Ein Volontariat hatte mich Ende der sechziger Jahre nach Stadtroda verschlagen, eine kleine Stadt im thüringischen Holzland. Als ich das beschauliche Zentrum erkundete, fiel mir an einem mit Fachwerk geschmückten Haus eine Gedenktafel mit folgender Inschrift auf: Geburtsstätte des Leiters der Bayreuther Festspiele und Künders deutscher Musik Professor Julius Kniese, geboren 21. 12. 1848, gestorben 22. 4. 1905. Ich war wie elektrisiert, weil diese Entdeckung mit meinen ersten Gehversuchen zusammenfiel, die ich durch das Werk Wagners unternahm. Ein Bibliothekar, mit dem ich darüber ins Gespräch kam, klärte mich über die Bedeutung dieses Mannes auf. Durch Liszt ist er mit Wagner bekannt geworden, nahm an der Grundsteinlegung des Festspielhauses in Bayreuth teil und hat bei der Uraufführung des Parsifal assistiert. Nach dem plötzlichen Tod des Komponisten 1883 war er bei der Weiterführung der Festspiele die feste Stütze der Witwe Cosima. Kniese gründete auch eine Stilbildungsschule, in der Sänger speziell für Wagners Musikdramen herangebildet werden sollten.
Begraben liegt er auf dem Bayreuther Stadtfriedhof. Mein kenntnisreicher Gesprächspartner schenkte mir auch ein Buch, das er kurzerhand aus seinen Bibliotheksbeständen aussortierte. Der Kampf zweier Welten um das Bayreuther Erbe, erschienen 1931 bei Theodor Weicher in Leipzig, herausgegeben von Julie Kniese. Das war die Tochter (die auch einen Eintrag bei Wikipedia besitzt und eine bekannte Kinderbuchautorin war). Schnell hatte ich herausgefunden, dass sie noch lebte. Und zwar ganz in meiner Nähe, in Weimar. Auf einen Brief folgte die freundliche Antwort. Ich wurde eingeladen und fand mich im neunzehnten Jahrhundert wieder. Wie eingesponnen in ihre Erinnerungen lebte diese fast neunzigjährige Frau in ihrem mit Devotionalien vollgestopften Haus. Sie trug eine Haube und ein langes schwarzes Seidenkleid, dem man die Jahre ansah. Aus einer Schachtel wurde der originale Briefwechsel zwischen ihrem Vater und Liszt hervorgeholt. Ihre eigenen Erinnerungen an Liszt waren sehr anschaulich. Sie habe als Kind auf seinem Schoß gesessen und dufte ihn an seinem langen weißen Haaren ziehen. Für das Bayreuth der Enkel Wagners hatte die muntere Greisin nur Spott übrig. Erneuerung empfand sie als Verrat. Wenn es nach ihr ginge, dürfe Wagner nur so aufgeführt werden wie es der Meister selbst in Bayreuth vorgemacht habe. Alle seine Anweisungen seien von ihrem Vater in einem Tagesbuch festgehalten worden. Danach müsse für alle Ewigkeit verfahren werden. Und so schließt das von ihr herausgegeben Buch mit den Worten: „Bayreuth aber lebt, solange es das Geheimnis seines Meisters treu hütet und heilig hält, solange die Träger der Idee im Banne seines Geistes stehen und wirken.“
Das Buch von Julie Kniese ist auch in dieser Neuerscheinung: „Richard Wagner Bibliographie zu Leben und Werk 1833-2013“ verzeichnet. Sie wurde von Steffen Prignitz zusammengestellt und ist im Würzburger Verlag Königshausen & Neumann erschienen (ISBN 979-3-8260-6663-4). Prignitz hatte 2011 an der Universität Rostock über Wagner promoviert. In dem zweibändigen Werk mit 1700 Seiten gibt es keine Anekdoten. Es handelt sich um eine streng wissenschaftliche Arbeit, um einen Versuch, die Fülle an Wagnerliteratur einzelnen Gebieten und Themen zuzuordnen. Nach einer Darstellung Allgemeiner Grundlagen und Hilfsmittel zur Bibliographie finden sich unter Gesamt- und Überblicksdarstellungen Einführungen zu Leben und Werk, Zeittafeln, Chroniken oder Gelegenheitsreden. Der dann folgende Teil geht in die biographischen Einzelheiten und listet Literatur zur Familie, zu Frauen, Künstlern, einzelnen Persönlichkeiten auf, zu denen Wagner in Beziehung stand und die ihrerseits Einfluss auf ihn nahmen. Oft und genau beschrieben sind die Stationen seines bewegten Lebens, das erst spät in Venedig und Bayreuth in sichere Bahnen geriet. Themen von Darstellungen sind seine Gesundheit, diverse Krankheiten, der Umgang mit Geld, die Kleiderordnung, der Aberglaube, die Freude am Wandern, sein Humor oder die Gewohnheit, Weihnachten zu feiern. Auch die Haustiere – Wagner liebte vornehmlich Hunde – bilden ein eigenes Unterkapitel. Schließlich werden noch mehr als hundert einzelne Personen – beginnend mit Franz Abt, Komponist und Kapellmeister, und endend mit dem Kirchenmusiker Franz Xaver Witt, genannt, die in der Wagner-Literatur einen eigenen Platz einnehmen. Wagners Gedankenwelt und deren Beziehungen bilden ein besonders stattliches Kapitel. Publikationen, die diesem Bereich zuzuordnen sind, beschäftigen sich mit seinem philosophischen Denken, seinem Antisemitismus, der ihm bis in die Gegenwart anhängt, und seiner Haltung zu diversen historischen Ereignissen wie der Revolution 1848, an der er sich mit schwerwiegenden Folgen für sein weiteres Leben selbst beteiligt hat.
Teil V und VI zum Werk und zur Rezeptions- und Forschungsgeschichte sind mit rund tausend Seiten die umfangreichsten Kapitel der Bibliographie. Nichts von alldem, was Wagner hinterlassen hat, vollendet oder nur als Plan oder Entwurf, was ihn also thematisch umtrieb, ist der Forschung und der Aufmerksamkeit diverser Autoren entgangen. Selbst das erste Trauerspiel „Leubald“, das der Fünfzehnjährige verfasste, ist Gegenstand von sechs einzelnen Veröffentlichungen. Wer sich einen Überblick zur Literatur, die Meisterwerke betreffend, verschaffen will, muss durch zig Seiten blättern. Jedes Lied und jedes noch so kleine Klavierstücke gilt als erforscht. Zur Rezeptionsgeschichte gehört das Wirken namhafter Regisseure und Bühnenbildner, die sich mit den Musikdramen Wagners auseinander gesetzt und sich darüber auch schriftlich geäußert haben. Deshalb wird Joachim Herz, der mit seinem Ring des Nibelungen in Leipzig vieles von dem vorwegnahm, was Patrice Chereau 1976 unter großem Aufsehen auf die Bühne des Bayreuther Festspielhauses brachte, auch als Verfasser gründlicher Analysen erwähnt, sein französischer Kollege hingegen, der derlei nicht hinterließ, taucht nur im Personenregister auf.
In auffällig bescheidenen Unterkapiteln geht es auch um Sänger und Schallaufnahmen. Es wird deutlich, dass sich die entsprechende Literatur dem Umfang nach in Grenzen hält. Eine große Zahl von Büchern hat das Thema nicht als alleinigen Gegenstand, was für den Einzug in die Diskographie wohl nicht genügte. Es muss sich schon zwingend alles um Wagner drehen – wie in dem mehrbändigen Werk „Biographie eines Stimmfachs“ über die frühen Wagner-Tenöre von Einhard Luther, dem einstigen Moderator des Senders Freies Berlin, der unzähligen Rundfunkhörern Oper und ihre Interpreten nahe gebracht und konzertante Aufführungen seltener Werke organisiert hat. „Das goldene Zeitalter des Wagner-Gesangs im Spiegel der Tonquellen“ ist eine gelistete Arbeit von Michael Seil, für die es auch eine akustische Entsprechung gibt. Seil ist der Herausgeber der ambitionierten CD-Edition „The Cosima Era“, die auf zwölf CDs 305 Aufnahmen von 93 Sängern, die zwischen 1876 und 1906 in Bayreuth aufgetreten sind, zusammenführt – klanglich hervorragend aufgefrischt vom Berliner Klangrestaurator Christian Zwarg.
Obwohl es unzählige Schallaufnahmen von Wagners Werken gibt, die viele Regalmeter füllen, hält sich die spezielle und vertiefende Literatur zu diesem Thema in Grenzen. Folglich fällt das entsprechende Kapitel in der Bibliographie mit nur neun Verweisen sehr schmal aus. In Autobiographien von Sängern – um ein Beispiel zu nennen – nimmt Wagner und sein Werk aussagekräftige Kapitel in Anspruch. So wird der auf Wagner spezialisierte Tenor Jess Thomas zwar in anderem Zusammenhang erwähnt, nicht aber mit seiner Autobiographie, die im Titel sogar Bezug auf ein Zitat aus den ersten Aufzug der Walküre nimmt: „Kein Schwert verhieß mir der Vater“. Ähnlich stellt sich die Lage in den Büchern von Theo Adam dar, der seine größten Erfolge im Wagner-Fach sammelte.
Für seinen ersten Titel griff er auf einen Ausspruch von Hans Sachs im dritten Aufzug der Meistersingern von Nürnberg zurück: „Seht, hier ist Tinte, Feder, Papier…“ Und er analysierte die Rolle aus seiner eigenen Sicht, hinterließ damit auch ein packendes Stück Wagner-Literatur. Hingegen genügte wohl die Erwähnung des Komponisten im Titel der broschierten Diskographie von John Hunt „Six Wagnerian sopranos“ für Listung in dem großen Werk. Darin werden neben Wagner-Aufnahmen auch zahlreiche andere Produktionen anderen Komponisten erwähnt. Andererseits sind Titel über Schallaufnahmen den Themen zugeordnet, mit denen sie sich explizit beschäftigen. Ein solches Beispiel ist das Buch „Ring Resounding“ von Jon Culshaw, dem legendären Decca-Produzenten, in dem die Entstehung der ersten Studioeinspielung der Tetralogie mit Georg Solti am Pult der Wiener Philharmoniker geschildert wird. Es ist bisher nicht ins Deutsche übersetzt worden.
Eine Bibliographie dieses Ausmaßes ist wie ein großer Baum mit unzähligen Ästen, die sich in Höhe und Breite immer mehr ausdehnen und einem kräftigen Wurzelwerk in der Tiefe. Alle Verzweigungen hängen miteinander zusammen, sind aus demselben Kern erwachsen. Es wird deutlich, welche Wirkung Richard Wagner in seiner Zeit und bis in unsere Tage hinein entfaltet hat. Über keinen anderen Komponisten dürfte so viel geschrieben worden sein wie über ihn. Insofern dient die bedeutende Neuerscheinung nicht nur der wissenschaftlichen Forschung, sie stellt auch für jene Musikfreunde und Sammler, die von Wagner fasziniert sind und ihr eigens Wissen erweitern wollen, eine Fundgrube für neue Anregungen dar. Wie der Herausgeber Steffen Prignitz in der Einleitung vermerkt, gibt es „Beiträge zur Wagnerforschung in mindestens 35 Sprachen. Er geht davon aus, dass nach derzeitigem Erkenntnisstand bis zu fünfundzwanzigtausend Titel realistisch sind. Rüdiger Winter (Foto Richard Wagner Denkmal im Berliner Tiergarten/ oben Winter)