Archiv des Autors: Rüdiger Winter

Natürlich und bescheiden

 

Wer sich in der DDR mit Barockmusik beschäftigte, kam an Adele Stolte nicht vorbei. Was die gut zehn Jahre ältere Agnes Giebel im Westen war, ist sie im Osten gewesen. Vom einstige Gewandhauskapellmeister Kurt Masur ist der Ausspruch überliefert: „Wenn sie erschien, ging die Sonne auf. Ich habe immer versucht zu ergründen, wie sie trotz ihrer großen Erfolge so einfach – natürlich und bescheiden – bleiben konnte. Ich glaube, dass sie selbst die starke Überzeugungskraft ihrer Interpretationen nie angezweifelt hat.“ Das ist gut beobachtet. Die Stolte singt mit großer Sicherheit und Genauigkeit. Bei ihr kommen zuerst die Noten, danach die Ausdeutung. Ihre Stimme hat Sitz. Sie mogelt sich nicht über heikle Stellen hinweg. Eine gründliche Ausbildung und ihr Begabung bewahrten sie von Risiken jeglicher Art. Nie sang sie über ihre Verhältnisse. Um die Oper hat die am 12. Oktober 1932 im brandenburgischen Sperenberg geborene Pfarrerstochter, die schon frühzeitig mit Musik in Berührung kam, stets einen Bogen gemacht. Es sind keine Bühnenauftritte bekannt. Lediglich für eine in der deutschen Originalsprache gesungene Einspielung von Mozarts Bastien und Bastienne für das Label Eterna unter der Leitung von Helmut Koch ist sie neben Peter Schreier und Theo Adam zu hören – auch in den gesprochenen Dialogen, wobei sich vor allem bei den männlichen Solisten ein leichter sächsischer Akzent bemerkbar machte. Neben Bach-Kantaten im Rahmen der Archiv-Produktion der Deutschen Grammophon ist diese Einspielung auch in der Bundesrepublik erschienen und hat sie auch dort bekannt gemacht.

Berlin Classics hat in seiner Reference-Reihe Italienische Solokantaten von Georg Friedrich Händel aus dem Eterna-Katalog neu aufgelegt (0013972BC). Sie wurden 1970 mit Mitgliedern des Händel-Festspielorchesters Halle eingespielt. Dirigent war der damals achtundzwanzigjährige Thomas Sanderling, der bereits 1966 Musikdirektor in Halle geworden war und langsam aus dem Schatten seines berühmten Vaters Kurt Sanderling heraustrat. Stilistisch ist die schwungvolle Produktion noch der damals in Halle gepflegten DDR-Tradition verpflichtet.

Berlin Classics beließ es denn auch im Booklet bei einem Text von Walther Siegmund-Schulze (1916-1993), der in der DDR als eine Art Händel-Papst galt, ohne darauf hinzuweisen, dass er von 1972 stammt. Er war auf der Rückseite der DDR-LP abgedruckt und nahm Bezug auf die „auf dieser Schallplatte vereinigten Sopran-Kantaten“. Daraus wurden jetzt aus der Feder von Siegmund-Schulze die „auf dieser CD vereinigten Sopran-Kantaten“. Das ist eine unnötige Mogelpackung. Rüdiger Winter

Hommagen an Birgit Nilsson zum 100.

 

Im Nachklapp des 100. Geburtstages von Birgit Nilsson hat die Swedish Society, das Label ihres Heimatlandes, Puccinis Turandot in schlichter Form neu aufgelegt. Es handelt sich um die Studioaufnahme der RCA von 1959. Erich Leinsdorf leitet Chor und Orchester der Oper Rom (SD 1166/7). Ein halbes Jahr zuvor hatte die Nilsson als Turandot bei der Saisoneröffnung der Mailänder Scala Triumphe gefeiert und damit ihre Position im internationalen Musikbetrieb nachhaltig gefestigt. Die Rolle war fortan für fast zwanzig Jahre mit ihrem Namen verknüpft. Kaum eine andere Sängerin kam an ihr vorbei. Mitschnitte aus unterschiedlichen Jahrgängen und eine zweite Studioproduktion liefern Beweise ihrer Unschlagbarkeit. 1959 ist die Stimme wie aus einem Guss, auch in extremer Lage völlig makellos. Sie könnte noch viel weiter hinauf, würden ihr nicht durch die Partitur Grenzen gesetzt. Die Tiefe, die nie ihre Stärke gewesen ist, klingt natürlich und besser angebunden als in späteren Jahren. Für Jussi Björling kam der Calaf zu spät. Stimmlich war er bereits durch Krankheit gezeichnet. Er wirkt matt und angestrengt. Im Jahr darauf ist er gestorben. Mit dem Abstand von sechzig Jahren, die seit der Aufnahme verstrichen sind, kann Renata Tebaldi als Liù nicht mehr überzeugen. Sie ist mir nicht lyrisch und jung genug. Routiniert wirkt der Timur von Giorgio Tozzi. So reduziert sich die Bedeutung dieser Einspielung letztlich doch ganz und gar auf die Nilsson.

 

„Es war als würde man von einem Laserstrahl getroffen. Gestochen scharf, im positiven Sinn, nicht aggressiv“, sagt der britische Regisseur von Opernübertragungen Brian Large über Birgit Nilsson. Er kommt in der Dokumentation „A League of her Own“ von Thomas Voigt und Wolfgang Wunderlich zu Wort. Sein Urteil ist wie ein Motto. Es macht neugierig, zieht die Zuschauer in den Film hinein, der anlässlich des hundertsten Geburtstages der Sängerin entstand und bei Cmajor/Unitel erschien, in Blu-ray und im herkömmlichen Format (800008). Eineinhalb Stunden reiht sich Clip an Clip. Fotos werden wie in einem Album aufgeblättert. Zeitzeugen geben sich die virtuelle Klinke in die Hand. Eine Weltkarriere, die sich über vier Jahrzehnt erstreckt, im Schnelldurchlauf. Manche Szene hätte ich mir noch ausführlicher gewünscht.

Auch der Tenor Jonas Kaufmann, der zu jung ist, um die Nilsson noch selbst auf der Bühne erlebt zu haben, kommt zu Wort. Er kennt keine Stimme, die „solche Dimensionen erreicht hat“. Meinungen aktiver Sänger sind auch deshalb nützlich, weil die Nilsson dadurch in der Gegenwart verortet und nicht nur als historisches Phänomen wahrgenommen wird. Sie wirkt weiter. Nicht nur als Projektionsfläche für Fans. Marilyn Horne, die genau so wie Kaufmann ihre Gesangstechnik rühmt, erinnert sich: „Für uns alle war sie wie ein Leuchtfeuer.“ Auch James Levine, der ehemalige Musikchef der Metropolitan Opera in New York, der die Nilsson gut kannte, lässt in seinem Urteil keine Zweifel aufkommen: „Es gab keine wie sie.“ Und der Regisseur Otto Schenk sagt in seiner lakonisch-trockenen Art: „Die Nilsson war die beneidetste Stimme, die ich kenne. Es kam alles mühelos. Man hat gar keine Technik gemerkt oder gespürt.“ Christa Ludwig: „Sie hatte keinerlei Schwierigkeiten. Sie konnte eben immer und jeden Tag singen.“ Angesichts ihrer Turandot, deren Auftrittsszene mit einer Filmsequenz der RAI von 1969 belegt wird, fasst der Dirigent Antonio Pappano seine Wahrnehmungen so zusammen: „Eine Stimme wie Feuer und Eis.“ Mühelos dringe sie durch den Klangteppich des Orchesters. Absolut „direkt und furchtlos“ sei der Ansatz der hohen Töne.

Die wenigen kritischen Anklänge in diesem Film kommen erst zum Schuss hin von der Sängerin selbst. Als sie 1980 nämlich zweifelt, ob es für die Elektra bei der ersten Fernsehübertragung aus der Met nicht zu spät sei. Levine und andere Kollegen widersprachen. Nein, sie sei nicht zu alt. Das Ergebnis, das in Ausschnitten zu sehen und zu hören ist, gibt der Sängerin Recht. Auch mit den Schallplatteneinspielungen wird – wie es im Film heißt – ein heikler Punkt berührt. Keine Technik war in der Lage, die Stimme realistisch einzufangen. Noch einmal Otto Schenk: „Das Wunder Nilsson war nicht auf der Platte, das Wunder war auf der Bühne mit einem vollen Orchester.“ Zitiert wird der Stimmenexperte Jürgen Kesting mit seinem Vergleich, Nilsson im Wohnzimmer zu hören sei wie Porsche fahren im Hinterhof.

Thomas Voigt ist einer der Autoren der Dokumentation. Er spricht auch den begleitenden Text auf der deutschen Tonspur. Foto: Facebook

Bis es soweit ist, wird an den vielen von Musik unterlegten Stationen ihrer glanzvollen Karriere Halt gemacht: Wien, Bayreuth, London, Mailand, New York, Stockholm, wo sie neue Rollen zuerst ausprobierte. Ihre ausführlich behandelte Herkunft von einem Bauernhof im Süden Schwedens bildet zu dem Glanz dieser Städte gar keinen Kontrast. Es scheint, als habe ihre robuste Jugend, in der sie auf dem Feld arbeitete und Kühle molk, erst die Grundlage für die lange und strapaziöse Karriere gelegt. Auf Teufel komm raus und gegen alle Widerstände wollte sie Sängerin werden. Sie überlebte die Galeerenzeit an der schwedischen Musikakademie, wo ihr der schottische Tenor Joseph Hislof, der mit einem Ausschnitt aus seiner traumhaften Gralserzählung zitiert wird, zunächst abfällig bedeutete, dass der Sängerberuf absolut nichts für Bauen sei. Man könne zwar Stimme, müsse aber auch Hirn haben. Später gestand er seinen Irrtum ein. 1946 dann das – und zwar als Einspringerin – das Bühnendebüt als Agathe unter dem unerbittlichen Leo Blech, der sie bei den Proben zu Tränen der Verzweiflung brachte. Der Erfolg war auf ihrer Seite, Publikum und Kritik eins in ihrer Begeisterung. Darauf folgte unmittelbar Verdis Lady Macbeth mit dem Dirigenten Fritz Busch, der sich fürsorglich ihrer annimmt und damit auf ganz gegensätzliche Weise zu Blech Anteil an ihrer Laufbahn nahm. Später, auf dem Höhepunkt ihres Ruhm, staunte sie selbst, dass sie sich diese Rolle habe zutrauen können. 1965 sang sie die Rolle abermals in Stockholm – und zwar für das Fernsehen. Es gibt einen Ausschnitt aus der Wahnsinnsszene. Der Aufstieg in die höchsten Lagen ist so perfekt, dass er schon in die Nähe der Lucia gerät. Und es stellt sich mir die Frage, ob ihre Stimme nicht durch den permanenten Einsatz im strapaziösen hochdramatischen Fach nicht an Leichtigkeit einbüßte, die über diesem Dokument schwebt. Diesen Film würde ich gern komplett sehen. Ob in der Garderobe, in Talk-Runden oder in Interviews: Sie war witzig, schlagfertig, auf eine unverwechselbare Art einfach und direkt. Mit ihr begann 1986 der Regisseur und Intendant August Everding seine legendäre Da-capo-Sendereihe, die es bis 1998 auf siebzig Folgen brachte.

Schließlich kehrt der Film auf anrührende Weise auf den um- und ausgebauten Bauernhof zurück, den die Nilsson, die ihre Herkunft nie verleugnete, bis zum Schuss bewohnte und der heute eine Gedenkstätte ist. In der Nähe liegt sie begraben. Ihr offenbar nicht unbeträchtliches Vermögen brachte sie in die Birgit Nilsson Foundation – das letzte große Projekt ihres Lebens – ein. Ziel dieser Stiftung ist die Anerkennung hervorragender Sänger und Musiker, die Musikgeschichte geschrieben haben. Erster Preisträger war auf ihren Wunsch 2009 Plácido Domingo, gefolgt von den Wiener Philharmonikern und Riccardo Muti. Der Preis ist mit einer Million Dollar dotiert und wird vom schwedischen König übergeben – wie der Nobelpreis. Domingo lässt das Geld den Gewinnern seines eigenen Gesangswettbewerb „Operalia“ zukommen. Da sei sicher im ihrem Sinne, sagt er im Film.

 

Szenenwechsel. Auf einem Berliner Flohmarkt fielen mir zwei Plattenkassetten in die Hände. Salome und Elektra von Strauss. Wie neu. Auf dem Deckel der Elektra prangten noch die Auszeichnungen wie Orden auf der Brust eines Feldherrn: Deutscher Schallplattenpreis und Grand Prix de Disque. Die kreisrunden Sticker waren aufgeklebt, ihre Erhabenheit mit der Fingerspitze zu ertasten. Erst in späteren Auflagen wurden sie in den Druck integriert. Ich hatte offenbar ein Original erwischt. Eines mit echtem Aufkleber. „Gutt Musik, Singer beriemt.“ Der Händler witterte ein Geschäft. Er wollte mich nicht von der Angel lassen. Für den Moment war ich tatsächlich versucht, die beiden Decca-Alben mit dem Leinenrücken für lumpige zwei Euro zu erwerben. Und damit zu retten. Zu retten vor dieser Misshandlung. Der schäbige große Pappkarton unter dem Wühltisch, den sich diese genialen Strauss-Einakter mit Heinz Erhard und Melodien von der Reeperbahn teilen mussten, schien mir nicht der passende Rahmen für die Präsentation und Aufbewahrung. Solche Kunstwerke gehören doch ins Museum, räsonierte ich vor mich hin. Wirklich?

Geht es nicht eine Nummer kleiner? Ist es nicht vielmehr auch so, dass mich beim Herumkramen in einer alten Kiste unverhofft eine schöne Jugenderinnerung heimsuchte, die ich nicht diesem profanen Flohmarktschicksal ausgesetzt wissen möchte? Da ist er nämlich wieder, dieser Schauer, als ich staunend und ergriffen neue Aufnahme im Schaufenster des Plattenladens erspähte und im Kopf schnell zusammenrechnete, wie viel für den Monat noch bliebe, wenn jetzt eine nicht geplante Ausgabe für die Salome fällig würde. Meine Generation, die sich Schallplatten oft noch von Munde absparen musste, tritt ab. Ihr Erbe hat nicht an Wert gewonnen. Landet es bei ebay oder auf einem Flohmarkt, ist das noch die gnädigste Lösung. Im schlimmsten Fall wird Vinyl als Sondermüll entsorgt. Ich werde die Schallplatte als Kulturgut nicht retten können.

La Nilsson. In der Edition der Decca zum 100. Geburtstag ihres einstigen Exklusivstars Birgit Nilsson (483 2787) am 17. Mai 2018 sind die CD-Boxen platzsparend auf das zusammengeschrumpft, was sie in Wirklichkeit sind, Tonträger. Die Aufnahmen selbst sind ja nicht verloren. Ausmaße und physisches Gewicht der repräsentativen Neuerscheinung bilden aber einen seltsamen Kontrast zu den Entwicklungen des digitalen Zeitalters, soviel Musik wie möglich auf immer kleiner werdenden Speichermedien unterzubringen oder mittels Streaming ohne mediale Zwischenlagerung auf direktem Wege von der Quelle zum Verbraucher zu bringen, unabhängig davon, wo der sich gerade aufhält. Die Edition gibt sich konservativ-großbürgerlich wie ein gedruckter Brockhaus in nüchternen Zeiten von Wikipedia. Als ob man es noch einmal zeigen will. Sammler wissen solche Angebote durchaus zu schätzen. Nicht nur der Exklusivität wegen. Obwohl auf den ersten Blick ziemlich ausladend, sind auch diese Editionen am Ende platzsparend. Gegen den Berg der vielen offiziellen Aufnahmen der Nilsson, ob nun auf LP oder CD, ist dieser feierliche Karton eine Miniaturschatulle. Uund unter dem Label der Universal-Tochter Decca sind nun auch Produkte der Deutschen Grammophon sowie von Philips und EMI einbezogen – die gesammelten Werke der Birgit Nilsson.

Für eine Künstlerin ihres Ranges ist das nicht unangemessen. Sechzehn verschiedene komplette musikdramatische Werke enthält die Edition. Im einzelnen sind das von Wagner der Ring des Nibelungen, die erste Walküre separat, Tannhäuser und zweimal Tristan und Isolde, von Weber Freischütz und Oberon, von Strauss neben Salome und Elektra auch Die Frau ohne Schatten, von Mozart zweifach Don Giovanni, von Beethoven Fidelio, von Verdi Macbeth, Un Ballo in Maschera, Aida und von Puccini Tosca, La Fanciulla del West sowie Turandot. Mehr als achtzig CDs kommen auch dadurch zustande, dass der Ring gleich zweifach vorhanden ist – als die Decca-Wiener Produktion unter Georg Solti und sowie der offizielle Bayreuther Philips-Mitschnitt unter Karl Böhm. Das schafft! Zumal das Rheingold, in dem sie als Brünnhilde nicht auftritt, nicht fehlt. Die Elektra wird wieder einmal unter Wert verkauft. Nirgends habe ich einen Hinweis darauf gefunden, dass es sich um die ungekürzte Fassung handelt. Der wesentliche Unterschied zur üblichen Aufführungspraxis besteht in der deutlich erweiterten Szene zwischen Elektra und Klytämnestra. Kurz nach „Was bluten muss“ gibt es einen großen Einschub, der musikalisch nicht aufregend ist, keine zusätzlichen Erkenntnisse bringt und den dramatischen Fluss unnötig aufhält. Für eine Sängerin ist er eine Zumutung. Carlos Kleiber wolle den Strich in einer Inszenierung mit Inge Borkh aufmachen, die aber dankend ablehnte, was ihr nicht zu verübeln ist. Aber immerhin hört man bei der Nilsson, wie es ursprünglich gedacht war. Die hat natürlich die stimmlichen Ressourcen, kann gestalterisch mit dem Zusatz aber wenig anfangen.

Elektra gibt es in der Edition zusätzlich in der für die Sängerin sehr späten Produktion der Metropolitan Opera auf DVD. Das Copyright ist mit 1981 angegeben, dem Met-Archiv zufolge handelt es sich um die Matinee am 17. Februar 1980, die im Rundfunk und Fernsehen übertragen wurde. Damals war die Nilsson über sechzig. Es war ihre letzte vollständige Opernrolle an dem Haus, wo jeder ihrer Auftritte ein Heimspiel war, seit sie 1959 als Isolde noch in der alten Spielstätte debütierte. Ihr stählerner Sopran saß aber 1980 noch gut. Unerbittlich arbeitet sie auf die hohen Töne hin, die von ihr erwartet werden. In den Feinheiten aber bleibt sie ungenau. Ganze Silben werden verschluckt, Tiefen, die nie ihre Stärke waren, bleibt sie schuldig. Das Publikum aber tobt. Immer wieder werden die Mitwirkenden, darunter Leonie Rysanek als Chrysothemis, Mignon Dunn als Klytämnestra, Donald McIntyre als Orest und der damals noch vergötterte Dirigent James Levine herausgerufen. Viele Minuten lang hält die Kamera auch hinter dem Vorhang auf das Ensemble, das ebenfalls wie im Taumel ist und sich den Anschein gibt, als könne es die Begeisterung im großen Rund des Zuschauerraumes gar nicht fassen.

Elektra ist nicht die einzige DVD in dieser Box. „Hinter die Kulissen der Götterdämmerung“ führt der BBC-Film bei der ersten Ring-Produktion für die Schallplatte in den Wiener Sofiensälen. Eine neue Auflage dieser Dokumente war überfällig. Nicht nur wegen der Nilsson als stimmgewaltiger Brünnhilde auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, die zum Schluss sogar iin den Sofiensälen mit einem leibhaftigen Pferd Grane überrascht wird, das tapfer die vielen Stufen in das obere Stockwerk des improvisierten Studios erklimmt. Auch der ungeduldige Georg Solti findet diese Idee „schön“, will aber endlich mit der Aufnahme fertig werden. Er ist omnipräsent, steht ständig unter Strom und verausgabt sich am Pult derart, dass unter dem rutschenden Beinkleid die Unterhose hervorblitzt. Aus der strengen Arbeitsatmosphäre bezieht der Film, der auch den Spiritus Rector des Unterfangens, den bescheidenen britischen Produzenten John Culshaw, ins rechte Licht rückt, seine Einzigartigkeit. In jedem Moment ist spürbar, dass etwas Großes geschieht. Ob in Gesprächen, bei der Probe, im Abhörraum oder dann, wenn die Mikrophone angeschaltet sind. Die Zeit sollte dem ambitionierten Unterfangen Recht geben. Dieser Ring hat sich als eine der erfolgreichsten Platteneinspielungen behauptet.

Das lässt sich beispielsweise vom Freischütz, der 1969 bei der EMI entstand und in der Nilsson-Box enthalten ist, nicht sagen. Er wirkt uninspiriert. Die Nilsson, die sich – genau wie ihr Max und schwedischer Landsmann Nicolai Gedda – irregeleitet darauf einließ, die Dialoge selbst zu sprechen, kann als Agathe nicht punkten. Sie weiß mit der lyrischen, in sich gekehrten Rolle nichts anzufangen. Ihr dramatisches Temperament strebt in die entgegengesetzte Richtung. Die Stimme ist viel zu groß, zu allgemein und zu eisig. Sie tönt, mehr nicht. Für die Agathe ist das Gift. Erika Köth, die zehn Jahre nach ihrem ersten Anlauf nun doch noch zu ihrem Studio-Ännchen kam, macht auf „junges Ding“ indem sie mangelnde natürliche Frische durch Keckheit zu kompensieren sucht, was scheitern muss. Dadurch verstärkt sich zusätzlich der Eindruck allgemeiner Fehlbesetzung. (Ursprünglich hatte die Köth 1958 in der berühmten Aufnahme unter Joseph Keilberth an der Seite von Elisabeth Grümmer das Ännchen singen sollen. Nach den ersten Aufnahmen wurde sie krank und durch Lisa Otto ersetzt. Ihre Szenen sind aber in einem gesonderten Querschnitt durch die Oper bei der Electrola auf LP herausgekommen.) Geadelt wird der Freischütz durch Walter Berry als Kaspar, der für mich eine der gelungensten Interpretationen der Partie vorlegt, gefolgt von Wolfgang Anheisser als Ottokar und Franz Crass als Eremit.

Ein besonders problematischer Fall für sich ist der Oberon von der DG, in dem die Nilsson als Rezia auf Plácido Domingo als Hüon trifft. Wenigstens wurde diesmal für die Dialoge auf Schauspieler zurückgegriffen, die aber – aus welchen Gründen auch immer – nicht genannt werden. Allerdings sind Sprecher und Sänger nicht kompatibel. Zumindest im Fall der Nilsson nicht. Nach dem Kentern des Schiffes erwacht Rezia mit kleiner säuselnder Sprechstimme aus ihrer Ohnmacht, um alsbald in ihrer großen Arie monströs und ausladend den Ozean, das Ungeheuer, anzurufen. Das grenzt an unfreiwillige Comedy.

In dieser geballten Ladung von Dokumenten macht die Edition auch die Grenzen von Birgit Nilsson deutlich. Grenzen, die aus der historischen Distanz noch stärker hervortreten, als es zum Zeitpunkt des Entstehens der Aufnahmen gewesen sein dürfte. Damals war die Überraschung groß, wenn Schlag auf Schlag neue Titel auf den Markt kamen. Ob Tosca oder Ballo, Fanciulla, Fidelio. Alles fand dankbare Abnehmer, die oft im Banne selbst erlebter Opernabende standen oder wenigstens am Plattenspieler dabei sein wollten. Die Nilsson jagte von einem Erfolg zum anderen, war vor allem im Wagner-Fach unersetzlich. Und wer Wagner konnte, der musste doch auch anderes können. Mit Ausnahme der Turandot gab es – wie ich finde – schon damals die meisten Titel besser und idiomatischer. Ich erinnere mich noch an die erste Veröffentlichung des Don Giovanni, der unter der Leitung von Karl Böhm in Prag eingespielt wurde – 1967, ein Jahr vor dem Prager Frühling, der unter sowjetischen Panzerketten ein jähes Ende fand. Don Giovanni am Ort seiner Uraufführung. Für sich genommen sollte das schon für die Einspielung sprechen. Es reichte nicht. Wie schon 1959 unter Erich Leinsdorf blieb die Nilsson auch diesmal der Donna Anna vieles schuldig. Ihre Interpretation ist zu sehr auf die technischen Anforderung der Partie ausgerichtet und weniger auf die inhaltlichen. Deshalb wirkt sie über weite Strecken zu professionell. Es ist zu wenig Mozart zu hören. Die ambivalente Gestalt bleibt im Unbestimmten. Schade, dass Decca nicht noch großzügiger zugekauft hat für die neue Sammlung. Der Idomeneo von 1951 aus Glyndebourne unter der Leitung von Fritz Busch wäre bestens geeignet, das Bild von Birgit Nilsson – sie sang die Elettra –    zu differenzieren. Immerhin stand eine Mozart-Rolle am Beginn ihrer internationalen Karriere.

Für mich läuft es bei der Nilsson letztlich auf Wagner hinaus – obwohl ich bei dieser Bewertung nicht an die Mödl in ihrer kurzen Glanzzeit oder an die Flagstad denken darf. Die Nilsson verkörpert den Aufbruch in das Stereozeitalter, verbunden mit der Globalisierung des Musikgeschäfts. Firmen, Labels und Agenturen bauten ihre Macht aus. Die Nilsson, der in vielen Anekdoten nachgesagt wird, dem Geld besonders gut gewesen zu sein, war Teil dieses Systems. Manche Aufnahmen erklären sich vornehmlich aus marktpolitischen Erwägungen. Warum sonst sollte im Tannhäuser Venus und Elisabeth von ein und derselben Sängerin gestemmt werden? Die Nilsson war durch diese Besetzung weder die eine noch die andere. Sie war „nur noch“ die Nilsson. Gewiss finden sich im Werk selbst Gründe, die keusche Landgrafennichte und die Liebesgöttin als Gegenpole in einer Figur zu versammeln. Nur will das auch so gestaltet sein. Der Nilsson gelingt es nicht. Indem sie sich beide Partien zumutet, reduziert sich die interessante Idee auf eine ehr sportliche Leistung, über die gestaunt werden darf, die mich aber nicht ergreift. Übrigens war sie von dieser Lösung selbst sehr überzeugt. In ihren lesenswerten und auskunftsfreudigen Memoiren La Nilsson – die Edition bedient sich des gleichen Titels – zunächst bei Krüger, dann als Taschenbuch bei Fischer erschienen, bezeichnet sie die Elisabeth als Rolle „des Sehnens und Verlangens“ ihrer Anfängerzeit in der schwedischen Heimat. „Erst einige Jahre später, als ich die verführerische Venus und die reine Elisabeth in derselben Vorstellung sang, gelang es mir besser, ihr innerstes Wesen einzufangen“, schreibt sie weiter. Davon ist 1968, als in Berlin mit der Studioproduktion unter Otto Gerdes begonnen wurde, nicht sehr viel zu spüren.

Meine liebste Aufnahme ist die erste Walküre, die 1961 und damit fünf Jahre vor der Wiener Einspielung entstand, mit Erich Leinsdorf am Pult des London Symphony Orchesters. Sie hat den ungeheuren Schwung des Aufbruchs in sich. Da greift eine nach dem Thron des Wagnergesangs. Stilistisch sicherer und freier dürfte die Nilsson selten geklungen haben. Obwohl Leinsdorf genau wie Solti zwölf Tage brauchte, klingt seine Aufnahme weniger ausgetüftelt, sondern so, als sei sie in einem Rutsch hingeworfen worden. Fast schon wie live, wie unter Strom. Wieder liefert die Sängerin in ihrem Buch, das eine Wiederauflage vertragen würde, interessante Hintergrundinformationen. Die RCA-Aufnahme war von Auseinandersetzungen, gar einem Sängerstreik, überschattet. Statt Rita Gorr hätte nämlich Grace Hoffman die Fricka singen sollen. Obwohl die Gorr bei allen Beteiligten auch hohe Wertschätzung genoss, empfand es vor allem die Nilsson als ungerecht, die unter Vertrag stehende Hoffman ausgebootet zu sehen. Wenigstens sollte sie die ihr zustehende Gage erhalten. Der Druck bis zur gütlichen Einigung soll groß gewesen sein. Könnte sich aus dieser atmosphärischen Anspannung etwas in die Aufnahme übertragen haben? Naheliegend ist es.

Ihre nachhaltigste Wirkung bezieht die Geburtstagsedition aus dem unmittelbaren Vergleich zwischen Studio und Mitschnitt. Über die bereits erwähnte Elektra hinaus gibt es sowohl beim Tristan als auch beim Ring die entsprechenden Äquivalente durch Bayreuther Live-Aufnahmen. Genau genommen müsste von „Live light“ gesprochen werden, denn der Ring wurden aus verschiedenen Vorstellungen zusammengefügt, Tristan aktweise im Festspielhaus aufgezeichnet. Dennoch: Für eine Sammlung wie diese ist so ein gebündeltes Angebot Luxus pur. Und es ist auch dringend geboten, soll dieser bedeutenden Künstlerin die Gerechtigkeit widerfahren, die ihr zusteht. In Gesprächen mit Zeitzeugen, habe ich immer wieder erfahren, dass sie auf der Bühne viel menschlicher und wärmer geklungen und deutlich mehr Gefühle zugelassen habe als vor den Mikrophonen. Offenbar fühlte sie auch durch den Kontakt mit ihren Partner, der im Theater ein anderer ist als im Studio, inspiriert. Die zahlreichen filmischen Dokumentation, die durchs Fernsehen gingen und im Netz zu finden sind, fangen ihre Natürlichkeit ein, ihren Humor und ihre Schlagfertigkeit im Umgang mit ihrer Umgebung. Eine Diva, die ihre Herkunft als Tochter vom Land, die weiß, wie man Kühe melkt, nicht verleugnet. Den elterlichen Erbhof hat sie bis zum Ende ihres langen und von Erfolg gekrönten Leben behalten, was ebenfalls in ihren Memoiren nachzulesen ist.

Und noch etwas steht auf der Habenseite der mit einem reich bebilderten Buch ausgestatteten Geburtstagsedition: die Recitals der Birgit Nilsson. Waren die von Hans Knappertsbusch betreuten Tristan-Szenen (1959) immer greifbar, gerieten der Aida-Querschnitt (1963) die Verdi-Arien (Lady Macbeth, Abigaille, Forza-Leonora und Eboli), die Szenen aus Walküre und Parsifal mit Helge Brilioth und Norman Bailey und dem jungen finnischen Dirigenten Leif Segerstam, die Wagner-Weber-Beethoven-Platte (Elisabeth, Rezia, Sieglinde, Elsa, Agathe und Fidelio-Leonore) fast in Vergessenheit. Und wer kann sich noch erinnern an die mit der Ballade aus dem Holländer und Arien aus den Feen und Rienzi gekoppelten Wesendonck-Lieder unter der Leitung von Colin Davis? Oder gar an die betörend schön gesungen Lieder aus dem „Land of the Midnight Sun“ von Sibelius, Grieg, und Rangström, die am Ende doch noch an Kirsten Flagstad denken lassen? Sie allein sprechen dafür, die Edition anzuschaffen. Rüdiger Winter

Es wagnert sehr

 

Vincent d’Indy (1851-1931) ist gewiss nicht der berühmteste französische Komponist der Spät(est)romantik. Gleichwohl wird es schwerfallen, einen dezidierteren Vertreter des Wagnerismus in Frankreich zu finden. Mit seiner 1897 uraufgeführten Oper Fervaal schuf er sogar eine Art französischen Parsifal. Er entstammte einem alten katholischen Adelshaus, war überzeugter Monarchist und hatte durch seinen Antisemitismus nicht unbedingt sympathische Züge. Auch kompositorisch ist d‘Indy gewiss dem konservativen Flügel zuzuordnen, auch wenn sich sein Stil mit Beginn des Ersten Weltkriegs nicht jeder Neuerung verschloss (wie man etwa an der Sinfonia brevis „De bello gallico“ aus den Jahren 1916 bis 1918 erkennen kann). Naxos legt nun eine Neuveröffentlichung mit kaum bekannten Werken d’Indys vor (Naxos 8.573858). Enthalten sind die die Schauspielmusiken zu Médée nach Catulle Mendès (1898) sowie zu Karadec nach André Alexandre (1890), ferner die sinfonische Dichtung Saugefleurie (1884). Bei den beiden Bühnenmusiken handelt es sich um Suiten, wobei Médée schon thematisch bedingt deutlich dramatischer und mit 27 Minuten Spielzeit auch fast dreimal so lange gerät wie die bretonisch geprägte und gerade zehnminütige Karadec-Suite. In ersterer Suite meint man auch Anklänge an Richard Strauss zu erkennen. Sehr deutlich wird der wagnerische Einfluss freilich in der 16-minütigen Tondichtung Saugefleurie, die zu Beginn ans Siegfried-Idyll gemahnt und später gar stellenweise an die gleichnamige Oper, auch wenn man d’Indy schwerlich als Epigonen des Bayreuther Meisters abtun sollte, erhält er sich doch einen charakteristisch französischen Tonfall, der auch ein wenig an seinen Lehrer César Franck erinnert.

Die auf den ersten Blick unidiomatisch wirkenden künstlerischen Ausführenden, der singapurische Dirigent Darrell Ang und das schwedische Sinfonieorchester aus Malmö, erweisen sich bei genauerer Betrachtung als überzeugend; es gelingt ihnen, die Faszination dieser selten gespielten Musik des Randrepertoires herüberzubringen. Ang legte für Naxos bereits zahlreiche von der Kritik gelobte Aufnahmen französischer Komponisten vor (darunter Bruneau, Dutilleux und Lalo); dies erfreuliche Tendenz setzt sich hier fort. Die klangliche Qualität dieser im August 2017 in Malmö eingespielten Aufnahme bietet keinen Anlass zum Tadel. Mit dieser Neuerscheinung läuft Naxos einer vor einem Vierteljahrhundert bei Marco Polo vorgelegten Vorgängeraufnahme unter Gilles Nopre den Rang ab. Sie bietet eine gute und preiswerte Alternative zu der von Chandos vorgelegten Reihe der kompletten Orchesterwerke d’Indys mit dem Iceland Symphony Orchestra unter Rumon Gamba. Einzig die kurze Spielzeit von wenig über 50 Minuten trübt den sehr guten Gesamteindruck etwas. Daniel Hauser

 

Und apropos D´Indy: auch Kammermusik findet man bei diesem interessanten Komponisten, wie Gerhard Eckels schreibt. . Weitgehend unbekannt ist vor allem hierzulande der französische Komponist Vincent d’Indy (1851-1931): Er entstammte einer alten Adelsfamilie und wuchs bei seiner Großmutter Gräfin Rézia d’Indy auf. Früh bekam er Klavierunterricht und studierte bereits ab 1865 Harmonielehre. Nach dem Krieg 1870/71, in dem er bei der Verteidigung von Paris kämpfte, veröffentlichte er seine ersten Kompositionen. Durch die Vermittlung seines Freundes Henri Duparc wurde er Schüler von César Franck, der ihn auch mit der deutschen Musik, insbesondere mit Richard Wagners Opern bekannt machte. Nach einem Besuch der Bayreuther Festspiele 1876, wo er den kompletten Ring des Nibelungen“  erlebte, wurde d’Indy ein überzeugter, geradezu glühender Wagnerianer. In seinen Kompositionen finden sich neben Wagner-Anklängen auch Einflüsse aus Naturbegegnungen und volkstümlichen Melodien. In den späten 1870- und 80er-Jahren war er als Organist und Chorleiter tätig; in dieser Zeit verfolgte er eine Reihe von Opernprojekten, doch einzig „Axel“, beeinflusst von Wagners „Parsifal“, floss später in seine fast fünfstündige Oper „Fervaal“ ein. Erst nach den Uraufführungen der Opern „Fervaal“ und „L’étranger“ (1897/1903) sowie bedeutender Orchesterwerke wie den „Istar“-Variationen (1896) und der  2. Sinfonie (1903) wurde er einer breiteren Öffentlichkeit in Frankreich bekannt. Zu seinen zahlreichen Schülern zählten u.a. Albert Roussel, Erik Satie und Edgar Varèse. In d‘Indys späten Werken wurde sein Kompositionsstil im Neoklassizismus leichter und unbeschwerter. Trotz dieses Stilwechsels blieb seine Haltung gegenüber den zeitgenössischen Strömungen eher zurückhaltend.

Wie in seiner Oper „Fervaal“ bevorzugte d’Indy in seinen vielfältigen Kompositionen aus allen Bereichen (Opern, Sinfonisches, Kammer- und Klaviermusik) offenbar die große Form: So dauert die 1907 entstandene Klaviersonate op.63 fast 45 Minuten und enthält in den drei Sätzen Introduction/Très animé/Modéré zahlreiche Unterteilungen. Sie ist mit Ausschnitten aus Tableaux de voyage op. 33, eingespielt vom französischen Pianisten und Musikwissenschaftler Jean-Pierre Armengaud, in der Reihe „Grand Piano“ bei NAXOS erschienen. Im Kopfsatz der Sonate stellt der Pianist klar die Unterschiede der vier Variationen heraus; der 2.Satz ist ein lebhaftes  Scherzo mit zwei Trios, von denen das erste beinahe Schubertschen Charakter aufweist und das zweite Walzer-Klänge suggeriert. Auch das umfangreiche Finale mit seinen kontrastreichen Abschnitten interpretiert Armengaud stilsicher. Die 1889 entstandenen „Tableaux de Voyages“ sind dreizehn Klavier-Miniaturen über Eindrücke von Reisen durch Deutschland, von denen die CD sieben enthält, dabei „Beuron“ – ein Stück mit  dem B-A-C-H-Motiv über das Benedektiner-Kloster im Schwarzwald –, „Der Regen“ oder das abschließende Stück „Traum“ (GP756).

 

Und dann noch: Der renommierte Cellist und Festspielleiter Jan Vogler hat sich mit dem Gitarristen Ismo Eskelinen zusammengetan und unter dem Titel „Songbook“ eine Reihe von kleineren Stückchen bei SONY aufgenommen. Nur zwei für die aparte Besetzung komponierte Werke befinden sich auf der CD: Es sind die drei Nocturnes von Friedrich Burgmüller (1806-1874), Bruder des durch Orchesterwerke und seine Streichquartette etwas bekannteren Norbert Burgmüller, sowie der erste Satz aus der Sonate für Gitarre und Cello des Brasilianers Radamès Gnattali (1906-1988). Alle anderen „Schmankerl“ sind für Cello und Gitarre arrangiert, deren meisterhaftes  Zusammenspiel ungemein reizvolle Klänge hervorbringt, wobei das Cello als Melodie-Instrument meist dominiert. Der Titel „Songbook“ deutet darauf hin, dass viele der gespielten Stücke Lieder oder zumindest liednah sind. Dazu zählt Paganinis „Cantabile“ aus op.17, die „Aria“ aus Heitor Villas-Lobos‘ „Bachianas Brasileiras Nr.5“  oder natürlich „Moon River“ von Henry Mancini. Von besonderem Reiz mit viel Lokalkolorit sind die kleine Reihe „Histoire du Tango“ von Astor Piazzolla und die sechssätzige „Suite Popular Espanola“ von Manuel de Falla. Insgesamt macht das Zuhören bei dieser CD mit ihren in jeder Beziehung besonderen Klängen einfach Spaß (Sony 19075959762). Gerhard Eckels

„O, wie will ich triumphieren“

 

Gottlob Frick„der schwärzeste Bass“. Dieses Markenzeichen soll der Dirigent Wilhelm Furtwängler dem Sänger verliehen haben. Es hängt ihm bis heute an wie ein Preisschild. Das muss nicht immer von Vorteil sein. Furtwängler schätzte Frick und setzte ihn auf der Bühne und im Studio ein. Mit Hundig, Rocco und König Marke ist diese Zusammenarbeit auch auf Tonträgern dokumentiert, kann also nachgehört werden. Diese Dokumente geben Auskunft darüber, was Furtwängler unter dem schwärzesten Bass verstand. Vom Gestaltungspielraum her sind den genannten Rollen gewisse Grenzen gesetzt. Bis auf Rocco machen sie auch keine Entwicklungen durch, müssen sich in keinem Duett und in keiner großen Ensembleszene stellen. Ihre Wirkung ist vornehmlich stimmlicher Natur. Nicht, dass sie sich von selbst sängen. Mit der richtigen Tessitura und Stimmfärbung hat ein Vertreter dieser Partien aber bereits viel gewonnen. Frick brauchte nur den Mund aufzumachen, um auch als bedeutender Gestalter wahrgenommen zu werden – sogar dann noch, wenn er eigentlich kaum gestaltete. Was aus ihm tönte, trug – einer Erbmasse gleich – dramatisches Potenzial in sich.

Mit der neuen Box wird des 25. Todestages des Sängers gedacht. Den Anstoß gab der Ehrenpräsident der Gottlob-Frick-Gesellschaft, Hans A. Hey. 

Im Booklet einer neuen Portrait-Box bei Profil Edition Günter Hänssler wird Jürgen Kesting aus seinem Standardwerk „Die großen Sänger“ zitiert: „Das Timbre der Stimme von Gottlob Frick einmal gehört, verliert man nicht aus dem Ohr.“ Das ist trefflich formuliert. Auch ich schätze an Sängern die Wiedererkennung als eine der schönsten Tugenden. Und was bei Kesting zunächst wie ein hundertprozentiges Kompliment klingt, wirft auch Fragen auf. Mir kommt es manchmal so vor, als stünde diesem Sänger sein unverwechselbares Timbre gelegentlich auch im Wege. Ich erinnere mich an eine Diskussion im Freundeskreis, wobei Frick-Platten gehört wurden. Jemand sagte: „Der singt ja alles gleich.“ Mit so einem zugespitzten Urteil, das aber auch nicht völlig falsch ist, wird man Frick jedoch nicht gerecht. Die neue Edition, die auch im Titel mit dem eingangs erwähnten vermeintlichen Furtwängler-Zitat wirbt, will der Vielseitigkeit des Sängers in Oper, Oratorium und Lied Rechnung tragen. Furtwängler-Dokumente enthält sie nicht, was ich schade finde. Den Anstoß gab der Ehrenpräsident der Gottlob-Frick-Gesellschaft, Hans A. Hey, dem dafür im Booklet auch ausdrücklich gedankt wird. Wer auf ihn trifft, ob persönlich, am Telefon oder schriftlich, ist noch immer von diesem glühender Verehrer von Frick angesteckt wordenn. Kaum jemand dürfte sich so leidenschaftlich für das Andenken an den Bassisten engagieren wie er. Auch legendäre Sänger müssen im Gespräch bleiben, damit sie nicht zum Denkmal erstarren. Das weiß auch Hey.

Konkreter Anlass für die Neuerscheinung ist der 25. Todestag von Frick am 18. August 2019. Ein Tag, der sich für Rückschau genauso anbietet wie für Gedankenspiele, ob ein Künstler von seinem Schlage auch in der Zukunft noch eine Chance hat, wahrgenommen und verehrt zu werden. Dafür ist die Pflege des Nachlasses unerlässlich. Wie Maler in Gemälden, Dichter in Büchern oder Architekten in Bauwerken, leben Sänger in ihren Aufnahmen fort. Vor allem dann, wenn die Zeitzeugen, die sie noch auf der Bühne der im Konzert erlebt haben, allmählich abtreten. Es ist noch zu wenig anerkannt, dass Tonaufnahmen aller Art Teil des kulturellen Erbes sind, das es zu bewahren, wissenschaftlich zu erforschen und öffentlich zu machen gilt. Tonarchive werden im Gegensatz zu Museen und Bibliotheken meist nach Gutherrenart unter Verschluss gehalten. Es bleibt weitestgehend Firmen, Labels und privaten Initiativen überlassen, diesen Erbteil zu hegen, zu pflegen – und auch kritisch zu hinterfragen. Die Edition aus dem Hause Hänssler ist eine solche Initiative.

Bisher nur als LP greifbar gewesen: Die große Szene im Kabinett des Königs zu Madrid. Seine Auseinandersetzung mit dem Großinquisitor, den Kurt Böhme singt, ist ein Höhepunkt der Neuerscheinung.

Gottlob Frick ist sehr gut vertreten auf dem Musikmarkt. Kommt etwas hinzu, folgt die Frage auf dem Fuß: Was ist neu? Lohnt sich die Anschaffung?  Sammler dürften die meisten Titel kennen. Manche schätzen es aber auch, vertraute Aufnahmen in neuen Zusammenhängen gereicht zu bekommen. Eine Szenenfolge aus Verdis Don Carlos, einfach gezählt und nicht trackweise wie im Booklet, sind sieben Titel bisher nicht auf CD verfügbar gewesen. Dieser Carlos ist kein klassischer Opernquerschnitt wie die ebenfalls deutsch gesungene Aufnahme, die 1965 bei Eterna in der DDR erschien und nun im Katalog Berlin Classics zu finden ist. Produziert wurde 1963 das erste Bild des vierten Aktes – das „Kabinett des Königs zu Madrid“, wie es auf dem Eurodisc-Plattencover hieß. Es beginnt – in bestem Stereo – mit dem Philipp-Monolog „Sie hat mich nie geliebt“ (Gottlob Frick) und endet mit der Eboli-Arie „Verhängnisvoll war das Geschenk“ (Hertha Töpper). Dazwischen die unheimliche Begegnung des Königs mit dem blinden Großinquisitor (Kurt Böhme), die für mich zum Höhepunkt der Box wird. Es ist, als ob sich der Kampf zwischen weltlicher und kirchlicher Macht eben in dieser Szene wie ein gewaltiges Beben entlädt. Böhme agiert mit erbarmungsloser Kälte und giftigen, gar grellen Untertönen und verhilft so seinem Kollegen Frick dazu, den spanischen König auch mit menschlich-tragischen Zügen auszustatten. Das geht unter die Haut. Nur selten gelingen Opernszene im Studio so packend und realistisch wie hier, zumal die sich anschließende Auseinandersetzung Philipps mit der herbeieilenden Elisabeth (Hildegard Hillebrecht), in die auch Posa (Marcel Cordes) und Eboli einfallen, betont traditionell klingt, was zur Folge hat, dass Frick und Böhme noch mehr hermachen.

„O, wie will ich triumphieren“ Die Arie des Osmin aus Mozarts „Entführung“  sowie andere Opernszenen wurden von dieser Electrola-Single für die Edition überspielt. Das große Foto oben ist ein leicht eingefärbter Ausschnitt des Cover.  

Als Kontrastprogramm zu Carlos fallen zwei große Szenen aus Lortzings Zar und Zimmermann (Electrola) heraus, die nun ebenfalls erstmals auf CD greifbar sind: die Arien des Bürgermeisters van Bett „O sancta justizia“ und die Singschule „Den hohen Herrscher würdig zu empfangen“. Sie dürften einst als Singleplatte herausgekommen sein. Im Booklet wird zwar akribisch auf die Quellen – meist Electrola – mit ihren Veröffentlichungsnummern verwiesen, es wird aber nicht deutlich, in welchem Format bestimmte Aufnahmen ursprünglich erschienen sind. Käufer der Edition müssen – wenn sie das überhaupt wollen – selbst herausfinden, ob Arien oder Szenen als Einzel- oder innerhalb von Gesamtaufnahmen produziert wurden. Und sie müssen mitunter deutliche Unterschiede im Klangbild hinnehmen. Im Falle von Zar und Zimmermann ist die Quellenlage nicht so einfach. Frick war der Bürgermeister auch in einer Gesamtaufnahme und in mindestens einem Querschnitt. In dieser Position zieht er alle Register. Je nach Situation dreht er das Tempo seiner an sich schweren Stimme auf, um im nächsten Moment drei Gänge zurückzuschalten, wenn es gilt, ein Detail schwelgerisch auszukosten. Mühelos erhebt er sich aus den unterstes Registern hinauf ins Falsett. Er kann stimmlich penetrant, kleinkariert und verzweifelt sein, stolziert mit geschwellter Brust umher und macht sich im nächsten Moment bereits in Erwartung des hohen Herrschers klein wie eine Kröte. Selten hat ein Sänger in meinen Ohren so plastisch geklungen wie Frick. Es ist, ob er singend die Bilder der Szene gleich mitliefert. Sein rollendes R ist Legende. Bei aller Nonchalance im Vortrag, ist er ein Genauigkeitsfanatiker, der den Konsonanten noch mehr Aufmerksamkeit zu schenken scheint als den Vokalen. Das versetzt ihn in die Lage, Wörtern und Begriffen den ihrem Sinn entsprechenden Ausdruck zu verleihen. Er ist immer zu verstehen. In beiden Bürgermeister-Szenen entfaltet er auch sein urkomisches Talent, und ich ertappte mich – den Philipp noch im Ohr – bei der Frage, ob seine Begabung in der so genannten Spieloper am Ende nicht noch größer sei als in ernsten und seriösen Rollen. Eine Antwort wird jeder für sich finden, zumal die Edition Vorlagen in überreichem Maße bereithält.

Gottlob Frick als König Heinrich im „Lohengrin“. Die Rolle war eine seiner besten Leistungen.

Auf Osmin folgt Bartolo in Figaros Hochzeit, auf Sarastro der Commendatore im Don Giovanni –Finale als italienisches Original. Dass Basilio und Bartolo in Rossinis Barbier, Baculus in Lortzings Wildschütz, Abdul Hassan im Barbier von Bagdad sowie Falstaff in Nicolais Lustigen Weibern nicht fehlen, versteht sich von selbst.  Was noch? Mit Szenen aus Halévys Jüdin, Orffs Kluger und Egks Zaubergeige, Verdis Simon Boccanegra und Sizilianischer Vesper sowie Tschaikovskys Eugen Onegin breitet Frick die reich bemessene Aussteuer eines Vertreters seines Fachs in seiner Zeit aus. Als Bonus ausgewiesen findet sich das Lied des Henkers aus der Funkoper Tandaradei von Hans-Hendrik Wehding, der dabei selbst am Pult der Sächsischen Staatskapelle steht. Wie der Name schon sagt, wurden Funkopern nicht für die Bühne, sondern für das Radio komponiert. Ob es sich bei dem Lied, das die Virtuosität in Fricks Gesangsstil auf verblüffende Weise offenbart, um einen Ausschnitt aus der ersten Produktion dieser Funkoper, die in Dresden zustande kam, handelt, bleibt offen. Sie dürfte aber noch während Fricks Dresdner Zeit entstanden sein, denn die Stimme klingt leichter und sogar durchsichtiger als in seiner späteren Glanzzeit. Als Quelle wird lediglich ein „Band der DRA“ (Deutsches Rundfunkarchiv) genannt.

Gottlob Frick galt als bodenständiger, bescheiden gebliebener Gemütsmensch, der sich gern „in sein am Waldrand gelegenes Haus“ in Ölbronn zurückzog, „um zu jagen, zu entspannen und den großen Freundes- und Verehrerkreis … zu empfangen“, heißt es im Booklet der Box. Seine Freizeitbeschäftigung hat sich in einer LP niedergeschlagen.

Nur einmal habe ich Frick auf der Bühne erlebt. Als Hagen. Das war im Oktober 1966 an der Berliner Staatsoper. Ich als  opernbesessener Jüngling besuchte zum erstmal eine Vorstellung der Götterdämmerung. In meinem Kopf war jeder Ton einer heimischen Schallplatte mit dem Wachgesang und der Mannen-Szene gespeichert. Das erste, was mir auffiel: Der ist aber klein. Bei seiner Stimme war ich auf einen Hünen von mindestens zwei Metern Körpergröße gefasst, zumal der Siegfried Ernst Gruber tatsächliche diese Maße hatte. Eines habe ich damals gelernt: Ein Sänger braucht nicht groß zu sein, um groß singen zu können. „Meine“ Platte mit der Staatskapelle Berlin und dem Chor der Deutschen Staatsoper unter Franz Konwitschny hat auch Einzug in die Gedenkedition gehalten. Eingefasst wird sie von Pogners Ansprache aus den Meistersingern und der Arie des Daland „Mögst du, mein Kind“ aus dem Fliegenden Holländer, die beide aus den hinlänglich bekannten und weitverbreiteten gesamtdeutschen Einspielungen dieser Opern stammen. Gute alte Bekannte sind auch die Auszüge aus Haydns Schöpfung und Jahreszeiten, die von Karl Forster geleitet werden. Wer gern Lieder jenseits von Schubert, Schumann oder Wolf hört, wird bei Frick fündig. Volksliedhafte Gesänge von Conradin Kreutzer, Franz Abt, Victor Ernst Nessler, Friedrich Zelter, Carl Michael Zierer oder Robert Stolz gelingen ihm viel zu rasant, als dass es sich lediglich um Gelegenheitsarbeiten gehandelt haben dürfte. Er scheint darin zu baden.  In den Liedern offenbart sich Frick zudem als – wie es im Booklet heißt – bodenständiger, bescheiden gebliebener Gemütsmensch, der sich gern „in sein am Waldrand gelegenes Haus“ in Ölbronn zurückzog, „um zu jagen, zu entspannen und den großen Freundes- und Verehrerkreis … zu empfangen“. Besonders häufig habe der Tenor Fritz Wunderlich den väterlichen Freund besucht. Mehr aus dieser denn aus einer rein künstlerischen Perspektive sind denn auch die gut zwanzig Minuten aus Smetanas Verkaufter Braut zu verstehen, die schon auf dem Cover der Box als „World Premiere“ angekündigt werden. Frick und Wunderlich singen das Duett „Komm, mein Söhnchen, auf ein Wort“ am 29. Juni 1964 in Ölbronn zum Klavier (Josef Blaser) offenbar bei einer privaten Veranstaltung. Und das sehr frei. Die Stimmung ist gelöst. Das Publikum nimmt mit gelegentlichen Einwürfen regen Anteil, erklatscht sich ein Da Capo und ist alles in allem hoch amüsiert. Und es dürfte auch dieses und jenes Gläschen gereicht worden zu sein. Rüdiger Winter

Eigenwillige Auswahl

 

150 Jahre Wiener Staatsoper – Die Jubiläumsedition: Bei Orfeo schrumpft diese ereignisreiche Zeitspanne allerdings auf 65 Jahre. Erst auf der letzten Seite des schmalen Booklets offenbart sich ziemlich kleingedruckt und kommentarlos, was es mit der individuellen Zeitrechnung auf sich hat. Die in die Sammlung aufgenommenen Opern wurden zwischen 1955 und 2016 mitgeschnitten. Mit Alban Bergs Wozzeck ist zumindest der Neuanfang im Haus am Ring, der als bedeutendes Ereignis in die Musikgeschichte eingegangen ist, dokumentiert. Nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg war es am 5. November 1955 mit Fidelio von Ludwig van Beethoven unter starker Anteilnahme internationalen Besucher und Medien eröffnet worden. Über Lautsprecher wurde die von Karl Böhm geleitete Premiere ins Freie übertragen. Angeschlossen waren Rundfunkstationen mit Millionen Hörern in aller Welt. Die BBC hielt große Szenen als Film fest. Obwohl es nur wenige Fernseher gab in Österreich wurde die Eröffnung vom ORF gesendet. Auf Fidelio folgten neue Produktionen von Mozarts Don Giovanni, mit dem das Opernhaus 1869 eröffnet worden war, die an selber Stelle 1919 uraufgeführte Frau ohne Schatten von Richard Strauss, Verdis Aida, Wagners Meistersinger und der Rosenkavalier, ebenfalls von Strauss. Ihren Abschluss fand die festliche Opernserie am 25. November mit Wozzeck, auf den noch ein Ballettabend mit Giselle von Adolphe Adam und Der Mohr von Venedig von Boris Blacher folgte.

Wie aus einer Dokumentation des Online-Merker hervorgeht, hinterließ Wozzeck den „geschlossensten Eindruck. Nehers Bühnenbilder und Schuhs Inszenierung steigerten die Stimmung des Werkes ins Visionäre, womit sie sich mit der Musik trafen, die trotz ihres strengen Formengebäudes visionär ist und etwas von der Wirkung einer musikalischen Atombombe hat“. Die Philharmoniker unter Böhm hätten ihre „moderne Lieblingsoper mit der gleichen Hingabe wie eine Straussoper“ gespielt“. Und weiter:Walter Berrys Wozzeck verdeutlichte Not und Vision des Unterdrückten. Dazu sang er die Partie, sang sie sogar noch dort, wo das Singen nicht mehr möglich scheint. Christl Goltz als Marie, erregend in ihrer weiblichen Brutalität, Karl Dönch als Doktor, voll skurriler Dämonie, und Peter Klein als tragikomischer Hauptmann boten eine vollkommene Leistung. Mit 28 Vorhängen übertraf die Aufführung alle vorangegangenen.“ Unerwähnt bleibt Max Lorenz in der Rolle des Tambourmajor. Lorenz war schon seit Ende der 1920er Jahre als Heldentenor ein Star in Wien und hatte auch unmittelbar nach Kriegsende in der Ausweichspielstätte, dem Theater an der Wien, an alte Erfolge anschließen können. Im neuen Haus sollte es bei drei Vorstellungen in dieser Rolle bleiben. „Was ein Mann! Wie ein Baum!“, sagt Margret zu Marie. In der Erscheinung mag das noch zutreffend gewesen sein für Lorenz, in der Stimme nicht mehr. Seine Mitwirkung reduziert sich aufs Museale. Er steuert nur noch seinen Namen bei und keine künstlerische Leistung, die in die Zukunft weist. Und dennoch war es angebracht und nobel, Lorenz noch einmal eine Bühne zu geben. Von alledem ist bei Orfeo nichts zu lesen. Den spärlichen Angaben zufolge ist dieser Wozzeck eine ganz gewöhnliche Vorstellung im November 1955 gewesen. Nicht einmal für den Hinweis auf den Tag der Vorstellung hat es gereicht. Im dürren Booklet finden sich lediglich die Track-Listen und eine Inhaltsangabe. Das ist zu wenig und zu lieblos für so eine Gedenkedition für eines der traditionsreichsten Opernhäuser der Welt.

Alle Vorstellungen dieser Festwochen haben als Tondokumente überlebt, wenngleich in unterschiedlicher Klangqualität. Bis auf die Aida, die in einigen inoffiziellen Pressungen in das Jahr 1956 verlagert wurde, was schon deshalb unmöglich ist, weil der Dirigent Rafael Kubelik nur für vier Aufführungen im Rahmen der Eröffungsfestspiele im November 1955 zur Verfügung stand, sind alle anderen Opern bei ihrer Veröffentlichung genau terminiert. Don Giovanni und Aida, in Italienisch komponiert, wurden deutsch gesungen, was sich unter Herbert von Karajan, der 1957 auf Böhm an der Spitze des Hauses folgte, ändern sollte. Orfeo selbst hatte 2005 mit einem Mitschnitt der Frau ohne Schatten-Premiere vom 9. November überrascht. Aus dem Enthusiasmus dieser Aufführung erwuchs noch im selben Jahr die berühmte erste Studioproduktion, für die Böhm bis auf den Barak von Ludwig Weber, der aus rechtlichen Gründen durch Paul Schoeffler ersetzt werden musste, das gesamte Ensemble mitnahm. Mit der Aufführung und der Produktion im Großen Saal des Musikvereins, zu der die Decca erst überredet werden musste, trat die Festspieloper ihren späten internationalen Siegeszug an. Insofern hätte dieses Werk auch die neue Edition geschmückt.

„150 Jahre Wiener Staatsoper“ – nicht nur diese fehlt: der Wiener Wagner-Felsen Gertrude Grob-Prandl hier als Isolde mit Max Lorenz in Mailand/ Foto Piccagliani/ Isoldes Liebestod

Stattdessen gibt es anderen Strauss, so eine der vielen Elektra‘s mit Birgit Nilsson, die zehn Jahre nach der Wiedereröffnung mitgeschnitten und 2014 ebenfalls von Orfeo offiziell herausgegeben wurde nachdem es bereits Veröffentlichungen – noch als LP – auf dem so genannten grauen Markt gegeben hatte. Für mich ist das ihre beste Aufnahme auf dem Höhepunkt ihrer Karriere. Sie singt noch nicht so eisig und erbarmungslos, wirkt menschlicher und anrührender. Ebenbürtig neben ihr agieren Leonie Rysanek als entschlossene, im Anflug in die Höhen etwas matte Chrysothemis und Regina Resnik als angstgeschüttelte Klytämnestra. Unter den fünf Mägden sticht Gundula Janowitz unverkennbar gläsernem Ton hervor, und die Aufseherin Danica Mastilovic wurde später selbst eine berühmte Elektra. Noch aus Tausenden herauszuhören ist Gerhard Unger als junger Diener Gerhard Unger mit seinem frischen Tenor. Eberhard Waechter, der den Orest singt, wird bereits sehr vernehmlich von seiner schweren Stimmkrise geplagt und gibt eine tragische Figur ab, weshalb die Frage erlaubt sein muss, ob es wirklich Sinn machte, den Mitschnitt erneut an die Öffentlichkeit zu bringen.

Näher an die Gegenwart heran führt die Ariadne auf Naxos von 2014, deren Entstehungsschichte ebenfalls mit Wien eng verbunden ist. Nach der erfolglosen Uraufführung der ersten Fassung in Stuttgart wurde 1916 an der damaligen Hofoper das Werk in seiner endgültigen Form präsentiert. Bei dem Mitschnitt in der Edition dürfte es sich um den Einstand von Christian Thielemann als Dirigent der Oper vom 12. Oktober handeln, der damals zu Recht sehr gefeiert wurde. Genannt wird der genaue Vorstellungstermin nicht. Arthaus/Unitel kündigen eine separate DVD-Version an. Die Szene im Bild würde dem Verständnis auf die Sprünge helfen, das die Tonspur über weite Strecken schuldig bleibt. Wer das Stück nicht auswendig kennt oder kein Libretto zur Hand hat, ist verloren und kann im turbulenten Prolog kann allenfalls dem Musiklehrer (Jochen Schmeckenbecher), dem Tanzmeister (Norbert Ernst) und dem Haushofmeister (Peter Matic) folgen. In der eigentlichen Oper, wenn auch musikalisch mehr Ruhe einkehrt, treten die Stimmen von Soile Isokoski (Ariadne), Daniela Fally (Zerbinetta) und Johan Botha (Bacchus) deutlich hervor.

„150 Jahre Wiener Staatsoper“ – auch diese fehlt: lange Jahre unersetzlich Elisabeth Höngen, hier als Amme/ Foto Fayer

Noch in glänzend Form ist Eberhard Waechter, der spätere Direktor der Wiener Staatsoper, im Fidelio aus dem Jahr 1962, bei dem es sich um den Premierenmitschnitt vom 25. Mai handelt, was unerwähnt bleibt. Dabei trat Herbert von Karajan in der Doppelfunktion als Dirigent und Regisseur in Erscheinung. Waechter singt den Don Fernando mit großer Würde und tiefer innerer Bewegung angesichts des Wiedersehens mit dem tot geglaubten Freund Florestan, den er nun im Ketten gelegt findet. Selten dürfte die Oper aufregender und packender geklungen haben. Es ist, als stehe die Aufführung unter Hochspannung. Christa Ludwig sang zum ersten Mal die Leonore. Mit ihrer Nervosität heizte sie das Drama erst richtig an. Sie setzte stimmlich alles auf eine Karte – und gewann. Mit diesem Debüt hat die Sängerin, die jüngst ihren 90. Geburtstag beging, Operngeschichte geschrieben. Auch Gundula Janowitz debütierte als selbstbewusste Marzelline an der Seite von Waldemar Kmentt als Jaquino. Als hochindividuelles Ausdrucksmittel könnte mit dem zeitlichen Abstand zur Aufführung die Indisposition von Jon Vickers als Florestan durchgehen. Sein Kampf gegen die gesundheitsbedingte Einschränkung, den er mit Professionalität ausficht, verwächst mit der Rolle und macht die Figur nach langer Kerkerhaft glaubhafter. Don Pizarro ist Walter Berry, Rocco Walter Kreppel. In der Edition ist der Mitschnitt, den sich Orfeo bei der Deutschen Grammophon ausgeliehen hat, völlig unter Wert verkauft. Warum ausgerechnet dieser Fidelio, frage ich mich, zumal die originale Ausgabe mit einem inhaltsstarken Booklet noch im Handel ist.

1977 kehrte der einstige künstlerische Leiter der Wiener Staatsoper, Herbert von Karajan, nach langer Abwesenheit an seine alte Wirkungsstätte zurück, dirigierte Aufführungen von Bohème, Trovatore und als Neuproduktion am 10. Mai in der Regie von Jean-Pierre Ponnelle Mozarts Le Nozze di Figaro. Anna Tomowa-Sintow, die die Contessa singt, trat erstmals am Haus auf und hinterließ mit ihrer betont fraulichen Anlage der Rolle so großen Eindruck, dass fortan zu den Lieblingen des Publikums gehörte. Ileana Cotrubas gab die Susanna, Frederica von Stade den Cherubino, Tom Krause den Grafen und José van Dam den Figaro. Ins Jahr 1988 führt Rossinis Il viaggio a Reims – auch ein Premierenmitschnitt vom 20. Januar unter Claudio Abbado – mit der hinreißenden Lucia Valentini-Terrani als Marchesa Malibea. Im April 2013 sang Anna Netrebko in vier Vorstellungen von Eugen Onegin die Tatiana. Eine davon ging in die Edition ein, offenbar die erste vom 12. des Monats. Dirigent ist Andris Nelsons, der zunächst etwas schleppende Tempi anschlägt, dann aber tief einzudringen versteht in dieses russische Seelendrama. In der ersten Szene sind die Stimmen nach meinem Eindruck nicht sehr gut auseinander zu halten. Das gibt sich, wenn der Chor abtritt und die Stunde der Solisten schlägt. Für die Netrebko, umjubelter Star des Abends und von Kritikern gar mit der Duse verglichen, ist die Rolle ein Heimspiel, für ihren Landsmann, den viel zu früh verstorbenen Dmitri Hvorostovsky als Onegin ebenfalls. Dmitry Korchak, der Lenski, beschwört in seiner großen Szene vor dem Duell auf bewegende Weise die Tradition der alten russischen Tenorschule wie der Gremin von Konstantin Gorny den Vergleich mit seinen berühmten Vorgängern russischer Zunge auch nicht scheuen muss.

„150 Jahre Wiener Staatsoper “ – auch Agnes Baltsa – fester Posten in Wiener Besetzungen –  fehlt in der Kompilation (hier mit Luis Lima in „Cavalleria rusticana“)/ Wikipedia

Dieser Mitschnitt macht auf sehr erfreuliche Weise deutlich, welch überzeugende und geschlossene Wirkung sich einstellen kann, wenn die Solisten Muttersprachler sind und sich die Texte nicht phonetisch einpauken müssen. Indem sie wissen, was sie singen, teilen sie sich auch dem Teil des Publikums mit, welcher ihre Sprache nicht versteht. Hvorostovsky taucht in Verdis Un ballo in maschera als René Ankarström an der Seite von Krassimira Stoyanova als Amelia, Piotr Beczala als Gustaf, Nadia Krasteva als Ulrica und Hila Fahima als Oscar wieder auf. Dirigent ist Jesús López Cobos. In der Edition ist der April 2016 als Aufführungszeitraum genannt. In diesem Monat gab es laut Archiv der Staatsoper vier Vorstellungen in identischer Besetzung. Welche nun aufgenommen wurde, bleibt unbekannt. Nachdem er als Riccardo Forth in Bellinis Puritani erstmal in Wien zu hören gewesen ist, blieb Hvorostovsky ein gern gesehener Gast. Die Krankheit hatte ihm inzwischen stimmlich zugesetzt. Mit dem alten Germont in Traviata sang er im November seine letzte Opernrolle. Ein Jahr später ist er in London gestorben.

„150 jahre Wiener Staatsoper“: nicht nur diese fehlt – Superstar der Karajan-Ära Renata Tebaldi, hier als Celebrity auf dem Cover von TIME-Magazin.

Die Schwedin Nina Stemme trat 2003 erstmals als Senta im Fliegenden Holländer im Haus am Ring auf. Es folgten Sieglinde, Brünnhilde, Leonora (Forza del destino), Ariadne, Tosca, Marschallin, Minnie, Elektra, Leonore, Kundry. Im Oktober 2019 kommt die Färbersfrau in der Frau ohne Schatten hinzu. Am 13. Juni 2013 hatte Wagners Tristan und Isolde in einer neuen Produktion, die von Franz Welser-Möst, betreut wurde, Premiere. Daran schlossen sich im selben Monat in dichter Reihenfolge vier weitere Vorstellungen an. Immer waren die Stemme die Isolde und Peter Seiffert der Tristan. Orfeo gibt sich mit dem Datum des Mitschnitts auch hier vage und nennt lediglich den Juni. Dem hohen Paar bleibt nichts erspart. Der gnädige Strich im zweiten Aufzug ist aufgemacht. Die Stemme steht die Partie mit eiserner Entschlossenheit durch. Nach reichlich Wagner in aller Welt ist Seiffert, der die sechzig überschritten hatte, noch immer ein beeindruckender Tristan, der seine Kräfte ökonomisch einzuteilen weiß und nach Pausen, die ihm die kräftezehrende Partie zuweilen lässt, mit immer neuer Energie ins Geschehen zurückkehrt. Gestalterisch bringt der Däne Stephen Milling reichlich Kapital ein, was seiner Klage eine gewisse Kurzweiligkeit verleiht.

In dem als Bonus ausgewiesenen Doppelalbum schimmert schließlich noch etwas vom alten Glanz auf, dem die Wiener Staatsoper bis heute ihren Ruhm verdankt. Es gibt Szenen mit Lisa della Casa, Anneliese Rothenberger, Maria Reining, Sena Jurinac, Mirella Freni, Edita Gruberova. Placido Domingo, Luciano Pavarotti, Franco Corelli, geleitet von Dirigenten wie Hans Knappertsbusch, Joseph Keilberth, Josef Krips, Karl Böhm. Genannt werden nur die Aufnahmejahre. Sonst nichts. Rüdiger Winter

Nikolai Medtner neu entdeckt

 

Junge Sänger sind gut beraten, sich neben der Oper dem Liedgesang zuzuwenden – auf dem Konzertpodium und im Studio. Lieder gleichen Visitenkarten. Sie übermitteln kurz und knapp, mit wem man es zu tun hat. Den Musikmarkt dominieren längst nicht mehr nur die Legenden. Es tauchen immer mehr neue Namen auf, die man sich merken sollte. Nicht selten haben sie noch bei jenen bedeutenden Sängerinnen und Sängern studiert, die in die Jahre gekommen oder bereits abgetreten sind. Der Bariton Ludwig Mittelhammer hatte einen Meisterkurs bei Dietrich Fischer-Dieskau belegt. Er ist nach eigenen Abgaben auf seiner Homepage Jahrgang 1988, geboren in München. Bayern haben offenbar kein Problem mit ihrem Alter. In der Regel gibt sich der Nachwuchs bei diesen Angaben gern zugeknöpft. Als sei das Geburtsjahr den Karrierechancen hinderlich. Jemand anderes könnte schließlich ja noch jünger sein.

Mittelhammer ist mit seinen einunddreißig Jahren jung. Auf seiner ersten Solo-CD, die bei Berlin Classics herausgekommen ist, singt er Lieder von Franz Schubert, Hugo Wolf und Nikolai Medtner (0301246BC). Der 1897 in Moskau geborene Medtner war Russe und ist immer nicht ein Geheimtipp. Vor der Oktoberrevolution floh er zunächst nach Deutschland, später nach Paris. 1935 ließ er sich in London nieder, wo er die größten Erfolge als Pianist hatte und 1951 starb. Medtner hinterließ drei Klavierkonzerte, Kammermusik, Klaviersonaten und um die hundert Lieder. Kurz vor seinem Tod hatte er noch die Sopranistin Elisabeth Schwarzkopf bei vierzehn Titeln für die EMI begleitet, darunter „Meeresstille“ und „Glückliche Fahrt“, die nun auch Mittelhammer singt. Er ist also in guter Gesellschaft. Und warum ist Medtner ihm wichtig? In einem im Booklet abgedruckten Interview mit der freien Autorin Hannah Schmidt ist zu erfahren, dass der Impuls vom Pianisten Jonathan Ware ausgegangen sei. „Die Lieder sind im Klavierpart sehr virtuos und auch für mich sehr anspruchsvoll, weil der Ambitus sehr groß ist“, so der Sänger. Sie seien „einfach musikalisch hochinteressant und wirklich schön“ und gehörten „viel mehr auf die Bühne“. Recht hat er. Es ist hörbar, wie ernsthaft er arbeitet. Gerade bei Medtner fliegt dem Interpreten nichts zu. Das wird jeder Ton zur Herausforderung, zumal der schon erwähnte Tonumfang extrem ist.

In dem Interview betont Mittelhammer, wie wichtig ihm bei der Vorbereitung die Arbeit mit dem Text sei. Das schlägt sich auch im Vortrag nieder, wenngleich sich hier und da Ungenauigkeiten eingeschlichen haben. „Über allen Gipfel ist Ruh‘.“ So beginnt Goethes „Wandrers Nachtlied II“. Mittelhammer hat diese Ruhe in der Stimme, lässt sie aber nicht richtig ausschwingen, so dass es am Ende fast wie „Ruhe“ klingt. Gemessen am positiven Gesamteindruck der CD ist das eine Petitesse. Im Liedgesang kommt es aber nun einmal auf die Feinheiten an. Die Stimme ist kerngesund, kräftig und lässt gelegentlichen Anflügen von Robustheit erkennen. Hier wäre noch mehr Feinschliff angebracht. Ohnehin hatte ich den Eindruck, dass manches Pulver zu schnell verschossen wird. Mittelhammer sollte sich gelegentlich etwas zurücknehmen in seinem stimmlichen Sturm und Drang, mehr nach innen gekehrt singen und weniger nach außen. Wie bei Schuberts mehr als acht Minuten dauerndem Lied  „An den Mond in einer Herbstnacht“, das für mich zum Höhepunkt des Programm wird. Mit fast zweiundsechzig Minuten ist die CD nicht überfrachtet.

Gern hätte ich zwischen den Liedgruppen passende Solostücke mit dem Pianisten gehört. Denn Jonathan Ware ist ein ganz vorzüglicher Begleiter, der beim Tempo sehr individuelle Einfälle hat. Obwohl er sich niemals in den Vordergrund drängt, nimmt er seinen Platz als gleichberechtigter Partner ein. Rüdiger Winter

Hommagen zum 80.

 

Irrtum ausgeschlossen, Brigitte Fassbaender wird achtzig!!! Die Deutsche Grammophon (00289 483 6913) und Warner (6829682) feiern sie mit großen Editionen. Geboren ist sie am 3. Juli 1939 in Berlin, wenige Wochen vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Der Vater, Willi Domgraf-Fassbaender, ein berühmter Sänger, die Mutter, Sabine Peters, eine nicht minder bekannte Schauspielerin. Gemeinsam konnte die Zehnjährige die Eltern sogar im Kino sehen. Im Defa-Film Figaros Hochzeit, der 1949 nach Mozarts Oper gedreht wurde, spielte und sang Domgraf-Fassbaender die Titelrolle, die Peters spielte die Gräfin, der Tina Lemnitz ihre Stimme gab. Den ersten Gesangsunterricht bekam sie beim Vater, der ihr einziger Lehrer blieb. Von der Mutter erbte sie zusätzliches schauspielerisches Talent. Mit solchen Voraussetzungen war der Weg vorgezeichnet. Indem Tochter Brigitte Sängerin wurde, schien sich ein Naturgesetz zu vollziehen. Ihren Aufstieg in den Weltruhm konnten die Eltern noch verfolgen.

Neun von insgesamt elf CDs der Deutsche-Grammophon-Edition (00289 483 6913) sind der Liedersängerin Brigitte Fassbaender gewidmet. 

Die Fassbaender hat alles erreicht, was eine Sängerin erreichen kann. Wien, Mailand, New York, Paris, London, Salzburg, München, Buenos Aires, Glyndebourne, Chicago, Berlin, Bayreuth. Keines der großen Häuser, keines der wichtigen Festivals fehlt in ihrer Statistik. Kaum eine Rolle ihres Fachs, die sie nicht gesungen hat. Auf den Octavian im Rosenkavalier hatte sie ein Abo. Eboli, Carmen, Dorabella, Brangäne, Waltraute, Fricka, Herodias, Sesto, Hänsel, Azucena, Orlofsky, Werther-Charlotte, Marina, Amme, Gräfin Geschwitz, später dann Klytämnestra. In München fing sie 1961 ganz klein an. Als burschikose Resi wirkte sie 1963 in der abgefilmten Inszenierung von Straussens Intermezzo aus dem Cuvilliés-Theater mit, stimmlich schon unverkennbar. Und bei der auch auf Platte (Deutsche Grammophon) festgehaltenen Festaufführung der Strauss-Oper Die Frau ohne Schatten zur Eröffnung des wiederaufgebauten Nationaltheaters in selben Jahr ist sie unter den Dienerinnen und den Stimmen der Ungeborenen. Es braucht allerdings sehr viel Phantasie und gute Kopfhörer, sie aus diesem kleinen, aber prominent besetzten Chor herauszuhören.

Als erste offizielle Plattenaufnahme gilt die Szene der Kuhmagd Lisi in der Operette Der fidele Bauer von Leo Fall, die ihrem unehelichen Sohn Heinerle bei einem Bummel über den Jahrmarkt jeden Wunsch verweigern muss, weil sie „kein Geld“ hat. Einspielt wurde das anrührende kleine Duett 1963 als Bestandteil eines Querschnitts durch das Stück. Nicht zuletzt wegen der Mitwirkung von Fritz Wunderlich verschwand die Platte nie vom Markt und fand als Lizenz sogar den Weg in die DDR. Wenngleich sie für Wunderlich eine von sehr vielen ist, erweist sie sich in Bezug auf die Jubilarin als Glücksfall, weil die Begabung der Anfängerin so genau abgebildet wird. Schon damals dürfte klar gewesen sein: Aus der wird mal was! In der Warner-Sammlung ist das Duett mit dem Knabenalt Wolfgang Eber, das im Booklet aus unerfindlichen Gründen als Arie bezeichnet wird, dankenswerterweise zu finden. Es ist neben dem schon erwähnter Orlofsky, der mit seinen beiden Soli aus der Electrola-Gesamteinspielung unter Willi Boskovsky zu hören ist, nicht der einzige Ausflug in die Operette. Warner hat auch Szenen aus Heubergers Opernball, Offenbachs Schöner Helena, Zellers Vogelhändler und dem Walzertraum von Straus im Angebot, während die Grammophon in ihrer elf CDs umfassenden Edition die Orlofsky-Szenen aus der Decca-Produktion unter André Previn als Rausschmeißer an den Schluss setzt.

Warner hat auch die frühen Aufnahmen von Brigitte Fassbaender im Angebot, darunter eine Szene aus der Leo-Fall-Operette „Der fidele Bauer“, die als ihre erste offizielle Platteneinspielung gilt. Diese Edition besteht aus acht CDs  (6829682). 

Der Liedgesang hielt sich bei Brigitte Fassbaender in der Gesamtschau auf ihr Lebenswerk mit der Oper in etwa die Waage. In beiden Editionen gibt es allerdings einen deutlichen Ausschlag zugunsten des Liedes. „Man muss sich erst in der Oper einen Namen machen, um das Publikum in einen Liederabend zu locken“, sagt sie rückblickend in einem Interview mit dem Musikschriftsteller Thomas Voigt, das im Grammophon-Booklet abgedruckt ist. „Aber ich habe von Anfang an Konzert- und Liedgesang intensiv mit einbezogen. In meinen letzten Jahren habe ich allerdings hauptsächlich Lieder gesungen. Ich finde, da gibt es einfach mehr zu entdecken.“ Von dieser Erkenntnis dürften sich auch Musikproduzenten und Firmen haben leiten lassen, die sie häufig für Liedaufnahmen ins Studio holten. Solche Platten gingen immer und waren auch kostengünstiger herzustellen. Als Liedinterpretin war die Fassbaender in guter Gesellschaft. Kolleginnen und Kollegen wie Elisabeth Schwarzkopf, Christa Ludwig, Dietrich Fischer-Dieskau, Lisa Della Casa, Irmgard Seefried, Hermann Prey, Ernst Haefliger, Janes Baker oder Peter Schreier hatten durch ihre mustergültigen Einspielungen und Konzerte dem Lied zu ungeahnter Popularität verholfen. Wie kaum eine andere Sängerin bemächtigte sich Brigitte Fassbaender mit der Winterreise, der Schönen Müllerin oder der Dichterliebe sehr entschlossen und komplex Werke, die nach wie vor als Männerdomäne gelten. Sie löste diese Zyklen aus der tradierten Betroffenenperspektive heraus und fand nach den ersten bescheidenen Anfängen von Lotte Lehmann aus den 1940er Jahren einen Deutungsansatz, der die Geschlechterrolle bei der Interpretation aufhebt, wenigstens aber zurückstellt. Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit, der Schauer oder das Unbewusste sind hinfort nicht mehr nur männlich. Inzwischen gibt es zahlreiche Interpretationen durch Frauen.

Zahlreiche Liedaufnahmen entstanden ursprünglich bei EMI/Electrola – nun im Besitz von Warner. Diese LP wurde in die neue Edition übernommen.

Während Winterreise und Dichterliebe mit Aribert Reimann, einem ihrer bevorzugten Begleiter, bei Warner zu finden sind, erweitert die Grammophon mit Schöner Müllerin und Schwanengesang – wieder in Zusammenwirken mit Reimann – das Spektrum der Sängerin. Besonderer Erwähnung bedarf die Müllerin. Schubert hatte 1823 nicht alle Lieder der gleichnamigen Gedichtsammlung von Wilhelm Müller, die von einem Prolog und einem Epilog eingefasst ist, komponiert. Weggelassen wurden „Das Mühlenleben“ (Nummer 8), „Erster Schmerz, letzter Schmerz“ (18) und „Blümlein Vergießmein“ (21). Der ironische Grundton der einleitenden und abschließenden Betrachtungen, die dem Zyklus eine völlig andere Perspektive geben, waren Schuberts Sache nicht. 1961 hatte Dietrich Fischer-Dieskau, der auch ein vorzüglicher Rezitator war, bei der EMI eine Aufnahme mit Prolog und Epilog vorgelegt, auf den Einschub der nicht vertonten Titel aber verzichtet. Folglich musste er im Epilog jene Zeilen weglassen, die sich nämlich auf die Tatsache beziehen, dass der Zyklus aus insgesamt fünfundzwanzig Gedichten besteht. Die Fassbaender überwindet diese Rumpflösung, indem sie an den richtigen Stellen die restlichen drei Gedichte gesprochen einfügt und folglich auch nicht im Epilog streichen muss. Das macht ihre Einspielung so einzigartig.

Anregungen für Vergleiche und Gegenüberstellungen bieten sich – ebenfalls bei Grammophon – mit dem Zyklus Frauenliebe und -leben nach Gedichten von Adelbert von Chamisso an, die 1830 veröffentlicht wurden. Carl Loewe hat die Sammlung 1836 als erster vertont, Schumanns Komposition entstand 1840. Dazwischen liegt 1839 Franz Lachner. Loewe, der seine Komposition mit Frauenliebe überschreibt, nahm sich aller neun Lieder an, führte das letzte, das Schumann ignoriert hat, mit melodramatischer Einlage zum Höhepunkt des Werkes. Im dem Interview mit Thomas Voigt kommt die Sängerin zu dem bemerkenswerten Schluss, dass sich Loewes Zyklus „viel leichter als Schumanns Version“ erschließt. Neben der Frauenliebe hat die Fassbaender noch weitere fünfzehn Loewe-Gesänge im Angebot und erweist sich damit als eine weitsichtige Vorkämpferinnen für diesen Komponisten. Das ist nicht alles. Noch mehr Schubert gibt es in beiden Sammlungen, ebenso Hugo Wolf und Gustav Mahler. Franz Liszt, Richard Strauss, Johannes Brahms, Antonin Dvorák und Modest Mussorgsky fallen bei der Grammophon ins Gewicht, während Warner mit Mendelssohn Bartholdy und dem Buch der hängenden Gärten von Arnold Schoenberg punkten kann.

Der Verlag C.H. Beck kündigt für Mitte Oktober die Memoiren der Sängerin an. Auf dem Titel ein Rollenfoto als Octavian, der in den Editionen übrigens keine Berücksichtigung findet.

Die Opern- und Operettenabteilung ist hier wie da nicht optimal ausgestattet. Warner greift auf einzelne Titel wie die bereits erwähnte Szene aus dem Fidelen Bauer zurück, bedient sich bei einem deutsch gesungenen Querschnitt durch Verdis Don Carlos mit Auftritten der Eboli, fischt die Gräfin Geschwitz aus der Lulu unter Jeffrey Tate, die Jocaste aus Enescus Oedipe mit Lawrance Foster am Pult und die Nancy aus der von Robert Heger geleiteten Martha heraus. Die Grammophon geht auch ans Eingemachte, stutzt Giulinis Trovatore-Gesamtaufnahme auf eine Azucena-Szenenfolge zurecht, pickt aus dem Tristan Kleibers zwei Stellen mit der Brangäne, einschließlich Wachgesang, heraus, entsinnt sich der rasanten frühen Archiv-Produktion von Scarlattis Il giardino d’amore aus dem Jahre 1964, die drei Szenen der Venere hergibt. Mozart bildet einen Schwerpunkt für sich mit Ausschnitten aus Gesamteinspielungen von La clemenza di Tito (Annio/Istvan Kertesz), La finta giardiniera (Don Ramiro/Leopold Hager) und Cosi fan tutte (Dorabella/Karl Böhm). Einige Schnipsel aus Hänsel und Gretel, die der Produktion der Humperdinck-Oper mit Georg Solti entnommen sind und gute sechs Minuten Pfitznerscher Palestrina (Silla/Rafael Kubelik) dienen mehr der Dokumentation von Repertoire denn als künstlerischer Beleg. Teils noch herber fallen die Schnitte bei diversen Oratorien und Messen aus. Bei Warner schrumpfen die Petit Messe solenelle von Rossini (mit Hamonium/Stephen Cleobury), die Johannespassion (Wolfgang Gönnenwein) und die Mass in B minor (Eugen Jochum) auf jeweils zwei, Schumanns Paradies und die Peri (Henryk Czyz) auf drei Nummern zusammen, und Das Lied von der Erde der Grammophon (Carlo Maria Giulini) besteht nur aus der Altpartie. Es braucht schon einiges Hintergrundwissen, um den Flickenteppich zu ergänzen. In beiden Editionen werden zwar alle Aufnahmedaten genau aufgelistet, es fehlen aber die Hinweise auf Gesamtaufnahmen, wenn Arien und Duette solchen entlehnt sind.

Für Mitte Oktober sind bei C.H. Beck ihre Memoiren „Komm‘ aus dem Staunen nicht heraus“ angekündigt. Auf dem Titel ein Rollenfoto als Octavian, der in den Editionen übrigens keine Berücksichtigung findet. Das Zitat aber, das dem Buch seinen Namen gibt, stammt von Ochs aus dem dritten Aufzug des Rosenkavalier, als er die pikanten Zusammenhänge und Verbindungen zwischen den handelnden Personen durchschaut. Eine ganz zufällige Wahl? Wohl kaum. Staunen dürfte eine der maßgeblichen Eigenschaften dieser umtriebigen Künstlerin sein, die ihr künstlerisches Wirken mit dem Sängerberuf nicht auf sich beruhen ließ. Wer staunen kann, findet sich nicht mit den jeweiligen Gegebenheiten ab. Als gehe es erst danach richtig los, wurde sie Spielleiterin, Operndirektorin, Intendantin, stand Gesangswettbewerben vor, gab Meisterklassen und widmete sich mit Hingabe dem Sängernachwuchs. Als Nachfolgerin von Wolfgang Sawallisch war sie zwischen 2005 und 2017 Vorsitzende der Richard-Strauss-Gesellschaft. Die maßstäbliche Einspielung sämtlicher Klavierlieder des Komponisten geht auf sie zurück. Sie begnügte sich aber nicht nur mit der Rolle der Mentorin. Kurzerhand übernahm sie bei den beiden Melodramen – „Enoch Arden“ und „Das Schloss am Meere“ – die Rezitation. Jetzt ist Brigitte Fassbaender vermehrt als Opernregisseurin unterwegs. Für die nächsten Jahre ist sogar ein kompletter Ring im Gespräch. Wie drückte sich der Komponist und Begleiter der Sängerin Aribert Reimann aus? „Eine großartige Persönlichkeit, die in allem, was sie vollbracht und erreicht hat, immer mit der ihr eigenen Sprache so unendlich vieles bewegen konnte.“ Und immer noch kann. Rüdiger Winter (Foto oben (© Susesch Bayat) ist ein  Ausschnitt dem Booklet der Edition der Deutschen Grammophon).

Eigentlich eine Oper

 

Mit Abstand von fast dreißig Jahren ist das Oratorium Das Sühneopfer des neuen Bundes von Carl Loewe nun zum zweiten Mal auf CD erschienen. Die überhaupt erste Aufnahme kam 1991 bei FSM mit dem Chor der St. Nikolauskirche Frauenfeld und dem Collegium Musicum St. Gallen unter der Leitung von Mario Schwarz heraus. Obwohl stark gekürzt, fand sie schon deshalb große Aufmerksamkeit, weil der bis dahin vor allem auf sein Balladenschaffen reduzierte Komponist plötzlich auch als Musikdramatiker wahrgenommen wurde. Jetzt legt Oehms in Co-Produktion mit dem Bayerischen Rundfunk eine komplette Einspielung vor (OC 1706), die etwa eine halbe Stunde mehr Zeit beansprucht als die Vorgängerin, die mit einer CD auskam. Diesmal singen die Arcis-Vokalsolisten München, die 2005 von Thomas Gropper gegründet wurden. Sie verstehen sich als semiprofessionelles Ensemble aus etwa achtzig Frauen und Männern unterschiedlicher Altersgruppen, die größtenteils musikalisch ausgebildet sind. Es spielt das Barockorchester L’arpa festante, das seit 1983 besteht und seinen Namen von der so betitelten Oper von Giovanni Battista Maccioni herleitet, mit der 1653 das erste Münchner Opernhaus eröffnet wurde. Markenzeichen dieses Ensembles sind die Bemühungen um Originalklang bei Aufführungen und Produktionen. Monika Mauch (Sopran), Ulrike Malotta (Mezzosopran), Georg Poplutz (Tenor) und Andreas Burkhart (Bass) bilden das traditionelle Solistenquartett.

Gropper, der die musikalische Leitung hat, ist selbst als Sänger tätig und hat noch bei Dietrich Fischer-Dieskau Unterricht genommen. Am Stadttheater Ingolstadt sang er Figaro, Don Giovanni und Papageno, bei den Opernfestspielen in der Bad Hersfelder Stiftruine die Titelpartie in Monteverdis L’Orfeo. Mit dieser Erfahrung dürfte Gropper genau der Richtige  sein für das Passions-Oratorium, das viele opernhafte Elemente in sich trägt. Wie Gropper im Booklet herausgearbeitet hat, war es Loewe, der seine zentrale berufliche Aufgabe über fast ein halbes Jahrhundert als Organist, Kantor und städtischer Musikdirektor in Stettin, dem heutigen Szczecin, versah, „aufgrund seines Arbeitskontrakte untersagt, für die dortige Opernbühne zu komponieren“. Draus erklärt sich, dass er das „erlaubte“ Genre des Oratoriums musiktheatralisch aufgeladen habe. Insofern ist das Oratorium auch als eine Art heimliche Oper zu verstehen. „Im Wechsel aus Bibelstellen, Chorälen und freier Dichtung“ habe der Kirchenliedforscher und Lehrer am Stettiner Marienstift, Wilhelm Telschow, sein Libretto geformt. Der Passionsbericht sei „aus den verschiedenen Evangelien kompiliert, hauptsächlich aus Matthäus und Johannes, und sprachlich vereinfacht, die Jesusworte hingegen bleiben original“. Gropper: „Dazu kommen Psalmen (113, 116, 117) und Choralverse. In den frei hinzugedichtete Texten für Prolog, Epilog und einzelnen Arien wird in schlichter Sprache versucht, einen emotionalen Zugang herzustellen, etwa indem am Passionsgeschehen beteiligte Figuren ihre Wahrnehmungen und Gedanken äußern.“

Nach einer knappen musikalischen Einleitung übernehmen solistisch besetzte „Stimmen aus dem Volke“, die sich im Chor fortsetzen. Das ist von großer Wirkung. Loewe versucht sich über das ganze Werk verteilt in solchen überraschenden Formen und Lösungen, die seine eigene Handschrift deutlich erkennen lassen. Umso verwunderlicher ist es, dass sein oratorisches Schaffen schon zu seinen Lebzeiten und erst recht danach in tiefe Vergessenheit fiel. Durch den unangebrachten Vergleich mit Mendelssohn und Schubert, den er letztlich nicht bestehen konnte, ist ihm viel Ungerechtigkeit widerfahren. Loewes Stil habe „seine Wurzeln in der mitteldeutschen und norddeutschen Kantorentradition“, so Gropper. Und das ist nicht die schlechteste Tradition. Die zahlenmäßig übersichtliche Besetzung lässt es zu, das Werk klar, gar leicht, elegant und unverschnörkelt darzubieten. Dadurch tritt seine eigenwillige Struktur umso deutlicher hervor. Alle Solisten sind vorzüglich ausgesucht. Sie sind immer gut zu verstehen, fügen sich ohne Eitelkeit in das Ensemble. Im üppig ausgestatteten Booklet, das auch den vollständigen Text enthält, werden sie ausführlich in Wort und Bild vorgestellt. Auch das Klangbild der in der Himmelfahrtskirche in München-Sending produzierten Aufnahme lässt keine Wünsche offen. Rüdiger Winter

Aufgewärmt

 

Der Liedersänger Dietrich Fischer-Dieskau hat sich bis zum Ende seiner Karriere im Jahre 1992 die Neugierde bewahrt. Obwohl Franz Schubert wie ein Fels im Zentrum seines Wirkens stand, stellte er sich immer wieder neuen Herausforderungen. Ein Album, das jetzt bei Orfeo herausgekommen ist, legt Zeugnis davon ab: Orchesterlieder von Hugo Wolf und Max Reger (MP1902), jeweils eine CD pro Komponist. Bei Wolf wird er vom Münchner Rundfunkorchester unter Stefan Soltész begleitet, bei Reger (1989) vom Philharmonischen Staatsorchester Hamburg unter Gerd Albrecht. Es handelt sich um Produktionen des Bayerischen und des Norddeutschen Rundfunks, die 1990 (Wolf) und 1989 (Reger) entstanden – für Fischer-Dieskau eine Art Abgesang. Zunächst waren die Lieder von Orfeo einzeln veröffentlicht worden. In der Kombination können Vergleiche angestellt und Gemeinsamkeiten aufgespürt werden. Der 1860 geborene Hugo Wolf und sein dreizehn Jahre jüngerer Kollege waren schließlich Zeitgenossen. Reger hat sich intensiv mit Wolf beschäftigt und sich selbst mit dem „verkannten Genie“ identifiziert, wie Susanne Popp in ihrer Reger-Biographie „Werk statt Leben“ feststellt. Einen Berührungspunkt zwischen beiden Komponisten gibt das Album bei „Sterb‘ ich, so hüllt in Blumen meine Glieder“ aus dem Italienischen Liederbuch her, das von Reger instrumentiert wurde.

Während dieser die Orchesterfassungen seiner Stücke selbst schuf, liegen bei Wolf die Dinge oft anders. Eines seiner bekanntesten Lieder, „Fußreise“ nach Mörike, bearbeitete Günter Raphael (1903-1960), der im Musikbetrieb noch immer nicht die Wertschätzung erfährt, die ihm zusteht. Er hinterließ ein umfängliches Werk aus Sinfonien, Konzerten, Kammermusiken, Kantaten, Liedern und Orgelstücken. Als so genannter Halbjude von den Nationalsozialisten verfolgt und seiner Ämter enthoben, durfte Raphael – inzwischen schwer krank – erst nach 1945 wieder unterrichten. Thomaskantor Karl Straube hatte ihn einst als seinen Nachfolger auserkoren. Seine Instrumentierung betont den ausgesprochen lyrischen Charakter des Liedes noch zusätzlich, und dem fünfundsechzigjährigen Interpreten scheint es ein Leichtes, diesen Ton fast schwelgerisch aufzunehmen. Dabei ist er noch immer in seinem Element. Hochdramatische Ausbrüche in „Prometheus“ oder in „Der Freund“ gelingen nicht ganz mehr so gut wie in jüngeren Jahren. Der finnische Bassist Kim Borg, der sich auch komponierend betätigte, versah die „Drei Michelangelo-Lieder“ mit Orchester. Dadurch wird deren Strenge und Modernität allerdings etwas gemildert.

Orchestral Songs also! Auf die Reger-Auswahl trifft der Titel des Albums eigentlich nicht zu. Bei „Der Einsiedler“, „Hymnus der Liebe“, „An die Hoffnung“ – alle um die 13 Minuten lang – und dem „Requiem“ (16 Minuten) handelt es sich denn doch mehr um kantatenähnliche Gesänge, zumal im ersten und im letzten Stück noch ein Chor (St. Michaelis-Chor und Monteverdi-Chor Hamburg) hinzutritt. Rainer Aschemeier, der Autor des Booklet-Textes, findet – und das zu recht – nicht nur für den Säger, sondern auch für den Dirigenten Albrecht eine durchweg positives Urteil: „Das Ergebnis ist eine künstlerische Symbiose höchsten Ranges, die von einer Leidenschaft und Innigkeit zeugt, wie man sie nicht mehr häufig findet: Ein wahres Tondokument!“ Das Album erinnert Sammler und Verehrer von Dietrich Fischer-Dieskau daran, dass er auch Orchesterlieder von Hans Pfitzner für EMI/Electrola eingespielt hat. Erstmals veröffentlicht wurde die Platte 1979. Darauf finden sich so seltene Titel wie die Ballade „Herr Oluf“, die auch Carl Loewe meisterhaft in Töne setzte. Aus der Oper Der arme Heinrich singt Fischer-Dieskau die Erzählung des Dietrich. Begleitet wird er vom Sinfonie-Orchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Wolfgang Sawallisch. Eine CD-Übernahme habe ich nicht gefunden, nur eine Download-Version von Warner. Rüdiger Winter

Entdeckungen in der Traumwelt

 

„… von sanftem Traum umflossen“: Die Wörter „Ich lag…“ vorangestellt, wird aus dem Zitat, mit dem der Tenor Malte Müller seine CD titelt, der Beginn eines Liedes aus dem so genannten vierten Strauß der umfänglichen Gedichtsammlung „Liebesfrühling“ von Friedrich Rückert. Sämtliche zweiundzwanzig Lieder der Neuerscheinung bei Spektral (SRL4-18167) sind auf Texte dieses Dichters, der zwischen 1788 und 1866 lebte, komponiert. Wäre er nicht so oft vertont worden, dürfte sich die Erinnerung an ihn in deutlich engeren Grenzen halten als es ohnehin der Fall ist. Zwar sind Straßen nach ihm benannt, Denkmäler an seinen Wirkungsstätten errichten worden. Das Geburtshaus in Schweinfurt und das Wohn- und Sterbehaus in Neuses, das inzwischen ein Stadtteil von Coburg ist, gehören dort zu den ersten Adressen. Auf seinem Grab liegen manchmal frische Blumen. Vom Volksmund aufgeschnappt ist das geflügelte Wort vom „lieben Freund und Kupferstecher“, das auf Rückert zurückgeht. Damit leitete er seine Briefe an den Kupferstecher Carl Barth ein, mit dem er befreundet war und der eines der bekanntesten Konterfeis des Dichters mit den schulterlangen Haaren, der auch Italien bereiste und Teile des Korans ins Deutsche übersetzte, schuf.

Das geflügelte Wort vom „lieben Freund und Kupferstecher“ geht auf Rückert zurück. Damit leitete er seine Briefe an den Kupferstecher Carl Barth ein, mit dem er befreundet war und der dieses charismatische Konterfei des Dichters mit den schulterlangen Haaren schuf.

Vor allem aber lebt Rückert als Textdichter fort. Für seine CD wählte der Sänger Lieder von Franz Schubert, Robert Schumann, Carl Loewe, Franz Liszt, Richard Strauss, Alban Berg, Modest Mussorgsky, Robert Radecke, Giacomo Meyerbeer, Wilhelm Kienzl, von dem das Titel gebende Lied stammt, sowie von Hannah Mathilde von Rothschild (1832-1924), die sich vornehmlich als Mäzenin betätigte und nur gelegentlich komponierte, aus. Es hätten noch viel mehr sein können. Denn auch Brahms, Cornelius, Marschner, Lachner, Silcher, Hiller, Sinding, Nietzsche, Hindemith und wie sie alle heißen, bedienten sich bei Rückert. Am nachhaltigsten dürfte dessen Wirkung auf Gustav Mahler gewesen sein. Der griff in seinen erschütternden „Kindertotenliedern“ auf Verse Rückerts zurück, mit denen dieser den Verlust seiner eigenen Kinder verarbeitete. Eine Sammlung von fünf Liedern Mahlers ist unter den Namen des Dichters zusammengefasst. Diese so genannten „Rückert-Lieder“ finden sich denn auch bei Malte Müller. Sie beschließen das Programm seiner CD. Eingeleitet wird es mit Berg, dessen Lied „Ich will die Fluren meiden“ den Sänger von der Realität in seine thematische Traumwelt, die viele Entdeckungen bereithält, führt. Im Booklet sind alle Texte abgedruckt. So ist stets ein schneller Abgleich der Vertonungen mit den literarischen Vorlagen möglich, die auch für sich allein Bestand haben – und umgekehrt. Eine der erfreulichen Nebenwirkungen der CD ist die Anregung, sich Rückert wieder mehr zuzuwenden.

Müller legt hörbar großen Wert darauf, die Texte sehr deutlich zu vermitteln. Er will immer genau verstanden werden. Bei den zu Extremen neigenden Strauss-Titeln („Ein Obdach gegen Schnee und Regen“, „Gestern war ich Atlas“, „Die sieben Siegel“, „Morgenrot“ und „Ich sehe wie in einem Spiegel“) ist das nicht immer einfach. Hier und da hätte sich ein flotteres Tempo angeboten. Das Lied „Aus der Jugendzeit“ von Radecke, das ein Volkslied geworden ist, gewinnt nicht durch seine Bodenlastigkeit. Besonders gut gelingt Müller die anrührende Ballade „Des fremden Kindes heil’ger Christ“ von Loewe, die in jüngster Zeit bei Sängern wieder Aufmerksamkeit findet, nachdem sie über Jahrzehnte nur in einer gekürzten Aufnahme von Karl Erb vorgelegen hatte. Rüdiger Winter

Der „Ring“ ist geschmiedet

 

Gut Ding will Weile haben. Dieser etwas überstrapazierte Ausspruch hat hier auf den ersten Blick seine Berechtigung, denn nach exakt einem Jahrzehnt ist er zu Ende geschmiedet, der Ring von Mark Elder. Ein sichtlich mühevolles Unterfangen, 2009 unüblicherweise mit der Götterdämmerung begonnen, dem zwischenzeitlich gar der Abbruch drohte, denn wie anders ließe sich die fünfjährige Pause erklären, die zwischen Walküre (2011) und Rheingold (2016) klafft? Nachdem er quasi zu Dreivierteln vollendet war, legte man sich zu Manchester dann wohl doch ins Zeug, denn gerade anderthalb Jahre nach dem Rheingold von November 2016 wird nun tatsächlich der im Juni 2018 mitgeschnittene Siegfried nachgeliefert (Hallé CD HLD 7551). Einen kompletten Ring des Nibelungen zu stemmen, daran scheiterte schon manches Major-Label – man denke an den vorzeitig abgebrochenen Dohnányi-Ring aus Cleveland; aber auch das seit Jahren auf Eis liegende Projekt des Mariinski-Theaters unter Gergiev sei in Erinnerung gerufen. Von daher gebührt dem Eigenlabel des altehrwürdigen Hallé Orchestra (des ältesten von ganz England) schon deswegen Respekt.

Elder, mittlerweile einer der großen lebenden Wagner-Dirigenten und längst von Ihrer Majestät in den Adelsstand erhoben, hat es geschafft. Man erzählt dem Wagner-Kenner nichts Neues, wenn man den Siegfried als das Stiefkind der Tetralogie bezeichnet. Das ist ungerecht und doch letztlich erklärbar, genießt der vorabendliche Auftakt eine Art Sonderbonus, gefolgt vom bei weitem beliebtesten und meistgespielten Ersten Tag und bekrönt vom fulminanten Abschluss des Epos am Dritten Tage. Dagegen tut sich der Zweite Tag schwer, gilt er manch einem doch als eine Art bloßes Präludium, sozusagen als Scherzo zur Götterdämmerung, die zeitlich gleichsam nahtlos anschließt. Dabei geht es in keiner anderen Ring-Oper dermaßen Schlag auf Schlag, prescht die Handlung doch zumal im ersten und zweiten Aufzug wie allenfalls im ersten Walküren-Akt nach vorne.

Liefert Elder mit seinen Kräften aus Manchester nun ein nachdrückliches Plädoyer dafür, sich mit dem Siegfried künftig vermehrt zu beschäftigen? Zunächst sei darauf hingewiesen, dass es auch diesmal wie schon bisher im Hallé-Ring wenig Kontinuität hinsichtlich der Besetzung gibt. Weder der Alberich (hier Martin Winkler statt Samuel Youn) noch der Mime (hier Gerhard Siegel statt Nicky Spence) oder die Erda (hier Anna Larsson statt Susanne Resmark) sind mit denselben Sängern aus dem Rheingold besetzt. Das muss nicht immer ein Nachteil sein, schwächelte Youns Alberich doch, so dass Winkler eher ein Gewinn ist. Dafür ist auch diesmal Iain Paterson als Wotan/Wanderer mit von der Partie, genauso Clive Bayley im kleinen Part des Fafner. Sie alle verrichten ihre Arbeit mehr als ordentlich, auch wenn man schwerlich an die bedeutendsten Rollenvertreter denken wird. Paterson scheint der gealterte Göttervater insgesamt besser zu liegen als der im vollen Saft stehende Walküren-Wotan. Am meisten zu tun hat natürlich Gerhard Siegel, der den Mime stellenweise durchaus nicht unsympathisch und insofern als geschickten Manipulierer anlegt; zwergisch klingt er allerdings überhaupt nicht.

Wichtig ist für den Siegfried natürlich die Besetzung der Titelrolle. Die Oper steht oder fällt mir ihr. Simon O’Neill ist beileibe kein Unbekannter, gefeiert als Parsifal und Siegmund. Als Siegfried gerät er stimmlich an seine Grenzen – wie etliche Rollenvorläufer – und zeichnet in seinem Rollendebüt ein ziemlich grobschlächtiges Bild des jungen Helden. Stellenweise klingt es hier fast wie mit vertauschten Rollen, der Mime heldischer als der Siegfried. An dessen Seite gesellt sich im zweiten Akt Malin Christensson als Waldvogel und im dritten schließlich die wieder ins Leben zurückgeholte Brünnhilde, verkörpert von Rachel Nicholls, die bei ihrem überschaubaren Auftritt leider auch schrill und forciert herüberkommt. Andererseits auch kein Wunder, dass ein solch schmächtiger Siegfried nur eine Ex-Walküre light erwecken kann. Nach dem großen abschließenden Schlussduett ertappt man sich beim Gedanken: Länger hätte es wirklich nicht gehen dürfen.

Die orchestrale Seite bewegt sich auf dem gewohnt hohen Niveau, auch wenn man sich dem stürmischen Jubel des „Guardian“ nicht vollumfänglich anschließen kann. Dazu bewegt sich Elders Dirigat dann doch zu sehr im Unbestimmten. Er vermeidet die Extreme, setzt – wie bereits in den Vorgänger-Teilen – insgesamt auf seinen sonoren Klangkörper, der in den mittlerweile bald zwanzig Jahren unter seiner Stabführung einen ganz eigenen, üppigen Klang entwickelt hat, dem allerdings zuweilen die Schroffheit abgeht, die gerade dem Siegfried innewohnt. Es fehlt das letzte Fünkchen Überzeugungskraft. Nach zehn Jahren beschließt dieser Siegfried also den Hallé-Ring. Ausgerechnet der abschließende Siegfried vermag nur in Teilen zu überzeugen. Dies mindert den Gesamtwert des Manchester-Projektes dann leider doch. Den absolut perfekten Ring gibt es indes bis zum heutigen Tage nicht, woran auch Mark Elder trotz all seiner bisherigen Meriten nichts ändern kann. Daniel Hauser

Neu im alten Gewand

 

Nanu! Dieses Cover kenne ich doch. Genau so sah die Schallplatte aus. Ich sehe sie vor mir. Oben im Regal des Musikgeschäfts – als es diese auch noch in DDR-Kleinstädten gab. Händler stellten neue Platten so zur Schau, dass sie sofort ins Auge fielen. Sie waren noch nicht wie Karteikarten in Kästen verstaut, um dem rasanten Wachstum der Branche Rechnung zu tragen. Es wurde zunehmend zum Problem, die Menge an Neuerscheinungen unterzubringen und zu präsentieren. Plattenhüllen stiegen nicht selten zu Kultstatus auf – in der Klassik wie im Pop. Sie sind längst Sammlerobjekte geworden. Das Auge hört mit. Mehr und mehr Firmen besinnen sich auf die Wirkung der ursprünglichen Aufmachung. Gelangt eine Langspielplatte auf CD, wird die Hülle nicht selten dem Original nachempfunden. Vom Format passt es. Aus dreißig mal dreißig Zentimetern werden zwölfmal zwölf. Damit schrumpft aber auch der sinnliche Genuss. Eine CD fasst sich für viele Sammler nicht so schön an wie eine Hochglanz-LP, die einem regelrecht durch die Finger gleitet. Sie behandeln ihre Platten wie einen Holzstich von Dürer. Sanft, zärtlich und liebevoll. Dass nur kein Fingerabdruck haften bleibt, keine Ecke einknickt. Berlin Classics führt das das nostalgische Verfahren mit Wiederauflagen aus DDR-Beständen fort. Jetzt kommen Volkslieder, gesungen Peter Schreier, zu neuen Ehren (0301291BC). Sie wurden 1975 in der Paul-Gerhardt-Kirche in Leipzig eingespielt. Mit dabei sind der Rundfunkchor und Mitglieder des Thomanerchors Leipzig sowie Musiker des Gewandhausorchesters – dirigiert von Horst Neumann. Die Auswahl ist für die damaligen politischen Verhältnisse Zeit auffällig gesamtdeutsch. Der „Jäger aus Kurpfalz“ trifft auf die stolzen Burgen „An der Saale hellem Strande“, es wird „am Neckar gegrast“, und das „Ännchen von Tharau“ führt gar in die Gegend um das alte Königsberg, das im DDR-Altlas ausschließlich den sowjetischen Namen Kaliningrad trug. Unter den üppigen Arrangements wirken die Lieder wie mit Zuckerguss überzogen. Von der ursprünglichen Schlichtheit in Ton und Text ist nichts übrig geblieben. Als würde den Volkslieder misstraut. Anstatt sich von der kitschigen Dekoration stimmlich etwas abzusetzen, lässt sich Schreier voll darauf ein und sattelt hier und da sogar noch drauf. Selten fand ich Musik so altmodisch, so aus der Zeit gefallen wie diese vorgeblichen Volkslieder.

Andre CDs von Berlin Classics aus DDR-Bestand stecken in einer aufklappbaren Ummantelung, schwarz gerahmt, schwarze Schrift auf weißem Grund. Unweigerlich drängt sich der Gedanken an Traueranzeigen auf. Als gäbe es einen Verlust zu beklagen – die gute alte Plattenzeit. Und so wird denn in den Booklets viel geschwärmt. Eine Gala Unter den Linden mit Künstlern der Deutschen Staatsoper (0300925BC) sowie die 5. Sinfonie von Gustav Mahler, aufgefüllt mit vier Liedern aus Des Knaben Wunderhorn (0300922BC) sind neu aufgelegt worden. Alle Titel sind ursprünglich beim Label Eterna erschienen. Der nicht unelegante Schriftzug in Versalien ist auf den jeweiligen Hüllen beibehalten worden, was vor allem Sammler aus dem Osten rühren dürfte. Eterna weckt die guten Erinnerungen, verweist auf die Habenseite der untergegangenen DDR, die sich gern auf das klassische Erbe berief. Auch wenn das Label, wie der gesamte zweite deutsche Staat längst Geschichte sind, die Plattenaufnahmen haben überdauert. Sie sind zweifach historisch – nämlich durch ihr Alter und durch die mit dem Fall der Mauer 1989 veränderten politischen Bedingungen.

Die Berliner Staatsoper war die erste Adresse in der DDR. Nach ihrem aufwändigen Umbau hat sie einen Teil ihres alten Ostcharmes behalten. Eine radikale moderne Lösung, die im Architektenwettbewerb favorisiert worden war, wurde bekanntlich verworfen. Im Booklet geht Autor Klaus Thiel diesen Hintergründen aus dem Weg. Er verlegt sich auf die Fakten aus der wechselvollen Geschichte des Hauses. Seine Schilderungen enden 1987, dem Erscheinungsjahr des Albums. Viel Lob und Anerkennung wird über den einstigen musikalischen Hausherrn Otmar Suitner ausgegossen, der 2010 gestorben ist. Der kam aus Österreich in die DDR, wirkt zunächst in Dresden und übernahm den Posten des Berliner Generalmusikdirektors 1964 – als der Mauerbau gerade mal drei Jahre zurück lag. Suitner – so ist zu lesen – sei „im guten Einvernehmen mit dem neuen Intendanten Prof. Hans Pischner“ in der Lage gewesen, „Produktionen wie die überaus erfolgreiche Frau ohne Schatten und schließlich sogar einen Parsifal und den Palestrina herauszubringen“. Daran ist nicht der geringste Zweifel angebracht, auch wenn die Inszenierungen dieser Werke noch immer als eine Art Wunder erscheinen, während sie im Westen rauf und runter gespielt wurden. Unerwähnt bleibt, dass in der Amtszeit dieser beiden Männer eine neue Produktion von Wagners Ring des Nibelungen nach dem Rheingold kurzerhand abgebrochen – wenn nicht gar verboten wurde und eine auch im Westen Aufsehen erregende Elektra kurz nach der Premiere wieder vom Spielplan verschwand. In beiden Fällen war Ruth Berghaus die Regisseurin. Wer künstlerisch und ästhetisch nicht auf Linie war, dem wurden die Zähne der Macht gezeigt.

Für die Gala nun wird gespielt und gesungen, was das Publikum gern hört, was nicht weh tut, was niemanden aufbringt, nicht aufwühlt oder gar Anlass für Ablehnung und Buhrufe bieten könnte. Die sozialistische DDR gab sich gediegen und klassisch. Mozart, Beethoven, Weber, Nicolai, Wagner und Strauss – und nicht Dessau, Matthus, Meyer oder Schostakowitsch. Am Pult der Staatskapelle standen verschiedene Dirigenten. Suitner zu vorderst, gefolgt von Heinz Fricke, Siegfried Kurz und dem feinsinnigen Arthur Apelt, der sich mehr und mehr aus dem aktuellen Betrieb zurückzog, dem Publikum aber stets sinnliche Abende bescherte. Alle Sängerinnen und Sänger waren seinerzeit erste Kräfte. Nicht alle gehörten nach 1990 zu den Gewinnern der deutschen Einheit. Als die Platten auf den Markt kamen, war für sämtliche Mitwirkende die Welt noch in Ordnung. Celestina Casapietra wurde als Elisabeth im Tannhäuser gefeiert. In der eingespielten Hallenarie klingt sie etwas stumpf in der Höhe und unterschlägt Buchstaben. Wie eine Kopie von Fischer-Dieskau trägt Siegfried Lorenz das Lied an den Abendstern vor. Kein Wunder, dass er nach der Tannhäuser-Premiere im Dezember 1977, die seinen Aufstieg beschleunigte, stets heftig beklatscht wurde.

Hätte ich nicht den kompletten Lohengrin von Eberhard Büchner selbst gehört, ich würde ihn an Hand der Gralserzählung diese Leistung nicht abkaufen. Büchner singt die berühmte Szene leicht, lyrisch und fast versonnen, im Kern aber etwas kraftlos und müde. Peter Schreier liefert mit der Ferrando-Arie „Un aura amorosa“ aus Mozarts Cosi fan tutte selbst den Beweis für seine unerschütterliche Beliebtheit. Wo Schreier auftauchte, ist Theo Adam nicht weit gewesen. Als leicht gestelzter Don Alfonso wirkt er in einem weiterem Ausschnitt aus dieser Oper mit, bei dem auch der vielseitige Günther Leib als Guglielmo, nochmals die Casapietra – diesmal als Fiordiligi – und die wegen ihres warmen, mütterlichen Alts äußerst beliebte Annelies Burmeister zum Einsatz kommen.  In seinem eigentlichen Element ist Adam mit dem Fliedermonolog aus Wagners Meistersingern. Reiner Goldberg hat mit Siegmunds „Winterstürmen“ gegen ein sehr langsames Tempo anzukämpfen, so dass ihm für die Gestaltung nicht viel bleibt. Der Szene fehlt es an Schmiss und Rausch. Ekkehard Wlaschiha machte auf der Bühne stärkeren Eindruck als im Studio, wo er Pizarros Arie aus Fidelio für die Gala zu singen hatte. Die Stütze vieler Produktionen war seinerzeit die lyrische Sopranistin Magdalena Hajossyova aus Bratislava, die mit der ruhig vorgetragenen Kavatine der Agathe, „Und ob die Wolke sie verhülle“, zu hören ist. Für die gut bestückte Soubretten-Fraktion des Hauses tritt Carola Nossek mit der Arie der Anna „Wohl denn! Gefasst ist der Entschluss“ aus dem Lustigen Weibern von Windsor an und macht ihre Sache sehr gut. Das Finale bilden Ausschnitte aus dem Rosenkavalier mit Siegfried Vogel als spielfreudigem Ochs. Zum Schlussterzett finden sich die Casapietra als Marschallin, Margot Stejskal als Sophie und Ute Trekel-Burckhardt als Octavian, anfangs nicht ganz optimal aufeinander abgestimmt, zusammen.

Mit Gustav Mahler tat sich die DDR schwer, obwohl die Anfänge und einige über die Jahre verstreute Aufnahmen sehr verheißungsvoll gewesen sind. Hermann Scherchen hatte noch 1960 mit dem Leipziger Rundfunk-Sinfonieorchester die 3. Sinfonie und das Adagio aus der unvollendeten 10. Sinfonie eingespielt, Leopold Ludwig die 4. Sinfonie mit Anny Schlemm in Dresden. Dort wurde auch das Lied von der Erde unter Heinz Bongartz mit Eva Fleischer und Ernst Gruber für den Rundfunk produziert. Ebenfalls aus Leipzig hat sich von 1976 die von Herbert Kegel betreute 8. Sinfonie als Live-Mitschnitt erhalten. Weitere Dokumente werden im Booklet zu der wiederaufgelegten 5. Sinfonie gestreift. Das Hohelied, das dort auf die Einspielung Suitners von 1984 gesungen wird, macht weniger deren Rang deutlich, als dass es sich zeigt, wie abgeschottet die DDR war. Um diese Zeit war weltweit alles aus Mahler herausgeholt worden, was möglich war. Es konnte zwischen den legendären Aufnahmen von Bruno Walter, Dimitri Mitropoulos, dem schon erwähnten Scherchen, Leonard Bernstein, Jascha Horenstein oder John Barbirolli gewählt werden. Platten, von denen sich nicht eine in die DDR verirrt hatte.

Im Fall des einen Titels der Serie von Berlin Classics – Die Kluge von Carl Orff (0300748BC) – erweist sich die Verpackungsorgie als gnädig. Denn das Originalcover schreit nicht unbedingt nach einer Ausgrabung. Es wirkte schon beim ersten Erscheinen ziemlich abweisend auf mich und hat durch die Verkleinerung nicht gewonnen. Der Künstler, der es schuf, wird nicht genannt. Die Mitwirkenden lassen sich auf dem Nachdruck nur mit der Lupe entziffern. Im Innern des Albums aber sind sie fein säuberlich aufgelistet. Magdalena Falewicz, die kluge Bauerstochter, war ein Star an der Ostberliner Staatsoper. Sie kam aus Polen in die DDR, sang Pamina, Zdenka, Micaela. Ein gut sitzender, hell leuchtender Sopran. Sie hat es allerdings etwas schwer gegen die anderen Mitwirkenden, die alle deutscher Zunge sind und sprachlich eine Deutlichkeit zelebrieren wie sie seinerzeit an den Sprechtheatern Standard war. Mit Arno Wyzniewski stellte sich einer der renommiertesten Schauspieler als Sprecher zur Verfügung. Insgesamt aber behauptet sich die Sängerin gut. Ein Akzent ist nur bei genauem Hinhören auszumachen. Karl-Heinz Stryczek, der König, ist mit seinem kernigen Bariton, der auch als Telramund stets großen Eindruck machte, glänzend besetzt. Selbst Reiner Süß, der auf der Bühne gern zu Albereien neigte, gibt dem Bauer fast schon tragische Züge. Er hatte im zeitgenössischen Repertoire, zu dem die 1943 uraufgeführte Oper – großzügig gerechnet – noch zu zählen ist, immer seine Stunde. So auch hier. Alle anderen Gesangspartien sind mit Eberhard Büchner, Harald Neukirch, Wolfgang Hellmich, Siegfried Lorenz und Horand Friedrich ebenfalls prominent besetzt. Am Pult des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters Leipzig setzt Herbert Kegel so grelle wie lustvolle Akzente, die es für mich zur reinen Freude machen, Orff zuzuhören. Der Klang ist exzellent. Ihre mehr als fünfunddreißig Jahre sind der Aufnahme nicht anzumerken.

Mit einem genauso frischen Sound kann auch ein weiterer Titel von Berlin Classics in historischer Gewandung aufwarten: Der Odem der Liebe – Peter Schreier als Mozart-Tenor (0300754BC). Für elf Arien werden zweiundfünfzig Minuten gebraucht. Die 1967 produzierte LP wurde eins zu eins überspielt, wodurch das ursprüngliche Konzept erhalten bleibt. Gut so. Eine Auffüllung der CD-Kapazität mit anderen Einspielungen wäre auch dem einheitlichen Klangbild abträglich gewesen. Schreier wird von der Berliner Staatskapelle unter Otmar Suitner begleitet, der viele Mozartaufführungen mit und ohne Schreier geleitet hatte. Stand Die Entführung aus dem Serail auf dem Spielplan, waren nicht immer alle vier Arien des Belmonte zu hören wie auf der CD. Nicht selten wurde die so genannte Baumeister-Arie „Ich baue ganz auf deine Stärke“ mit ihren reichlich sechs Minuten weggelassen. Nach Jahren nun wieder gehört, klingen die Arien in meinen Ohren bei aller stilistischen Sicherheit etwas robust. Ein Eindruck, der sich bei den anderen Werken so nicht einstellt: Zauberflöte, Cosi fan tutte, Don Giovanni und La Clemenza di Tito. Schreier war 1978 in der von Ruth Berghaus besorgten ersten Nachkriegsinszenierung in italienischer Sprache der Tito. Noch heute kann ich mich an die starken Bilder und den Schluss mit der Begnadigung der Verschwörer erinnern. In beidem Fällen nimmt es Berlin Classic mit der Originaltreue etwas zu genau. Es werden nämlich auch die ursprünglichen Plattentexte – bei der Klugen nur als Auszug – übernommen, was etwas irritiert, wenn man nicht genau hinschaut. Rüdiger Winter

„Und du wirst mein Gebieter sein“

 

„Ohne die Großmama hätte der Großpapa nicht 50 Prozent der Werke geschrieben, die er geschrieben hat.“ Diese Worte fand der Enkel von Richard Strauss, der auch dessen Vornamen trug, für seine Großmutter Pauline. Sie werden im Booklet einer bei Animato erschienen CD zitiert, die der Ehefrau des Komponisten gewidmet ist (ACD6164). Die Neuerscheinung ist ein vor allem musikalischer Versuch, das weit verbreitete Urteil über die 1863 in Ingolstadt geborene und 1950 in Garmisch-Partenkirchen gestorbene Pauline de Ahna, ein Haustyrann oder eine Xantippe gewesen zu sein, zu relativieren. Einige der auf CD versammelten Lieder sind auch von ihr gesungen worden. Ihre Entstehung ist ohne sie nicht denkbar. Alma Mahler schätzte ihren „starken musikalischen Instinkt“, verbindet in ihrem Zitat das Kompliment mit der Feststellung, dass man „sehr auf der Hut sein“ müsse, „um nicht irgendwie eine große Taktlosigkeit an den Kopf geworfen zu bekommen. Sie sagte alles heraus, was und wie sie es dachte“.

Eines hat Julia Küßwetter, die Solistin der neuen CD, mit Pauline Strauss gemeinsam: Sie sang auch den Hänsel von Humperdinck, den die Frau von Strauss bei der Uraufführung in Weimar gegeben hatte.

Als Pauline 1887 ihren späteren Ehemann kennenlernte, lag eine bedeutende Karriere als Sängerin vor ihr. Sie folgte ihm 1889 nach Weimar, wo sie als Pamina debütierte. Strauss selbst hatte den Posten des zweiten Kapellmeisters übernommen. Musikgeschichte schrieb sie dort als Hänsel bei der von Strauss geleitetet Uraufführung der Oper Hänsel und Gretel von Humperdinck. Weimar galt nicht nur als Zentrum der klassischen Literatur. Franz Liszt hatte der Stadt in Thüringen als Hofkapellmeister auch zu einem bedeutenden musikalischen Ruf verholfen, indem er Lohengrin und Samson und Dalila uraufführen ließ und zeitweise bedeutende Komponistenkollegen um sich scharte. 1852 und 1855 veranstaltete Liszt in Weimar Berlioz-Wochen, wobei er auch dessen Oper Benvenuto Cellini dirigierte. Einer Anregung von Liszts damaliger Lebensgefährtin Carolyne zu Sayn-Wittgenstein – beide lebten gegen jede Konvention ganz offen zusammen – folgend, schuf Berlioz sein bedeutsamstes musikdramatisches Werk, die Trojaner, das er der Fürstin widmete.

Solcherart waren die künstlerischen Spuren, die Pauline und Richard Strauss in Weimar vorfanden, wo 1894 auch dessen erste Oper Guntram über die Bühne ging. Pauline sang die Freihild, eine ans Hochdramatische grenzende Partie, die ahnen lässt, über welche glänzenden stimmlichen Mittel sie verfügt haben dürfte. Im selben Jahr wurde geheiratet. Bereits 1891 war sie einem Ruf nach Bayreuth gefolgt. Cosima Wagner hatte den Tannhäuser erstmals im Festspielhaus angesetzt. Wie in der Geschichte des Bayreuther Festspiele von Oswald Georg Bauer nachzulesen ist, wollte sie „um keinen Preis eine Heroine mit langer Schleppe“. Unter Berufung auf das Drama habe ihr eine „jungfräuliche, kindliche Gestalt“ vorgeschwebt – mit glänzenden Stimmitteln. Diese Voraussetzungen erfüllte Pauline, die gemeinsam mit der jungen Norwegerin Elisa Wiborg engagiert wurde. Bei der Premiere war Pauline allerdings indisponiert und musste durch die Kollegin ersetzt werden. Als sie selbst zum Zuge kam, wurde ihr von der Kritik („Bayreuther Tageblatt“) bescheinigt, eine „herrliche Elisabeth“ zu sein. „… noch einen Schritt weiter, noch mehr von der Seele heraus, und die Künstlerin wird eine vollendete Elisabeth bieten.“

„Mein Heim. Ein sinfonisches Selbst- und Familienporträt: Dieser Arbeitstitel ist von der Symphonia Domestica überliefert, die 1904 uraufgeführt wurde. Alle Familienangehörigen sind mit einem eigenen Thema versehen. Richard Strauss hatte das Werk seiner „lieben Frau und unserem Jungen“ gewidmet. Eine neue Einspielung war von Marek Janowski mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin bei Pentatone vorgelegt worden (PTC 5186 507). Seine Interpretation empfiehlt sich allein schon durch das betörende Klangbild. So schön kann Musik von der CD klingen – wenn es denn eine so genannte Hybrid Multichannel SACD ist. Bei diesem Aufnahmeverfahren wird eine höhere digitale Auflösung des Audiosignals verwendet als bei der herkömmlichen Audio-CD. Für die Klangfarben von Strauss nahezu ideal. 

1906 gab Pauline Strauss ihren Beruf als Sängerin auf, der sie gemeinsam mit Richard auch auf einer Tournee drei Monate lang durch die großen Städte der USA geführt hatte, und widmete sich fortan der Familie, die mit der Geburt des Sohnes Franz 1897 aus drei Personen bestand. In der Villa in Garmisch, die von 1908 an zunächst als Sommerhaus, wenig später dann als fester Wohnsitz genutzt wurde, spürt der Besucher noch heute ihr sicheres Gespür bei der Einrichtung und Auswahl der vielen Kunstwerke. In den neunziger Jahren wollte es ein glücklicher Zufall, dass ich an einem schönen Vormittag mit meiner Familie zu einer Besichtigung eingelassen wurde. Wir hatten wohl einen vertrauenswürdigen Eindruck gemacht, denn die Villa wird nach wie vor von der Familie genutzt. Obwohl mein vordergründiges Interesse dem einstigen Hausherrn galt, der in diesem Haus seine bedeutendsten Werke erdacht und in Noten gesetzt hatte und am 8. September 1949 hier auch sein Leben beschloss, führte kein Schritt an der Frau vorbei, die das Schaffen des Komponisten durch ihre ordnenden und fürsorglichen Hände erst ermöglicht haben dürfte. Alles oder fast alles stand noch an seinem Platz. Nicht, dass es wie in einem Museum nicht verrückt werden durfte, um so auch äußerlich dem Meister zu huldigen. Möbel, Bilder und zeitlose Accessoires hatten deshalb ihre unverrückbare, ja ewige Position, weil sie wo anders gar nicht hingepasst hätten oder zur Geltung gekommen wären. So sicher und zugleich selbstverständlich waren sie platziert. Es hätte keines Porträts von Pauline an einer Wand bedurft. Die auffällig behagliche Behausung war ihr Abbild.

Als sie geboren wurde, waren Frauen in Deutschland faktisch ohne Rechte. Mit der Ehe wurden sie ihren Männern wirtschaftlich und gesellschaftlich ausgeliefert, bedurften für alles, was sie taten, deren Zustimmung und blieben von der politischen Meinungsbildung ausgeschlossen. Das Wahlrecht für Frauen wurde erst 1919 eingeführt. Bis dahin war es ein sehr langer Weg. Wen wundert es also, wenn sich Frauen wenigstens innerhalb der eigenen Familie und ihres engeren Umfeldes durchzusetzen wussten – und das nicht immer zum Vorteil der Hausherren. Auf der Internetseite Fembio, die sich der Frauen-Biographieforschung widmet, ist unter Berufung auf Kritiken zu lesen, dass die Stimme von Pauline „meisterhaft geschult“ gewesen sei, „nicht heroisch“ sondern ausgestattet „mit anmutiger Poesie, Tiefe seelischen Ausdrucks … (sowie) einem sicheren und schönen Darstellungstalent“. Strauss selbst habe noch 1947 gesagt: „Schade, dass sie sich zu früh dem schönen Beruf einer … ausgezeichneten Hausfrau und Mutter zugewandt hat!“ Obwohl es technisch bereits die Möglichkeiten gab, Tonaufnahmen sind nicht überliefert.

Die Sopranistin Lore Wissmann setzte auch nach ihrer Heirat mit dem Tenor Wolfgang Windgassen ihre Karriere fort. Auf dieser CD bei UraCant ist das Paar auch gemeinsam zu hören.

Gesungen werden die Lieder auf der Pauline gewidmeten CD von Julia Küßwetter, die von Georg Schütz begleitet wird. Wie Pauline hat auch sie schon den Hänsel gesungen, nämlich bei den Bad Hersfelder Festspielen. Sie verfügt über einen sehr hoch gelegenen Sopran, der sie in die Lage versetzt, auch mit der extremen Notierung der Brentano-Lieder fertig zu werden. Hingegen fallen solche Lieder wie „Ruhe, meine Seele“ „Cäcilie“, „Heimliche Aufforderung“ und „Morgen“ etwas trocken aus und lassen stimmlichen Überschwang und Üppigkeit in der mittleren Lage vermissen. Den Abschluss des Programms bilden die „Malven“, jenes Lied, das erst lange nach dem Tod des Komponisten an die Öffentlichkeit gelangte. Strauss hatte es 1948 zu Papier gebracht und der Sängerin Maria Jeritza verehrt, die es bis zu ihrem Tod 1982 unter Verschluss hielt. 1985 wurde es in New York durch Kiri Te Kanawa uraufgeführt. Für ein Konzert der Staatskapelle Dresden stellte Wolfgang Rihm eine Orchesterfassung her, die – eingebettet in die „Vier letzten Lieder“ – 2014 bei den Salzburger Osterfestspielen von Anja Harteros, begleitet von der mit der Staatskapelle Dresden unter Christian Thielemann, gesungen wurde. Der Mitschnitt einer Aufführung in Dresden wurde von C Major auf DVD veröffentlicht.

 

Heinrich Schlusnus und seine Frau Annemay haben einige gemeinsame Liedaufnahmen hinterlassen. Deutsche Grammophon veröffentlichte eine kleine Auswahl auf einer Single.

Pauline war nicht die einzige Sängerin, die die eigene berufliche Karriere zugunsten ihres Mannes aufgegeben hat. „Und du wirst mein Gebieter sein!“ Die Worte, mit denen sich Arabella in der Oper von Strauss ihrem auserwählten Mandryka hingibt, liegen in der Luft. Thea Linhard (1909-1981) reduzierte ihre Tätigkeit nach der Hochzeit mit dem Dirigenten Karl Böhm im Jahre 1927 beträchtlich und trat nur noch gelegentlich auf. Überliefert sind einige Aufnahmen, darunter anmutig vorgetragene Lieder des auch komponierenden Dirigenten Leo Blech, die in der von Michael Raucheisen betreuten Liedersammlung erschienen sind (Membran). Gottlob Frick war fünfundsechzig Jahre mit einer Kollegin verheiratet, die für seine Karriere auf eigene Ambitionen verzichtet. Margarete Frick (1900-1995) ist dennoch in wenigen Aufnahmen verewigt, die bei Uracant auf einer CD zum 10. Todestag ihres Mannes veröffentlicht wurden. Zu hören ist eine gut ausgebildete Sängerin, die über ein Timbre mit hohem Wiedererkennungswert verfügt. Die Stimme schwingt ganz leicht, was sie in die Lage versetzt, die Lieder von Schubert, Brahms, Schumann und Wolf mit innerer Erregung auszustatten. In eine berühmte musikalische Familie hatte der Tenor Peter Anders eingeheiratet. Seine Frau Susanne (1909-1979) war die Tochter der gefragten Gesangslehrerin und Altistin Lula Mysz-Gmeiner und hatte sich selbst zur Sängerin ausbilden lassen. In einem Querschnitt durch Mignon von Thomas, der 1936 mit Chor des Deutschen Opernhauses und den Berliner Philharmonikern unter Hans Schmidt-Isserstedt für Telefunken produziert wurde und bisher nicht wieder an die Öffentlichkeit gelangte, sind sie sogar gemeinsam zu hören. Erst nach dem frühen Unfalltod von Anders trat seine Frau noch einmal vor das Mikrophon – nicht singend sondern sprechend -, um für die Electrola-Serie „Die goldene Schallplatte“, anhand von Tonaufnahmen die Karriere ihres Mannes Revue passieren zu lassen. In zweiter Ehe war der Bariton Heinrich Schlusnus von 1933 an mit der 1904 geborenen Sopranistin Annemarie (Annamey) Kuhl verbunden, die ihrerseits auch schon eine Beziehung hinter sich hatte. Sie war zunächst die Frau des an der Berliner Musikhochschule wirkenden Gesangslehrers Louis Bachner, bei dem auch Schlusnus Unterricht nahm. Bachner stammte aus New York und genoss hohes Ansehen. Unter seinen Schülerinnen war auch Frida Leider, die sich in ihren Memoiren „Das war mein Teil“ noch viele Jahre später dankbar an ihn erinnerte. 1938 hat das Ehepaar beim Reichsrundfunk einige Lieder eingespielt, darunter „Vergebliches Ständchen“ von Brahms in einer als Duett angelegten Version. Eine kleine Volksliedauswahl veröffentlichte Deutsche Grammophon auf einer Singleplatte. Ihr Vortrag ist leicht und erinnert eher an eine singende Schauspielerin denn an eine professionelle Opern- oder Liedsängerin.

 

Das Ehepaar Evelyn Lear und Thomas Stewart nahm beim DDR-Label Eterna eine LP mit dem passenden Titel auf: „Reich mit die Hand, mein Leben“.

Es gibt aber auch gegenteilige prominente Beispiele dafür, dass beide Seiten auch in langjährigen Partnerschaften gleichzeitig gemeinsame und jeweils eigene Ziele verfolgen können. Zu nennen sind die 1925 in Siebenbürgen geborene Sopranistin Virginia Zeani und der Bass Nicola Rossi-Lemeni (1920-1991). Wie sie haben auch die Kanadierin Pierette Alarie, Sopran (1921-2011), und Léopold Simoneau, Tenor (1916-2006), einträchtig auf der Bühne und vor den Mikrophon gestanden und etliche mustergültige Einspielungen hinterlassen, darunter Händels Messias unter Hermann Scherchen (Westminster). Im Doppelpack wurden sie bei Festivals in Aix-en-Provence, Edinburgh, Glyndebourne, Wien, München, Baden-Baden und Würzburg gefeiert. Mirella Freni, geboren 1935, ging 1978 ihre zweite Ehe mit dem aus Bulgarien stammenden Nicolai Ghiaurov (1929-2004) ein. In zahlreichen Mitschnitte und Studioproduktionen, darunter Don Carlo (Filppo und Elisabetta) und Gounods Faust (Marguerite und Méphistophélès (beide EMI), sind sie zu hören. „Reich mir die Hand, mein Leben“: Mit dem deutschen Zitat aus Don Giovanni ist eine LP des DDR-Labels Eterna betitelt, auf der Evelyn Lear (1926 – 2012) und Thomas Stewart (1928-2006) Duette singen. Das Zitat ist durchaus wörtlich zu verstehen. Das Paar kam Ende der 1950er Jahre aus den USA nach Deutschland, das nach langen Jahren in West-Berlin Ausgangspunkt einer regen und erfolgreichen Gastspieltätigkeit wurde.

 

Bei einer Produktion von Puccinis Einakter Der Mantel 1973  in München hatten sich Julia Varady und Dietrich Fischer-Dieskau kennengelernt. Der Mitschnitt ist bei Orfeo herausgekommen. Sie blieben bis zum Tod von Fischer-Dieskau verheiratet.

Gebürtiger Amerikaner war auch der Heldentenor Jean Cox (1922-2012), der in zweiter Ehe die britische Altistin Anna Reynolds (1930-2014) geheiratet hatte. Gleichzeitig waren sie für mehrere Sommer in Bayreuth engagiert und standen sich als Parsifal und Kundry auf der Bühne gegenüber. Akustisch belegt ist die gemeinsame Festspielzeit durch den Mitschnitt der Meistersinger von Nürnberg unter Silvio Varviso von 1974 (Philips). Bereits bei den ersten Nachkriegsfestspielen waren Lore Wissmann (1922-2007) und Wolfgang Windgassen (1914-1974) dabei. Während er den Parsifal sang, ist sie eines der ersten Blumenmädchen gewesen. Beim letzten gemeinsamen Sommer auf dem Grünen Hügel 1956 erschienen sie auch auf der Bühne als Paar – als Eva und Stolzing in den Meistersingern. In einer seiner schönsten Operetteneinspielungen, dem Zigeunerprimas von Emmerich Kálmán, ist der Bariton Josef Metternich (1915-2005) an der Seite seiner Frau, der Sopranistin Liselotte Losch (1917-2011), zu hören (Membran). Mit seiner vierten Ehefrau Julia Varady, mit der er von 1977 an bis zu seinem Tod 2012 verheiratet war, ist Dietrich Fischer-Dieskau ebenfalls oft aufgetreten und hat sie als Dirigent bei Aufnahmen begleitet. Bis heute enttäuscht sind die Fans, als für ein in Berlin angesetztes Konzert mit dem Schlussgesang der Brünnhilde aus der Götterdämmerung erst Fischer-Dieskau als musikalischer Leiter und kurz darauf seine Frau als Solistin zugunsten von Carla Pohl zurücktrat.

 

Christa Ludwig und Walter Berry waren bis 1970 verheiratet. Ihre ungewöhnliche Einspielung des Liederkreises op. 39 von Schumann bei Deutsche Grammophon mit verteilten Rollen ist nur noch antiquarisch zu finden. Bei der Übernahme auf CD im Rahmen einer Christa-Ludwig-Edition wurden nur ihre Lieder berücksichtigt.

In der DDR waren Irmgard Arnold (1919-2014), die „erste Sängerin“ des Intendanten der Komischen Oper, Walter Felsenstein und der vornehmlich an der Staatsoper wirkende Bass Gerhard Frei (1911-1989), der auch in Defa-Filmen („Der Teufel vom Mühlenberg“ und „Das tapfere Schneiderlein“) mitspielte, ein gestandenes Paar. Am Opernhaus Leipzig waren über viele Jahre die Sopranistin Christa Maria Ziese (1924-2012) und der Heldenbariton Rainer Lüdeke (1927-2005) engagiert. Während Lüdeke in der Verfilmung des Fliegenden Holländer durch Joachim Herz dem Darsteller der Titelfigur Fred Düren seine Stimme gab, ist die Ziese als Komponist in der Ariadne auf Naxos unter Herbert Kegel (Walhall) und als Elsa im Lohengrin-Brautgemach gemeinsam mit Ernst Gruber in einer diesem Heldentenor gewidmeten Edition (Ponto) dokumentiert. Christa Ludwig, Jahrgang 1928, und Walter Berry (1929-2000) wirkten oft in derselben Vorstellung und standen gleichzeitig im Aufnahmestudio vor dem Mikrophon. Ihre Einspielung von Bartóks Blaubarts Burg (Decca) – um nur ein Beispiel zu nennen, gilt bis heute als Referenz. Als ein bizarres Dokument ihrer 1970 vollzogenen Trennung mutet eine Aufnahme des Liederkreises op. 39 von Robert Schumann nach Texten von Eichendorff mit verteilten Rollen an, die bislang lediglich als LP vorliegt. Ob nun gewollt oder nicht: Auf CD sind im Rahmen einer Christa-Ludwig-Edition zu deren 90. Geburtstag lediglich ihre Lieder erschienen, die ihres Ex-Mannes wurden übergangen (Foto oben: Pauline Straus/ de Ahna, Foto BR Klassik Crescendo). Rüdiger Winter

Anglophiles

 

Wenn neunzig Jahre nach dem Tod eines Komponisten bereits die zweite CD mit seinen Liedern als „Welt-Ersteinspielung“ auf den Markt gelangt, dürfte Interesse geweckt sein. Die Rede ist von Anton Beer-Walbrunn, der am 29. Juni 1864 in Kohlberg in der Oberpfalz geboren wurde und am 22. März 1929 in München starb. Obwohl sein Vater die musikalische Begabung des Sohnes erkannte und förderte, nötigte er ihn aber, den Lehrerberuf zu ergreifen. Erst nach dessen Tod konnte Beer, der sich später den Doppelnamen aus dem familiären Umfeld zulegte, musikalische Studien aufnehmen. Sie führten ihn zu Joseph Rheinberger nach München, wo er selbst von 1901 an Klavier, Musiktheorie und Komposition an der Akademie der Tonkunst lehrte. „1908 wurde Beer-Walbrunn durch Prinzregent Luitpold von Bayern mit dem Titel eines königlichen Professors ausgezeichnet“, berichtet Martin Valeske im Booklet der CD, die bei Bayer Records (BR 100 395) erschien. Zwischen den Liedern werden die „6 Reisebilder für Klavier solo“ op. 21 platziert. Darauf bezieht sich auch der Titel der CD, nämlich Reisebilder.

Inwieweit der Komponist dabei aus eigenem Erleben schöpft, ob er viel und häufig unterwegs war, dazu gibt es im Booklet keinen Hinweis. Vielmehr ziehen die Lieder inhaltlich eher kleine Kreise, handeln – um nur drei Beispiele zu nennen – vom „Einsiedler“, den „Abgeschiedenen“ oder „Des Knaben Berglied“ (alle nach Uhland). Obwohl Klavierstücke und Lieder musikalisch ihre Wirkung nicht verfehlen und vortrefflich ausgearbeitet sind, können und wollen sie ihr akademische Herkunft nicht ganz verleugnen. Als spräche der Lehrer zu seinen Schülern: Schaut her, so wird komponiert! Die Solistin Angelika Huber wird von Lauriane Follonier, die auch die „Reisebilder“ spielt, begleitet. Es ist nicht zu überhören, dass sich beide Frauen intensiv mit Beer-Walbrunn beschäftigt haben. Sie agierten sehr sicher. Sängerisch hätte ich mir aber etwas mehr Lockerheit gewünscht. Besonders in den hohen Lagen klingt es sehr angestrengt. Letztlich werden die Hörer Zeugen der Entschlossenheit, den Komponisten dem Vergessen zu entreißen. Völlig unangebracht hingegen ist ein langes Zitat im Booklet aus dem „Völkischen Bobachter“ vom 22. April 1944, womit verdeutlicht werden soll, dass Beer-Walbrunn auch lange Jahre nach seinem Tod wertgeschätzt worden sein muss. Unter Bezugnahme auf ein Konzert heißt es darin: „Im Grunde Lyriker, schreibt er einen harmonisch farbigen, melodisch reichen Satz und erweist sich in seinen Werken, die alle als der natürliche Ausdruck seines gesunden, ursprünglichen Musikertums unmittelbar ansprechen, als Meister der Form.“ Der „Völkische Beobachter“ war das Parteiorgan und Kampfblatt der NSDAP.

 

Wer, bitte schön, war Johann Georg Gerhard Schmitt? Nie gehört? Also dann die Frage nach Georges Schmitt. Beide sind ein und dieselbe Person, am 11. März 1821 in Trier geboren und am 7. Dezember 1900 in Paris gestorben. Schmitt war ein deutsch-französischer Komponist, der quasi auf der Grenze zwischen beiden Nachbarländern lebte und wirkte und diesen Umständen auch seinen Vornamen anpasste. Aus seiner Heimatstadt, wo er als Domorganist in künstlerische Auseinandersetzungen mit der Kirchenleitung verstrickt gewesen ist, floh er nach Paris. Unterbrochen von einem mehrmonatigen Aufenthalt in der amerikanischen Stadt New Orleans, wo er als Organist tätig war. Er wollte die Kirchenmusik von weltlichen Einflüssen befreien und wieder ihrem eigentlichen Zweck zuführen. Sein wichtigstes Streben, in der französischen Metropole als erfolgreicher Opernkomponist zu reüssieren, blieb unerfüllt. Sein Opéra comique La belle Madelaine und mehrere Operetten gerieten trotz des zeitweiligen prominenten Beistandes seines Kollegen Offenbach in Vergessenheit. Einzig durch das Mosellied „Im weiten deutschen Lande“ und die „Sehnsucht nach dem Rhein“ ist Schmitt in jenen Kreisen, die dieses gefällige Genre pflegen, noch ein Begriff.

Der deutsch-französische Komponist Georges Schmitt/ Foto Wikipedia

Jetzt hat das Trio Cénacle einen Anlauf genommen, den Komponisten wieder ins Gespräch zu bringen. Das 2015 gegründete Trio besteht aus der deutschen Sopranistin Evelyn Czesla, dem niederländischen Bassbariton Nico Wouterse und der luxemburgischen Pianistin Michèle Kerschenmeyer. Ihre CD mit Mélodies, Romances und Chansons von Schmitt ist bei Profil Edition Günter Hänssler erschienen (PH18042). Der Name des kleinen Ensembles bezieht sich nach Informationen aus dem Booklet, auf „Le Cénacle de Victor Hugo“ – eine „wechselnde Gruppe von Schriftstellern, die sich Ende der 1820er Jahre im Hause Victor Hugos regelmäßig trafen“. Ohne die Vorarbeit des Musikwissenschaftlers Wolfgang Grandjean, der auch selbst komponiert, wäre das Projekt undenkbar. Er gilt als Schmitt-Experte, hat die Lieder-Sammlung herausgegeben, eine Biographie geschrieben und die nur als Manuskript überlieferte Chorsymphonie „Le Sinai“ editiert, die 2014 in der Geburtsstadt Schmitts wiederaufgeführt wurde. Auf Texte von Hugo gehen denn auch zwei Kompositionen zurück. Mit Goethe und seinem Lied von der Ratte – hier als „La Chanson du rat“ aus Faust – ist nur ein deutscher Dichter vertreten. Der Analyse von Grandjean, dass Schmitt diese Verse mit einer „nahezu opernhaften Musik“ ausstattet, die der Bariton vorträgt, ist treffend. So eingängig sind die anderen Stücke nicht. Wie sich Solisten und der Pianistin, die mit der „Arabesque sur la Violette“ sogar ein Solo hat, auch bemühen, die Lieder haben nicht die Raffinesse und die Eleganz, mit der gebürtige französische Komponisten Sprache und Musik eins werden lassen.

 

Von Frankreich ist es nur ein Sprung über den Ärmelkanal nach England, wo Hubert Parry (1848-1918) wirkte. Seine Werke – darunter die fünf Sinfonien – liegen in diversen Einspielungen vor. Seine ungebrochene Popularität im englischen Sprachraum beruht jedoch auf der Hymne „Jerusalem“ nach einem Gedicht von William Blake, das auf der Legende beruht, Jesus habe einst auch englischen Boden betreten. Sie hat sich als inoffizielle Nationalhymne der Briten etabliert und wird gern zum Ausklang der Proms-Konzerte in der Royal Albert Hall angestimmt. Somm Recordings widmet sich dem Liedschaffen und ist mit seiner entsprechenden Edition bereits bei Volume III angelangt (SOMMCD272). Die Sopranistin Sarah Fox und der Bariton Roderick Williams werden am Flügel von Andrew West begleitet. Mit perfekter Diktion nähern sich die beiden Muttersprachler den lyrischen Gesängen, in denen das Lied einer Amsel genauso melancholisch besungen wird wie die Stimmung in der Dämmerung. Man fühlt sich gar an Richard Strauss erinnert, der diesen mitunter sehr alltäglichen Erfahrungen auch diesen lyrischen Ausdruck verleihen konnte.

 

In der Céleste Series hat Somm Recordings Lieder von Eric Coates folgen lassen (SOMMCD 0192). Der 1886 geborene und 1957 gestorbene Komponist wird der so genannten leichten Musik zugerechnet. Er fühlte sich keinem Genre besonders verbunden, hinterließ diverse Orchesterstücke, darunter Walzer und Märsche. Sein eingängiger Stil kennzeichnet auch die 160 Lieder, die Coates hinterlassen hat. Mitunter klingen – wie bei Parry – Ähnlichkeiten mit seinem Zeitgenossen Richard Strauss an. Als Interpretin wurde die aus Liverpool stammende junge Mezzosopranistin Kathryn Rudge gewonnen. Christopher Glynn begleitet sie am Flügel. Sie hat eine facettenreiche üppige Stimme. Eine gewisse Schärfe in der Höhe setzt sie geschickt als gestalterische Mittel ein. Das passt genau. Es macht viel Spaß, ihr zuzuhören.

 

Ein weiterer Beleg für die Vielseitigkeit, die auf dem aktuellen Musikmarkt vorherrscht, sind Kammermusik und Lieder Ernst Kreneks (1900-1991) bei Toccata Classics (Tocc 0295). Dafür haben sich mit Laura Aikin (Sopran), Bernarda Fink (Mezzosopran) und Florian Boesch (Bariton) gleich drei namhafte Solisten zur Verfügung gestellt. Sie werde vom Ernst Krenek Ensemble begleitet. Dieser österreichische Komponist, der 1938 in die USA emigrierte und dort bis zu seinem Tod blieb, ist nichts für Nebenbei. Er zwingt sein Publikum, genau zuzuhören. Zumal in den zur Rede stehenden Stücken, die in ihrer Mischung etwas willkürlich zusammengestellt wirken. Auf die an Bach erinnernde Doppelfuge für zwei Klaviere folgen drei zu einem kleinen Zyklus gefügte Lieder nach Gedichten des belgischen Dichters Èmili Verhaeren, der in französischer Sprache schrieb und dem Symbolismus zugerechnet wird. Laura Aikin singt sie mit innerer Erregung. Den Übergang zum nächsten, dem einzigen deutschsprachigen Titel „Während der Trennung“, bildet die Trio Phantasie für Violine, Cello und Piano. Hier ist die Abfolge sehr gut geglückt. Die Phantasie wirkt wie eine Einstimmung auf das als Duett angelegte expressive Vokalstück, in den ein Paar in seiner Trennung die Liebe erkennt. „Mein Herze, das sich itzt so quält, hat Dich und keine sonst gewählt.“ Herze? Itzt? Das Gedicht stammt von Paul Fleming, dem 1609 im sächsischen Städtchen Hartenstein geborenen und 1640 in Hamburg gestorbenen Arzt und Schriftsteller, der als einer der bedeutendsten Lyriker des deutschen Barock gilt. In der Vertonung durch Krenek und in der Interpretation von Bernarda Fink und Florian Boesch offenbart sich der moderne und zeitlose Ansatz seiner Dichtung. Rüdiger Winter 

Liebe und Leid in zwei Sprachen

 

Wer gern und genau Schubert hört, kennt das Wort flispern. Im Lied „Der Jüngling an der Quelle“  wallen und flispern die Pappeln am Quell. Der Text stammt von Johann Gaudenz von Salis-Seewis, nicht Gaumens, wie es irrtümlich im Booklet der CD Drang in die Ferne mit dem Tenor Benedikt Kristjánsson heißt, die bei Genuin erschienen ist (GEN 19645). Dichter war Gaudenz nur im zweiten Beruf. Bis zur französischen Revolution diente er als Offizier der Schweizer Garde in Paris, bereiste danach die Niederlande und Deutschland, wo er in Weimar auch auf Goethe und Schiller traf. 1793 kehrte er in seine Heimat, die Schweiz, zurück, hatte dort bis 1817 in verschiedenen Funktionen und Ämtern Anteil an den teils dramatischen gesellschaftlichen Veränderungen und lebte bis zu seinem Tod 1834 zurückgezogen. Noch heute ist er in der Schweiz als Dichtergeneral bekannt. Schubert hat sich für etliche Lieder bei ihm bedient und auf diese Weise dafür gesorgt, dass das schöne Wort flispern nicht gänzlich dem Vergessen anheimfällt. Suchmaschinen im Netz führen zu flippern – was sonst? Und auch dann noch, wenn das Wort endlich in der Liste erscheint, wird die Frage wiederholt ob nicht doch flippern gemeint sei. In der Standardausgabe des Dudens ist flispern nicht zu finden. Es müssen schon einschlägige wissenschaftliche Nachschlagewerke, die sich inzwischen auch im Internet etabliert haben, herangezogen werden. Das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS) führt flispern als eine im 19. Jahrhundert verortete Anlautsvariante zu „älteren lautmalenden Bildungen“ wie wispeln oder wispern. Aus seiner Zeit heraus hat der Dichter das Wort mit Bedacht gewählt, denn es bezeichnet sehr genau Empfinden und Wahrnehmung des Jünglings, der am Quell Linderung sucht, um die Spröde zu vergessen und nun durch das Schlummergeräusch der „flispernden Pappeln“ die ihn quälende Liebe aufgeweckt findet.

Kunstlieder bewahren Schönheiten und historische Eigenwilligkeiten von Sprache, regen dazu an, sich eigenen etymologischen Studien hinzugeben. Dabei kann der Vortragende zum Mittler werden. Kristjánsson ist so einer. Bei ihm darf man sicher sein, dass er weiß, was er singt. Er hat bei Meisterkursen den Rat bedeutender Liedersängern wie Peter Schreier, Christa Ludwig, Elly Ameling oder Robert Holl eingeholt und ist im Umgang mit der Sprache Luthers in den großen Bach-Passionen geübt. Eine seiner Stärken ist die Deutlichkeit nach Buchstaben und Inhalt. Beim Singen spürt er dem Sinn der Wörter nach – und vermittelt ihn auch. Flispern ist da ein treffliches Beispiel. Die erste CD des aus Island stammenden Tenors folgt einem Programm. Sein Titel ist schon gefallen: Drang in die Ferne. Lieder von Franz Schubert werden in der Abfolge mit Volksliedern aus der isländischen Heimat des jungen Sängers verknüpft – mit dem erstaunlichen Ergebnis, dass Gemeinsamkeiten deutlich werden. Schubert klingt nach Volkslied, Volkslied nach Schubert. Dazu Kristjánsson im Booklet: „Dafür habe ich Lieder gesucht, die sowohl inhaltlich als auch melodisch zusammenpassen, und ich habe die Tonart des Volkslieds dem jeweils darauffolgenden Schubert-Lied angepasst.“ Das Programm sei „wie ein Liederzyklus angelegt: zwei Sprachen, zwei unterschiedliche Gesangsstile, aber immer dieselben Geschichten von Sehnsucht, Liebe, Leid und Naturreichtum“. Am Anfang steht denn auch ein isländisches Lied über die schönen und die lebensbedrohlichen Seiten der Fjorde. Es wird bis auf einen Titel ohne Begleitung gesungen. Bei Schubert sitzt Alexander Schmalcz am Klavier, im Lied „Auf dem Strom“ und in einem weiteren Volkslied kommt der Hornist Tillmann Höfs hinzu und mit ihm ein Instrument, das wie kein zweites für das Thema der CD steht.

Eine der Stärken von Kristjánsson ist es, aus dem Stand den Ton zu treffen. Er muss nicht erst hinein finden in ein Stück, er ist immer gleich mittendrin. Es scheint als würde er mit seinem vibratoarmen Tenor Linien wie mit einem feinen Stift auf weißen Untergrund zeichnen. Das ist nicht jedermanns Sache. Wer aber solche Stimme schätzt, wird als Zuhörer reich belohnt. Seine Atemtechnik ist perfekt und gestattet ihm große Spielräume beim Legato. Es macht großen Eindruck, wie er musikalisch miteinander verbindet, was auch inhaltlich zusammengehört. Legato wird so immer auch zum Ausdrucksmittel. Die Stimme klingt jungenhaft. Manchmal zart und verträumt wie in „Dass sie hier gewesen“ dann wieder entschlossen und nahezu draufgängerisch wie im „Schiffer“. Es hat viel für sich, wenn Lieder aus der Perspektive eines Betroffenen vorgetragen werden. Der Drang in die Ferne nimmt mit dem Alter ab. Gespannt auf das Ganze machen zwei Lieder aus der Schönen Müllerin: „Der Neugierige“ und „Die böse Farbe“, während „Die Erstarrung“ aus der Winterreise wie eine Warnung erscheint, sich ja nicht zu früh auf die Herkulesaufgabe einzulassen, die sich mit diesem Zyklus stellt. Dafür sollte sich Benedikt Kristjánsson noch Zeit lassen. Rüdiger Winter