen“, heißt es im Booklet der Box. Seine Freizeitbeschäftigung hat sich in einer LP niedergeschlagen.

Nur einmal habe ich Frick auf der Bühne erlebt. Als Hagen. Das war im Oktober 1966 an der Berliner Staatsoper. Ich als  opernbesessener Jüngling besuchte zum erstmal eine Vorstellung der Götterdämmerung. In meinem Kopf war jeder Ton einer heimischen Schallplatte mit dem Wachgesang und der Mannen-Szene gespeichert. Das erste, was mir auffiel: Der ist aber klein. Bei seiner Stimme war ich auf einen Hünen von mindestens zwei Metern Körpergröße gefasst, zumal der Siegfried Ernst Gruber tatsächliche diese Maße hatte. Eines habe ich damals gelernt: Ein Sänger braucht nicht groß zu sein, um groß singen zu können. „Meine“ Platte mit der Staatskapelle Berlin und dem Chor der Deutschen Staatsoper unter Franz Konwitschny hat auch Einzug in die Gedenkedition gehalten. Eingefasst wird sie von Pogners Ansprache aus den Meistersingern und der Arie des Daland „Mögst du, mein Kind“ aus dem Fliegenden Holländer, die beide aus den hinlänglich bekannten und weitverbreiteten gesamtdeutschen Einspielungen dieser Opern stammen. Gute alte Bekannte sind auch die Auszüge aus Haydns Schöpfung und Jahreszeiten, die von Karl Forster geleitet werden. Wer gern Lieder jenseits von Schubert, Schumann oder Wolf hört, wird bei Frick fündig. Volksliedhafte Gesänge von Conradin Kreutzer, Franz Abt, Victor Ernst Nessler, Friedrich Zelter, Carl Michael Zierer oder Robert Stolz gelingen ihm viel zu rasant, als dass es sich lediglich um Gelegenheitsarbeiten gehandelt haben dürfte. Er scheint darin zu baden.  In den Liedern offenbart sich Frick zudem als – wie es im Booklet heißt – bodenständiger, bescheiden gebliebener Gemütsmensch, der sich gern „in sein am Waldrand gelegenes Haus“ in Ölbronn zurückzog, „um zu jagen, zu entspannen und den großen Freundes- und Verehrerkreis … zu empfangen“. Besonders häufig habe der Tenor Fritz Wunderlich den väterlichen Freund besucht. Mehr aus dieser denn aus einer rein künstlerischen Perspektive sind denn auch die gut zwanzig Minuten aus Smetanas Verkaufter Braut zu verstehen, die schon auf dem Cover der Box als „World Premiere“ angekündigt werden. Frick und Wunderlich singen das Duett „Komm, mein Söhnchen, auf ein Wort“ am 29. Juni 1964 in Ölbronn zum Klavier (Josef Blaser) offenbar bei einer privaten Veranstaltung. Und das sehr frei. Die Stimmung ist gelöst. Das Publikum nimmt mit gelegentlichen Einwürfen regen Anteil, erklatscht sich ein Da Capo und ist alles in allem hoch amüsiert. Und es dürfte auch dieses und jenes Gläschen gereicht worden zu sein. Rüdiger Winter

Eigenwillige Auswahl

 

150 Jahre Wiener Staatsoper – Die Jubiläumsedition: Bei Orfeo schrumpft diese ereignisreiche Zeitspanne allerdings auf 65 Jahre. Erst auf der letzten Seite des schmalen Booklets offenbart sich ziemlich kleingedruckt und kommentarlos, was es mit der individuellen Zeitrechnung auf sich hat. Die in die Sammlung aufgenommenen Opern wurden zwischen 1955 und 2016 mitgeschnitten. Mit Alban Bergs Wozzeck ist zumindest der Neuanfang im Haus am Ring, der als bedeutendes Ereignis in die Musikgeschichte eingegangen ist, dokumentiert. Nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg war es am 5. November 1955 mit Fidelio von Ludwig van Beethoven unter starker Anteilnahme internationalen Besucher und Medien eröffnet worden. Über Lautsprecher wurde die von Karl Böhm geleitete Premiere ins Freie übertragen. Angeschlossen waren Rundfunkstationen mit Millionen Hörern in aller Welt. Die BBC hielt große Szenen als Film fest. Obwohl es nur wenige Fernseher gab in Österreich wurde die Eröffnung vom ORF gesendet. Auf Fidelio folgten neue Produktionen von Mozarts Don Giovanni, mit dem das Opernhaus 1869 eröffnet worden war, die an selber Stelle 1919 uraufgeführte Frau ohne Schatten von Richard Strauss, Verdis Aida, Wagners Meistersinger und der Rosenkavalier, ebenfalls von Strauss. Ihren Abschluss fand die festliche Opernserie am 25. November mit Wozzeck, auf den noch ein Ballettabend mit Giselle von Adolphe Adam und Der Mohr von Venedig von Boris Blacher folgte.

Wie aus einer Dokumentation des Online-Merker hervorgeht, hinterließ Wozzeck den „geschlossensten Eindruck. Nehers Bühnenbilder und Schuhs Inszenierung steigerten die Stimmung des Werkes ins Visionäre, womit sie sich mit der Musik trafen, die trotz ihres strengen Formengebäudes visionär ist und etwas von der Wirkung einer musikalischen Atombombe hat“. Die Philharmoniker unter Böhm hätten ihre „moderne Lieblingsoper mit der gleichen Hingabe wie eine Straussoper“ gespielt“. Und weiter:Walter Berrys Wozzeck verdeutlichte Not und Vision des Unterdrückten. Dazu sang er die Partie, sang sie sogar noch dort, wo das Singen nicht mehr möglich scheint. Christl Goltz als Marie, erregend in ihrer weiblichen Brutalität, Karl Dönch als Doktor, voll skurriler Dämonie, und Peter Klein als tragikomischer Hauptmann boten eine vollkommene Leistung. Mit 28 Vorhängen übertraf die Aufführung alle vorangegangenen.“ Unerwähnt bleibt Max Lorenz in der Rolle des Tambourmajor. Lorenz war schon seit Ende der 1920er Jahre als Heldentenor ein Star in Wien und hatte auch unmittelbar nach Kriegsende in der Ausweichspielstätte, dem Theater an der Wien, an alte Erfolge anschließen können. Im neuen Haus sollte es bei drei Vorstellungen in dieser Rolle bleiben. „Was ein Mann! Wie ein Baum!“, sagt Margret zu Marie. In der Erscheinung mag das noch zutreffend gewesen sein für Lorenz, in der Stimme nicht mehr. Seine Mitwirkung reduziert sich aufs Museale. Er steuert nur noch seinen Namen bei und keine künstlerische Leistung, die in die Zukunft weist. Und dennoch war es angebracht und nobel, Lorenz noch einmal eine Bühne zu geben. Von alledem ist bei Orfeo nichts zu lesen. Den spärlichen Angaben zufolge ist dieser Wozzeck eine ganz gewöhnliche Vorstellung im November 1955 gewesen. Nicht einmal für den Hinweis auf den Tag der Vorstellung hat es gereicht. Im dürren Booklet finden sich lediglich die Track-Listen und eine Inhaltsangabe. Das ist zu wenig und zu lieblos für so eine Gedenkedition für eines der traditionsreichsten Opernhäuser der Welt.

Alle Vorstellungen dieser Festwochen haben als Tondokumente überlebt, wenngleich in unterschiedlicher Klangqualität. Bis auf die Aida, die in einigen inoffiziellen Pressungen in das Jahr 1956 verlagert wurde, was schon deshalb unmöglich ist, weil der Dirigent Rafael Kubelik nur für vier Aufführungen im Rahmen der Eröffungsfestspiele im November 1955 zur Verfügung stand, sind alle anderen Opern bei ihrer Veröffentlichung genau terminiert. Don Giovanni und Aida, in Italienisch komponiert, wurden deutsch gesungen, was sich unter Herbert von Karajan, der 1957 auf Böhm an der Spitze des Hauses folgte, ändern sollte. Orfeo selbst hatte 2005 mit einem Mitschnitt der Frau ohne Schatten-Premiere vom 9. November überrascht. Aus dem Enthusiasmus dieser Aufführung erwuchs noch im selben Jahr die berühmte erste Studioproduktion, für die Böhm bis auf den Barak von Ludwig Weber, der aus rechtlichen Gründen durch Paul Schoeffler ersetzt werden musste, das gesamte Ensemble mitnahm. Mit der Aufführung und der Produktion im Großen Saal des Musikvereins, zu der die Decca erst überredet werden musste, trat die Festspieloper ihren späten internationalen Siegeszug an. Insofern hätte dieses Werk auch die neue Edition geschmückt.

„150 Jahre Wiener Staatsoper“ – nicht nur diese fehlt: der Wiener Wagner-Felsen Gertrude Grob-Prandl hier als Isolde mit Max Lorenz in Mailand/ Foto Piccagliani/ Isoldes Liebestod

Stattdessen gibt es anderen Strauss, so eine der vielen Elektra‘s mit Birgit Nilsson, die zehn Jahre nach der Wiedereröffnung mitgeschnitten und 2014 ebenfalls von Orfeo offiziell herausgegeben wurde nachdem es bereits Veröffentlichungen – noch als LP – auf dem so genannten grauen Markt gegeben hatte. Für mich ist das ihre beste Aufnahme auf dem Höhepunkt ihrer Karriere. Sie singt noch nicht so eisig und erbarmungslos, wirkt menschlicher und anrührender. Ebenbürtig neben ihr agieren Leonie Rysanek als entschlossene, im Anflug in die Höhen etwas matte Chrysothemis und Regina Resnik als angstgeschüttelte Klytämnestra. Unter den fünf Mägden sticht Gundula Janowitz unverkennbar gläsernem Ton hervor, und die Aufseherin Danica Mastilovic wurde später selbst eine berühmte Elektra. Noch aus Tausenden herauszuhören ist Gerhard Unger als junger Diener Gerhard Unger mit seinem frischen Tenor. Eberhard Waechter, der den Orest singt, wird bereits sehr vernehmlich von seiner schweren Stimmkrise geplagt und gibt eine tragische Figur ab, weshalb die Frage erlaubt sein muss, ob es wirklich Sinn machte, den Mitschnitt erneut an die Öffentlichkeit zu bringen.

Näher an die Gegenwart heran führt die Ariadne auf Naxos von 2014, deren Entstehungsschichte ebenfalls mit Wien eng verbunden ist. Nach der erfolglosen Uraufführung der ersten Fassung in Stuttgart wurde 1916 an der damaligen Hofoper das Werk in seiner endgültigen Form präsentiert. Bei dem Mitschnitt in der Edition dürfte es sich um den Einstand von Christian Thielemann als Dirigent der Oper vom 12. Oktober handeln, der damals zu Recht sehr gefeiert wurde. Genannt wird der genaue Vorstellungstermin nicht. Arthaus/Unitel kündigen eine separate DVD-Version an. Die Szene im Bild würde dem Verständnis auf die Sprünge helfen, das die Tonspur über weite Strecken schuldig bleibt. Wer das Stück nicht auswendig kennt oder kein Libretto zur Hand hat, ist verloren und kann im turbulenten Prolog kann allenfalls dem Musiklehrer (Jochen Schmeckenbecher), dem Tanzmeister (Norbert Ernst) und dem Haushofmeister (Peter Matic) folgen. In der eigentlichen Oper, wenn auch musikalisch mehr Ruhe einkehrt, treten die Stimmen von Soile Isokoski (Ariadne), Daniela Fally (Zerbinetta) und Johan Botha (Bacchus) deutlich hervor.

„150 Jahre Wiener Staatsoper“ – auch diese fehlt: lange Jahre unersetzlich Elisabeth Höngen, hier als Amme/ Foto Fayer

Noch in glänzend Form ist Eberhard Waechter, der spätere Direktor der Wiener Staatsoper, im Fidelio aus dem Jahr 1962, bei dem es sich um den Premierenmitschnitt vom 25. Mai handelt, was unerwähnt bleibt. Dabei trat Herbert von Karajan in der Doppelfunktion als Dirigent und Regisseur in Erscheinung. Waechter singt den Don Fernando mit großer Würde und tiefer innerer Bewegung angesichts des Wiedersehens mit dem tot geglaubten Freund Florestan, den er nun im Ketten gelegt findet. Selten dürfte die Oper aufregender und packender geklungen haben. Es ist, als stehe die Aufführung unter Hochspannung. Christa Ludwig sang zum ersten Mal die Leonore. Mit ihrer Nervosität heizte sie das Drama erst richtig an. Sie setzte stimmlich alles auf eine Karte – und gewann. Mit diesem Debüt hat die Sängerin, die jüngst ihren 90. Geburtstag beging, Operngeschichte geschrieben. Auch Gundula Janowitz debütierte als selbstbewusste Marzelline an der Seite von Waldemar Kmentt als Jaquino. Als hochindividuelles Ausdrucksmittel könnte mit dem zeitlichen Abstand zur Aufführung die Indisposition von Jon Vickers als Florestan durchgehen. Sein Kampf gegen die gesundheitsbedingte Einschränkung, den er mit Professionalität ausficht, verwächst mit der Rolle und macht die Figur nach langer Kerkerhaft glaubhafter. Don Pizarro ist Walter Berry, Rocco Walter Kreppel. In der Edition ist der Mitschnitt, den sich Orfeo bei der Deutschen Grammophon ausgeliehen hat, völlig unter Wert verkauft. Warum ausgerechnet dieser Fidelio, frage ich mich, zumal die originale Ausgabe mit einem inhaltsstarken Booklet noch im Handel ist.

1977 kehrte der einstige künstlerische Leiter der Wiener Staatsoper, Herbert von Karajan, nach langer Abwesenheit an seine alte Wirkungsstätte zurück, dirigierte Aufführungen von Bohème, Trovatore und als Neuproduktion am 10. Mai in der Regie von Jean-Pierre Ponnelle Mozarts Le Nozze di Figaro. Anna Tomowa-Sintow, die die Contessa singt, trat erstmals am Haus auf und hinterließ mit ihrer betont fraulichen Anlage der Rolle so großen Eindruck, dass fortan zu den Lieblingen des Publikums gehörte. Ileana Cotrubas gab die Susanna, Frederica von Stade den Cherubino, Tom Krause den Grafen und José van Dam den Figaro. Ins Jahr 1988 führt Rossinis Il viaggio a Reims – auch ein Premierenmitschnitt vom 20. Januar unter Claudio Abbado – mit der hinreißenden Lucia Valentini-Terrani als Marchesa Malibea. Im April 2013 sang Anna Netrebko in vier Vorstellungen von Eugen Onegin die Tatiana. Eine davon ging in die Edition ein, offenbar die erste vom 12. des Monats. Dirigent ist Andris Nelsons, der zunächst etwas schleppende Tempi anschlägt, dann aber tief einzudringen versteht in dieses russische Seelendrama. In der ersten Szene sind die Stimmen nach meinem Eindruck nicht sehr gut auseinander zu halten. Das gibt sich, wenn der Chor abtritt und die Stunde der Solisten schlägt. Für die Netrebko, umjubelter Star des Abends und von Kritikern gar mit der Duse verglichen, ist die Rolle ein Heimspiel, für ihren Landsmann, den viel zu früh verstorbenen Dmitri Hvorostovsky als Onegin ebenfalls. Dmitry Korchak, der Lenski, beschwört in seiner großen Szene vor dem Duell auf bewegende Weise die Tradition der alten russischen Tenorschule wie der Gremin von Konstantin Gorny den Vergleich mit seinen berühmten Vorgängern russischer Zunge auch nicht scheuen muss.

„150 Jahre Wiener Staatsoper “ – auch Agnes Baltsa – fester Posten in Wiener Besetzungen –  fehlt in der Kompilation (hier mit Luis Lima in „Cavalleria rusticana“)/ Wikipedia

Dieser Mitschnitt macht auf sehr erfreuliche Weise deutlich, welch überzeugende und geschlossene Wirkung sich einstellen kann, wenn die Solisten Muttersprachler sind und sich die Texte nicht phonetisch einpauken müssen. Indem sie wissen, was sie singen, teilen sie sich auch dem Teil des Publikums mit, welcher ihre Sprache nicht versteht. Hvorostovsky taucht in Verdis Un ballo in maschera als René Ankarström an der Seite von Krassimira Stoyanova als Amelia, Piotr Beczala als Gustaf, Nadia Krasteva als Ulrica und Hila Fahima als Oscar wieder auf. Dirigent ist Jesús López Cobos. In der Edition ist der April 2016 als Aufführungszeitraum genannt. In diesem Monat gab es laut Archiv der Staatsoper vier Vorstellungen in identischer Besetzung. Welche nun aufgenommen wurde, bleibt unbekannt. Nachdem er als Riccardo Forth in Bellinis Puritani erstmal in Wien zu hören gewesen ist, blieb Hvorostovsky ein gern gesehener Gast. Die Krankheit hatte ihm inzwischen stimmlich zugesetzt. Mit dem alten Germont in Traviata sang er im November seine letzte Opernrolle. Ein Jahr später ist er in London gestorben.

„150 jahre Wiener Staatsoper“: nicht nur diese fehlt – Superstar der Karajan-Ära Renata Tebaldi, hier als Celebrity auf dem Cover von TIME-Magazin.

Die Schwedin Nina Stemme trat 2003 erstmals als Senta im Fliegenden Holländer im Haus am Ring auf. Es folgten Sieglinde, Brünnhilde, Leonora (Forza del destino), Ariadne, Tosca, Marschallin, Minnie, Elektra, Leonore, Kundry. Im Oktober 2019 kommt die Färbersfrau in der Frau ohne Schatten hinzu. Am 13. Juni 2013 hatte Wagners Tristan und Isolde in einer neuen Produktion, die von Franz Welser-Möst, betreut wurde, Premiere. Daran schlossen sich im selben Monat in dichter Reihenfolge vier weitere Vorstellungen an. Immer waren die Stemme die Isolde und Peter Seiffert der Tristan. Orfeo gibt sich mit dem Datum des Mitschnitts auch hier vage und nennt lediglich den Juni. Dem hohen Paar bleibt nichts erspart. Der gnädige Strich im zweiten Aufzug ist aufgemacht. Die Stemme steht die Partie mit eiserner Entschlossenheit durch. Nach reichlich Wagner in aller Welt ist Seiffert, der die sechzig überschritten hatte, noch immer ein beeindruckender Tristan, der seine Kräfte ökonomisch einzuteilen weiß und nach Pausen, die ihm die kräftezehrende Partie zuweilen lässt, mit immer neuer Energie ins Geschehen zurückkehrt. Gestalterisch bringt der Däne Stephen Milling reichlich Kapital ein, was seiner Klage eine gewisse Kurzweiligkeit verleiht.

In dem als Bonus ausgewiesenen Doppelalbum schimmert schließlich noch etwas vom alten Glanz auf, dem die Wiener Staatsoper bis heute ihren Ruhm verdankt. Es gibt Szenen mit Lisa della Casa, Anneliese Rothenberger, Maria Reining, Sena Jurinac, Mirella Freni, Edita Gruberova. Placido Domingo, Luciano Pavarotti, Franco Corelli, geleitet von Dirigenten wie Hans Knappertsbusch, Joseph Keilberth, Josef Krips, Karl Böhm. Genannt werden nur die Aufnahmejahre. Sonst nichts. Rüdiger Winter

Nikolai Medtner neu entdeckt

 

Junge Sänger sind gut beraten, sich neben der Oper dem Liedgesang zuzuwenden – auf dem Konzertpodium und im Studio. Lieder gleichen Visitenkarten. Sie übermitteln kurz und knapp, mit wem man es zu tun hat. Den Musikmarkt dominieren längst nicht mehr nur die Legenden. Es tauchen immer mehr neue Namen auf, die man sich merken sollte. Nicht selten haben sie noch bei jenen bedeutenden Sängerinnen und Sängern studiert, die in die Jahre gekommen oder bereits abgetreten sind. Der Bariton Ludwig Mittelhammer hatte einen Meisterkurs bei Dietrich Fischer-Dieskau belegt. Er ist nach eigenen Abgaben auf seiner Homepage Jahrgang 1988, geboren in München. Bayern haben offenbar kein Problem mit ihrem Alter. In der Regel gibt sich der Nachwuchs bei diesen Angaben gern zugeknöpft. Als sei das Geburtsjahr den Karrierechancen hinderlich. Jemand anderes könnte schließlich ja noch jünger sein.

Mittelhammer ist mit seinen einunddreißig Jahren jung. Auf seiner ersten Solo-CD, die bei Berlin Classics herausgekommen ist, singt er Lieder von Franz Schubert, Hugo Wolf und Nikolai Medtner (0301246BC). Der 1897 in Moskau geborene Medtner war Russe und ist immer nicht ein Geheimtipp. Vor der Oktoberrevolution floh er zunächst nach Deutschland, später nach Paris. 1935 ließ er sich in London nieder, wo er die größten Erfolge als Pianist hatte und 1951 starb. Medtner hinterließ drei Klavierkonzerte, Kammermusik, Klaviersonaten und um die hundert Lieder. Kurz vor seinem Tod hatte er noch die Sopranistin Elisabeth Schwarzkopf bei vierzehn Titeln für die EMI begleitet, darunter „Meeresstille“ und „Glückliche Fahrt“, die nun auch Mittelhammer singt. Er ist also in guter Gesellschaft. Und warum ist Medtner ihm wichtig? In einem im Booklet abgedruckten Interview mit der freien Autorin Hannah Schmidt ist zu erfahren, dass der Impuls vom Pianisten Jonathan Ware ausgegangen sei. „Die Lieder sind im Klavierpart sehr virtuos und auch für mich sehr anspruchsvoll, weil der Ambitus sehr groß ist“, so der Sänger. Sie seien „einfach musikalisch hochinteressant und wirklich schön“ und gehörten „viel mehr auf die Bühne“. Recht hat er. Es ist hörbar, wie ernsthaft er arbeitet. Gerade bei Medtner fliegt dem Interpreten nichts zu. Das wird jeder Ton zur Herausforderung, zumal der schon erwähnte Tonumfang extrem ist.

In dem Interview betont Mittelhammer, wie wichtig ihm bei der Vorbereitung die Arbeit mit dem Text sei. Das schlägt sich auch im Vortrag nieder, wenngleich sich hier und da Ungenauigkeiten eingeschlichen haben. „Über allen Gipfel ist Ruh‘.“ So beginnt Goethes „Wandrers Nachtlied II“. Mittelhammer hat diese Ruhe in der Stimme, lässt sie aber nicht richtig ausschwingen, so dass es am Ende fast wie „Ruhe“ klingt. Gemessen am positiven Gesamteindruck der CD ist das eine Petitesse. Im Liedgesang kommt es aber nun einmal auf die Feinheiten an. Die Stimme ist kerngesund, kräftig und lässt gelegentlichen Anflügen von Robustheit erkennen. Hier wäre noch mehr Feinschliff angebracht. Ohnehin hatte ich den Eindruck, dass manches Pulver zu schnell verschossen wird. Mittelhammer sollte sich gelegentlich etwas zurücknehmen in seinem stimmlichen Sturm und Drang, mehr nach innen gekehrt singen und weniger nach außen. Wie bei Schuberts mehr als acht Minuten dauerndem Lied  „An den Mond in einer Herbstnacht“, das für mich zum Höhepunkt des Programm wird. Mit fast zweiundsechzig Minuten ist die CD nicht überfrachtet.

Gern hätte ich zwischen den Liedgruppen passende Solostücke mit dem Pianisten gehört. Denn Jonathan Ware ist ein ganz vorzüglicher Begleiter, der beim Tempo sehr individuelle Einfälle hat. Obwohl er sich niemals in den Vordergrund drängt, nimmt er seinen Platz als gleichberechtigter Partner ein. Rüdiger Winter

Hommagen zum 80.

 

Irrtum ausgeschlossen, Brigitte Fassbaender wird achtzig!!! Die Deutsche Grammophon (00289 483 6913) und Warner (6829682) feiern sie mit großen Editionen. Geboren ist sie am 3. Juli 1939 in Berlin, wenige Wochen vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Der Vater, Willi Domgraf-Fassbaender, ein berühmter Sänger, die Mutter, Sabine Peters, eine nicht minder bekannte Schauspielerin. Gemeinsam konnte die Zehnjährige die Eltern sogar im Kino sehen. Im Defa-Film Figaros Hochzeit, der 1949 nach Mozarts Oper gedreht wurde, spielte und sang Domgraf-Fassbaender die Titelrolle, die Peters spielte die Gräfin, der Tina Lemnitz ihre Stimme gab. Den ersten Gesangsunterricht bekam sie beim Vater, der ihr einziger Lehrer blieb. Von der Mutter erbte sie zusätzliches schauspielerisches Talent. Mit solchen Voraussetzungen war der Weg vorgezeichnet. Indem Tochter Brigitte Sängerin wurde, schien sich ein Naturgesetz zu vollziehen. Ihren Aufstieg in den Weltruhm konnten die Eltern noch verfolgen.

Neun von insgesamt elf CDs der Deutsche-Grammophon-Edition (00289 483 6913) sind der Liedersängerin Brigitte Fassbaender gewidmet. 

Die Fassbaender hat alles erreicht, was eine Sängerin erreichen kann. Wien, Mailand, New York, Paris, London, Salzburg, München, Buenos Aires, Glyndebourne, Chicago, Berlin, Bayreuth. Keines der großen Häuser, keines der wichtigen Festivals fehlt in ihrer Statistik. Kaum eine Rolle ihres Fachs, die sie nicht gesungen hat. Auf den Octavian im Rosenkavalier hatte sie ein Abo. Eboli, Carmen, Dorabella, Brangäne, Waltraute, Fricka, Herodias, Sesto, Hänsel, Azucena, Orlofsky, Werther-Charlotte, Marina, Amme, Gräfin Geschwitz, später dann Klytämnestra. In München fing sie 1961 ganz klein an. Als burschikose Resi wirkte sie 1963 in der abgefilmten Inszenierung von Straussens Intermezzo aus dem Cuvilliés-Theater mit, stimmlich schon unverkennbar. Und bei der auch auf Platte (Deutsche Grammophon) festgehaltenen Festaufführung der Strauss-Oper Die Frau ohne Schatten zur Eröffnung des wiederaufgebauten Nationaltheaters in selben Jahr ist sie unter den Dienerinnen und den Stimmen der Ungeborenen. Es braucht allerdings sehr viel Phantasie und gute Kopfhörer, sie aus diesem kleinen, aber prominent besetzten Chor herauszuhören.

Als erste offizielle Plattenaufnahme gilt die Szene der Kuhmagd Lisi in der Operette Der fidele Bauer von Leo Fall, die ihrem unehelichen Sohn Heinerle bei einem Bummel über den Jahrmarkt jeden Wunsch verweigern muss, weil sie „kein Geld“ hat. Einspielt wurde das anrührende kleine Duett 1963 als Bestandteil eines Querschnitts durch das Stück. Nicht zuletzt wegen der Mitwirkung von Fritz Wunderlich verschwand die Platte nie vom Markt und fand als Lizenz sogar den Weg in die DDR. Wenngleich sie für Wunderlich eine von sehr vielen ist, erweist sie sich in Bezug auf die Jubilarin als Glücksfall, weil die Begabung der Anfängerin so genau abgebildet wird. Schon damals dürfte klar gewesen sein: Aus der wird mal was! In der Warner-Sammlung ist das Duett mit dem Knabenalt Wolfgang Eber, das im Booklet aus unerfindlichen Gründen als Arie bezeichnet wird, dankenswerterweise zu finden. Es ist neben dem schon erwähnter Orlofsky, der mit seinen beiden Soli aus der Electrola-Gesamteinspielung unter Willi Boskovsky zu hören ist, nicht der einzige Ausflug in die Operette. Warner hat auch Szenen aus Heubergers Opernball, Offenbachs Schöner Helena, Zellers Vogelhändler und dem Walzertraum von Straus im Angebot, während die Grammophon in ihrer elf CDs umfassenden Edition die Orlofsky-Szenen aus der Decca-Produktion unter André Previn als Rausschmeißer an den Schluss setzt.

Warner hat auch die frühen Aufnahmen von Brigitte Fassbaender im Angebot, darunter eine Szene aus der Leo-Fall-Operette „Der fidele Bauer“, die als ihre erste offizielle Platteneinspielung gilt. Diese Edition besteht aus acht CDs  (6829682). 

Der Liedgesang hielt sich bei Brigitte Fassbaender in der Gesamtschau auf ihr Lebenswerk mit der Oper in etwa die Waage. In beiden Editionen gibt es allerdings einen deutlichen Ausschlag zugunsten des Liedes. „Man muss sich erst in der Oper einen Namen machen, um das Publikum in einen Liederabend zu locken“, sagt sie rückblickend in einem Interview mit dem Musikschriftsteller Thomas Voigt, das im Grammophon-Booklet abgedruckt ist. „Aber ich habe von Anfang an Konzert- und Liedgesang intensiv mit einbezogen. In meinen letzten Jahren habe ich allerdings hauptsächlich Lieder gesungen. Ich finde, da gibt es einfach mehr zu entdecken.“ Von dieser Erkenntnis dürften sich auch Musikproduzenten und Firmen haben leiten lassen, die sie häufig für Liedaufnahmen ins Studio holten. Solche Platten gingen immer und waren auch kostengünstiger herzustellen. Als Liedinterpretin war die Fassbaender in guter Gesellschaft. Kolleginnen und Kollegen wie Elisabeth Schwarzkopf, Christa Ludwig, Dietrich Fischer-Dieskau, Lisa Della Casa, Irmgard Seefried, Hermann Prey, Ernst Haefliger, Janes Baker oder Peter Schreier hatten durch ihre mustergültigen Einspielungen und Konzerte dem Lied zu ungeahnter Popularität verholfen. Wie kaum eine andere Sängerin bemächtigte sich Brigitte Fassbaender mit der Winterreise, der Schönen Müllerin oder der Dichterliebe sehr entschlossen und komplex Werke, die nach wie vor als Männerdomäne gelten. Sie löste diese Zyklen aus der tradierten Betroffenenperspektive heraus und fand nach den ersten bescheidenen Anfängen von Lotte Lehmann aus den 1940er Jahren einen Deutungsansatz, der die Geschlechterrolle bei der Interpretation aufhebt, wenigstens aber zurückstellt. Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit, der Schauer oder das Unbewusste sind hinfort nicht mehr nur männlich. Inzwischen gibt es zahlreiche Interpretationen durch Frauen.

Zahlreiche Liedaufnahmen entstanden ursprünglich bei EMI/Electrola – nun im Besitz von Warner. Diese LP wurde in die neue Edition übernommen.

Während Winterreise und Dichterliebe mit Aribert Reimann, einem ihrer bevorzugten Begleiter, bei Warner zu finden sind, erweitert die Grammophon mit Schöner Müllerin und Schwanengesang – wieder in Zusammenwirken mit Reimann – das Spektrum der Sängerin. Besonderer Erwähnung bedarf die Müllerin. Schubert hatte 1823 nicht alle Lieder der gleichnamigen Gedichtsammlung von Wilhelm Müller, die von einem Prolog und einem Epilog eingefasst ist, komponiert. Weggelassen wurden „Das Mühlenleben“ (Nummer 8), „Erster Schmerz, letzter Schmerz“ (18) und „Blümlein Vergießmein“ (21). Der ironische Grundton der einleitenden und abschließenden Betrachtungen, die dem Zyklus eine völlig andere Perspektive geben, waren Schuberts Sache nicht. 1961 hatte Dietrich Fischer-Dieskau, der auch ein vorzüglicher Rezitator war, bei der EMI eine Aufnahme mit Prolog und Epilog vorgelegt, auf den Einschub der nicht vertonten Titel aber verzichtet. Folglich musste er im Epilog jene Zeilen weglassen, die sich nämlich auf die Tatsache beziehen, dass der Zyklus aus insgesamt fünfundzwanzig Gedichten besteht. Die Fassbaender überwindet diese Rumpflösung, indem sie an den richtigen Stellen die restlichen drei Gedichte gesprochen einfügt und folglich auch nicht im Epilog streichen muss. Das macht ihre Einspielung so einzigartig.

Anregungen für Vergleiche und Gegenüberstellungen bieten sich – ebenfalls bei Grammophon – mit dem Zyklus Frauenliebe und -leben nach Gedichten von Adelbert von Chamisso an, die 1830 veröffentlicht wurden. Carl Loewe hat die Sammlung 1836 als erster vertont, Schumanns Komposition entstand 1840. Dazwischen liegt 1839 Franz Lachner. Loewe, der seine Komposition mit Frauenliebe überschreibt, nahm sich aller neun Lieder an, führte das letzte, das Schumann ignoriert hat, mit melodramatischer Einlage zum Höhepunkt des Werkes. Im dem Interview mit Thomas Voigt kommt die Sängerin zu dem bemerkenswerten Schluss, dass sich Loewes Zyklus „viel leichter als Schumanns Version“ erschließt. Neben der Frauenliebe hat die Fassbaender noch weitere fünfzehn Loewe-Gesänge im Angebot und erweist sich damit als eine weitsichtige Vorkämpferinnen für diesen Komponisten. Das ist nicht alles. Noch mehr Schubert gibt es in beiden Sammlungen, ebenso Hugo Wolf und Gustav Mahler. Franz Liszt, Richard Strauss, Johannes Brahms, Antonin Dvorák und Modest Mussorgsky fallen bei der Grammophon ins Gewicht, während Warner mit Mendelssohn Bartholdy und dem Buch der hängenden Gärten von Arnold Schoenberg punkten kann.

Der Verlag C.H. Beck kündigt für Mitte Oktober die Memoiren der Sängerin an. Auf dem Titel ein Rollenfoto als Octavian, der in den Editionen übrigens keine Berücksichtigung findet.

Die Opern- und Operettenabteilung ist hier wie da nicht optimal ausgestattet. Warner greift auf einzelne Titel wie die bereits erwähnte Szene aus dem Fidelen Bauer zurück, bedient sich bei einem deutsch gesungenen Querschnitt durch Verdis Don Carlos mit Auftritten der Eboli, fischt die Gräfin Geschwitz aus der Lulu unter Jeffrey Tate, die Jocaste aus Enescus Oedipe mit Lawrance Foster am Pult und die Nancy aus der von Robert Heger geleiteten Martha heraus. Die Grammophon geht auch ans Eingemachte, stutzt Giulinis Trovatore-Gesamtaufnahme auf eine Azucena-Szenenfolge zurecht, pickt aus dem Tristan Kleibers zwei Stellen mit der Brangäne, einschließlich Wachgesang, heraus, entsinnt sich der rasanten frühen Archiv-Produktion von Scarlattis Il giardino d’amore aus dem Jahre 1964, die drei Szenen der Venere hergibt. Mozart bildet einen Schwerpunkt für sich mit Ausschnitten aus Gesamteinspielungen von La clemenza di Tito (Annio/Istvan Kertesz), La finta giardiniera (Don Ramiro/Leopold Hager) und Cosi fan tutte (Dorabella/Karl Böhm). Einige Schnipsel aus Hänsel und Gretel, die der Produktion der Humperdinck-Oper mit Georg Solti entnommen sind und gute sechs Minuten Pfitznerscher Palestrina (Silla/Rafael Kubelik) dienen mehr der Dokumentation von Repertoire denn als künstlerischer Beleg. Teils noch herber fallen die Schnitte bei diversen Oratorien und Messen aus. Bei Warner schrumpfen die Petit Messe solenelle von Rossini (mit Hamonium/Stephen Cleobury), die Johannespassion (Wolfgang Gönnenwein) und die Mass in B minor (Eugen Jochum) auf jeweils zwei, Schumanns Paradies und die Peri (Henryk Czyz) auf drei Nummern zusammen, und Das Lied von der Erde der Grammophon (Carlo Maria Giulini) besteht nur aus der Altpartie. Es braucht schon einiges Hintergrundwissen, um den Flickenteppich zu ergänzen. In beiden Editionen werden zwar alle Aufnahmedaten genau aufgelistet, es fehlen aber die Hinweise auf Gesamtaufnahmen, wenn Arien und Duette solchen entlehnt sind.

Für Mitte Oktober sind bei C.H. Beck ihre Memoiren „Komm‘ aus dem Staunen nicht heraus“ angekündigt. Auf dem Titel ein Rollenfoto als Octavian, der in den Editionen übrigens keine Berücksichtigung findet. Das Zitat aber, das dem Buch seinen Namen gibt, stammt von Ochs aus dem dritten Aufzug des Rosenkavalier, als er die pikanten Zusammenhänge und Verbindungen zwischen den handelnden Personen durchschaut. Eine ganz zufällige Wahl? Wohl kaum. Staunen dürfte eine der maßgeblichen Eigenschaften dieser umtriebigen Künstlerin sein, die ihr künstlerisches Wirken mit dem Sängerberuf nicht auf sich beruhen ließ. Wer staunen kann, findet sich nicht mit den jeweiligen Gegebenheiten ab. Als gehe es erst danach richtig los, wurde sie Spielleiterin, Operndirektorin, Intendantin, stand Gesangswettbewerben vor, gab Meisterklassen und widmete sich mit Hingabe dem Sängernachwuchs. Als Nachfolgerin von Wolfgang Sawallisch war sie zwischen 2005 und 2017 Vorsitzende der Richard-Strauss-Gesellschaft. Die maßstäbliche Einspielung sämtlicher Klavierlieder des Komponisten geht auf sie zurück. Sie begnügte sich aber nicht nur mit der Rolle der Mentorin. Kurzerhand übernahm sie bei den beiden Melodramen – „Enoch Arden“ und „Das Schloss am Meere“ – die Rezitation. Jetzt ist Brigitte Fassbaender vermehrt als Opernregisseurin unterwegs. Für die nächsten Jahre ist sogar ein kompletter Ring im Gespräch. Wie drückte sich der Komponist und Begleiter der Sängerin Aribert Reimann aus? „Eine großartige Persönlichkeit, die in allem, was sie vollbracht und erreicht hat, immer mit der ihr eigenen Sprache so unendlich vieles bewegen konnte.“ Und immer noch kann. Rüdiger Winter (Foto oben (© Susesch Bayat) ist ein  Ausschnitt dem Booklet der Edition der Deutschen Grammophon).

Eigentlich eine Oper

 

Mit Abstand von fast dreißig Jahren ist das Oratorium Das Sühneopfer des neuen Bundes von Carl Loewe nun zum zweiten Mal auf CD erschienen. Die überhaupt erste Aufnahme kam 1991 bei FSM mit dem Chor der St. Nikolauskirche Frauenfeld und dem Collegium Musicum St. Gallen unter der Leitung von Mario Schwarz heraus. Obwohl stark gekürzt, fand sie schon deshalb große Aufmerksamkeit, weil der bis dahin vor allem auf sein Balladenschaffen reduzierte Komponist plötzlich auch als Musikdramatiker wahrgenommen wurde. Jetzt legt Oehms in Co-Produktion mit dem Bayerischen Rundfunk eine komplette Einspielung vor (OC 1706), die etwa eine halbe Stunde mehr Zeit beansprucht als die Vorgängerin, die mit einer CD auskam. Diesmal singen die Arcis-Vokalsolisten München, die 2005 von Thomas Gropper gegründet wurden. Sie verstehen sich als semiprofessionelles Ensemble aus etwa achtzig Frauen und Männern unterschiedlicher Altersgruppen, die größtenteils musikalisch ausgebildet sind. Es spielt das Barockorchester L’arpa festante, das seit 1983 besteht und seinen Namen von der so betitelten Oper von Giovanni Battista Maccioni herleitet, mit der 1653 das erste Münchner Opernhaus eröffnet wurde. Markenzeichen dieses Ensembles sind die Bemühungen um Originalklang bei Aufführungen und Produktionen. Monika Mauch (Sopran), Ulrike Malotta (Mezzosopran), Georg Poplutz (Tenor) und Andreas Burkhart (Bass) bilden das traditionelle Solistenquartett.

Gropper, der die musikalische Leitung hat, ist selbst als Sänger tätig und hat noch bei Dietrich Fischer-Dieskau Unterricht genommen. Am Stadttheater Ingolstadt sang er Figaro, Don Giovanni und Papageno, bei den Opernfestspielen in der Bad Hersfelder Stiftruine die Titelpartie in Monteverdis L’Orfeo. Mit dieser Erfahrung dürfte Gropper genau der Richtige  sein für das Passions-Oratorium, das viele opernhafte Elemente in sich trägt. Wie Gropper im Booklet herausgearbeitet hat, war es Loewe, der seine zentrale berufliche Aufgabe über fast ein halbes Jahrhundert als Organist, Kantor und städtischer Musikdirektor in Stettin, dem heutigen Szczecin, versah, „aufgrund seines Arbeitskontrakte untersagt, für die dortige Opernbühne zu komponieren“. Draus erklärt sich, dass er das „erlaubte“ Genre des Oratoriums musiktheatralisch aufgeladen habe. Insofern ist das Oratorium auch als eine Art heimliche Oper zu verstehen. „Im Wechsel aus Bibelstellen, Chorälen und freier Dichtung“ habe der Kirchenliedforscher und Lehrer am Stettiner Marienstift, Wilhelm Telschow, sein Libretto geformt. Der Passionsbericht sei „aus den verschiedenen Evangelien kompiliert, hauptsächlich aus Matthäus und Johannes, und sprachlich vereinfacht, die Jesusworte hingegen bleiben original“. Gropper: „Dazu kommen Psalmen (113, 116, 117) und Choralverse. In den frei hinzugedichtete Texten für Prolog, Epilog und einzelnen Arien wird in schlichter Sprache versucht, einen emotionalen Zugang herzustellen, etwa indem am Passionsgeschehen beteiligte Figuren ihre Wahrnehmungen und Gedanken äußern.“

Nach einer knappen musikalischen Einleitung übernehmen solistisch besetzte „Stimmen aus dem Volke“, die sich im Chor fortsetzen. Das ist von großer Wirkung. Loewe versucht sich über das ganze Werk verteilt in solchen überraschenden Formen und Lösungen, die seine eigene Handschrift deutlich erkennen lassen. Umso verwunderlicher ist es, dass sein oratorisches Schaffen schon zu seinen Lebzeiten und erst recht danach in tiefe Vergessenheit fiel. Durch den unangebrachten Vergleich mit Mendelssohn und Schubert, den er letztlich nicht bestehen konnte, ist ihm viel Ungerechtigkeit widerfahren. Loewes Stil habe „seine Wurzeln in der mitteldeutschen und norddeutschen Kantorentradition“, so Gropper. Und das ist nicht die schlechteste Tradition. Die zahlenmäßig übersichtliche Besetzung lässt es zu, das Werk klar, gar leicht, elegant und unverschnörkelt darzubieten. Dadurch tritt seine eigenwillige Struktur umso deutlicher hervor. Alle Solisten sind vorzüglich ausgesucht. Sie sind immer gut zu verstehen, fügen sich ohne Eitelkeit in das Ensemble. Im üppig ausgestatteten Booklet, das auch den vollständigen Text enthält, werden sie ausführlich in Wort und Bild vorgestellt. Auch das Klangbild der in der Himmelfahrtskirche in München-Sending produzierten Aufnahme lässt keine Wünsche offen. Rüdiger Winter

Aufgewärmt

 

Der Liedersänger Dietrich Fischer-Dieskau hat sich bis zum Ende seiner Karriere im Jahre 1992 die Neugierde bewahrt. Obwohl Franz Schubert wie ein Fels im Zentrum seines Wirkens stand, stellte er sich immer wieder neuen Herausforderungen. Ein Album, das jetzt bei Orfeo herausgekommen ist, legt Zeugnis davon ab: Orchesterlieder von Hugo Wolf und Max Reger (MP1902), jeweils eine CD pro Komponist. Bei Wolf wird er vom Münchner Rundfunkorchester unter Stefan Soltész begleitet, bei Reger (1989) vom Philharmonischen Staatsorchester Hamburg unter Gerd Albrecht. Es handelt sich um Produktionen des Bayerischen und des Norddeutschen Rundfunks, die 1990 (Wolf) und 1989 (Reger) entstanden – für Fischer-Dieskau eine Art Abgesang. Zunächst waren die Lieder von Orfeo einzeln veröffentlicht worden. In der Kombination können Vergleiche angestellt und Gemeinsamkeiten aufgespürt werden. Der 1860 geborene Hugo Wolf und sein dreizehn Jahre jüngerer Kollege waren schließlich Zeitgenossen. Reger hat sich intensiv mit Wolf beschäftigt und sich selbst mit dem „verkannten Genie“ identifiziert, wie Susanne Popp in ihrer Reger-Biographie „Werk statt Leben“ feststellt. Einen Berührungspunkt zwischen beiden Komponisten gibt das Album bei „Sterb‘ ich, so hüllt in Blumen meine Glieder“ aus dem Italienischen Liederbuch her, das von Reger instrumentiert wurde.

Während dieser die Orchesterfassungen seiner Stücke selbst schuf, liegen bei Wolf die Dinge oft anders. Eines seiner bekanntesten Lieder, „Fußreise“ nach Mörike, bearbeitete Günter Raphael (1903-1960), der im Musikbetrieb noch immer nicht die Wertschätzung erfährt, die ihm zusteht. Er hinterließ ein umfängliches Werk aus Sinfonien, Konzerten, Kammermusiken, Kantaten, Liedern und Orgelstücken. Als so genannter Halbjude von den Nationalsozialisten verfolgt und seiner Ämter enthoben, durfte Raphael – inzwischen schwer krank – erst nach 1945 wieder unterrichten. Thomaskantor Karl Straube hatte ihn einst als seinen Nachfolger auserkoren. Seine Instrumentierung betont den ausgesprochen lyrischen Charakter des Liedes noch zusätzlich, und dem fünfundsechzigjährigen Interpreten scheint es ein Leichtes, diesen Ton fast schwelgerisch aufzunehmen. Dabei ist er noch immer in seinem Element. Hochdramatische Ausbrüche in „Prometheus“ oder in „Der Freund“ gelingen nicht ganz mehr so gut wie in jüngeren Jahren. Der finnische Bassist Kim Borg, der sich auch komponierend betätigte, versah die „Drei Michelangelo-Lieder“ mit Orchester. Dadurch wird deren Strenge und Modernität allerdings etwas gemildert.

Orchestral Songs also! Auf die Reger-Auswahl trifft der Titel des Albums eigentlich nicht zu. Bei „Der Einsiedler“, „Hymnus der Liebe“, „An die Hoffnung“ – alle um die 13 Minuten lang – und dem „Requiem“ (16 Minuten) handelt es sich denn doch mehr um kantatenähnliche Gesänge, zumal im ersten und im letzten Stück noch ein Chor (St. Michaelis-Chor und Monteverdi-Chor Hamburg) hinzutritt. Rainer Aschemeier, der Autor des Booklet-Textes, findet – und das zu recht – nicht nur für den Säger, sondern auch für den Dirigenten Albrecht eine durchweg positives Urteil: „Das Ergebnis ist eine künstlerische Symbiose höchsten Ranges, die von einer Leidenschaft und Innigkeit zeugt, wie man sie nicht mehr häufig findet: Ein wahres Tondokument!“ Das Album erinnert Sammler und Verehrer von Dietrich Fischer-Dieskau daran, dass er auch Orchesterlieder von Hans Pfitzner für EMI/Electrola eingespielt hat. Erstmals veröffentlicht wurde die Platte 1979. Darauf finden sich so seltene Titel wie die Ballade „Herr Oluf“, die auch Carl Loewe meisterhaft in Töne setzte. Aus der Oper Der arme Heinrich singt Fischer-Dieskau die Erzählung des Dietrich. Begleitet wird er vom Sinfonie-Orchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Wolfgang Sawallisch. Eine CD-Übernahme habe ich nicht gefunden, nur eine Download-Version von Warner. Rüdiger Winter

Entdeckungen in der Traumwelt

 

„… von sanftem Traum umflossen“: Die Wörter „Ich lag…“ vorangestellt, wird aus dem Zitat, mit dem der Tenor Malte Müller seine CD titelt, der Beginn eines Liedes aus dem so genannten vierten Strauß der umfänglichen Gedichtsammlung „Liebesfrühling“ von Friedrich Rückert. Sämtliche zweiundzwanzig Lieder der Neuerscheinung bei Spektral (SRL4-18167) sind auf Texte dieses Dichters, der zwischen 1788 und 1866 lebte, komponiert. Wäre er nicht so oft vertont worden, dürfte sich die Erinnerung an ihn in deutlich engeren Grenzen halten als es ohnehin der Fall ist. Zwar sind Straßen nach ihm benannt, Denkmäler an seinen Wirkungsstätten errichten worden. Das Geburtshaus in Schweinfurt und das Wohn- und Sterbehaus in Neuses, das inzwischen ein Stadtteil von Coburg ist, gehören dort zu den ersten Adressen. Auf seinem Grab liegen manchmal frische Blumen. Vom Volksmund aufgeschnappt ist das geflügelte Wort vom „lieben Freund und Kupferstecher“, das auf Rückert zurückgeht. Damit leitete er seine Briefe an den Kupferstecher Carl Barth ein, mit dem er befreundet war und der eines der bekanntesten Konterfeis des Dichters mit den schulterlangen Haaren, der auch Italien bereiste und Teile des Korans ins Deutsche übersetzte, schuf.

Das geflügelte Wort vom „lieben Freund und Kupferstecher“ geht auf Rückert zurück. Damit leitete er seine Briefe an den Kupferstecher Carl Barth ein, mit dem er befreundet war und der dieses charismatische Konterfei des Dichters mit den schulterlangen Haaren schuf.

Vor allem aber lebt Rückert als Textdichter fort. Für seine CD wählte der Sänger Lieder von Franz Schubert, Robert Schumann, Carl Loewe, Franz Liszt, Richard Strauss, Alban Berg, Modest Mussorgsky, Robert Radecke, Giacomo Meyerbeer, Wilhelm Kienzl, von dem das Titel gebende Lied stammt, sowie von Hannah Mathilde von Rothschild (1832-1924), die sich vornehmlich als Mäzenin betätigte und nur gelegentlich komponierte, aus. Es hätten noch viel mehr sein können. Denn auch Brahms, Cornelius, Marschner, Lachner, Silcher, Hiller, Sinding, Nietzsche, Hindemith und wie sie alle heißen, bedienten sich bei Rückert. Am nachhaltigsten dürfte dessen Wirkung auf Gustav Mahler gewesen sein. Der griff in seinen erschütternden „Kindertotenliedern“ auf Verse Rückerts zurück, mit denen dieser den Verlust seiner eigenen Kinder verarbeitete. Eine Sammlung von fünf Liedern Mahlers ist unter den Namen des Dichters zusammengefasst. Diese so genannten „Rückert-Lieder“ finden sich denn auch bei Malte Müller. Sie beschließen das Programm seiner CD. Eingeleitet wird es mit Berg, dessen Lied „Ich will die Fluren meiden“ den Sänger von der Realität in seine thematische Traumwelt, die viele Entdeckungen bereithält, führt. Im Booklet sind alle Texte abgedruckt. So ist stets ein schneller Abgleich der Vertonungen mit den literarischen Vorlagen möglich, die auch für sich allein Bestand haben – und umgekehrt. Eine der erfreulichen Nebenwirkungen der CD ist die Anregung, sich Rückert wieder mehr zuzuwenden.

Müller legt hörbar großen Wert darauf, die Texte sehr deutlich zu vermitteln. Er will immer genau verstanden werden. Bei den zu Extremen neigenden Strauss-Titeln („Ein Obdach gegen Schnee und Regen“, „Gestern war ich Atlas“, „Die sieben Siegel“, „Morgenrot“ und „Ich sehe wie in einem Spiegel“) ist das nicht immer einfach. Hier und da hätte sich ein flotteres Tempo angeboten. Das Lied „Aus der Jugendzeit“ von Radecke, das ein Volkslied geworden ist, gewinnt nicht durch seine Bodenlastigkeit. Besonders gut gelingt Müller die anrührende Ballade „Des fremden Kindes heil’ger Christ“ von Loewe, die in jüngster Zeit bei Sängern wieder Aufmerksamkeit findet, nachdem sie über Jahrzehnte nur in einer gekürzten Aufnahme von Karl Erb vorgelegen hatte. Rüdiger Winter