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Schubertiade. Der Begriff hat sich bis in die Gegenwart erhalten. Festival in Hohenems, Schwarzenberg, Dürnstein und anderswo nennen sich so. Schubertiaden – das waren ursprünglich private musikalische Zusammenkünfte in Wiener Salons, bei denen Franz Schubert am Flügel saß, umringt von Freunden, Enthusiasten und Künstlern, denen er neue Kompositionen vorspielte. So ließ sich deren Wirkung auf Publikum testen. Bei einer diese Veranstaltungen erlebte auch die Winterreise – als „ein Kreis schauriger Lieder“ angekündigt – ihre erste Aufführung. Schubertiade ist auch der Titel einer neuen CD, die von BR Klassik, dem Eigenlabel des Bayerischen Rundfunks, herausgegeben wurde (900528). Sie verdient diese Bezeichnung zu Recht. Denn auf dem Programm stehen Werke, die wenig Verbreitung fanden und immer noch im Wartestand ihrer Entdeckung zu verharren scheinen. Sie stehen im Schatten der populären Meisterwerke und haben gewiss nicht deren Tiefe. Wer sich also im Werk Schubert nicht bis in alle Einzelheiten auskennt, für den mag dieser oder jener Titel der CD eine ganz persönliche Uraufführung sein. Einer stärkeren Verbreitung dürfte auch entgegenstehen, dass sie für heutige Hörgewohnheiten ungewöhnlich besetzt sind. Es braucht Chöre, Solisten und ein Klavier, das aber nicht immer zum Einsatz kommt.
Drei Lieder – Wehmut, Ewige Liebe, Flucht – D (Deutschverzeichnis) 825, die es zusammen auf vierzehn Minuten bringen, sowie Sehnsucht D 656 werden vom Männerchor a cappella dargeboten, Ständchen D 920 zusätzlich mit Alt-Solo (Merit Ostermann) und Klavier. Gott in der Natur D757 und Der 23. Psalm Gott ist mein Hirt D 706 sind mit Frauenchor und Klavier besetzt. In Nachthelle! D 892 teilen sich Tenor (Andrew Lepri Meyer), Männerchor und Klavier. Es wird mit dieser CD offenkundig, wie meisterhaft Schubert auch dieses Genre beherrschte. Und ich nehme mir ganz fest vor, künftig noch viel mehr Chormusik zu hören und nach einschlägigen Aufnahmen Umschau zu halten. Beim ersten Titel – Der Gondelfahrer D 809 – wird der Männerchor vom Klavier begleitet. Das Hauptmotiv hat Ohrwurmcharakter. Man wird es nicht wieder los. Es geht einem tagelang durch den Kopf. Deshalb ist das Lied auch bei Laienchören sehr beliebt. Es beruht auf einem Text von Johann Mayerhofer. Der war ein sehr enger Freund des Komponisten und Gast bei den ersten Schubertiaden. Beide teilten sich drei Jahre lang ein Zimmer in Wien. Der depressiv veranlage Mayrhofer stürzte sich 1836 aus dem Fenster seines Dienstgebäudes in den Tod. In dem Lied wird das nächtliche Venedig zum Sehnsuchtsort, wo die Erdensorgen genommen werden und die Barke „aller Schranken los“ dahin gleitet. Alle „schlummern friedlich“ und „nur der Schiffer wacht“. Schubert erhebt durch seine musikalische Erfindung auch derlei gestelzte Verse zu hoher Kunst. Im Booklet wird von Florian Heurich vermerkt, dass er „eine ganz besondere, romantisch verklärte Nachtstimmung“ kreiert, in der „das Glitzern des Mondlichts auf den venezianischen Kanälen heraufbeschworen wird“. Es singen die Herren des Chores des Bayerischen Rundfunks. Sie sind perfekt aufeinander abgestimmt und bringen sogar eine räumliche Wirkung hervor.
Der Pianist Justus Ziehten spielt einen Flügel aus der Klaviermanufaktur Érard aus den 1870er Jahren. Seinerzeit sind diese Instrumente in den Salons und Häusern wohlhabender Privatleute weit verbreitet gewesen, heißt es im Booklet. Sie könnten als Inbegriff der bürgerlichen Musikkultur abgesehen werden. „Die Bauart und Mechanik dieses Flügels wurde um 1840 entwickelt, also erst zwölf Jahre nach Schuberts Tod, dennoch weist er eine klangliche Nähe zu Hammerklavier der Schubertschen Zeit auf. Durch die technischen Neuerungen wird jedoch ein substanzreicheres Klangspektrum erzielt. Dadurch besitzt das Instrument auch die nötige Fülle zur Begleitung von größeren Chorbesetzungen.“ Dem Gondelfahrer-Lied ist diese Fülle nach meinem Eindruck etwas abträglich. Als störe sie den nächtlichen Zauber im Mondesschein. Für alle anderen Titel gilt das so nicht. Ihnen gereicht die akustisch markante Begleitung durchweg zum Vorteil. Ihrem großen Finale strebt die Neuerscheinung mit Mirjams Siegesgesang D 942 für Sopran-Solo (Christina Landshamer), Chor und Klavier zu. Die Prophetin Mirjam, Schwester von Moses und Aaron, gilt als eine der großen Frauengestalten im Alten Testament. Während des Auszugs der Israeliten aus der ägyptischen Knechtschaft führte sie den Freudentanz der Frauen an. Mit dieser Kantate – der Text stammt von Franz Grillparzer – ist der prächtig disponierte Chor des Bayerischen Rundfunks in gemischter Zusammensetzung zu hören. Sie dauert fast zwanzig Minuten. Die Solistin, legt ihren Part betont lyrisch an und hat keine Mühe, extreme Höhen zu erreichen. Zum besseren Verständnis kann es allerdings nicht schaden, den im Booklet abgedruckten Text mitzulesen. Auch alle anderen Vorlagen finden sich. Rüdiger Winter