Dramatisch und subtil

 

Das Londoner Label Hyperion ist mit seiner Edition der Lieder von Franz Liszt bei Vol. 6 angelangt (CDA68235). Bestritten wird diese CD von Julia Kleiter. Am Flügel begleitet sie Julius Drake, der gefordert ist, weil bei diesem Komponisten der Klaviersatz nicht selten betont anspruchsvoll und üppig ausfällt. Schließlich war der Komponist als Pianist eine Legende. Auf seinem Spiel beruht seine enorme Berühmtheit. Heinrich Heines „Loreley“ – um ein Beispiel anzuführen – wird vom Klavier verschwenderisch umrankt. Die Sängerin setzt ein wenig atemlos ein, als ob ihr plötzlich ein Gedanke durch den Kopf schießt, auf den sie so nicht gefasst war. Das ist ein interessanter Ansatz, der in der Vertonung angelegt ist und jegliche Ähnlichkeit mit der etwas früher entstandenen volksliedhaften Version von Friedrich Silcher leugnet. Liszt hat ein versöhnlich ausklingendes dramatisches Kunstlied geschaffen, das in der ersten Fassung (1841) von Julia Kleiter bewegend gesungen wird. Überaus melodiös heben drei Lieder aus Friedrich Schillers Wilhelm Tell an – „Der Fischerknabe“, „Der Hirt“ und „Der Alpenjäger“ an. Für alle drei fand Liszt, der in Weimar, wo Schiller zuletzt lebte und starb, nachhaltige Spuren hinterließ, charakteristische Motive. Nicht gespart an Erfindungsreichtum hat der Komponist auch bei „Die Macht der Musik“ auf einen Text von Prinzessin Helene zu Mecklenburg-Schwerin (1814-1858). Mit gut zehn Minuten Länge wird die Form des Liedes arg strapaziert. Die Interpretin lässt sich davon nicht beeindrucken und gelangt zu einem in sich geschlossenen Vortrag. Zu hören sind unter anderen noch vier Kompositionen nach Versen von Victor Hugo, „Mignons Lied“ nach Goethe und „Wo weilt er?“ nach Rellstab.

Im Werk von Liszt stellen Lieder einen festen Posten. Mehr als achtzig Titel sind überliefert. Einige davon wurden mehrfach umgearbeitet. Die Transkriptionen der Lieder von fremder Hand – darunter Schubert, Beethoven und Schumann – gehören zu seinem Meisterwerken. In der Mehrzahl vertonte Liszt deutsche Gedichte. Goethe, Schiller, Heine, Uhland und Rückert waren seine bevorzugten Dichter. In Anlehnung an Heinrich Heine sollten diese Werke als „Buch der Lieder“  verteilt auf mehrere Hefte herausgegeben werden. Von diesem Plan rückte Liszt aber wieder ab, weil nicht alle frühen Lieder später seinem eigenen Werturteil standhielten. Enge biografische Bindungen an Frankreich, Ungarn und Italien brachten es mit sich, dass er auch Texte aus diesem Kulturkreis vertonte. Liszt kann getrost als eine europäische Erscheinung gelten, was ihm im Lichte unserer Zeit so modern macht. Der französische Tenor Cyrille Dubois, der sowohl auf Opernbühnen als auch in Konzertsälen unterwegs ist, legte bei Aparte eine CD mit Liszt-Liedern vor. Begleitet wird er von seinem Landsmann Tristan Raës (AP200). Beide haben zusammen bereits mehrere Preise gewonnen.

Mehr als die Hälfte der Lieder sind deutschsprachig. Dubois hat es sich also nicht leicht gemacht. Er singt ein fabelhaftes Deutsch. Sein leichter Akzent stört überhaupt nicht. Im Gegenteil. Wir Deutsche hören es schließlich ganz gern, wenn sich Franzosen unserer Sprache bedienen. In Schlagern, Filmen oder im Theater wurde ein exotischer Kult daraus. Dubois spielt aber nicht damit. Er kann und will nur seine Herkunft nicht verleugnen. Und das ist gut so. Wichtiger ist, dass er mit dem Vortrag die Inhalte transportieren kann. Wie in der „Loreley“, der Deutschen liebsten Gedichte von Heine, das um die vierzigmal vertont wurde. Keine der Kompositionen wurde so populär wie die von Friedrich Silcher (1789-1860), die sich in ihrer volkstümlichen Schlichtheit auch jenen Menschen einprägt, die nicht wissen, was eine Note ist. Liszt verlässt ausgetretene Wege und spürt der tiefen Melancholie der Sage nach. Dubois singt die zweite Fassung von 1856. „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten.“ Der berühmte Beginn klingt bei ihm fast nebensächlich. So, als würde er von einem plötzlichen Einfall heimgesucht, der ihm fortan nicht mehr aus dem Sinn geht. Immer tiefer versenkt er sich in die Geschichte. Die musikalische Linie stellt sie wie von selbst ein und entwickelt sich so, dass Stimme und Klavier eins werden wie bei vielen Liedern von Franz Liszt, der bekanntlich ein begnadeter und gefeierter Pianist gewesen ist. In „Bist du“ findet der Sänger die typische Kompositionsweise von Liszt noch deutlicher heraus. Diesem Lied liegt ein Gedicht des russischen Dichters Elim Metschersky (1808 – 1844) zugrunde. Metschersky, der vor allem durch Liszt in Erinnerung geblieben ist, entstammte einer einflussreichen Adelsfamilie und suchte wegen seiner anfälligen Gesundheit das milde Klima von Nizza. Das Lied „O lieb, so lang du lieben kannst!“ gibt der Neuerscheinung den Titel. Es ist auf ein Gedicht von Ferdinand Freiligrath (1810–1876), einem Zeitgenossen des Komponisten, vertont worden. Die Melodie formte Liszt auch für seinen Klavier-Liebestraum Nr. 3.

In Reclams 1300 Seiten umfassenden Liedführer (Axel Bauni, Werner Oehlmann, Lilian Sprau und Klaus Hinrich Stahmer), einem mehrfach aufgelegten und erweiterten Standardwerk des Genres, heißt es: „Das Geheimnis der Lisztschen Lieder ist ihre Subtilität.“ Wem der Sinn für die Höhe des Gefühls fehle, auf der sie sich bewegten, der werde ihnen hilflos gegenüberstehen – doch „wer sich bemüht, sich in ihre Sphäre hineinzufühlen, dem bedeuten sie einen hohen, fast erotischen Bereich romantischer Idealität“. Ob Dubois diese Sätze gelesen hat? Er macht sich nämlich genau die darin zusammengefasste Erkenntnis zu Eigen und unterscheidet sich damit von manch anderer Interpretation, die nicht annähernd so gut ist wie die seine. Der Titel-Hit erweist sich allerdings nicht als Selbstläufer, klingt in der aufsteigenden Höhe sogar etwas penetrant. Doch wenn er den lyrischen Fluss der meisten Gesänge zeichnet wie mit einem Silberstift, dann entführt er sein Publikum, getragen vom Klavier, tatsächlich in jene Sphären, von denen die Autoren des Liedführers so präzise sprechen. Die CD ist nicht einen Moment langweilig. Dubois schafft mit seinem Vortrag keine Distanz. Er nimmt die meisten Lieder wörtlich, lässt sich schwärmerisch von jenen Gefühlen leiten, denen Liszt durch Musik und Texte Ausdruck verleiht. Für das Liedschaffen des Komponisten ist diese CD eine gute Empfehlung.

Diana Damrau hat bei Erato, begleitet von Helmut Deutsch, Lieder von Liszt eingespielt.

An Bemühungen, die Lieder von Liszt einem breiten Publikum bekannt zu machen, hat es nicht gefehlt. Nicht selten wirken die historischen Aufnahmen wie gut gemeinte Pflichtübungen, die am Ende doch viel Langweile verbreiten. Michael Raucheisen nahm im Rahmen seiner berühmten Liededition für den Reichsrundfunk mindestens achtzehn Titel auf. Beteiligt waren Erna Berger, Tiana Lemnitz, Lea Piltti, Emmi Leisner, Gertrude Pitzinger, Karl Erb, Hanns-Heinz Nissen, Rudolf Bockelmann und Hans Hotter. Elisabeth Schwarzkopf hatte Liszt noch in ihrer späten Zeit im Repertoire. Einen Liederabend 1973 in London eröffnete Hanne-Lore Kuhse aus der DDR gleich mit sechs Liedern dieses Komponisten. Der umtriebige Dietrich Fischer-Dieskau dürfte mit seiner Edition der Deutschen Grammophon, die etwa die Hälfte des Liedschaffens umfasst, der Platzhirsch auf dem Musikmarkt sein. Das englische Label Hyperion legte eine Gesamtaufnahme vor, an der Angelika Kirschlager, Sasha Cooke, Matthew Polenzani und Gerald Finley beteiligt sind. Für Centaur nahm der amerikanische Tenor Daniel Weeks eine Liszt-CD auf, während die deutsch-amerikanische Mezzosopranistin Marylin Schmiege für Orfeo ins Studio ging. Eine höchst ambitionierte Produktion legte die ungarischen Hungaroton vor. Dabei sind sechs Lieder in unterschiedlichen Versionen eingespielt wurden, darunter das aufgeregte „Freudvoll und leidvoll“, das Dubois in der Fassung von 1848 singt. Insgesamt gibt es deren drei.

Als sensible Interpretin der Lieder von Liszt erwies sich Diana Damrau auf ihrer von Helmut Deutsch begleiteten CD bei Erato, die seit der Veröffentlichung im Jahr 2011 nichts von ihrer Frische und Wirkung eingebüßt hat. Sie kann als weibliches Pendant zur aktuellen Einspielung von Dubois gelten. Rüdiger Winter