Archiv des Autors: Rüdiger Winter

Der „Ring“ ist geschmiedet

 

Gut Ding will Weile haben. Dieser etwas überstrapazierte Ausspruch hat hier auf den ersten Blick seine Berechtigung, denn nach exakt einem Jahrzehnt ist er zu Ende geschmiedet, der Ring von Mark Elder. Ein sichtlich mühevolles Unterfangen, 2009 unüblicherweise mit der Götterdämmerung begonnen, dem zwischenzeitlich gar der Abbruch drohte, denn wie anders ließe sich die fünfjährige Pause erklären, die zwischen Walküre (2011) und Rheingold (2016) klafft? Nachdem er quasi zu Dreivierteln vollendet war, legte man sich zu Manchester dann wohl doch ins Zeug, denn gerade anderthalb Jahre nach dem Rheingold von November 2016 wird nun tatsächlich der im Juni 2018 mitgeschnittene Siegfried nachgeliefert (Hallé CD HLD 7551). Einen kompletten Ring des Nibelungen zu stemmen, daran scheiterte schon manches Major-Label – man denke an den vorzeitig abgebrochenen Dohnányi-Ring aus Cleveland; aber auch das seit Jahren auf Eis liegende Projekt des Mariinski-Theaters unter Gergiev sei in Erinnerung gerufen. Von daher gebührt dem Eigenlabel des altehrwürdigen Hallé Orchestra (des ältesten von ganz England) schon deswegen Respekt.

Elder, mittlerweile einer der großen lebenden Wagner-Dirigenten und längst von Ihrer Majestät in den Adelsstand erhoben, hat es geschafft. Man erzählt dem Wagner-Kenner nichts Neues, wenn man den Siegfried als das Stiefkind der Tetralogie bezeichnet. Das ist ungerecht und doch letztlich erklärbar, genießt der vorabendliche Auftakt eine Art Sonderbonus, gefolgt vom bei weitem beliebtesten und meistgespielten Ersten Tag und bekrönt vom fulminanten Abschluss des Epos am Dritten Tage. Dagegen tut sich der Zweite Tag schwer, gilt er manch einem doch als eine Art bloßes Präludium, sozusagen als Scherzo zur Götterdämmerung, die zeitlich gleichsam nahtlos anschließt. Dabei geht es in keiner anderen Ring-Oper dermaßen Schlag auf Schlag, prescht die Handlung doch zumal im ersten und zweiten Aufzug wie allenfalls im ersten Walküren-Akt nach vorne.

Liefert Elder mit seinen Kräften aus Manchester nun ein nachdrückliches Plädoyer dafür, sich mit dem Siegfried künftig vermehrt zu beschäftigen? Zunächst sei darauf hingewiesen, dass es auch diesmal wie schon bisher im Hallé-Ring wenig Kontinuität hinsichtlich der Besetzung gibt. Weder der Alberich (hier Martin Winkler statt Samuel Youn) noch der Mime (hier Gerhard Siegel statt Nicky Spence) oder die Erda (hier Anna Larsson statt Susanne Resmark) sind mit denselben Sängern aus dem Rheingold besetzt. Das muss nicht immer ein Nachteil sein, schwächelte Youns Alberich doch, so dass Winkler eher ein Gewinn ist. Dafür ist auch diesmal Iain Paterson als Wotan/Wanderer mit von der Partie, genauso Clive Bayley im kleinen Part des Fafner. Sie alle verrichten ihre Arbeit mehr als ordentlich, auch wenn man schwerlich an die bedeutendsten Rollenvertreter denken wird. Paterson scheint der gealterte Göttervater insgesamt besser zu liegen als der im vollen Saft stehende Walküren-Wotan. Am meisten zu tun hat natürlich Gerhard Siegel, der den Mime stellenweise durchaus nicht unsympathisch und insofern als geschickten Manipulierer anlegt; zwergisch klingt er allerdings überhaupt nicht.

Wichtig ist für den Siegfried natürlich die Besetzung der Titelrolle. Die Oper steht oder fällt mir ihr. Simon O’Neill ist beileibe kein Unbekannter, gefeiert als Parsifal und Siegmund. Als Siegfried gerät er stimmlich an seine Grenzen – wie etliche Rollenvorläufer – und zeichnet in seinem Rollendebüt ein ziemlich grobschlächtiges Bild des jungen Helden. Stellenweise klingt es hier fast wie mit vertauschten Rollen, der Mime heldischer als der Siegfried. An dessen Seite gesellt sich im zweiten Akt Malin Christensson als Waldvogel und im dritten schließlich die wieder ins Leben zurückgeholte Brünnhilde, verkörpert von Rachel Nicholls, die bei ihrem überschaubaren Auftritt leider auch schrill und forciert herüberkommt. Andererseits auch kein Wunder, dass ein solch schmächtiger Siegfried nur eine Ex-Walküre light erwecken kann. Nach dem großen abschließenden Schlussduett ertappt man sich beim Gedanken: Länger hätte es wirklich nicht gehen dürfen.

Die orchestrale Seite bewegt sich auf dem gewohnt hohen Niveau, auch wenn man sich dem stürmischen Jubel des „Guardian“ nicht vollumfänglich anschließen kann. Dazu bewegt sich Elders Dirigat dann doch zu sehr im Unbestimmten. Er vermeidet die Extreme, setzt – wie bereits in den Vorgänger-Teilen – insgesamt auf seinen sonoren Klangkörper, der in den mittlerweile bald zwanzig Jahren unter seiner Stabführung einen ganz eigenen, üppigen Klang entwickelt hat, dem allerdings zuweilen die Schroffheit abgeht, die gerade dem Siegfried innewohnt. Es fehlt das letzte Fünkchen Überzeugungskraft. Nach zehn Jahren beschließt dieser Siegfried also den Hallé-Ring. Ausgerechnet der abschließende Siegfried vermag nur in Teilen zu überzeugen. Dies mindert den Gesamtwert des Manchester-Projektes dann leider doch. Den absolut perfekten Ring gibt es indes bis zum heutigen Tage nicht, woran auch Mark Elder trotz all seiner bisherigen Meriten nichts ändern kann. Daniel Hauser

Neu im alten Gewand

 

Nanu! Dieses Cover kenne ich doch. Genau so sah die Schallplatte aus. Ich sehe sie vor mir. Oben im Regal des Musikgeschäfts – als es diese auch noch in DDR-Kleinstädten gab. Händler stellten neue Platten so zur Schau, dass sie sofort ins Auge fielen. Sie waren noch nicht wie Karteikarten in Kästen verstaut, um dem rasanten Wachstum der Branche Rechnung zu tragen. Es wurde zunehmend zum Problem, die Menge an Neuerscheinungen unterzubringen und zu präsentieren. Plattenhüllen stiegen nicht selten zu Kultstatus auf – in der Klassik wie im Pop. Sie sind längst Sammlerobjekte geworden. Das Auge hört mit. Mehr und mehr Firmen besinnen sich auf die Wirkung der ursprünglichen Aufmachung. Gelangt eine Langspielplatte auf CD, wird die Hülle nicht selten dem Original nachempfunden. Vom Format passt es. Aus dreißig mal dreißig Zentimetern werden zwölfmal zwölf. Damit schrumpft aber auch der sinnliche Genuss. Eine CD fasst sich für viele Sammler nicht so schön an wie eine Hochglanz-LP, die einem regelrecht durch die Finger gleitet. Sie behandeln ihre Platten wie einen Holzstich von Dürer. Sanft, zärtlich und liebevoll. Dass nur kein Fingerabdruck haften bleibt, keine Ecke einknickt. Berlin Classics führt das das nostalgische Verfahren mit Wiederauflagen aus DDR-Beständen fort. Jetzt kommen Volkslieder, gesungen Peter Schreier, zu neuen Ehren (0301291BC). Sie wurden 1975 in der Paul-Gerhardt-Kirche in Leipzig eingespielt. Mit dabei sind der Rundfunkchor und Mitglieder des Thomanerchors Leipzig sowie Musiker des Gewandhausorchesters – dirigiert von Horst Neumann. Die Auswahl ist für die damaligen politischen Verhältnisse Zeit auffällig gesamtdeutsch. Der „Jäger aus Kurpfalz“ trifft auf die stolzen Burgen „An der Saale hellem Strande“, es wird „am Neckar gegrast“, und das „Ännchen von Tharau“ führt gar in die Gegend um das alte Königsberg, das im DDR-Altlas ausschließlich den sowjetischen Namen Kaliningrad trug. Unter den üppigen Arrangements wirken die Lieder wie mit Zuckerguss überzogen. Von der ursprünglichen Schlichtheit in Ton und Text ist nichts übrig geblieben. Als würde den Volkslieder misstraut. Anstatt sich von der kitschigen Dekoration stimmlich etwas abzusetzen, lässt sich Schreier voll darauf ein und sattelt hier und da sogar noch drauf. Selten fand ich Musik so altmodisch, so aus der Zeit gefallen wie diese vorgeblichen Volkslieder.

Andre CDs von Berlin Classics aus DDR-Bestand stecken in einer aufklappbaren Ummantelung, schwarz gerahmt, schwarze Schrift auf weißem Grund. Unweigerlich drängt sich der Gedanken an Traueranzeigen auf. Als gäbe es einen Verlust zu beklagen – die gute alte Plattenzeit. Und so wird denn in den Booklets viel geschwärmt. Eine Gala Unter den Linden mit Künstlern der Deutschen Staatsoper (0300925BC) sowie die 5. Sinfonie von Gustav Mahler, aufgefüllt mit vier Liedern aus Des Knaben Wunderhorn (0300922BC) sind neu aufgelegt worden. Alle Titel sind ursprünglich beim Label Eterna erschienen. Der nicht unelegante Schriftzug in Versalien ist auf den jeweiligen Hüllen beibehalten worden, was vor allem Sammler aus dem Osten rühren dürfte. Eterna weckt die guten Erinnerungen, verweist auf die Habenseite der untergegangenen DDR, die sich gern auf das klassische Erbe berief. Auch wenn das Label, wie der gesamte zweite deutsche Staat längst Geschichte sind, die Plattenaufnahmen haben überdauert. Sie sind zweifach historisch – nämlich durch ihr Alter und durch die mit dem Fall der Mauer 1989 veränderten politischen Bedingungen.

Die Berliner Staatsoper war die erste Adresse in der DDR. Nach ihrem aufwändigen Umbau hat sie einen Teil ihres alten Ostcharmes behalten. Eine radikale moderne Lösung, die im Architektenwettbewerb favorisiert worden war, wurde bekanntlich verworfen. Im Booklet geht Autor Klaus Thiel diesen Hintergründen aus dem Weg. Er verlegt sich auf die Fakten aus der wechselvollen Geschichte des Hauses. Seine Schilderungen enden 1987, dem Erscheinungsjahr des Albums. Viel Lob und Anerkennung wird über den einstigen musikalischen Hausherrn Otmar Suitner ausgegossen, der 2010 gestorben ist. Der kam aus Österreich in die DDR, wirkt zunächst in Dresden und übernahm den Posten des Berliner Generalmusikdirektors 1964 – als der Mauerbau gerade mal drei Jahre zurück lag. Suitner – so ist zu lesen – sei „im guten Einvernehmen mit dem neuen Intendanten Prof. Hans Pischner“ in der Lage gewesen, „Produktionen wie die überaus erfolgreiche Frau ohne Schatten und schließlich sogar einen Parsifal und den Palestrina herauszubringen“. Daran ist nicht der geringste Zweifel angebracht, auch wenn die Inszenierungen dieser Werke noch immer als eine Art Wunder erscheinen, während sie im Westen rauf und runter gespielt wurden. Unerwähnt bleibt, dass in der Amtszeit dieser beiden Männer eine neue Produktion von Wagners Ring des Nibelungen nach dem Rheingold kurzerhand abgebrochen – wenn nicht gar verboten wurde und eine auch im Westen Aufsehen erregende Elektra kurz nach der Premiere wieder vom Spielplan verschwand. In beiden Fällen war Ruth Berghaus die Regisseurin. Wer künstlerisch und ästhetisch nicht auf Linie war, dem wurden die Zähne der Macht gezeigt.

Für die Gala nun wird gespielt und gesungen, was das Publikum gern hört, was nicht weh tut, was niemanden aufbringt, nicht aufwühlt oder gar Anlass für Ablehnung und Buhrufe bieten könnte. Die sozialistische DDR gab sich gediegen und klassisch. Mozart, Beethoven, Weber, Nicolai, Wagner und Strauss – und nicht Dessau, Matthus, Meyer oder Schostakowitsch. Am Pult der Staatskapelle standen verschiedene Dirigenten. Suitner zu vorderst, gefolgt von Heinz Fricke, Siegfried Kurz und dem feinsinnigen Arthur Apelt, der sich mehr und mehr aus dem aktuellen Betrieb zurückzog, dem Publikum aber stets sinnliche Abende bescherte. Alle Sängerinnen und Sänger waren seinerzeit erste Kräfte. Nicht alle gehörten nach 1990 zu den Gewinnern der deutschen Einheit. Als die Platten auf den Markt kamen, war für sämtliche Mitwirkende die Welt noch in Ordnung. Celestina Casapietra wurde als Elisabeth im Tannhäuser gefeiert. In der eingespielten Hallenarie klingt sie etwas stumpf in der Höhe und unterschlägt Buchstaben. Wie eine Kopie von Fischer-Dieskau trägt Siegfried Lorenz das Lied an den Abendstern vor. Kein Wunder, dass er nach der Tannhäuser-Premiere im Dezember 1977, die seinen Aufstieg beschleunigte, stets heftig beklatscht wurde.

Hätte ich nicht den kompletten Lohengrin von Eberhard Büchner selbst gehört, ich würde ihn an Hand der Gralserzählung diese Leistung nicht abkaufen. Büchner singt die berühmte Szene leicht, lyrisch und fast versonnen, im Kern aber etwas kraftlos und müde. Peter Schreier liefert mit der Ferrando-Arie „Un aura amorosa“ aus Mozarts Cosi fan tutte selbst den Beweis für seine unerschütterliche Beliebtheit. Wo Schreier auftauchte, ist Theo Adam nicht weit gewesen. Als leicht gestelzter Don Alfonso wirkt er in einem weiterem Ausschnitt aus dieser Oper mit, bei dem auch der vielseitige Günther Leib als Guglielmo, nochmals die Casapietra – diesmal als Fiordiligi – und die wegen ihres warmen, mütterlichen Alts äußerst beliebte Annelies Burmeister zum Einsatz kommen.  In seinem eigentlichen Element ist Adam mit dem Fliedermonolog aus Wagners Meistersingern. Reiner Goldberg hat mit Siegmunds „Winterstürmen“ gegen ein sehr langsames Tempo anzukämpfen, so dass ihm für die Gestaltung nicht viel bleibt. Der Szene fehlt es an Schmiss und Rausch. Ekkehard Wlaschiha machte auf der Bühne stärkeren Eindruck als im Studio, wo er Pizarros Arie aus Fidelio für die Gala zu singen hatte. Die Stütze vieler Produktionen war seinerzeit die lyrische Sopranistin Magdalena Hajossyova aus Bratislava, die mit der ruhig vorgetragenen Kavatine der Agathe, „Und ob die Wolke sie verhülle“, zu hören ist. Für die gut bestückte Soubretten-Fraktion des Hauses tritt Carola Nossek mit der Arie der Anna „Wohl denn! Gefasst ist der Entschluss“ aus dem Lustigen Weibern von Windsor an und macht ihre Sache sehr gut. Das Finale bilden Ausschnitte aus dem Rosenkavalier mit Siegfried Vogel als spielfreudigem Ochs. Zum Schlussterzett finden sich die Casapietra als Marschallin, Margot Stejskal als Sophie und Ute Trekel-Burckhardt als Octavian, anfangs nicht ganz optimal aufeinander abgestimmt, zusammen.

Mit Gustav Mahler tat sich die DDR schwer, obwohl die Anfänge und einige über die Jahre verstreute Aufnahmen sehr verheißungsvoll gewesen sind. Hermann Scherchen hatte noch 1960 mit dem Leipziger Rundfunk-Sinfonieorchester die 3. Sinfonie und das Adagio aus der unvollendeten 10. Sinfonie eingespielt, Leopold Ludwig die 4. Sinfonie mit Anny Schlemm in Dresden. Dort wurde auch das Lied von der Erde unter Heinz Bongartz mit Eva Fleischer und Ernst Gruber für den Rundfunk produziert. Ebenfalls aus Leipzig hat sich von 1976 die von Herbert Kegel betreute 8. Sinfonie als Live-Mitschnitt erhalten. Weitere Dokumente werden im Booklet zu der wiederaufgelegten 5. Sinfonie gestreift. Das Hohelied, das dort auf die Einspielung Suitners von 1984 gesungen wird, macht weniger deren Rang deutlich, als dass es sich zeigt, wie abgeschottet die DDR war. Um diese Zeit war weltweit alles aus Mahler herausgeholt worden, was möglich war. Es konnte zwischen den legendären Aufnahmen von Bruno Walter, Dimitri Mitropoulos, dem schon erwähnten Scherchen, Leonard Bernstein, Jascha Horenstein oder John Barbirolli gewählt werden. Platten, von denen sich nicht eine in die DDR verirrt hatte.

Im Fall des einen Titels der Serie von Berlin Classics – Die Kluge von Carl Orff (0300748BC) – erweist sich die Verpackungsorgie als gnädig. Denn das Originalcover schreit nicht unbedingt nach einer Ausgrabung. Es wirkte schon beim ersten Erscheinen ziemlich abweisend auf mich und hat durch die Verkleinerung nicht gewonnen. Der Künstler, der es schuf, wird nicht genannt. Die Mitwirkenden lassen sich auf dem Nachdruck nur mit der Lupe entziffern. Im Innern des Albums aber sind sie fein säuberlich aufgelistet. Magdalena Falewicz, die kluge Bauerstochter, war ein Star an der Ostberliner Staatsoper. Sie kam aus Polen in die DDR, sang Pamina, Zdenka, Micaela. Ein gut sitzender, hell leuchtender Sopran. Sie hat es allerdings etwas schwer gegen die anderen Mitwirkenden, die alle deutscher Zunge sind und sprachlich eine Deutlichkeit zelebrieren wie sie seinerzeit an den Sprechtheatern Standard war. Mit Arno Wyzniewski stellte sich einer der renommiertesten Schauspieler als Sprecher zur Verfügung. Insgesamt aber behauptet sich die Sängerin gut. Ein Akzent ist nur bei genauem Hinhören auszumachen. Karl-Heinz Stryczek, der König, ist mit seinem kernigen Bariton, der auch als Telramund stets großen Eindruck machte, glänzend besetzt. Selbst Reiner Süß, der auf der Bühne gern zu Albereien neigte, gibt dem Bauer fast schon tragische Züge. Er hatte im zeitgenössischen Repertoire, zu dem die 1943 uraufgeführte Oper – großzügig gerechnet – noch zu zählen ist, immer seine Stunde. So auch hier. Alle anderen Gesangspartien sind mit Eberhard Büchner, Harald Neukirch, Wolfgang Hellmich, Siegfried Lorenz und Horand Friedrich ebenfalls prominent besetzt. Am Pult des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters Leipzig setzt Herbert Kegel so grelle wie lustvolle Akzente, die es für mich zur reinen Freude machen, Orff zuzuhören. Der Klang ist exzellent. Ihre mehr als fünfunddreißig Jahre sind der Aufnahme nicht anzumerken.

Mit einem genauso frischen Sound kann auch ein weiterer Titel von Berlin Classics in historischer Gewandung aufwarten: Der Odem der Liebe – Peter Schreier als Mozart-Tenor (0300754BC). Für elf Arien werden zweiundfünfzig Minuten gebraucht. Die 1967 produzierte LP wurde eins zu eins überspielt, wodurch das ursprüngliche Konzept erhalten bleibt. Gut so. Eine Auffüllung der CD-Kapazität mit anderen Einspielungen wäre auch dem einheitlichen Klangbild abträglich gewesen. Schreier wird von der Berliner Staatskapelle unter Otmar Suitner begleitet, der viele Mozartaufführungen mit und ohne Schreier geleitet hatte. Stand Die Entführung aus dem Serail auf dem Spielplan, waren nicht immer alle vier Arien des Belmonte zu hören wie auf der CD. Nicht selten wurde die so genannte Baumeister-Arie „Ich baue ganz auf deine Stärke“ mit ihren reichlich sechs Minuten weggelassen. Nach Jahren nun wieder gehört, klingen die Arien in meinen Ohren bei aller stilistischen Sicherheit etwas robust. Ein Eindruck, der sich bei den anderen Werken so nicht einstellt: Zauberflöte, Cosi fan tutte, Don Giovanni und La Clemenza di Tito. Schreier war 1978 in der von Ruth Berghaus besorgten ersten Nachkriegsinszenierung in italienischer Sprache der Tito. Noch heute kann ich mich an die starken Bilder und den Schluss mit der Begnadigung der Verschwörer erinnern. In beidem Fällen nimmt es Berlin Classic mit der Originaltreue etwas zu genau. Es werden nämlich auch die ursprünglichen Plattentexte – bei der Klugen nur als Auszug – übernommen, was etwas irritiert, wenn man nicht genau hinschaut. Rüdiger Winter

„Und du wirst mein Gebieter sein“

 

„Ohne die Großmama hätte der Großpapa nicht 50 Prozent der Werke geschrieben, die er geschrieben hat.“ Diese Worte fand der Enkel von Richard Strauss, der auch dessen Vornamen trug, für seine Großmutter Pauline. Sie werden im Booklet einer bei Animato erschienen CD zitiert, die der Ehefrau des Komponisten gewidmet ist (ACD6164). Die Neuerscheinung ist ein vor allem musikalischer Versuch, das weit verbreitete Urteil über die 1863 in Ingolstadt geborene und 1950 in Garmisch-Partenkirchen gestorbene Pauline de Ahna, ein Haustyrann oder eine Xantippe gewesen zu sein, zu relativieren. Einige der auf CD versammelten Lieder sind auch von ihr gesungen worden. Ihre Entstehung ist ohne sie nicht denkbar. Alma Mahler schätzte ihren „starken musikalischen Instinkt“, verbindet in ihrem Zitat das Kompliment mit der Feststellung, dass man „sehr auf der Hut sein“ müsse, „um nicht irgendwie eine große Taktlosigkeit an den Kopf geworfen zu bekommen. Sie sagte alles heraus, was und wie sie es dachte“.

Eines hat Julia Küßwetter, die Solistin der neuen CD, mit Pauline Strauss gemeinsam: Sie sang auch den Hänsel von Humperdinck, den die Frau von Strauss bei der Uraufführung in Weimar gegeben hatte.

Als Pauline 1887 ihren späteren Ehemann kennenlernte, lag eine bedeutende Karriere als Sängerin vor ihr. Sie folgte ihm 1889 nach Weimar, wo sie als Pamina debütierte. Strauss selbst hatte den Posten des zweiten Kapellmeisters übernommen. Musikgeschichte schrieb sie dort als Hänsel bei der von Strauss geleitetet Uraufführung der Oper Hänsel und Gretel von Humperdinck. Weimar galt nicht nur als Zentrum der klassischen Literatur. Franz Liszt hatte der Stadt in Thüringen als Hofkapellmeister auch zu einem bedeutenden musikalischen Ruf verholfen, indem er Lohengrin und Samson und Dalila uraufführen ließ und zeitweise bedeutende Komponistenkollegen um sich scharte. 1852 und 1855 veranstaltete Liszt in Weimar Berlioz-Wochen, wobei er auch dessen Oper Benvenuto Cellini dirigierte. Einer Anregung von Liszts damaliger Lebensgefährtin Carolyne zu Sayn-Wittgenstein – beide lebten gegen jede Konvention ganz offen zusammen – folgend, schuf Berlioz sein bedeutsamstes musikdramatisches Werk, die Trojaner, das er der Fürstin widmete.

Solcherart waren die künstlerischen Spuren, die Pauline und Richard Strauss in Weimar vorfanden, wo 1894 auch dessen erste Oper Guntram über die Bühne ging. Pauline sang die Freihild, eine ans Hochdramatische grenzende Partie, die ahnen lässt, über welche glänzenden stimmlichen Mittel sie verfügt haben dürfte. Im selben Jahr wurde geheiratet. Bereits 1891 war sie einem Ruf nach Bayreuth gefolgt. Cosima Wagner hatte den Tannhäuser erstmals im Festspielhaus angesetzt. Wie in der Geschichte des Bayreuther Festspiele von Oswald Georg Bauer nachzulesen ist, wollte sie „um keinen Preis eine Heroine mit langer Schleppe“. Unter Berufung auf das Drama habe ihr eine „jungfräuliche, kindliche Gestalt“ vorgeschwebt – mit glänzenden Stimmitteln. Diese Voraussetzungen erfüllte Pauline, die gemeinsam mit der jungen Norwegerin Elisa Wiborg engagiert wurde. Bei der Premiere war Pauline allerdings indisponiert und musste durch die Kollegin ersetzt werden. Als sie selbst zum Zuge kam, wurde ihr von der Kritik („Bayreuther Tageblatt“) bescheinigt, eine „herrliche Elisabeth“ zu sein. „… noch einen Schritt weiter, noch mehr von der Seele heraus, und die Künstlerin wird eine vollendete Elisabeth bieten.“

„Mein Heim. Ein sinfonisches Selbst- und Familienporträt: Dieser Arbeitstitel ist von der Symphonia Domestica überliefert, die 1904 uraufgeführt wurde. Alle Familienangehörigen sind mit einem eigenen Thema versehen. Richard Strauss hatte das Werk seiner „lieben Frau und unserem Jungen“ gewidmet. Eine neue Einspielung war von Marek Janowski mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin bei Pentatone vorgelegt worden (PTC 5186 507). Seine Interpretation empfiehlt sich allein schon durch das betörende Klangbild. So schön kann Musik von der CD klingen – wenn es denn eine so genannte Hybrid Multichannel SACD ist. Bei diesem Aufnahmeverfahren wird eine höhere digitale Auflösung des Audiosignals verwendet als bei der herkömmlichen Audio-CD. Für die Klangfarben von Strauss nahezu ideal. 

1906 gab Pauline Strauss ihren Beruf als Sängerin auf, der sie gemeinsam mit Richard auch auf einer Tournee drei Monate lang durch die großen Städte der USA geführt hatte, und widmete sich fortan der Familie, die mit der Geburt des Sohnes Franz 1897 aus drei Personen bestand. In der Villa in Garmisch, die von 1908 an zunächst als Sommerhaus, wenig später dann als fester Wohnsitz genutzt wurde, spürt der Besucher noch heute ihr sicheres Gespür bei der Einrichtung und Auswahl der vielen Kunstwerke. In den neunziger Jahren wollte es ein glücklicher Zufall, dass ich an einem schönen Vormittag mit meiner Familie zu einer Besichtigung eingelassen wurde. Wir hatten wohl einen vertrauenswürdigen Eindruck gemacht, denn die Villa wird nach wie vor von der Familie genutzt. Obwohl mein vordergründiges Interesse dem einstigen Hausherrn galt, der in diesem Haus seine bedeutendsten Werke erdacht und in Noten gesetzt hatte und am 8. September 1949 hier auch sein Leben beschloss, führte kein Schritt an der Frau vorbei, die das Schaffen des Komponisten durch ihre ordnenden und fürsorglichen Hände erst ermöglicht haben dürfte. Alles oder fast alles stand noch an seinem Platz. Nicht, dass es wie in einem Museum nicht verrückt werden durfte, um so auch äußerlich dem Meister zu huldigen. Möbel, Bilder und zeitlose Accessoires hatten deshalb ihre unverrückbare, ja ewige Position, weil sie wo anders gar nicht hingepasst hätten oder zur Geltung gekommen wären. So sicher und zugleich selbstverständlich waren sie platziert. Es hätte keines Porträts von Pauline an einer Wand bedurft. Die auffällig behagliche Behausung war ihr Abbild.

Als sie geboren wurde, waren Frauen in Deutschland faktisch ohne Rechte. Mit der Ehe wurden sie ihren Männern wirtschaftlich und gesellschaftlich ausgeliefert, bedurften für alles, was sie taten, deren Zustimmung und blieben von der politischen Meinungsbildung ausgeschlossen. Das Wahlrecht für Frauen wurde erst 1919 eingeführt. Bis dahin war es ein sehr langer Weg. Wen wundert es also, wenn sich Frauen wenigstens innerhalb der eigenen Familie und ihres engeren Umfeldes durchzusetzen wussten – und das nicht immer zum Vorteil der Hausherren. Auf der Internetseite Fembio, die sich der Frauen-Biographieforschung widmet, ist unter Berufung auf Kritiken zu lesen, dass die Stimme von Pauline „meisterhaft geschult“ gewesen sei, „nicht heroisch“ sondern ausgestattet „mit anmutiger Poesie, Tiefe seelischen Ausdrucks … (sowie) einem sicheren und schönen Darstellungstalent“. Strauss selbst habe noch 1947 gesagt: „Schade, dass sie sich zu früh dem schönen Beruf einer … ausgezeichneten Hausfrau und Mutter zugewandt hat!“ Obwohl es technisch bereits die Möglichkeiten gab, Tonaufnahmen sind nicht überliefert.

Die Sopranistin Lore Wissmann setzte auch nach ihrer Heirat mit dem Tenor Wolfgang Windgassen ihre Karriere fort. Auf dieser CD bei UraCant ist das Paar auch gemeinsam zu hören.

Gesungen werden die Lieder auf der Pauline gewidmeten CD von Julia Küßwetter, die von Georg Schütz begleitet wird. Wie Pauline hat auch sie schon den Hänsel gesungen, nämlich bei den Bad Hersfelder Festspielen. Sie verfügt über einen sehr hoch gelegenen Sopran, der sie in die Lage versetzt, auch mit der extremen Notierung der Brentano-Lieder fertig zu werden. Hingegen fallen solche Lieder wie „Ruhe, meine Seele“ „Cäcilie“, „Heimliche Aufforderung“ und „Morgen“ etwas trocken aus und lassen stimmlichen Überschwang und Üppigkeit in der mittleren Lage vermissen. Den Abschluss des Programms bilden die „Malven“, jenes Lied, das erst lange nach dem Tod des Komponisten an die Öffentlichkeit gelangte. Strauss hatte es 1948 zu Papier gebracht und der Sängerin Maria Jeritza verehrt, die es bis zu ihrem Tod 1982 unter Verschluss hielt. 1985 wurde es in New York durch Kiri Te Kanawa uraufgeführt. Für ein Konzert der Staatskapelle Dresden stellte Wolfgang Rihm eine Orchesterfassung her, die – eingebettet in die „Vier letzten Lieder“ – 2014 bei den Salzburger Osterfestspielen von Anja Harteros, begleitet von der mit der Staatskapelle Dresden unter Christian Thielemann, gesungen wurde. Der Mitschnitt einer Aufführung in Dresden wurde von C Major auf DVD veröffentlicht.

 

Heinrich Schlusnus und seine Frau Annemay haben einige gemeinsame Liedaufnahmen hinterlassen. Deutsche Grammophon veröffentlichte eine kleine Auswahl auf einer Single.

Pauline war nicht die einzige Sängerin, die die eigene berufliche Karriere zugunsten ihres Mannes aufgegeben hat. „Und du wirst mein Gebieter sein!“ Die Worte, mit denen sich Arabella in der Oper von Strauss ihrem auserwählten Mandryka hingibt, liegen in der Luft. Thea Linhard (1909-1981) reduzierte ihre Tätigkeit nach der Hochzeit mit dem Dirigenten Karl Böhm im Jahre 1927 beträchtlich und trat nur noch gelegentlich auf. Überliefert sind einige Aufnahmen, darunter anmutig vorgetragene Lieder des auch komponierenden Dirigenten Leo Blech, die in der von Michael Raucheisen betreuten Liedersammlung erschienen sind (Membran). Gottlob Frick war fünfundsechzig Jahre mit einer Kollegin verheiratet, die für seine Karriere auf eigene Ambitionen verzichtet. Margarete Frick (1900-1995) ist dennoch in wenigen Aufnahmen verewigt, die bei Uracant auf einer CD zum 10. Todestag ihres Mannes veröffentlicht wurden. Zu hören ist eine gut ausgebildete Sängerin, die über ein Timbre mit hohem Wiedererkennungswert verfügt. Die Stimme schwingt ganz leicht, was sie in die Lage versetzt, die Lieder von Schubert, Brahms, Schumann und Wolf mit innerer Erregung auszustatten. In eine berühmte musikalische Familie hatte der Tenor Peter Anders eingeheiratet. Seine Frau Susanne (1909-1979) war die Tochter der gefragten Gesangslehrerin und Altistin Lula Mysz-Gmeiner und hatte sich selbst zur Sängerin ausbilden lassen. In einem Querschnitt durch Mignon von Thomas, der 1936 mit Chor des Deutschen Opernhauses und den Berliner Philharmonikern unter Hans Schmidt-Isserstedt für Telefunken produziert wurde und bisher nicht wieder an die Öffentlichkeit gelangte, sind sie sogar gemeinsam zu hören. Erst nach dem frühen Unfalltod von Anders trat seine Frau noch einmal vor das Mikrophon – nicht singend sondern sprechend -, um für die Electrola-Serie „Die goldene Schallplatte“, anhand von Tonaufnahmen die Karriere ihres Mannes Revue passieren zu lassen. In zweiter Ehe war der Bariton Heinrich Schlusnus von 1933 an mit der 1904 geborenen Sopranistin Annemarie (Annamey) Kuhl verbunden, die ihrerseits auch schon eine Beziehung hinter sich hatte. Sie war zunächst die Frau des an der Berliner Musikhochschule wirkenden Gesangslehrers Louis Bachner, bei dem auch Schlusnus Unterricht nahm. Bachner stammte aus New York und genoss hohes Ansehen. Unter seinen Schülerinnen war auch Frida Leider, die sich in ihren Memoiren „Das war mein Teil“ noch viele Jahre später dankbar an ihn erinnerte. 1938 hat das Ehepaar beim Reichsrundfunk einige Lieder eingespielt, darunter „Vergebliches Ständchen“ von Brahms in einer als Duett angelegten Version. Eine kleine Volksliedauswahl veröffentlichte Deutsche Grammophon auf einer Singleplatte. Ihr Vortrag ist leicht und erinnert eher an eine singende Schauspielerin denn an eine professionelle Opern- oder Liedsängerin.

 

Das Ehepaar Evelyn Lear und Thomas Stewart nahm beim DDR-Label Eterna eine LP mit dem passenden Titel auf: „Reich mit die Hand, mein Leben“.

Es gibt aber auch gegenteilige prominente Beispiele dafür, dass beide Seiten auch in langjährigen Partnerschaften gleichzeitig gemeinsame und jeweils eigene Ziele verfolgen können. Zu nennen sind die 1925 in Siebenbürgen geborene Sopranistin Virginia Zeani und der Bass Nicola Rossi-Lemeni (1920-1991). Wie sie haben auch die Kanadierin Pierette Alarie, Sopran (1921-2011), und Léopold Simoneau, Tenor (1916-2006), einträchtig auf der Bühne und vor den Mikrophon gestanden und etliche mustergültige Einspielungen hinterlassen, darunter Händels Messias unter Hermann Scherchen (Westminster). Im Doppelpack wurden sie bei Festivals in Aix-en-Provence, Edinburgh, Glyndebourne, Wien, München, Baden-Baden und Würzburg gefeiert. Mirella Freni, geboren 1935, ging 1978 ihre zweite Ehe mit dem aus Bulgarien stammenden Nicolai Ghiaurov (1929-2004) ein. In zahlreichen Mitschnitte und Studioproduktionen, darunter Don Carlo (Filppo und Elisabetta) und Gounods Faust (Marguerite und Méphistophélès (beide EMI), sind sie zu hören. „Reich mir die Hand, mein Leben“: Mit dem deutschen Zitat aus Don Giovanni ist eine LP des DDR-Labels Eterna betitelt, auf der Evelyn Lear (1926 – 2012) und Thomas Stewart (1928-2006) Duette singen. Das Zitat ist durchaus wörtlich zu verstehen. Das Paar kam Ende der 1950er Jahre aus den USA nach Deutschland, das nach langen Jahren in West-Berlin Ausgangspunkt einer regen und erfolgreichen Gastspieltätigkeit wurde.

 

Bei einer Produktion von Puccinis Einakter Der Mantel 1973  in München hatten sich Julia Varady und Dietrich Fischer-Dieskau kennengelernt. Der Mitschnitt ist bei Orfeo herausgekommen. Sie blieben bis zum Tod von Fischer-Dieskau verheiratet.

Gebürtiger Amerikaner war auch der Heldentenor Jean Cox (1922-2012), der in zweiter Ehe die britische Altistin Anna Reynolds (1930-2014) geheiratet hatte. Gleichzeitig waren sie für mehrere Sommer in Bayreuth engagiert und standen sich als Parsifal und Kundry auf der Bühne gegenüber. Akustisch belegt ist die gemeinsame Festspielzeit durch den Mitschnitt der Meistersinger von Nürnberg unter Silvio Varviso von 1974 (Philips). Bereits bei den ersten Nachkriegsfestspielen waren Lore Wissmann (1922-2007) und Wolfgang Windgassen (1914-1974) dabei. Während er den Parsifal sang, ist sie eines der ersten Blumenmädchen gewesen. Beim letzten gemeinsamen Sommer auf dem Grünen Hügel 1956 erschienen sie auch auf der Bühne als Paar – als Eva und Stolzing in den Meistersingern. In einer seiner schönsten Operetteneinspielungen, dem Zigeunerprimas von Emmerich Kálmán, ist der Bariton Josef Metternich (1915-2005) an der Seite seiner Frau, der Sopranistin Liselotte Losch (1917-2011), zu hören (Membran). Mit seiner vierten Ehefrau Julia Varady, mit der er von 1977 an bis zu seinem Tod 2012 verheiratet war, ist Dietrich Fischer-Dieskau ebenfalls oft aufgetreten und hat sie als Dirigent bei Aufnahmen begleitet. Bis heute enttäuscht sind die Fans, als für ein in Berlin angesetztes Konzert mit dem Schlussgesang der Brünnhilde aus der Götterdämmerung erst Fischer-Dieskau als musikalischer Leiter und kurz darauf seine Frau als Solistin zugunsten von Carla Pohl zurücktrat.

 

Christa Ludwig und Walter Berry waren bis 1970 verheiratet. Ihre ungewöhnliche Einspielung des Liederkreises op. 39 von Schumann bei Deutsche Grammophon mit verteilten Rollen ist nur noch antiquarisch zu finden. Bei der Übernahme auf CD im Rahmen einer Christa-Ludwig-Edition wurden nur ihre Lieder berücksichtigt.

In der DDR waren Irmgard Arnold (1919-2014), die „erste Sängerin“ des Intendanten der Komischen Oper, Walter Felsenstein und der vornehmlich an der Staatsoper wirkende Bass Gerhard Frei (1911-1989), der auch in Defa-Filmen („Der Teufel vom Mühlenberg“ und „Das tapfere Schneiderlein“) mitspielte, ein gestandenes Paar. Am Opernhaus Leipzig waren über viele Jahre die Sopranistin Christa Maria Ziese (1924-2012) und der Heldenbariton Rainer Lüdeke (1927-2005) engagiert. Während Lüdeke in der Verfilmung des Fliegenden Holländer durch Joachim Herz dem Darsteller der Titelfigur Fred Düren seine Stimme gab, ist die Ziese als Komponist in der Ariadne auf Naxos unter Herbert Kegel (Walhall) und als Elsa im Lohengrin-Brautgemach gemeinsam mit Ernst Gruber in einer diesem Heldentenor gewidmeten Edition (Ponto) dokumentiert. Christa Ludwig, Jahrgang 1928, und Walter Berry (1929-2000) wirkten oft in derselben Vorstellung und standen gleichzeitig im Aufnahmestudio vor dem Mikrophon. Ihre Einspielung von Bartóks Blaubarts Burg (Decca) – um nur ein Beispiel zu nennen, gilt bis heute als Referenz. Als ein bizarres Dokument ihrer 1970 vollzogenen Trennung mutet eine Aufnahme des Liederkreises op. 39 von Robert Schumann nach Texten von Eichendorff mit verteilten Rollen an, die bislang lediglich als LP vorliegt. Ob nun gewollt oder nicht: Auf CD sind im Rahmen einer Christa-Ludwig-Edition zu deren 90. Geburtstag lediglich ihre Lieder erschienen, die ihres Ex-Mannes wurden übergangen (Foto oben: Pauline Straus/ de Ahna, Foto BR Klassik Crescendo). Rüdiger Winter

Anglophiles

 

Wenn neunzig Jahre nach dem Tod eines Komponisten bereits die zweite CD mit seinen Liedern als „Welt-Ersteinspielung“ auf den Markt gelangt, dürfte Interesse geweckt sein. Die Rede ist von Anton Beer-Walbrunn, der am 29. Juni 1864 in Kohlberg in der Oberpfalz geboren wurde und am 22. März 1929 in München starb. Obwohl sein Vater die musikalische Begabung des Sohnes erkannte und förderte, nötigte er ihn aber, den Lehrerberuf zu ergreifen. Erst nach dessen Tod konnte Beer, der sich später den Doppelnamen aus dem familiären Umfeld zulegte, musikalische Studien aufnehmen. Sie führten ihn zu Joseph Rheinberger nach München, wo er selbst von 1901 an Klavier, Musiktheorie und Komposition an der Akademie der Tonkunst lehrte. „1908 wurde Beer-Walbrunn durch Prinzregent Luitpold von Bayern mit dem Titel eines königlichen Professors ausgezeichnet“, berichtet Martin Valeske im Booklet der CD, die bei Bayer Records (BR 100 395) erschien. Zwischen den Liedern werden die „6 Reisebilder für Klavier solo“ op. 21 platziert. Darauf bezieht sich auch der Titel der CD, nämlich Reisebilder.

Inwieweit der Komponist dabei aus eigenem Erleben schöpft, ob er viel und häufig unterwegs war, dazu gibt es im Booklet keinen Hinweis. Vielmehr ziehen die Lieder inhaltlich eher kleine Kreise, handeln – um nur drei Beispiele zu nennen – vom „Einsiedler“, den „Abgeschiedenen“ oder „Des Knaben Berglied“ (alle nach Uhland). Obwohl Klavierstücke und Lieder musikalisch ihre Wirkung nicht verfehlen und vortrefflich ausgearbeitet sind, können und wollen sie ihr akademische Herkunft nicht ganz verleugnen. Als spräche der Lehrer zu seinen Schülern: Schaut her, so wird komponiert! Die Solistin Angelika Huber wird von Lauriane Follonier, die auch die „Reisebilder“ spielt, begleitet. Es ist nicht zu überhören, dass sich beide Frauen intensiv mit Beer-Walbrunn beschäftigt haben. Sie agierten sehr sicher. Sängerisch hätte ich mir aber etwas mehr Lockerheit gewünscht. Besonders in den hohen Lagen klingt es sehr angestrengt. Letztlich werden die Hörer Zeugen der Entschlossenheit, den Komponisten dem Vergessen zu entreißen. Völlig unangebracht hingegen ist ein langes Zitat im Booklet aus dem „Völkischen Bobachter“ vom 22. April 1944, womit verdeutlicht werden soll, dass Beer-Walbrunn auch lange Jahre nach seinem Tod wertgeschätzt worden sein muss. Unter Bezugnahme auf ein Konzert heißt es darin: „Im Grunde Lyriker, schreibt er einen harmonisch farbigen, melodisch reichen Satz und erweist sich in seinen Werken, die alle als der natürliche Ausdruck seines gesunden, ursprünglichen Musikertums unmittelbar ansprechen, als Meister der Form.“ Der „Völkische Beobachter“ war das Parteiorgan und Kampfblatt der NSDAP.

 

Wer, bitte schön, war Johann Georg Gerhard Schmitt? Nie gehört? Also dann die Frage nach Georges Schmitt. Beide sind ein und dieselbe Person, am 11. März 1821 in Trier geboren und am 7. Dezember 1900 in Paris gestorben. Schmitt war ein deutsch-französischer Komponist, der quasi auf der Grenze zwischen beiden Nachbarländern lebte und wirkte und diesen Umständen auch seinen Vornamen anpasste. Aus seiner Heimatstadt, wo er als Domorganist in künstlerische Auseinandersetzungen mit der Kirchenleitung verstrickt gewesen ist, floh er nach Paris. Unterbrochen von einem mehrmonatigen Aufenthalt in der amerikanischen Stadt New Orleans, wo er als Organist tätig war. Er wollte die Kirchenmusik von weltlichen Einflüssen befreien und wieder ihrem eigentlichen Zweck zuführen. Sein wichtigstes Streben, in der französischen Metropole als erfolgreicher Opernkomponist zu reüssieren, blieb unerfüllt. Sein Opéra comique La belle Madelaine und mehrere Operetten gerieten trotz des zeitweiligen prominenten Beistandes seines Kollegen Offenbach in Vergessenheit. Einzig durch das Mosellied „Im weiten deutschen Lande“ und die „Sehnsucht nach dem Rhein“ ist Schmitt in jenen Kreisen, die dieses gefällige Genre pflegen, noch ein Begriff.

Der deutsch-französische Komponist Georges Schmitt/ Foto Wikipedia

Jetzt hat das Trio Cénacle einen Anlauf genommen, den Komponisten wieder ins Gespräch zu bringen. Das 2015 gegründete Trio besteht aus der deutschen Sopranistin Evelyn Czesla, dem niederländischen Bassbariton Nico Wouterse und der luxemburgischen Pianistin Michèle Kerschenmeyer. Ihre CD mit Mélodies, Romances und Chansons von Schmitt ist bei Profil Edition Günter Hänssler erschienen (PH18042). Der Name des kleinen Ensembles bezieht sich nach Informationen aus dem Booklet, auf „Le Cénacle de Victor Hugo“ – eine „wechselnde Gruppe von Schriftstellern, die sich Ende der 1820er Jahre im Hause Victor Hugos regelmäßig trafen“. Ohne die Vorarbeit des Musikwissenschaftlers Wolfgang Grandjean, der auch selbst komponiert, wäre das Projekt undenkbar. Er gilt als Schmitt-Experte, hat die Lieder-Sammlung herausgegeben, eine Biographie geschrieben und die nur als Manuskript überlieferte Chorsymphonie „Le Sinai“ editiert, die 2014 in der Geburtsstadt Schmitts wiederaufgeführt wurde. Auf Texte von Hugo gehen denn auch zwei Kompositionen zurück. Mit Goethe und seinem Lied von der Ratte – hier als „La Chanson du rat“ aus Faust – ist nur ein deutscher Dichter vertreten. Der Analyse von Grandjean, dass Schmitt diese Verse mit einer „nahezu opernhaften Musik“ ausstattet, die der Bariton vorträgt, ist treffend. So eingängig sind die anderen Stücke nicht. Wie sich Solisten und der Pianistin, die mit der „Arabesque sur la Violette“ sogar ein Solo hat, auch bemühen, die Lieder haben nicht die Raffinesse und die Eleganz, mit der gebürtige französische Komponisten Sprache und Musik eins werden lassen.

 

Von Frankreich ist es nur ein Sprung über den Ärmelkanal nach England, wo Hubert Parry (1848-1918) wirkte. Seine Werke – darunter die fünf Sinfonien – liegen in diversen Einspielungen vor. Seine ungebrochene Popularität im englischen Sprachraum beruht jedoch auf der Hymne „Jerusalem“ nach einem Gedicht von William Blake, das auf der Legende beruht, Jesus habe einst auch englischen Boden betreten. Sie hat sich als inoffizielle Nationalhymne der Briten etabliert und wird gern zum Ausklang der Proms-Konzerte in der Royal Albert Hall angestimmt. Somm Recordings widmet sich dem Liedschaffen und ist mit seiner entsprechenden Edition bereits bei Volume III angelangt (SOMMCD272). Die Sopranistin Sarah Fox und der Bariton Roderick Williams werden am Flügel von Andrew West begleitet. Mit perfekter Diktion nähern sich die beiden Muttersprachler den lyrischen Gesängen, in denen das Lied einer Amsel genauso melancholisch besungen wird wie die Stimmung in der Dämmerung. Man fühlt sich gar an Richard Strauss erinnert, der diesen mitunter sehr alltäglichen Erfahrungen auch diesen lyrischen Ausdruck verleihen konnte.

 

In der Céleste Series hat Somm Recordings Lieder von Eric Coates folgen lassen (SOMMCD 0192). Der 1886 geborene und 1957 gestorbene Komponist wird der so genannten leichten Musik zugerechnet. Er fühlte sich keinem Genre besonders verbunden, hinterließ diverse Orchesterstücke, darunter Walzer und Märsche. Sein eingängiger Stil kennzeichnet auch die 160 Lieder, die Coates hinterlassen hat. Mitunter klingen – wie bei Parry – Ähnlichkeiten mit seinem Zeitgenossen Richard Strauss an. Als Interpretin wurde die aus Liverpool stammende junge Mezzosopranistin Kathryn Rudge gewonnen. Christopher Glynn begleitet sie am Flügel. Sie hat eine facettenreiche üppige Stimme. Eine gewisse Schärfe in der Höhe setzt sie geschickt als gestalterische Mittel ein. Das passt genau. Es macht viel Spaß, ihr zuzuhören.

 

Ein weiterer Beleg für die Vielseitigkeit, die auf dem aktuellen Musikmarkt vorherrscht, sind Kammermusik und Lieder Ernst Kreneks (1900-1991) bei Toccata Classics (Tocc 0295). Dafür haben sich mit Laura Aikin (Sopran), Bernarda Fink (Mezzosopran) und Florian Boesch (Bariton) gleich drei namhafte Solisten zur Verfügung gestellt. Sie werde vom Ernst Krenek Ensemble begleitet. Dieser österreichische Komponist, der 1938 in die USA emigrierte und dort bis zu seinem Tod blieb, ist nichts für Nebenbei. Er zwingt sein Publikum, genau zuzuhören. Zumal in den zur Rede stehenden Stücken, die in ihrer Mischung etwas willkürlich zusammengestellt wirken. Auf die an Bach erinnernde Doppelfuge für zwei Klaviere folgen drei zu einem kleinen Zyklus gefügte Lieder nach Gedichten des belgischen Dichters Èmili Verhaeren, der in französischer Sprache schrieb und dem Symbolismus zugerechnet wird. Laura Aikin singt sie mit innerer Erregung. Den Übergang zum nächsten, dem einzigen deutschsprachigen Titel „Während der Trennung“, bildet die Trio Phantasie für Violine, Cello und Piano. Hier ist die Abfolge sehr gut geglückt. Die Phantasie wirkt wie eine Einstimmung auf das als Duett angelegte expressive Vokalstück, in den ein Paar in seiner Trennung die Liebe erkennt. „Mein Herze, das sich itzt so quält, hat Dich und keine sonst gewählt.“ Herze? Itzt? Das Gedicht stammt von Paul Fleming, dem 1609 im sächsischen Städtchen Hartenstein geborenen und 1640 in Hamburg gestorbenen Arzt und Schriftsteller, der als einer der bedeutendsten Lyriker des deutschen Barock gilt. In der Vertonung durch Krenek und in der Interpretation von Bernarda Fink und Florian Boesch offenbart sich der moderne und zeitlose Ansatz seiner Dichtung. Rüdiger Winter 

Liebe und Leid in zwei Sprachen

 

Wer gern und genau Schubert hört, kennt das Wort flispern. Im Lied „Der Jüngling an der Quelle“  wallen und flispern die Pappeln am Quell. Der Text stammt von Johann Gaudenz von Salis-Seewis, nicht Gaumens, wie es irrtümlich im Booklet der CD Drang in die Ferne mit dem Tenor Benedikt Kristjánsson heißt, die bei Genuin erschienen ist (GEN 19645). Dichter war Gaudenz nur im zweiten Beruf. Bis zur französischen Revolution diente er als Offizier der Schweizer Garde in Paris, bereiste danach die Niederlande und Deutschland, wo er in Weimar auch auf Goethe und Schiller traf. 1793 kehrte er in seine Heimat, die Schweiz, zurück, hatte dort bis 1817 in verschiedenen Funktionen und Ämtern Anteil an den teils dramatischen gesellschaftlichen Veränderungen und lebte bis zu seinem Tod 1834 zurückgezogen. Noch heute ist er in der Schweiz als Dichtergeneral bekannt. Schubert hat sich für etliche Lieder bei ihm bedient und auf diese Weise dafür gesorgt, dass das schöne Wort flispern nicht gänzlich dem Vergessen anheimfällt. Suchmaschinen im Netz führen zu flippern – was sonst? Und auch dann noch, wenn das Wort endlich in der Liste erscheint, wird die Frage wiederholt ob nicht doch flippern gemeint sei. In der Standardausgabe des Dudens ist flispern nicht zu finden. Es müssen schon einschlägige wissenschaftliche Nachschlagewerke, die sich inzwischen auch im Internet etabliert haben, herangezogen werden. Das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS) führt flispern als eine im 19. Jahrhundert verortete Anlautsvariante zu „älteren lautmalenden Bildungen“ wie wispeln oder wispern. Aus seiner Zeit heraus hat der Dichter das Wort mit Bedacht gewählt, denn es bezeichnet sehr genau Empfinden und Wahrnehmung des Jünglings, der am Quell Linderung sucht, um die Spröde zu vergessen und nun durch das Schlummergeräusch der „flispernden Pappeln“ die ihn quälende Liebe aufgeweckt findet.

Kunstlieder bewahren Schönheiten und historische Eigenwilligkeiten von Sprache, regen dazu an, sich eigenen etymologischen Studien hinzugeben. Dabei kann der Vortragende zum Mittler werden. Kristjánsson ist so einer. Bei ihm darf man sicher sein, dass er weiß, was er singt. Er hat bei Meisterkursen den Rat bedeutender Liedersängern wie Peter Schreier, Christa Ludwig, Elly Ameling oder Robert Holl eingeholt und ist im Umgang mit der Sprache Luthers in den großen Bach-Passionen geübt. Eine seiner Stärken ist die Deutlichkeit nach Buchstaben und Inhalt. Beim Singen spürt er dem Sinn der Wörter nach – und vermittelt ihn auch. Flispern ist da ein treffliches Beispiel. Die erste CD des aus Island stammenden Tenors folgt einem Programm. Sein Titel ist schon gefallen: Drang in die Ferne. Lieder von Franz Schubert werden in der Abfolge mit Volksliedern aus der isländischen Heimat des jungen Sängers verknüpft – mit dem erstaunlichen Ergebnis, dass Gemeinsamkeiten deutlich werden. Schubert klingt nach Volkslied, Volkslied nach Schubert. Dazu Kristjánsson im Booklet: „Dafür habe ich Lieder gesucht, die sowohl inhaltlich als auch melodisch zusammenpassen, und ich habe die Tonart des Volkslieds dem jeweils darauffolgenden Schubert-Lied angepasst.“ Das Programm sei „wie ein Liederzyklus angelegt: zwei Sprachen, zwei unterschiedliche Gesangsstile, aber immer dieselben Geschichten von Sehnsucht, Liebe, Leid und Naturreichtum“. Am Anfang steht denn auch ein isländisches Lied über die schönen und die lebensbedrohlichen Seiten der Fjorde. Es wird bis auf einen Titel ohne Begleitung gesungen. Bei Schubert sitzt Alexander Schmalcz am Klavier, im Lied „Auf dem Strom“ und in einem weiteren Volkslied kommt der Hornist Tillmann Höfs hinzu und mit ihm ein Instrument, das wie kein zweites für das Thema der CD steht.

Eine der Stärken von Kristjánsson ist es, aus dem Stand den Ton zu treffen. Er muss nicht erst hinein finden in ein Stück, er ist immer gleich mittendrin. Es scheint als würde er mit seinem vibratoarmen Tenor Linien wie mit einem feinen Stift auf weißen Untergrund zeichnen. Das ist nicht jedermanns Sache. Wer aber solche Stimme schätzt, wird als Zuhörer reich belohnt. Seine Atemtechnik ist perfekt und gestattet ihm große Spielräume beim Legato. Es macht großen Eindruck, wie er musikalisch miteinander verbindet, was auch inhaltlich zusammengehört. Legato wird so immer auch zum Ausdrucksmittel. Die Stimme klingt jungenhaft. Manchmal zart und verträumt wie in „Dass sie hier gewesen“ dann wieder entschlossen und nahezu draufgängerisch wie im „Schiffer“. Es hat viel für sich, wenn Lieder aus der Perspektive eines Betroffenen vorgetragen werden. Der Drang in die Ferne nimmt mit dem Alter ab. Gespannt auf das Ganze machen zwei Lieder aus der Schönen Müllerin: „Der Neugierige“ und „Die böse Farbe“, während „Die Erstarrung“ aus der Winterreise wie eine Warnung erscheint, sich ja nicht zu früh auf die Herkulesaufgabe einzulassen, die sich mit diesem Zyklus stellt. Dafür sollte sich Benedikt Kristjánsson noch Zeit lassen. Rüdiger Winter

Ernste Gesänge mit sanften Tönen

 

Den Terminkalender von Michael Volle scheinen Wagner und Strauss zu dominieren. Holländer, Wotan, Wanderer, Sachs, Amfortas vom einen, Barak, Orest, Jochanaan, Mandryka vom anderen. Dazwischen aber auch Mozart mit Almaviva und Alfonso sowie Scarpia und Verdis Falstaff. Für den Oktober 2019 ist der Herr Fluth in einer Neuinszenierung der Lustigen Weiber von Windsor an der Berliner Staatsoper unter Daniel Barenboim angekündigt. Der Bariton gibt sich also vielseitig. Und das ist gut so – gut für ihn, gut für seine Publikum. Wer sonst außer ihm hat in seiner Liga noch Wagner und Nikolai gleichzeitig im Repertoire? Auf den Ford darf man also gespannt sein. Neben dem Opern- und Konzertsänger Michael Volle gibt es auch noch den tüchtigen Liedersänger sowohl auf dem Podium als auch im Studio. Brilliant Classics hat jetzt Lieder von Johannes Brahms zusammengetragen, die bereits vor zehn Jahren, nämlich zwischen März und April 2007 entstanden sind (95916) – fast hundert an der Zahl, verteilt auf drei CDs. Dass die Vier ernsten Gesänge dabei sind, versteht sich von selbst. Eingebettet zwischen andere Lieder klingen sie weniger bitter und strenger als gewöhnlich. Volle stimmt tröstliche, ja sanfte Töne an. An einigen Stellen, wenn er die Stimme bis zum Stillstand zurück nimmt, musste ich mir erst wieder bewusst machen, dass er tatsächlich gerade diesen Zyklus vorträgt. Es hätte auch ein anderes Lied des Komponisten sein können. Das soll keine Kritik sein, vielmehr der Hinweis auf sein Vermögen, das Brahms‘sche Idiom genau zu treffen. Es ist, als hätte dieser Meister des Liedes für ihn komponiert.

Die ernsten Gesänge sind nicht die einzige geschlossene Gruppe, die in der Edition berücksichtigt wurde. Dieser konzeptionelle Zusammenhalt erweist sich als Gewinn, wenn man also auf sich wirken lassen kann, was als zusammengehörig gedacht gewesen ist. Aufgenommen wurden die Lieder und Gesänge von Georg Friedrich Daumer op. 57. Daumer dürfte mehr als Erzieher des legendenumwobenen Findlings Kaspar Hauser in Erinnerung geblieben sein denn als Dichter und Religionsphilosoph. Brahms schätzte ihn, denn er griff auch für seine Liebeslieder auf Daumer-Verse zurück. Durch die kunstvolle Vertonung werden die in ihrem Bemühen, Stimmungen und Empfindungen auszudrücken, mitunter sehr simpel und reimbetont daher kommenden Verse auf die Plätze verwiesen. Pianist dieser Werkgruppe ist Karl-Peter Kammerlander. Im Vergleich dazu sind die Romanzen aus Ludwig Tiecks Wundersamer Liebesgeschichte der schönen Magelone und des Grafen Peter aus der Provence op. 33 von sehr edlem Zuschnitt. Für die Aufnahme wurden jene Prosatexte hinzugezogen, aus denen sich erst der Sinn der einzelnen Romanzen ergibt. Brahms selbst hatte das so nicht gewollt. Er konnte davon ausgehen, dass sein gebildetes Publikum die berühmte Geschichte gut genug kannte, um die Zusammenhänge selbst herzustellen. Für die Gegenwart indessen ist der Mix aus Wort und Musik eine realistische Lösung. Die knapp achtzig Minuten vergehen über der Geschichte wie im Flug, zumal Volle stets gut zu verstehen ist. Rezitator ist sein Bruder Hartmut, ein renommierter Schauspieler, der übrigens jünger klingt als sein sieben Jahre nach ihm geborener Sängerbruder. Daraus ergibt sich ein zusätzlicher interpretatorischer Reiz. Am Klavier sitzt diesmal Adrian Baianu.

Duette für Alt und Bariton op. 28 stehen am Beginn der dritten CD, die von Helmut Deutsch begleitet wird. Dabei bedient sich Brahms bei Eichendorff, Goethe und Hoffmann von Fallersleben. Stilistisch heben sie sich gegen die Magelone ab, die in der Kopplung mit den Texten mitunter an ein Singspiel  denken lässt. In den Duetten sind beide Stimmen ungemein kunstvoll miteinander verflochten wie das nur Brahms versteht. Partnerin von Volle ist die Mezzosopranistin Stephanie Irányi, die auch bei der folgenden Auswahl aus den Deutschen Volksliedern mitwirkt. Dabei sparen beide nicht mit gestalterischen Effekten. Rüdiger Winter

Ruth-Margret Pütz

Ruth-Margret Pütz verstand sich stets als gesamtdeutsche Sängerin. Ihre der Zahl nach übersichtlichen Gesamtaufnahmen sind bis auf wenige Ausnahmen auch in der DDR erschienen oder wurden dort sogar produziert – wie der deutsch gesungene Barbier von Sevilla (Rosina) unter Otmar Suitner und Glucks Orfeo ed Euridice (Amore) mit Václav Neumann am Pult des Gewandhausorchesters Leipzig. Auch die von Robert Heger betreute Studioeinspielung von Nicolais Lustige Weiber von Windsor (Frau Fluth) gehörte zum eisernen Bestand des DDR-Labels Eterna. Die vornehmlich in Stuttgart wirkende Sopranistin, die eine enge Bindung zum dortigen Opernhaus unterhielt, gastierte gelegentlich an der Ostberliner Staatsoper als Konstanze, Susanna und Frau Fluth. Ihre Publikum schätzen die gute Laune, die sie stimmlich verbreitete.

Als ihre Glanzleistung galt die mit atemberaubenden Koloraturen gespickte Zerbinetta in der Ariadne auf Naxos von Richard Strauss. Als Erstveröffentlichung hatte 2018 Profil Edition Günter Hänssler (PH18012) die Arie „Großmächtige Prinzessin“ ausgewiesen und dabei übersehen, dass die Gesamtaufnahme des Live-Mitschnitts bereits bei Cantus Classics erschienen und noch im Handel ist. Auch das Hamburger Archiv für Gesangskunst, auf dessen Autor Klaus Ulrich Spiegel sich im Booklet berufen wird, hatte just diese Szene im Rahmen einer der Sängerin gewidmeten Edition ebenfalls im Programm. Dafür stellen sich die Umstände dieser Produktion als umso spannender dar. Sie sind das eigentliche Highlight. Am 6. Oktober 1962 wurde im Stuttgart das im Krieg zerstörte Kleine Haus der Württembergischen Staatstheater als Neubau eingeweiht. Und zwar mit jenem Werk, das dort fünfzig Jahre zuvor bei seiner Uraufführung nicht den erhofften Erfolg einfuhr: Ariadne auf Naxos. Oper in einem Aufzuge. Zu spielen nach dem „Bürger als Edelmann“ des Molière – so der etwas sperrige Titel der Urfassung des Werkes. Es gab von der Reprise eine Übertragung im Radio. SWR 2 hat das historische Band 2014 erneut gesendet und damit für viel positives Aufsehen gesorgt. Für die damalige Zeit war die Besetzung außerordentlich luxuriös. Leonie Rysanek sang die Ariadne, Jess Thomas den Bacchus. Und die Pütz die Zerbinetta. Stuttgarter Prominenz – darunter Friederike Sailer, Hetty Plümacher, Alfred Pfeifle und Gerhard Unger – war auch für die kleineren Partien aufgeboten. Am Pult waltete Ferdinand Leitner. Der Schauspieler Max Mairich gab den Herrn Jourdain, Hilde Weissner die Marquise Dorimene. Unter dem tat man es damals nicht im wohlhabenden Ländle.

Warum allerdings Ruth-Margret Pütz ihre Arie aus der zweiten und bis heute gängigen Fassung sang und nicht in der mit noch mehr Koloraturen versehenen Originalfassung wie einst Margarethe Siems, fand ich bisher nirgends dokumentiert. Auch im Booklet der Profil-CD wird nicht darauf eingegangen. Hätte sie diese Herausforderung am Ende nicht bestanden? Das kann ich mir nicht vorstellen. Dafür gelingt ihr die Arie in der endgültigen Fassung zu sicher und zu rasant. Da wäre im wahrsten Sinne des Wortes noch Luft nach oben gewesen. Insofern war es eben doch nicht ganz das Original, was 1962 in Stuttgart ausgegraben wurde. Letztlich spricht dieses Manko aber nicht gegen das Recital, das schon dadurch ein Gewinn ist, weil vier Titel aus einer Columbia-Schallplatte übernommen wurden, die inzwischen Seltenheitswert hat. „Gualtier Maldé! Teurer Name“ (Gilda) aus Rigoletto, „Ach, unter allen Blicken / Auch ich versteh’ die feine Kunst“ (Norina) aus Don Pasquale, „Nun eilt herbei, Witz heit’re Laune“ (Frau Fluth) aus den Lustigen Weibern von Windsor sowie die beseelte Konzertarie „Mia speranza adorata! Ah non sai qual pena sia“ von Mozart. Dabei werden die Berliner Symphoniker von Berislav Klobucar geleitet. Die beiden Arien der Konstanze „Welcher Kummer herrscht in meiner Seele – Traurigkeit ward mir zum Lose“ und „Martern aller Arten“ führen zu den Salzburger Festspielen 1961, wo die Pütz neben Fritz Wunderlich in einer Neuinszenierung der Entführung aus dem Serail auftrat. Mit der Szene „Ach, Belmonte! Ach mein Leben“ aus einer Stuttgarter Aufführung – hier singen Josef Traxel den Belmonte und Gerhard Unger den Pedrillo – werden die Auszüge aus dieser Oper wirkungsvoll ergänzt.

Auf mich wirkt die Stimme durchsichtig und klar, als würde Licht hindurch scheinen. Ihre Koloraturen schwingen mühelos und wirken niemals nur technisch. Sie brilliert bei ihren Soloauftritten und passt sich mit der gleichen Disziplin ins Ensemble ein. Nicht unerwähnt soll bleiben, dass mit der Neuerscheinung auch das Geburtsjahr von Ruth-Margaret Pütz, die – wie im Booklet weiter zu lesen ist – zuletzt „zurückgezogen aber geistig wach“ in einem Stift bei Stuttgart lebte, um ein Jahr nach hinten datiert wird. Sie sei 1930 und nicht – wie oft zu lesen – 1931 geboren. Die CD wurde zu ihrem Abgesang. Am 1. April 2019 ist Ruth-Margret Pütz gestorben. (Foto oben: Profil Hänssler.) Rüdiger Winter

Britten mit Laute und Horn

 

Es ist still geworden um Julian Bream. Der 1933 in London geborene Gitarrist und Lautenist war 2002 letztmals öffentlich aufgetreten. Seine vielen Aufnahmen aber sind nach wie vor marktbeherrschend. Bream verhalf der Laute, deren Ursprünge bis ins zweite Jahrtausend vor Christus zurückreichen, zu neuer Popularität. Das legendenumwobene Instrument findet sich bereits auf Wandbildern im alten Ägypten und in Persien. Es wird angenommen, dass es die Kreuzritter nach Europa brachten. Namhafte Komponisten – darunter Hans Werner Henze, Michael Tippet, Benjamin Britten und William Walton – arbeiteten für Bream, der sich aber auch um die Pflege der Musik des elisabethanischen Zeitalters verdient machte. Eine seiner bevorzugten Komponisten war John Dowland, dessen Lebensdaten nicht gesichert sind. Fest steht nur, dass er am 20. Februar 1626 in London begraben wurde. Bei dessen Liedern begleitete Bream auch den englischen Tenor Peter Pears 1958 beim Aldeburgh Festival.

Einen Mitschnitt legte jetzt Doremi im Rahmen seiner Reihe Legendary Treasures vor (DHR-8060). Diesen Liedern sind chinesische Songs von Britten gegenüber gestellt, die nicht als Kontrast, sondern als Ergänzung der Dowland-Lieder wirken. Nach Angaben im Booklet werden sie nun erstmals auf CD veröffentlicht. Wie eine Klammer zwischen beiden Gruppen wirken drei Arrangements von britischen Volksliedern durch Britten. Gemeinsam mit dem schweizerischen Flötisten Auréle Nicolet und dem Cembalisten George Malcolm trat Bream auch im Folgejahr des von Britten, Pears und dem Librettisten Eric Crozier 1948 gegründeten Festivals auf – und zwar mit  einem Konzert für Flöte, Laute und Cembalo von Georg Philipp Telemann. Es ist ebenfalls auf der CD dokumentiert. Die technische Qualität der Mitschnitte hält sich zwar in Grenzen. Durch den Verzicht auf ein übertriebenes Remastering bleibt die authentische Atmosphäre des Live-Konzerts erhalten.

 

Obwohl Brittens Hymn to St Cecilia nur gut zehn Minuten dauert, gibt sie einer neuen CD mit A-cappella-Chorstücken des Komponisten bei harmonia mundi den Titel (HMM 902285), die vom Rias Kammerchor eingespielt wurden. Textgrundlage ist eine Ode von WH Auden. Der englische Dichter nahm 1946 die amerikanische Staatsbürgerschaft an und war zeitweise mit der aus Nazideutschland emigrierten Tochter des Schriftstellers Thomas Mann, Erika, verheiratet, um ihr zu einem englischen Reisepass zu verhelfen. Auden lebte mit Christopher Isherwood in Berlin zusammen und verfasste mit seinem späteren Lebensgefährten Chester Kallman die Libretti für für Strawinsky The Rake’s Progress sowie Henzes Bassariden und Elegie für junge Liebende. In England haben Kompositionen für Cecilia, die Schutzpatronin der Musik,  Tradition. Zudem fühlte sich Britten der Heiligen auch dadurch verbunden, weil er am ihrem Gedenktag, dem 22. November, geboren wurde. Der Musikexperte Philip Rupprecht bescheinigt dem Stück mit neoklassischen Elementen im Booklet eine „erstaunliche Leuchtkraft“. Der Rias Kammerchor bringt sie durch seine feinsinnige Interpretation zum Klingen. Eingeleitet wird das Programm der CD mit den „Choral Dances“ aus der Oper Gloriana, die schon kurz nach deren Uraufführung als eigenständiges Werk Verbreitung fanden. Den Abschluss bildet eine Sammlung aus sieben Gedichten von Gerald Manley Hopkins: „A.M.D.G. (Ad majorem Dei gloriam“. Britten komponierte sie im August 1939 in New York kurz nach seiner Begegnung mit Pears.

 

Im Schaffen von Britten führt „The Heart of The Matter“ ein seltsames Dasein. Denselben Titel trägt ein 1948 veröffentlichter Roman von Graham Greene, der in Großbritannien bis heute sehr hoch geschätzt wird. Die Hauptfigur begeht Selbstmord, wohl wissend, damit eine schwere Schuld auf sich zu laden. Auch der Britten sehr verbundene australische Pianist Noel Mewton-Wood schied freiwillig aus dem Leben. Zu seinem Gedenken entstand 1954 das Lied Canticle III, op. 55 „Still falls the rain“ nach einem Gedicht der Lyrikerin Edith Sitwell. Um dieses Lied gruppierte Britten zwei Jahre später für das Festival in Aldeburgh weitere Gesänge aber auch von der Dichterin persönlich vorgetragene Verse. Weitere Aufführungen gab es nicht. Erst 1983 stellte Peter Pears eine revidierte Fassung her. Nachzulesen ist die bewegte Entstehungsgeschichte in einem Text von Daniel Lienhard für die Aufnahme von Christoph Prégardien bei Challenge Classics (CC72771). Eröffnet wird das Werk von einem Hornsignal, ausgeführt von Olivier Darbellay spielt. Am Piano waltet Michael Gees. Das Horn ist denn auch das verbindende Instrument zu den übrigen Titeln der Produktion, die bis aus Schuberts „Auf dem Strom“ interessante Ausgrabungen sind: „Die Seejungfern“ und „Herbst“ von Franz Lachner, „Das Mühlrad“ und „Ständchen“ von Conradin Kreutzer. „Sehnsucht“ und das „Fischermädchen“ dürften die einzigen Werke des 1812 in Breslau geborenen und 1893 in Stettin gestorbenen Carl Kossmaly, sein, der auch als Dirigent und Musikkritiker wirkte, die es jemals auf CD schafften. Mit nationalistischen Lied „O Deutschland hoch in Ehren“ erlangte Henry Hugo Pierson zweifelhafte Berühmtheit. Der 1815 in Oxford geborene Komponist lebte seit 1863 dauerhaft in Deutschland und veröffentlichte seine Werke auch unter mehreren anderen Namen, darunter als Edgar Mansfeld(t). Von ihm wurde „Jägers Abschied“ ausgewählt. Die literarische Vorlage lieferte das von Ferdinand Freiligrath ins Deutsche übersetzte Gedicht des Schotten Robert Burns. Rüdiger Winter

Ein Isländer in Berlin

 

Der aus Island stammende junge Tenor Benedikt Kristjánsson ist kein Unbekannter mehr. Mit Bach tourt er durch Deutschland, Europa und inzwischen weit darüber hinaus. Verpflichtungen führten ihn ins Konzerthaus Wien, zur Chapelle Royal in Versailles, in die Walt-Disney-Hall in Los Angeles und in den Concertgebouw Amsterdam. Er arbeitete mit zahlreichen Orchestern zusammen – darunter die Deutschen Kammerphilharmonie Bremen, die Gaechinger Cantorey, die Hofkapelle München, die Nederlandse Bachverening, die Akademie für Alte Musik Berlin und das Freiburger Barockorchester. Er sang auch an der Staatsoper in Berlin, im Theater Kiel und im Staatstheater Braunschweig. Bei diversen Festivals wie dem Musikfest Stuttgart, den Thüringer Bach-Wochen, den Händefestspielen in Halle und beim Festival Oude Muziek in Utrecht ist sein Name auf Besetzungszetteln zu finden. Es hat den Anschein, als finde er mit Barockmusik das Zentrum der klug geplanten Karriere. Und es ist an der Zeit, dass sich eine Firma seiner annimmt und eine der Bachschen Passionen auf CD herausbringt.

Benedikt Kristjánsson lebt seit mehr als zehn Jahren in Berlin, wo er auch regelmäßig auftritt. Das Foto oben ist ein Ausschnitt aus diesem Porträt, das uns der Sänger freundlicherweise zur Verfügung stellte. Foto: Antje Jandrig / website

Obwohl die Stimme zart und empfindsam, wenn nicht gar empfindlich wirkt, steht er die gewaltige Aufgabe beispielsweise in der Johannespassion – neben dem wortreichen Evangelisten auch noch vier Arien und ein Arioso – ohne jede Ermüdungserscheinung durch. Dabei erweckt er nicht den Eindruck, besonders ökonomisch vorgehen zu müssen, sich die Partie geschickt einzuteilen, hier etwas zu sparen, dafür an anderer Stelle zuzugeben. Kristjánsson ist immer zu hundert Prozent bei der Sache, bis zum letzten Ton. Seine Stärke ist neben dem unverwechselbaren jugendlichen Timbre, die Sicherheit in der Beherrschung der Partien. Er hat sie bis zum Perfektionismus studiert. So gut studiert, dass auch alle Besonderheiten und Eigenwilligkeiten der Sprache bewahrt bleiben. Nichts verwischt oder versinkt im Unbestimmten. Deutlichkeit wird zu dem, was sie sein soll und muss – nämlich Deutung. Obwohl er beim Singen in Konzerten kaum einen Blick in die Noten zu werfen braucht, hat er sie meist vor sich. Das ist ein schöner Brauch und Ausdruck des Respekts vor dem, was der Komponist niedergeschrieben hat. Er verfügt über eine sehr biegsame  Stimme mit festem Sitz. Sein Vortrag ist stilistisch makellos – und tief im Ausdruck, auf den er sich deshalb so konzentrieren kann, weil ihn keine technischen Probleme plagen. So ein Ebenmaß ist selten. In Händels Messiah hat der Tenor aus dem Stand die ersten Töne nach der einleitenden Symphony zu singen: „Comfort ye“. Kristjánsson lässt den ersten Ton so unmerklich anschwellen, dass es den Zuhörern zu Herzen geht. Ist diese heikle Stelle bewältigt, nimmt das Werk was wie von selbst Fahrt auf.

Benedikt Kristjánsson ist in Húsavík in Island geboren. Erst sechzehn Jahre alt, erhielt er seinen ersten Gesangsunterricht bei seiner Mutter Margrét Bóasdóttir an der Reykjavík Akademie für Gesang. Er war Mitglied und Solist in dem renommierten Jugendchor „Hamrahlioarkórinn“ unter der Leitung von Thorgerdur Ingolfsdottir und studierte schließlich bei dem auf Bach spezialisierten amerikanischen Tenor Scot Weir an der Musikhochschule „Hanns Eisler“ in Berlin. Meisterkurse belegte er bei Peter Schreier, Christa Ludwig, Elly Ameling, Robert Holl, Andreas Schmidt und Helmut Deutsch. Kristjánsson ist ein 1. Preisträger des Internationalen Gesangs-Wettbewerbs cantateBach in Greifswald und ein Publikumspreisträger des Internationalen Bach-Wettbewerb in Leipzig. Rüdiger Winter stellte ihm Fragen.

 

Sie stammen aus Island und leben derzeit in Berlin. Island hat 300 000 Einwohner, Berlin 3,5 Millionen. Warum also Berlin, wo es sehr eng und laut ist? Natürlich vermisse ich die isländische Natur sehr. Aber ich bin erstmal nach Berlin gekommen, um zu studieren, und ich bin in der Stadt geblieben, weil ich hier natürlich viel bessere Auftrittsmöglichkeiten habe als in Island. Berlin ist manchmal eng und laut, aber trotzdem eine wunderbare Stadt.

 

Benedikt Kristjánsson singt auch gern Volkslieder seiner isländischen Heimat – hier ein Screenshot aus einem Video auf seiner Website

Wir Deutschen wissen viel zu wenig über isländische Musik. Zuerst denken wir immer an Björk. Wie kann sich das ändern? Das muss sich gar nicht ändern! Björk finde ich ganz großartig. Ich hatte einmal das Vergnügen, mit ihr zu arbeiten. Sie hat ein paar Songs arrangiert für Kammerchor, Orgel und Beatboxer. Wir haben diese Titel dann für das isländischen Fernsehen aufgenommen. Sie ist eine tolle Person. Aber zurück zu der Frage. Ich hoffe sehr, dass die Deutschen die isländischen Volkslieder kennenlernen werden, wenn sie meine CD hören, die im April 2019 herauskommt. Sie erscheint beim Label Genuin. Zu hören ist ein Programm wie ich es schon beschrieben habe: Isländische Volkslieder a Capella gesungen, verbunden mit Liedern von Franz Schubert.

Auf Ihrer Homepage gibt es bereits interessanten Clip. Auf ein isländisches Volkslied folgt ohne Pause „Du bist die Ruh“ von Schubert. Es ist, als würden beide Lieder zusammengehören. Empfinden Sie das auch so? Ja, ich habe tatsächlich versucht, die Lieder zu verbinden. Die Texte passen gut zusammen, und die Tonarten auch. Das Volkslied erklingt in der Phrygischen Kirchentonart, wo der Grundton „Es“ ist. Das Schubert Lied „Du bist die Ruh“ erklingt dann in Es-Dur. Somit ist der erste Es-Dur-Klang in dem Schubert Lied eine Art „Auflösung“ von der Kirchentonart. So ist es zumindest gedacht.

 

Sie nahmen an Meisterkursen mit bedeutenden Sängern teil. Was haben Sie von Peter Schreier gelernt, der hier in Deutschland noch immer sehr verehrt wird? Ich habe schon sehr viel von Peter Schreier gelernt, bevor ich die Ehre hatte, ihn persönlich kennenzulernen. In Vorbereitung meines ersten Evangelisten in der Johannespassion von Bach habe ich alles mir alles genau angehört, was er gemacht hat. Ich finde, dass er einen ganz neuen Maßstab gesetzt hat mit seiner Interpretation des Evangelisten. Als ich an seinem Meisterkurs teilnahm, war er eigentlich sehr zufrieden mit mir, und das war für mich natürlich ein sehr schönes Gefühl. Es handelte sich um einen Liedkurs. Und als ich das Lied „Neue Liebe“ von Felix Mendelssohn gesungen habe, hatte ich etwas Angst vor einem hohen Ton. Das hat Schreier natürlich gleich bemerkt, und mir gesagt: „Es muss ja nicht alles schön klingen!“ Dadurch hat er mir Mut gemacht und ich konnte den Ton dann ohne Angst singen, und wahrscheinlich genau so, wie er es haben wollte.

 

Peter Schreier hat sich nie auf ein Genre festgelegt – und dirigierte sogar. Oper, Lied und Oratorium gehörten für ihn zusammen. Wie ist das bei Ihnen? Ja, das sehe ich auch so. Aber jede Stimme ist anders, und ich denke, dass meine Stimme begrenzter ist als die von Schreier. Er hat in seine Karriere Bach, Mozart und sogar Wagner gesungen. Ich komme mit Bach sehr gut klar, und bei Mozart stellt sich schon die stilistische Frage, ob meine Stimme die richtige dafür ist dafür? Und die Wagner-Opern werde ich höchstwahrscheinlich nur als Zuhörer genießen. Ich habe in meinem Heimatland ein kleines Bach-Kantaten-Projekt gestaltet, bei dem ich singe und dirigiere. Das machte mir sehr viel Spaß, und ich kann mir schon vorstellen, in der Zukunft mehr solche Sachen zu machen.

 

Wird es nicht Zeit für eine neue Rolle auf der Opernbühne? Doch. Letztes Jahr konnte ich zwei Haute-Contre-Rollen singen, und ich fühlte mich da sehr wohl. Deshalb möchte unbedingt in diese Richtung weiterarbeiten. Eine Traumrolle ist Platée von Rameau. Irgendwann muss ich auch einen Tamino ausprobieren …

 

Als Schäfer Acis in Händels Acis und Galetea bei den dem Komponisten gewidmeten Festspielen in Halle. Das Foto entnahmen wir mit Dank von der Website des Sängers, wo auch ein filmischer Ausschnitt zu sehen ist: www.kristjansson-tenor.com

Als ich Sie in der Johannespassion von Bach hörte, ist mir aufgefallen, wie genau Sie singen. Sie treffen auf Anhieb jeden Ton. Ist das Begabung oder nur harte Arbeit? Ich denke, es ist immer eine Mischung von beiden. Ich habe eine klare Stimme, und mir fällt es leicht, ohne Vibrato zu singen. Das sind Eigenschaften, die für den Evangelisten sehr wichtig sind, weil es dort sehr viel um die Textverständlichkeit geht. Mein Traum als Sänger war es immer, den Evangelisten zu singen – und insofern arbeite ich natürlich sehr viel daran, es so gut zu machen wie es mir möglich ist, und versuche mich immer weiter zu verbessern.

 

Sie sind stets sehr gut zu verstehen – ein Vorzug, der nicht bei allen Sängern anzutreffen ist. Ihr Deutsch ist makellos. Wo haben Sie so gut Deutsch gelernt? Vielen Dank, das freut mich zu hören. Ich war als Kind ein Jahr auf der Grundschule in Heidelberg und habe in diesem Jahr sehr gut Deutsch gelernt. 2008 begann ich mein Studium in Berlin und wohne nun fast seit elf Jahren in dieser Stadt. Normalerweise ist die Musik auf den Text geschrieben und nicht umgekehrt. Deswegen finde ich es gerade sehr wichtig, den Text so gut auszusprechen, dass man ihn auch versteht. Natürlich gibt es nicht nur den einen richtigen Weg, den Text zu verstehen. Wenn ich aber einen Text selbst vollkommen verstehe, dann kann ich ihn auch den durch meinen Gesang für andere verständlich machen. Daran glaube ich.

 

Haben Sie musikalisch Vorlieben? Was hören Sie, wenn sie nicht singen? Zu Hause oder unterwegs vom Smartphone? Wenn ich nicht etwas höre, was ich gerade für die Arbeit vorbereiten muss, dann höre ich zum Beispiel Frank Sinatra, Nat King Cole oder die King’s Singers. Ich höre auch immer gerne Aufnahmen von Fritz Wunderlich.

Hilde Zadek

 

Als die Sopranistin Hilde (eigentlich Hildegard) Zadek am 15. Dezember 1917 in Bromberg, damals preußische Provinz Posen, geboren wurde, regierte noch der Kaiser. Und seit ihrem Bühnenabschied 1971 (als Gerhilde in der Walküre an der Wiener Staatsoper) ist auch bereits nahezu ein halbes Jahrhundert vergangen. Nun ist Hilde Zadek am 21. Februar 2019 im hohen Alter von 101 Jahren in Karlsruhe verstorben. Kindheit und Jugend verbrachte sie in Stettin, musste 1935 als Jüdin emigrieren und ging nach Palästina, wo sie am Konservatorium von Jerusalem eine Musik- und Gesangsausbildung absolvierte. Auch ihre Eltern und ihre beiden jüngeren Schwestern hatten das Glück, dem nationalsozialistischen Terror 1939 im letzten Augenblick zu entkommen. Gleich nach Kriegsende ging Zadek zurück nach Zürich und wurde durch den damaligen Wiener Staatsoperndirektor Franz Salmhofer entdeckt.

Quasi ungeprobt erfolgte am 3. Februar 1947 am Haus am Ring ihr professionelles Debüt in der Titelrolle von Aida, was zum großen Erfolg wurde und ihre Bindung zur Wiener Staatsoper bekräftigte. Insgesamt sang sie im darauffolgenden Vierteljahrhundert nicht weniger als 39 Rollen an 37 verschiedenen Opernhäusern, darunter diejenigen in München, Berlin, Paris, London, Amsterdam, Lissabon, Moskau, New York und San Francisco. Zudem gastierte sie bei den Festspielen von Salzburg, Edinburgh, Glyndebourne sowie beim Holland Festival. Sie trat ferner als Lied- und Konzertsängerin auf und war sich auch für die Operette keineswegs zu schade (Zellers Vogelhändler). Zadeks enormes Repertoire reichte von Gluck (Alceste, Iphigenie) über Mozart (Donna Elvira, Vitellia, Erste Dame), Beethoven (Leonore), Verdi (Aida, Elisabetta, Desdemona, Flora Bervoix, Leonora, Amelia), Wagner (Senta, Eva, Elsa, Sieglinde, Gerhilde, Dritte Norn) Strauss (Marschallin, Ariadne, Arabella, Salome, Chrysothemis), Giordano (Maddalena di Coigny) und Puccini (Tosca) bis hin zu Schostakowitsch (Katerina Ismailowa), Korngold (Marietta in Die tote Stadt), von Einem (Julie in Dantons Tod) und Menotti (Magda Sorel in Der Konsul). Die meisten dieser Partien sang Hilde Zadek auch an ihrem Wiener Stammhaus.

Nach ihrem Abschied von der Bühne hatte sie die 1964 übernommene Leitung der Gesangsabteilung am Konservatorium der Stadt Wien noch bis 1978 inne und war auch danach als Gesangspädagogin tätig, wo sie Meisterkurse auch in Karlsruhe und Jerusalem, in der Schweiz und in Italien abhielt. Ihr zu Ehren wurden bereits 1997 die Hildegard Zadek Stiftung und im Jahr darauf der Internationale Hilde-Zadek-Gesangswettbewerb ins Leben gerufen. Schon 1951 zur Österreichischen Kammersängerin ernannt, folgten zahlreiche weitere Auszeichnungen, darunter das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst (1965), die Ehrenmitgliedschaft der Wiener Staatsoper (1977), die Ehrenmedaille der Bundeshauptstadt Wien in Gold (1978) und das Große Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich (2012). Den Professorentitel erhielt Zadek 1971 von der Musikakademie der Stadt Wien, die Ehrendoktorwürde der Hochschule für Musik in Karlsruhe 2007 anlässlich ihres 90. Geburtstages. Ihre Diskographie ist vielfältig und berücksichtigt insbesondere ihre Glanzzeit in den 1950er und frühen 1960er Jahren. Ihr Stammhaus, die Wiener Staatsoper, widmete ihr einen Nachruf, dem wir das Foto entnahmen. Daniel Hauser

Echo eines großen Abends

 

Italienisches Liederbuch von Hugo Wolf mit Diana Damrau und Jonas Kaufmann: Wer sich mit verhaltenem Interesse, gar Zweifeln auf den Weg in das Konzert gemacht hatte, sah sich auf der ganzen Linie widerlegt. Innerlich war ich auf einen Event zweiter Weltstars eingestellt und verließ der großen Saal der Berliner Philharmonie am 6. Februar 2018 mit der Gewissheit, einen großen Abend erlebt zu haben, bei dem die Kunst triumphierte und nicht allein der Ruhm der beteiligten Protagonisten, die von Helmut Deutsch, dem nicht weniger berühmten Mann am Flügel, begleitet wurden. Oft ist es umgekehrt. Beide Solisten waren perfekt studiert. Sie brachten kein Notenblatt in Reichweite, nicht einmal einen Spickzettel mit der Reihenfolge der sechsundvierzig Lieder. Mit stoischer Gelassenheit blätterte Deutsch selbst um. Wahrscheinlich hätte auch er gar keine Noten gebraucht. Diese enorme Sicherheit auf dem Podium des so gut wie ausverkauften Saals im Umgang mit einem nur vordergründig leicht wirkenden Werk eröffnete der Interpretation große Spielräume. Nun ist das Liederbuch, das die Künstler an mehreren Orten vorgetragen hatten, bei Erato auf CD erschienen (0190295658663). Dafür wurde ein Mitschnitt des Konzerts im Alfred Krupp Saal der Philharmonie Essen gewählt.

Auch für dieses Konzert war die Abfolge der Lieder umgestellt, drastisch umgestellt worden. Obwohl das Liederbuch mit fünf Jahren Unterbrechung zwischen beiden Teilen entstand, sind keine Brüche hörbar, die durch die veränderte Zusammenstellung hätten ausgeglichen werden müssen. Damrau und Kaufmann sind nicht die ersten Sänger, die die originale Reihung verlassen haben. Daran ist nichts auszusetzen, zumal ihr Konzept darauf abzielte, eine gewisse inhaltliche Perspektive zu eröffnen. Das Liederbuch als eine Art Singspiel. Nur das berühmte Eröffnungslied „Auch kleine Dinge können uns entzücken“ und das Finale mit „Ich hab‘ in Penna einen Liebsten wohnen“ blieben an ihren angestammten Plätzen. Alle anderen Nummern wurden kühn durcheinander gewürfelt. Hörer, die an eine bestimmte Ordnung gewöhnt sind, diverse Einspielungen kennen und das Werk in Gedanken mitsingen können, dürften sich gewundert haben. Im Booklet wird mit keinem Wort darauf eingegangen.

Ein Singspiel also. Beide Protagonisten unterlagen im Konzert aber nicht der Versuchung, mit Gesten und Mimik mehr als nötig draufzusatteln, was auf der CD ohnehin weggefallen wäre. Die Deutung ergibt sich allein aus den Liedern, die textlich weitgehend sehr gut zu verstehen sind. Weniger ist oft mehr. Das heißt aber nicht, dass auf dem Podium herumgestanden wurde. Leidenschaft, Liebeskummer, Streit, Angst, Melancholie, Prahlerei, religiöse Inbrunst – und was noch die menschliche Seele hervorzubringen vermag – gingen durch Andeutungen oder schüchterne Annäherungen in die Darstellung ein. Diskret und oft auch mit Witz. Im Fortschreiten des Werkes – auch das offenkundig gewollt – wurden die Aktionen etwas deutlicher und stärker. Das hört man jetzt auch. Diana Damrau und Jonas Kaufmann konnten das Spiel durch Erscheinung und schauspielerisches Talent glaubhaft machen. Man schaut diesen beiden gut aussehenden Menschen einfach gern zu. Die CD nimmt diese Aussicht weg. Es wäre viel besser gewesen, einen Mitschnitt auf DVD herauszugeben zu haben. Jetzt wirkt das Dokument wie die abgetrennte Tonspur eines Films. Die ursprüngliche Einzigartigkeit des ganzen Projekts ging verloren. Das ist sehr schade. Im Booklet gibt es schöne Fotos, die das Liederbuch zeitgemäß illustrierten sollen. Sie sind aber kein Ersatz für das, was sich im Konzert ereignete.

Damrau und Kaufmann passen im Timbre und Temperament sehr gut zusammen, was dem Werk entgegen kommt. Sie nehmen sich gegenseitig nichts weg und haben sichtbar großen Respekt voreinander. Jeder darf auch seine eigenen Höhepunkte haben. Der Sopran – um eines von vielen Beispielen zu nennen – „Wenn Du, mein Liebster, steigst zum Himmel auf“, der Tenor – auch dies nur eine von mehreren Angeboten – „Sterb‘ ich, so hüllt in Blumen meine Glieder“. Spürbar war und ist das starke Bemühen um Natürlichkeit und Schlichtheit. Vor allem Kaufmann wirkte und wirkt sehr ausgeruht und erholt. Mezza voce tut ihm gut nach all den kräftezehrenden Opernpartien. Er sollte viel mehr Lieder singen. Rüdiger Winter

Wilma Lipp

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Es muss um 1970 gewesen sein. Wilma Lipp gastierte in Jena, der Universitäts- und Industriestadt in Thüringen, DDR. Stars aus dem Westen verirrten sich höchst selten in ostdeutsche Provinzen, zumal zu damaliger Zeit, als sich die beiden Systeme im kalten Krieg hochbewaffnet gegenüber standen. Die Lipp traute sich. Das nahm das Publikum zusätzlich für sie ein. Ob sie auch auf dem Höhepunkt ihres Ruhms gekommen wäre, darf zumindest angezweifelt werden. Als ich sie hörte, hatte sie die Grenzen ihrer erfolgreichen Karriere erreicht und begann sich von der Opernbühne zurückzuziehen. Noch immer verbreitete diese Sängerin Glanz. Mehr als an das Programm erinnere ich mich an ihre hinreißende Erscheinung. Sie sah blendend aus. Brillanten funkelten. Sie sang Lieder. Dabei hätte ich sie am liebsten als Königin der Nacht gehört. Ihr Ruhm, der sich vor allem mit dieser Rolle verband, war bis in meinen Winkel gedrungen. Schallplatten, auf denen sie mitwirkte, gab es nicht zu kaufen. Man kannte sie aus dem Westfernsehn. Schubert war dabei und Mozart. Mehr weiß ich nicht. Für ein Programmheft hatte es wohl nicht gereicht.

Erst sehr viel später erfuhr ich, dass es mindesten sechs verschiedenen Zauberflöten-Aufnahmen gibt. In fünfen – die von Furtwängler, Karajan, Böhm und Keilberth dirigiert werden – ist sie die Königin. Als sie zur Pamina wechselte, setzte sie Karajan 1962 für seine Produktion im Theater an der Wien gemeinsam mit Nicolai Gedda ein. Davon hat sich auch ein Mitschnitt erhalten. Professionelle Rollenwechsel waren für sie nicht ungewöhnlich. In Falstaff war sie Nanetta und Alice. In Janáceks Oper Die Ausflüge des Herrn Broucek sang sie 1959 sowohl in der Produktion im Münchner Prinzregentheaters unter Keilberth (deutsche Erstaufführung) als auch bei der von ihm betreuten Aufnahme des Westdeutschen Rundfunks gleich drei verschiedene Rollen. Und in der Fledermaus ging sie von der Adele zur Rosalinde über.

Vor die Wahl gestellt, mich für eine Rolle der Lipp, die sie auf Tonträgern hinterlassen hat, zu entscheiden – ich würde ohne Zögern die Adele nennen. Die Aufnahme entstand 1950 mit den von Clemens Krauss geleiteten Wiener Philharmonikern für die Decca. Sie kommt völlig ohne Mätzchen aus, ist idiomatisch auf dem Punkt und lässt das Ensemble triumphieren. Krauss duldet keinem der Mitwirkenden, auszuscheren und sich herauszuheben. Alle haben dem Komponisten Strauß zu dienen. Es gibt keine Stars. Der Star ist das Werk. Auch die Lipp reißt nicht aus, sondern bringt sich mit stimmlicher Delikatesse einer gewissen Demut als das ein, was sie ist – das legendäre Kammermädchen. Das Kammermädchen an sich. Es ist, als ob sie dieser Gattung ein Denkmal setzt. Damals dürfte Wilma Lipp schon auf dem Höhepunkt ihres Könnens gewesen sein.

Geboren wurde sie am 26. April 1926 in Wien. Sie begann noch als Kind mit Musikunterricht und studierte später bei Toti dal Monte in Mailand, die sie Koloraturen lehrte und in der Heimatstadt bei Anna Bahr-Mildenburg, die ihr auch dramatisches Fähigkeiten vermittelt haben dürfte. In Wien wurde sie von der Staatsoper zunächst als Elevin, danach als vollwertiges Ensemblemitglied aufgenommen. 1948 durfte sie erstmals für eine ausgefallene Kollegin die Königin der Nacht singen. Damit war ihr Weg nach oben geebnet. Noch vor der Wiedereröffnung des im Krieg schwer zerstörten Opernhauses wurde sie 1953 zur jüngsten Kammersängerin ernannt. Am 26. Januar 2019 ist Wilma Lipp in Inning am Ammersee gestorben.

Die Wiener Staatsoper würdigt sie in einem Nachruf: „Wilma Lipp war eine prägende Gestalt des Wiener Mozartensembles nach der Wiedereröffnung der Wiener Staatsoper. Sie war eine der wichtigsten Sängerinnen der Böhm- und Karajan-Zeit sowohl auf der Bühne als auch auf Aufnahmen. Neben ihrem sängerischen Wirken hinterlässt sie ein Vermächtnis als große Pädagogin und als Vorbild für das heutige Solistenensemble: Wilma Lipp hat hingebungsvoll vorgelebt, wie man als festes Mitglied an einem Haus künstlerisch aufblühen und parallel dazu eine internationale Karriere aufbauen kann. Wir verneigen uns in Dankbarkeit und Demut vor Wilma Lipp, die vier Staatsopernjahrzehnte künstlerisch vergoldet hat“, so Staatsoperndirektor Dominique Meyer.  Rüdiger Winter

Foto oben: Im ORF 2012:  „Unsere Wiener Staatsoper“ – Erinnerungen an einen Neubeginn“, Eines der großen österreichischen Nationalsymbole, die Wiener Staatsoper, ist zehn Jahre nach dem Krieg aus den Trümmern neu erstanden. In der Dokumentation kamen jene Zeitzeugen zu Wort, die den Neuanfang miterlebt haben: Künstler wie Waldemar Kmentt, der bei der Wiedereröffnung 1955 im „Fidelio“ den ersten Ton im neuen Haus gesungen hat, Sena Jurinac, die sich zum Zeitpunkt des Bombentreffers im Keller der Staatsoper befunden hat, ferner unter anderen Elisabeth Schwarzkopf in einem ihrer letzten TV-Interviews, Wilma Lipp, Christa Ludwig, Karl Löbl und Ioan Holender. Der Film brachte erzählte Geschichte und räumte mit diversen Legenden rund um den Wiederaufbau der Oper auf. Buch und Regie: Otto Schwarz; Im Bild: Wilma Lipp/ ORF.  SENDUNG: ORF3 – SA – 29.12.2012

Den Meister gefunden

 

Der junge Bariton Samuel Hasselhorn scheint als Liedsänger in Robert Schumann einen Meister gefundene zu haben. Nach der Dichterliebe ist nun bei harmonia mundi eine weitere CD mit Liedern dieses Komponisten herausgekommen (HMN 916114). Diesmal sitzt Joseph Middleton aus England am Flügel. Der Neununddreißigjährige ist international als Liedbegleiter sehr gefragt. Mit Stille Liebe wurde ein Lied aus den Zwölf Gedichten von Justinus Kerner als Titel der Neuerscheinung gewählt. Es beginnt so: „Könnt‘ ich dich in Liedern preisen, säng‘ ich dir das längste Lied.“ An langen, balladesken Liedern gebricht es nicht. Die berühmte Löwenbraut nach Adelbert von Chamisso bringt es auf ganze acht Minuten. Sie können zur Ewigkeit werden, wenn die Spannung nicht hält. Bei Hasselhorn hält sie. Er hat Talent für Balladen wie diese. Ein Mädchen gewinnt das Vertrauen eines Löwen. Das wilde Tier wird zum Beschützer und Gespielen. Nachdem ein Freier in ihr Leben getreten ist, gilt es Abschied zu nehmen von dem treuen Tier, das seine Gefährtin aber nicht ziehen lassen will. Daraufhin lässt der Bräutigam Waffen herbei bringen. Da bemächtigt sich der Löwe der Braut, streckt sie nieder, legt sich in Verzweiflung auf sie und erwartet den Tod durch die Kugel. Seinem Vortrag gibt der Sänger ein gewisses Staunen bei, als könne er selbst diese unglaubliche Geschichte nicht begreifen. Das macht viel her. Sein Pianist unterstützt diese Interpretation durch dunkele, geheimnisvolle, gar bedrohliche Klänge als würden Glocken läuten. Es zeigt sich, dass beide sehr gut harmonieren und offenbar – jeder auf seinem Platz – dasselbe wollen.

Ist die Löwenbraut der Höhepunkte des Programms? Oder hinterlassen Die beiden Grenadiere noch mehr Eindruck? In diesem Lied dreht Hasselhorn das Tempo immer mehr auf als zöge er in eine gefährliche Schlacht, ohne dabei die sprachliche Genauigkeit zu vernachlässigen oder sie der Dramatik zu opfern. Er will immer gut verstanden werden, was für einen Liedsänger unerlässlich ist. Alles wird Ausdruck. Hasselhorn bemüht sich gar nicht erst um Schöngesang, wie er beispielsweise bei Hermann Prey in diesem Stück zu hören ist. Er singt ein Lied aus dem Krieg – ungestüm, erbarmungslos und voller Verzweiflung. Die Stimme ist dramatischer geworden. Wenn nicht gar auch etwas rauer. Es wird sich zeigen, ob er die Kanten noch glätten will oder ob er die Neigung zum Charakterbariton weiter verfolgen und ausprägen wird. Dass Samuel Hasselhorn auch reichlich lyrisches Potenzial besitzt, zeigt sich exemplarisch in Es fiel ein Reiß‘ in der Frühlingsnacht oder in einigen der Zwölf Gedichte von Johannes Kerner. Die neue CD vermittelt viel Enthusiasmus beim Liedgesang. Kein Wunder, dass er im Booklet ein flammendes Plädoyer für das Genre hält und der heutzutage weit verbreiteten Auffassung entgegentritt, das Kunstlied sei „alt, verstaubt und vom Aussterben bedroht“. Darin sieht Hasselhorn einen riesengroßen Irrtum.

 

Die Idee ist faszinierend. Samuel Hasselhorn hat gemeinsam mit dem Pianisten Boris Kusnezow zwei Dichterlieben vorgelegt. Wie das? Gibt es neben dem von Robert Schumann vertonten Zyklus nach sechzehn Gedichten von Heinrich Heine noch einen anderen? Ähnlich der Sammlung Frauenliebe und –leben, die bekanntlich auch Carl Loewe vertonte? Es ist ganz anders. Die Geschichte erzählt der Komponist Stefan Heucke im Booklet des Albums bei GWK Records (GWK 141). Nach seiner Darstellung sei es gar nicht bekannt, dass „namhafte Komponisten der Schumann- und späteren Zeit zwölf dieser Heine-Texte ebenfalls vertont haben“. Hingegen finden nun auf dieser CD  Lieder von  Fanny Hensel („Verlust“), Carl Loewe („Ich hab‘ im Traum geweinet“), Franz Liszt („Im Rhein, im schönen Strome“), Modest Mussorgsky („Aus meinen Tränen spießen“), Edvard Grieg („Hör ich das Liedchen klingen“), Felix Mendelssohn Bartholdy („Allnächtlich im Traume seh‘ ich dich“), Charles Ives („Ich grolle nicht“) und Robert Franz („Im wunderschönen Monat Mai“, „Die Rose, die Lilie“, „Ich will meine Seele tauchen“, „Am leuchtenden Sommermorgen“).

Robert Franz (1815-1892) hat in jüngster Zeit erfreulich viel Aufmerksamkeit erlangt – Aufmerksamkeit, die ihm auch zusteht. Aber warum nun gleich vier Vertonungen allein von ihm? Es hätte sich mehr Abwechslung angeboten. Das Auftaktgedicht des Zyklus, „Im wunderschönen Monat Mai“ ist nicht nur von Franz, sondern auch von etlichen anderen Komponisten in Töne gesetzt worden, darunter vom Schöpfer der Oper Der Trompeter von Säckingen, Victor Ernst Nessler (1841-1890). Für mehr internationales Flair bei der Auswahl hätte der Amerikaner James Hotchkiss Rogers (1857-1940) gestanden. „Die Rose, die Lilien“ gibt es – um nur ein Beispiel von vielen zu nennen – auch von Giacomo Meyerbeer und so weiter und so fort. Heucke: „Vier Gedichte indessen fehlten im Hinblick auf den von Schumann vertonten Corpus.“ Von seinen Freunden Assaf Levitin (Bass) und Dan Deutsch (Klavier) sei er gefragt worden, ob er sich eine Zweitvertonung dieser vier Gedichte vorstellen könnte. „Trotz schwerer Bedenken, damit in den unmittelbaren Vergleich mit einigen der größten Schumann-Lieder zu geraten“, nahm er den Auftrag schließlich an. Die künstlerischen Skrupel sprechen für den Komponisten. Der stellte seine Kompositionen unter den Titel „Nachtigallenchor“. Damit gebe es nun zwei vollständige Zyklen zum Thema „Dichterliebe“. Bei den vier Liedern Heuckes handelt es sich um „Das ist ein Flöten und Geigen“, „Ein Jüngling liebt ein Mädchen“, „Aus alten Märchen winkt es“ und „Die alten, bösen Lieder“.

 

Auch Fanny Hensel – hier auf einem Gemälde von Daniel Moritz Oppenheim – hat das Gedicht „Verlust“ komponiert / Foto Wikipedia

Eine für den Liedgesang sehr wichtige Quelle im Internet, das LiederNet-Archiv, weiß es anders. Dort findet sich für die angeblich außer von Schumann nicht vertonten Gedichte eine Vielzahl von Kompositionsbeispielen. Und nicht nur für diese. Alle Gedichte der „Dichterliebe“, wurden jenseits von Robert Schumann vielfach in Töne gesetzt. Wenn ich richtig gezählt habe, gibt es – um bei einem Fall zu bleiben – von „Ein Jüngling liebt ein Mädchen“ mehr zwanzig Versionen. Unter den Komponisten sind Namen wie Eyvind Alnaeas (1872-1932) aus Norwegen, der tüchtiger Franz Lachner (1803-1890), der mehr als zweihundert Lieder hinterließ, Wilhelm Killmeyer (1927-2017), Reiner Bredemeyer (1929-1995) und Manfred Schmitz (1939-2014), zwei, die das musikalische Leben in der DDR maßgeblich mitgeprägt haben, August Horn (1825-1893), der in Leipzig als Liedkomponist bekannt wurde, der Kirchenmusiker Franz Xaver Dressler (1898-1981), der vornehmlich in der deutschen Schlagerbranche außerordentlich erfolgreiche Christian Brun (geb.1934), Heinrich Henkel (1822-1899), Königlich-Preußischer Musikdirektor, Heinrich Huber (1879-1919), Chorleiter in Schongau, wo er auch Messen, zwei Requien und viele Lieder schuf, Emil Kreuz (1867-1932), der in London hoher Anerkennung erfuhr und es zum musikalischen Vizedirektor in Covent Garden brachte, der niederländische Pianist, Dirigent und Komponist Reinbert de Leeuw (geb. 1938), Ernst Otto Nodnagel (1870-1909) aus Königsberg, wo er nicht nur komponierte sondern auch als Sänger, Schriftsteller und Musikkritiker hervortrat, Jakob Rosenhain (1813-1894), der neben seiner Tätigkeit als Pianist Opern schrieb, in Paris von Rossini und Cherubini gefördert wurde und mit Berlioz verkehrte, Johann Vesque von Püttlingen (1803-1883) der als wichtiger Liedschöpfer in Österreich zwischen Schubert und Brahms gilt, der Schweizer Carl Vogler (1874-1951), der Ire Wilhelm Vincent Wallace (1812-1865), der an der Gründung der New Yorker Philharmoniker beteiligt gewesen ist sowie die englische Komponisten Maude Valerie White (1855-1937). Schließlich wurde die Chance verpasst, dem 1944 in Auschwitz ermordeten Österreicher Marcel Tyberg mit seiner Komposition des Liedes „Ein Jüngling liebt ein Mädchen“ ein Denkmal zu setzen.

Als Komponist dieser literarischen Vorlage versuchte sich auch der Diplomat und Vertraute des deutschen Kaisers Wilhelm II., Philipp zu Eulenburg (1847-1921), der durch andere historische Begebenheiten bis in die Gegenwart bekannt blieb. Ab November 1906 warf ihm der Publizist Maximilian Harden Eulenburg in mehreren Artikeln andeutungsweise vor, homosexuell zu sein. In der Folge kam es von Herbst 1907 an zu mehreren Aufsehen erregenden Prozessen, die sich zunächst indirekt und dann auch direkt gegen Eulenburg wegen Vergehens gegen Paragraph 175 (Reichsstrafgesetzbuch) richteten. Zu einer Verurteilung kam es aber nicht mehr, obgleich Harden Zeugen unter Eid vorführte, die regelmäßig mit Eulenburg verkehrt haben sollten. Eulenburg war seit 1908 wegen seines Nervenleidens prozessunfähig. Die sogenannte Harden-Eulenburg-Affäre war einer der größten Skandale im wilhelminischen Deutschland. Der letzte Kaiser war politisch bloßgestellt und ließ Eulenburg fallen.

Die beschränkte die Komponisten-Auswahl auf der CD lässt sich auch damit erklären, dass es einen enormen Arbeitsaufwand bedeutet hätte, weiterer alternativer Vertonungen habhaft zu werden. Sie sind gewiss nicht alle verlegt worden und dürften über viele Archive verstreut sein. Ein Hinweis darauf hätte sich aber angeboten. Die vorliegende Interpretation bleibt von diesen Einwänden unberührt.

 

Von Robert Franz wurden gleich vier Lied-Vertonungen in die alternative „Dichterliebe“ übernommen / Foto Wikipedia

Obwohl sich junge Sänger neuerdings in den Booklets ihrer CDs gern selbst zu Wort melden, die Auswahl begründen, dabei auch mitunter freimütig eigene Gefühle einfließen lassen – Samuel Hasselhorn verzichtet darauf. Ist es Zufall oder Absicht? Wie auch immer. Seine Hörer müssen sich an das halten, was er musikalisch zu sagen hat. Und darauf kommt es schließlich an. Mit seinen achtundzwanzig Jahren ist er kein Unbekannter mehr. Er hat Wettstreite gewonnen – zuletzt den König-Elisabeth-Wettbewerb 2018. Im selben Jahr holte er sich auch den Emmerich-Smola-Preis bei „SWR Junge Opernstars“. Das ist ein gutes Omen. Smola, Dirigent und Produzent, hatte ein sicheres Gespür für Begabungen und ebnete beispielsweise Fritz Wunderlich maßgeblich den Weg zu internationalem Ruhm. Studiert hat er in Hannover und Paris. Erfahrungen sammelte er bei Meisterkursen unter anderen von Kiri Te Kanawa, Kevin Murphy, Thomas Quasthoff, Helen Donath, Annette Dasch. Inzwischen ist Hasselhorn festes Mitglied der Wiener Staatsoper, wo er den Ottokar im Freischütz und den Schaunard in der Bohéme gab. In diesem Jahr folgt der Belcore in L’esir d’amore. Für den Anfang ist das viel. Debüts als Liedsänger in München, London, Madrid, Moskau und Zürich hat er hinter sich. Strategisch klug geplant, geht der Hoffnungsträger seine Karriere an, ohne sich zu früh festzulegen.

 

Nun also die vorliegende CD, die nicht nur wegen der Programmauswahl Aufmerksamkeit verdient. An Sängerkarrieren, die längst beendet sind, ist im Rückblick der Beginn oft besonders spannend, weil er ein Versprechen in die Zukunft enthält, weil Vollendung, die sich erst mit der Zeit einstellt – im schlimmsten Fall auch nie – erst als Entwurf vorhanden ist. Hasselhorn, von dem nach meiner Überzeugen noch viel zu hören sein wird, ist sehr gut gestartet. Er verfügt über grundsolides Material. Die Stimme klingt männlich und hat im gegenwärtigen Moment ihre Stärken in der Tiefe. Für einen Bariton darf es mehr Höhe sein. Die hat er, aber der Weg dorthin gestaltet sich dann steinig, wenn sie aus den unteren Lagen angesteuert werden muss. Das fällt beispielsweise bei dem originalen Schumann-Lied „Ich grolle nicht“ auf, das nur unter großem Kraftaufwand zu Ende gebracht wird. Schön klingt etwas anders. Der Amerikaner Ives geht in seiner Version etwas gnädiger mit stimmlichen Ressourcen um. Ist Hasselhorn aber erst einmal in Fahrt wie bei den neuen Kompositionen von Hauck, scheint sein Bariton mehr Halt zu gewinnen und schafft auch den Lagenwechsel besser. Insgesamt wünschte ich mir durchweg mehr Feinsinn und Geschmeidigkeit. Er geht mit seinem Material nach meinem Eindruck gelegentlich sehr unbedenklich und frei um. Liedgesang will auch nach innen gehen. Gut zu verstehen ist er meistens und erfüllt damit eine ganz wesentliche Voraussetzung für diese musikalische Sparte. Nur einzelne Wörter, Vokale und Konsonanten sind nicht perfekt genug. Doch wenn er zu Schumanns „Ich hab im Traum geweinet“ anhebt, treten alle kritischen Einwendungen in den Hintergrund. Mit diesem Lied bringt Hasselhorn den Zustand zwischen Traum und Wirklichkeit auf den lyrischen Punkt. Das will gekonnt sein – das ist der Höhepunkt dieser CD.  Rüdiger Winter

„Flügel musst du mir jetzt geben“

 

„Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“: In seine neue Edition von Melodramen („Flügel musst du mir jetzt geben“hat Peter P. Pachl dieses Werk von Rainer Maria Rilke gleich zweifach aufgenommen. Einmal von Casimir von Pászthory, der das Werk 1914 mit Klavierbegleitung versah, zum anderen in der Bearbeitung durch Viktor Ullmann aus dem letzten Jahr des Zweiten Weltkrieges 1944. Erschienen ist die Sammlung bei Thorofon (CTH26453). Der 1886 in Budapest geborene Pászthory kam schon in jungen Jahren nach Deutschland, ging dann nach Wien, wo er Jura studierte und sich bald der Musik zuwandte. Er war NSDAP-Mitglied. Vornehmlich komponierte er musikdramatische Werke und Lieder, die vergessen sind. Einzig seine 1942 entstandene Oper Tilmann Riemenschneider kam 2004 in Würzburg wieder auf die Bühne. Ullmann, dessen Eltern vom jüdischen zum katholischen Glauben übergetreten waren, hatte – wie Pászthory – auch in Wien zunächst juristische Studien aufgenommen und war schließlich Kompositionsschüler Schönbergs geworden. Sein Melodram entstand im KZ-Ghetto Theresienstadt, wohin ihn die Nationalsozialisten verschleppt hatten. Dort fand auch die erste Aufführung statt. Wenige Wochen danach wurde Ullmann in Auschwitz ermordet.

Gegensätzlicher können die Hintergründe beider Kompositionen nicht sein. Rilkes Prosastück, das in seiner Verdichtung Züge eines Gedichts trägt, traf schon kurz nach seiner Veröffentlichung auf ein damals vorherrschendes fatalistisches Lebensgefühl. Der Erste Weltkrieg lag in der Luft. Allenthalben war die Begeisterung für den Waffengang weit verbreitet. Vor diesem Hintergrund hatten Heldentod-Geschichten Konjunktur. Rilkes Werk eröffnete 1912 mit der Nummer eins und einer Auflage von zehntausend Exemplaren die berühmte Inselbücherei und war sofort vergriffen. Inzwischen hat die Auflage die Millionen-Grenze weit überschritten. Das schmale Bändchen steht in fast jedem Bücherschrank, wurde genauso anteilnehmend gelesen – wie auch eklatant missverstanden. Bis auf den Vorspann verarbeitete Pászthory den gesamten Text. Er braucht dafür mehr als eine halbe Stunde. Es gibt sehr melodiöse und elegische Momente. Wenn – um ein Beispiel anzuführen – die Rede auf „ein altes trauriges Lied“ kommt, „das zu Hause die Mädchen auf den Feldern singen, im Herbst, wenn die Ernten zu Ende gehen“, dann tönt aus dem Klavier eine entsprechende Melodie. Und wenn das Wachtfeuer brennt, dann tanzen die Flammen wie am Schluss von Wagners Walküre. Ullmann hält am Vorspann, der nicht ganz unwichtig ist für das Verständnis der Geschichte, fest. Dafür kürzt er an anderen Stellen und verdichtet damit den dramatischen Gehalt. Seine Tonsprache wirkt härter und unsentimental. In Booklet vermerkt Pachl aber auch musikalische Gemeinsamkeiten beider Werke und kommt zu dem Schluss, „dass Ullmann Pászthorys Version nicht unbekannt war“.

Pachl ist nicht nur Herausgeber der Edition, er spricht auch selbst. Und das hört sich gut an. Geboren wurde er in Bayreuth. Sprachlich, so scheint es, schlägt die fränkische Herkunft noch immer durch. Ein sympathischer Zug der ungewöhnlichen Produktion. Pachl ist als Regisseur, Hochschullehrer und Musikschriftsteller hervorgetreten und steht jetzt als Intendant den Berliner Symphonikern vor. Seinem vielseitigen und umtriebigen Wirken hatte er schon mit der ersten Sammlung von Melodramen, die ebenfalls bei Thorofon (CTH2633/3) herausgekommen war, eine weitere Facette hinzugefügt. Am Flügel wird er von Rainer Maria Klaas begleitet, der in beiden Produktionen auch als Komponist vertreten ist – zunächst mit Die Tanzgilde (Otto Julius Bierbaum nach Arne Garborg), jetzt mit dem Zauberlehrling nach der gleichnamigen Ballade Goethes, die er als „Improvisation“ versteht und die vom Vortragenden viel schauspielerisches Können abfordert. Es wird deutlich, dass sich die im 18. Jahrhundert verwurzelte musikalische Form noch längst nicht erschöpft hat.

Alexander Ritter und seine Familie waren Richard Wagner eng verbunden. Sein Melodram „Graf Walther und die Waldfrau“ basiert auf der gleichnamigen Ballade von Felix Dahn. Foto: Booklet

Der 1950 geborene Klaas ist der jüngste Komponist der neuen Edition – Alexander Ritter (1833-1896) der älteste. Mit ihm kommt auch Richard Wagner ins Spiel. In Dresden hatte Ritter die Uraufführungen von Rienzi, Holländer und Tannhäuser erlebt. Seine Mutter Julie unterstützte Wagner finanziell, Bruder Karl lebte als Schüler in dessen Umfeld. Auch Alexander, der in Liszts Weimarer Hofkapelle Violine spielte, kannte Wagner persönlich. Sein Melodram Graf Walther und die Waldfrau basiert auf der gleichnamigen Ballade von Felix Dahn, in der Pachl im Booklet völlig zu Recht eine Paraphrase auf Wagners Tannhäuser sieht. Der Topos von der Verführerin „auf grünem Moos, unter dichtem Blättergitter“ geistert in vielerlei Gestalt durch die Literatur. Eine Bezug zu Wagner ist auch bei Max Zenger (1837-1911) zu finden, der eine Oper Wieland der Schmied komponierte, währen der Sagenstoff bei Wagner nur ein Entwurf blieb. Mit dem Melodram Die Kraniche des Ibykus, basierend auf der Ballade Schillers, ist laut Pachl erstmals eines seiner Werke eingespielt worden. Der prominenteste Name auf den Tracklisten der über drei CDs verteilten fünfzehn Werke ist Engelbert Humperdinck. Der hat den Epilog des Spielmanns in seiner Oper Königskinder zu einem Melodram verarbeitet, bei dem sich auf sein Verlangen die Deklamation „immer mehr bis zum Gesang“ steigern soll. Pachl: „Die Dichtung stammt von Elsa Bernstein, die unter ihrem Pseudonym Ernst Rosmer als Bühnenautorin und Schriftstellerin erfolgreich war. Die Tochter von Heinrich Porges, einem illegitimen Sohn von Franz Liszt, wurde 1942 zusammen mit ihrer Schwester Gabriele in das KZ Theresienstadt deportiert“, – hier ergibt sich ein Bezug zum Schicksal von Ullmann – „wo ihre Schwester starb, während Elsa Bernstein … überlebte.“

Max Steinitzer (1864-1936), der sich auch theoretisch mit der Gattung beschäftigt hat, komponierte auch selbst ein Melodram, nämlich Die Braut von Corinth nach Goethes Ballade. Wie Pachl vermerkt, zieht er „die Schlüsse aus der Crux der Melodramen anderer Komponisten, dem schwer zu vereinbarenden Fluss der Musik im Gegensatz zur Spezifik eigener Gesetzmäßigkeiten gestalteter Rede“. Steinitzer habe das Problem „durch ständige Taktwechsel, die dem Duktus der Sprache optimal nachempfunden sind“ gelöst. Nochmals als Textdichter tritt Felix Dahn in Die Mette von Marienberg von Ferdinand Hummel (1855-1928) in Erscheinung. Und auch Goethe wird mit der Ballade Der Gott und die Bajadere abermals bemüht – nunmehr von Prinz Ludwig Ferdinand von Bayern (1859-1949), einem komponierenden Mitglied des Hochadels. Er stand seinem Vetter Ludwig II. bis zu dessen Tod im Starnberger See nahe. Mehr als Dirigent denn als Komponist ist Oskar Fried (1871-1941) in die Musikgeschichte eingegangen. Er setzte sich vor allem für Gustav Mahler ein und nahm dessen 2. Sinfonie mit der legendären Sopranistin Gertrud Bindernagel auf, die 1932 von ihrem eifersüchtigen Ehemann am Bühneneingang des Deutschen Opernhauses Berlin niedergeschossen wurde und wenige Tage später ihren Verletzungen erlag. Als Jude und bekennender Sozialist floh Fried, der zeitweise als Assistent von Humperdinck gewirkt hatte, vor den Nationalsozialisten in die damalige Sowjetunion, wo er auch starb. Für seine Melodram Die Auswanderer, das 2010 bei Capriccio als Orchesterfassung mit der Schauspielerin Salome Kammer herausgekommen ist, verwendete er Verse aus der Gedichtsammlung „Les Campagnes Hallucinées“ von Èmile Verhaeren, die Stefan Zweig ins Deutsche übersetzt hatte. „Sie kommen von weiß Gott woher und zieh‘n ins blinde Ungefähr aus Schicksalen, die keiner weiß durch Markt und Dörfer, Forst und Stadt. Sie wandern immer da im Kreis, der Tod nur bietet Ruhestatt.“ Solche Verse holen das Werk auf bedrückende Weise in die Gegenwart. Nur schade, dass diesmal die Texte im Booklet nicht abgedruckt wurden wie in der ersten Sammlung. Nicht alles ist in den eigenen Buchbeständen und im Netz verfügbar, um rasch nachgelesen zu werden.

„Das klagende Lied“ und „Mischka an der Marosch“: Mit diesen Melodramen ist Joseph Pembaur d. J. in beiden Teilen der Edition vertreten. Foto: Wikipedia

Neben Klaas ist nur noch Joseph Pembaur d. J. (1875-1950) in beiden Teilen der Edition vertreten – diesmal mit Das klagende Lied. Es beruht auf einem Gedicht von Martin Greif (1839-1919), der vor allem in seiner Geburtsstadt Speyer geehrt wird und vornehmlich durch sein Trauerspiel „Agnes Bernauer“ im Gedächtnis blieb. In diesem Melodram, an dessen Beginn ein sehr eingängiges musikalisches Thema steht, kommt neben dem Klavier eine Flöte (Uwe Mehlitz) zum Einsatz. Aus gutem Grund. Denn in der Handlung spielt ein kleiner menschlicher Knochen eine wichtige Rolle, der einer Flöte gleich von selbst zu singen ansetzt und die unheimliche Geschichte vom Geschwistermord berichtet. Die hat mehrere Quellen, bei den Brüdern Grimm genauso wie bei Ludwig Bechstein. Mal erschlägt ein Bruder den anderen, mal ein Prinz die schwesterliche Prinzessin. Mahler hat mit demselben Titel wie Pambaur seine frühe Kantate geschaffen. Im Melodram kommt die Prinzessin durch den Bruder zu Tode. Pachl nimmt die Dramatik des Geschehens in seine Interpretation wirkungsvoll auf. Wie im Fluge vergehen die knapp zwanzig Minuten. Überhaupt beruht die Wirkung aller Melodram darauf, dass Geschichten erzählt  werden. Pembaur  war mit Siegfried Wagner befreundet.

Peter P. Pachl, der renommierte Spezialist für Leben und Werk des Sohnes von Richard Wagner, verwendet sich gern für dessen musikalische Zeitgenossen und solche Komponisten, die in seiner musikalischen Nachfolge stehen. Mit Pembaur hatte er wieder so einen aus der Versenkung geholt: „Als Schüler von Ludwig Thuille gehört Josef Pembaur … zur so genannten ,Münchner Schule’, der unter anderen auch die Komponisten Walter Courvoisier, Julius Weismann, Ernest Bloch, Walter Braunfels, August Reuß, Franz Mikorey, Clemens von Franckenstein, Fritz Cortolezis, Edgar Istel, Hermann Wolfgang von Waltershausen, Hermann Abendroth, Paul von Klenau, Rudolf Ficker, Rudi Stephan und Joseph Suder angehörten. Der Sohn Josef Pembaurs d. Ä. unterrichtete ab 1921 selbst an der Münchner Akademie für Tonkunst. Hier war Siegfried Wagners illegitimer erster Sohn Walter Aign Schüler in Pembaurs Meisterklasse. Pembaur und seine Frau Marie gehörten auch zu den Gästen der Geda?chtnisfeier zum dreißigsten Todestag von Franz Liszt, zu der Siegfried Wagner am 31. Juli 1916 ins Haus Wahnfried geladen hatte.“ Nachzulesen im Booklet der ersten Sammlung, in der Pembaur mit Nikolaus Lenaus Mischka an der Marosch bedacht gewesen ist. Marosch ist – in deutscher Schreibweise – der Fluss Mureș, der durch Ungarn und Rumänien fließt. Mischka heißt ein Zigeuner, der sich an einem Grafen rächt, weil dieser seine Tochter verführte. Politisch korrekt ist das nicht. In der Literatur wimmelt es vor Begriffen und Anspielungen, deren Gebrauch riskant geworden ist, weil der Kontext verschwimmt und die historische Einordnung mühsam ist. Geschichte und Schauplatz haben beim Österreicher Lenau einen biografischen Bezug. Er wurde 1802 in Ungarn geboren, wo sein Vater als habsburgischer Beamter tätig war. Lenau, bei dem sich zahlreiche Komponisten von Robert Schumann bis Franz Liszt bedienten, lieferte mit seinem umfänglichen Poem Anna auch die Vorlage für das sehr melodiös gehaltene gleichnamige Melodram vom Heinrich Sthamer (1885-1955), des – so Pachl – „bedeutendsten romantischen Symphonikers der Stadt Hamburg“. Nach Auffassung von Pachl scheint die Dichtung, die einer schwedischen Sage folgt, „eine der uneingestandenen Quellen zur Frau ohne Schatten zu sein. Denn wie die Färberin in der Oper von Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss, schwört Anna ihrer Mutterschaft zugunsten des Erhalts ihrer Jugend und Schönheit ab. Sie verliert ihren Schatten, was ihrem Gatten bei einem gemeinsamen Ritt in einer Mondnacht deutlich wird. Und auch Anna begegnen die Ungeborenen“.

Oskar Fried ist vor allem als Dirigent in Erinnerung. Er setzte sich für das Werks Mahlers ein und hinterließ zahlreiche Aufnahmen. In der Edition wird er mit dem Melodram „Die Auswanderer“ als Komponist vorgestellt.

Zur großen Oper von Strauss und Hofmannsthal gibt es noch einen anderen, formalen Bezug. Sie enthält nämlich selbst ein Melodram, das die Kaiserin zu sprechen hat, wenn sie in dritten Aufzug vor ihren Vater tritt und eingestehen muss, sich keinen Schatten erhandelt zu haben. Es besteht aus achtunddreißig Verszeilen. In den gängigen Aufführungen ist es stark gekürzt. Selbst der Strauss-Sachwalter Karl Böhm, der sich wie kaum ein anderer Dirigent für diese Oper eingesetzt hat, akzeptierte bei der ersten Platteneinspielung die Raffung. Erst Wolfgang Sawallisch, der die Frau ohne Schatten 1987 für die EMI komplett einspielte, ließ auch das Melodram durch die Sopranistin Cheryl Studer vollständig vortragen. Im Studio geht das, auf der Bühne erweist sich der scharfe Wechsel in den Sprechgesang für eine Sopranistin, die schon eine lange Partie in extremer Tonlage hinter sich und ein gigantisches Finale noch vor sich hat, als Torur. Zumal die Textzugabe inhaltlich nicht relevant ist.

Pachl weiter: „Auch in Operetten ist der dann für den Tonfilm so bezeichnende Einsatz von Sprechstimme zu symphonischem Orchester anzutreffen, – etwa in der burlesken Operette Die lustigen Nibelungen von Oscar Straus (1870-1954). Bereits unter den zahlreichen Überbrettl-Liedern des mit rund 50 Bühnenwerken besonders aktiven Komponisten findet sich ein Melodram. Den Dialog einer erfolgreichen Verführung ,Geflüster im Gange’, op. 74, hat Straus als eine Dauerbewegung des Klaviers ,Presto e leggiero’ und una chorda vertont. Das die huschende Komposition bestimmende Pianissimo verebbt mit dem schwindenden Widerstand des Mädchens gegenüber dem sie zum Beischlaf überredenden jungen Mann in ein Pianopianissimo. Das Gedicht stammt von dem wohl meistvertonten Lyriker der Wende zum 20. Jahrhundert, Otto Julius Bierbaum (1865 – 1910), der auch der literarische Vordenker des ersten deutschen Kabaretts, des am 18. Januar 1901 von Ernst von Wolzogen in Berlin eröffneten ,Überbrettl’ war.“ Das Stück, nicht viel mehr als eine Minute lang, ist im ersten Teil der Edition anzutreffen, wo es sich als freche Einlage zwischen den von Weltschmerz erfüllten Balladen sehr gut macht. Der Zuhörer kann aufatmen, um sich mit Anteilnahme und aller erforderlichen Aufmerksamkeit der nächsten großen Nummer hinzugeben.

Engelbert Humperdinck hat den Epilog des Spielmanns in seiner Oper „Königskinder“ auch als Melodram hinterlassen., Foto: Sammlung Manskopf

Für Die Nachtigall von Arnold Winternitz nach Christian Andersens sind fast vierzig Minuten einzuplanen, für Der Fluch der Kröte auf einen Text von Gustav Meyrink, den sein Roman „Der Golem“ berühmt gemacht hat, lediglich zwölf. Im Booklet reserviert Pachl dem Komponisten, der 1874 geboren wurde und 1928 gestorben ist, eine ausführliche Passage. Winternitz, der neben Opern auch „Pantomimen, Klavierstücke und eine Reihe von Liedern und Kinderliedern komponiert hat, wird im ,Lexikon der Juden in der Musik’ nur als Komponist der Melodramen ,Nachtigall’ und ,Kröte’ genannt. In diesen beiden Melodramen bewies er seine Meisterschaft, trefflich zu charakterisieren, mit wenig musikalischem Material, das er höchst variativ einsetzt. Sein Melodram ,Die Nachtigall’ für Sprechgesang und Orchester widmete er ,Dr. Ludwig Wüllner in dankbarer Verehrung’. Ludwig Wüllner (1858 – 1938), Sohn des Komponisten und Dirigenten Franz Wüllner, Philologe, Tenor und ,Herzoglich Meiningischer Hofschauspieler’, gastierte an allen großen Bühnen, u. a. als Tannhäuser und als Siegmund. Als Liedersänger führten ihn Konzertreisen nach ganz Europa und bis in die USA, wo er unter Gustav Mahler 1910 die amerikanische Erstaufführung der ,Kindertotenlieder’ sang. Offenbar gehörten auch Winternitz’ Lieder und Melodramen zu seinen reichhaltigen Programmen. ,Die Nachtigall’ interpretierte er als Deklamator beispielsweise am 6. Februar 1920 in einem Konzert des Philharmonischen Orchesters unter Werner Wolff, gekoppelt mit Bruckners Sechster und der Ouvertüre zu Peter Cornelius’ ,Der Barbier von Bagdad’ in der Berliner Philharmonie, und ebenda erneut am 7. Februar 1924.“ Solcherart waren seinerzeit Programme. Der Fischer wird in Goethes gleichnamiger Ballade von einer Nixe mit Gesang und süßen Versprechungen in die Tiefe gelockt. Dichter und Maler haben das Thema gern aufgegriffen. Goethes Verse wurden oft vertont, von Carl Loewe zum Beispiel und auch von Franz Schubert. Camillo Horn (1860-1941) hat sie für seine Melodram gewählt. Unter literarischen Gesichtspunkten überragt es die anderen Vorlagen der Sammlung. Stark hat sich der Komponist, dessen Namen mir bislang nicht geläufig war, von Goethe inspirieren lassen. Düster rauscht das Wasser im einleitenden Klavierpart. „Wie Wolff und Schreker wirkte der im böhmischen Reichenberg geborene Bruckner-Schüler Camillo Andreas Horn (1860 – 1941) in Wien. Er komponierte zwei Symphonien, Kammermusik sowie über 100 Chorwerke und Lieder“, so Pachl. Der Fischer gehört zu einer Werkgruppe aus drei Melodramen, die komplett eingespielt wurden. Dazu gehört das scheinbar mit Goethe korrespondierende Gedicht „Das Kind am Brunnen“ von Friedrich Hebbel, mit „der gefährlichen Verführung durch das Spiegelbild des Knaben im Wasser“, das sich „erst in den letzten drei Takten als heiteres Pendant“ erweist. Das dritte von Horn melodramatisch vertonte Gedicht, Die Zwerge auf dem Baum stammt von August Kopisch (1799–1853). Er ist vor allem durch die von Loewe komponierte Heinzelmännchen-Ballade in Erinnerung geblieben. Was noch in diesem Auftakt-Produktion von Melodramen? Von Franz Schreker fiel die Wahl auf sein Melodram Das Weib des Intaphernes nach Eduard Stucken, in dessen orientalischer nach Darstellung von Pachl „Pervertierung von Macht“ herrsche. „Intaphernes’ Weib erklimmt den Turm des Perserkönigs Darius, um den Diktator zur Freilassung ihrer inhaftierten Familie zu veranlassen. Darius aber ist nur bereit, als Preis für ihre körperliche Hingabe, einen der Ihren frei zu geben. Sie entflammt ein Feuer, in dem alle Beteiligten umkommen.“ Die Befreiung des Gatten durch seine liebende Frau ist gescheitert. In der Geschichte dreht sich der Fidelio-Stoff in sein Gegenteil um.

„Auf dem Meer der Lust in hellen Flammen“: Unter diesem Titel hat Peter P. Pachl den ersten Teil seiner Sammlung von Melodramen herausgegeben.

In ihrer Kompaktheit dürften beide Teile der Edition derzeit einzigartig sein auf dem Musikmarkt. Fortgesetzt macht Peter P. Pachl Lust darauf, sich mit dem Genre, das seinen Höhepunkt im 19. Jahrhundert hatte, erneut zu beschäftigen. Ein Melodram, das auch heute noch auf Konzertprogrammen steht und ebenfalls mehrfach eingespielt wurde, ist das Hexenlied von Max von Schillings (1868-1933) nach Ernst von Wildenbruch. Pachl trägt in der ersten Sammlung die Fassung mit Klavierbegleitung vor und legt dabei eine seiner besten Leistungen hin. Immerhin muss er sich gegen Konkurrenz behaupten, die ihm gut bekannt sein dürfte. Wieder sitzt jedem potentiellen Interpret Dietrich Fischer-Dieskau mit seiner Aufnahme bei der Deutschen Grammophon im Nacken. Unvergessen ist mir eine Aufführung in der Deutschen Oper Berlin mit dem Orchester des Hauses unter Christian Thielemann und Martha Mödl in der Spätzeit ihrer langen Karriere. Das Haus tobte, was wohl in erster Linien auf die Interpreten zurückzuführen gewesen sein dürfte. Doch auch das Werk selbst bekam seinen Teil des Beifalls ab. Eine Studioeinspielung der Mödl von 1992 ist bei cpo im Angebot (LC 8492). Pachl: „Der Gesang eines schönen, unschuldig zum Feuertod als Hexe verurteilten jungen Mädchens, lässt den jungen Mönch Medardus ein Leben lang, bis in den Tod, nicht los. Der Sänger, Schauspieler und Deklamator Ludwig Wüllner hat Schillings’ im Jahre 1902 erschienenes Melodram gleich zweimal unter der Leitung des Komponisten auf Schallackplatten eingespielt – zunächst akustisch, dann wenige Tage vor Schillings’ Tod, im Jahr 1933, als 74-jähriger Deklamator, nochmals elektrisch. Max von Schillings’ Schaffen wird heute aufgrund seiner Vita vielfach geächtet, denn der Komponist, Dirigent und Theaterleiter wurde 1932 Präsident der Preußischen Akademie der Künste, an der Franz Schreker und Arnold Schönberg lehrten; und ein Jahr später teilte Schillings seinen beiden Kollegen deren Suspendierung vom Amt mit. Als Opernintendant jedoch hatte Schillings Schrekers Opern durchaus gepflegt. Selbst im frühen ,Hexenlied’ wird heute bisweilen ein versteckter Antisemitismus gemutmaßt: die schwarzen Haare der Hexe in der Dichtung habe Schillings durch die ,talmudische Terz’ und sein ,Changieren zwischen Dur und Moll’ , das ins ,Shtetl’ verweise, als Jüdin gezeichnet, wohingegen der Choral der Mönche ,manche Wendung aus patriotischem Liedgut’ enthalte. Dabei wird allerdings übersehen und überhört, dass Schillings’ Tonsprache ein klares Plädoyer für die Hexe und gegen die Mönche bezieht.“ Wüllners späte Aufnahme findet sich im Katalog von Bayer-Records (BR 200 049 CD). Ich habe sie lange nicht gehört. Während ich mich mit der Edition von Pachl beschäftigte, suchte ich sie wieder hervor. Ein Vergleich wäre der völlig falsche Ansatz. Wüllner agiert mit dem Pathos des frühen 20. Jahrhunderts, Pachl sucht durch einen schlichten, klaren und schnörkellosen Vortragsstil das Melodram auch im 21. Jahrhundert zu platzieren. Mit der Interpretation von Wüllner aber wird deutlich, warum diese Gattung zwischen Oper und Schauspiel, an der sich auch das Bürgertum in seinen Salons versuchen konnte, einst so beliebt und verbreitet war (Foto Otto-Lilienthal-Denkmal von Peter Breuer (1914) im Park an der Bäkestraße 14a in Berlin-Lichterfelde/ Ausschnitt/ Foto Winter). Rüdiger Winter

Klangrausch und Paukendonner

 

Denkt man an Sibelius und den Namen Järvi, so galt dies lange Zeit primär für Neeme Järvi, den Patriarchen der Dirigentendynastie, der zwei komplette Zyklen der sieben Sinfonien (in den 1980er Jahren für BIS, in den 1990ern und frühen 2000ern für DG) sowie etliche weitere Werke des finnischen Komponisten vorgelegt hat. Sein ältester Sohn Paavo Järvi spielte bis dato lediglich die zweite Sinfonie (für Telarc) und daneben Kullervo, einige Tondichtungen und Kantaten (für Erato und Virgin) ein. Schon bei diesen Aufnahmen merkte man, dass auch der Sohnemann in Sachen Sibelius etwas Nachhaltiges zu sagen hat. So war eine Gesamteinspielung der Sinfonien für den geneigten Beobachter eigentlich nur eine Frage der Zeit. Dass es gleichwohl bis zum Jahre 2019 dauerte, bis dieser Zyklus bei RCA (19075924512) endlich vorgelegt wird, hätte man vielleicht nicht gedacht. Gut Ding will bekanntlich Weile haben.

Was bei diesem gefühlt hundertsten Sibelius-Zyklus auf den ersten Blick ins Auge sticht und auf dem Cover der drei CDs umfassenden Box durch den Eifelturm auch besonders betont wird, ist die Wahl des Orchesters. Es handelt sich hierbei nämlich um das Orchestre de Paris, Frankreichs führenden Klangkörper – und zugleich um die Weltersteinspielung der sieben Sinfonien von Sibelius durch ein französisches Orchester. Tatsächlich schien es dieser Komponist gerade in Frankreich lange Zeit schwer gehabt zu haben, Fuß zu fassen. Zwar beschäftigten sich auch französische Dirigenten, darunter so prominente wie Pierre Monteux, Paul Paray und Georges Prêtre, mit Sibelius, doch wählten auch sie ausländische, konkret britische und amerikanische Orchester. In Großbritannien und in den USA nämlich war der Finne schon früh weithin respektiert und wanderte ins Standardrepertoire. Es ist von daher durchaus ein Verdienst Paavo Järvis, Sibelius während seiner sechsjährigen Amtszeit in Paris auf die Agenda gesetzt zu haben. Bereits bei seinem offiziellen Einstand als Chefdirigent des Orchestre de Paris im Jahre 2010 stand Sibelius‘ Zweite auf dem Programm.

Die nun vorgelegten Aufnahmen entstanden zwischen 2012 und 2016 und genügen – soviel schon jetzt – klangtechnisch den höchsten Ansprüchen. Man sollte meinen, dass gerade bei einem Komponisten wie Sibelius, der neben Mahler wohl der große Aufsteiger in den Konzertprogrammen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu nennen ist, mittlerweile wirklich jeder erdenkliche Interpretationsansatz dokumentiert ist. Tatsächlich gibt es Sibelius-Gesamtaufnahmen in Hülle und Fülle, die meisten gut gelungen, aber nur einige wenige wirklich in ihrer Gesamtheit herausragend, denn zumeist gibt es hie und da eben doch gewisse Durchhänger. Dass sich Paavo Järvis Einspielungen selbst neben so wichtigen Vorgängern wie Sir John Barbirolli, Sir Colin Davis, Leonard Bernstein, Paavo Berglund und Leif Segerstam außerordentlich gut behaupten können, hätte man so gar nicht zwingend erwartet. Bei Järvis gewaltigem Output in den letzten zehn, fünfzehn Jahren waren mitunter auch allenfalls überdurchschnittliche Aufnahmen dabei. Getrost darf im vorliegenden Falle indes konstatiert werden, dass ihm in Sachen Sibelius ein echter Coup gelungen ist.

Wie nun klingt Paavo Järvis Ansatz? Mit einem Wort: idiomatisch. Das ist das wirklich Erstaunliche hier, denn die Pariser schaffen es vorzüglich, in die nordischen Klangwelten einzutauchen und geradezu so zu tun, als spielten sie dieses Repertoire seit Jahrzehnten. Womöglich ist gerade die tatsächliche Erstbeschäftigung mit vielen der Werke ein Grund für das überzeugende Ergebnis. Järvi versteht es offenkundig, den Franzosen den von der Grande Nation oft übersehenen Finnen schmackhaft zu machen. Järvis Sibelius ist zupackend, zuweilen regelrecht überbordend vor Emotionalität, nie verschleppt und doch auch keinesfalls verhetzt. Er weiß die lyrischen Momente, die bei diesem Komponisten so zahlreich sind, in einem Klangbad auszukosten, hat aber jederzeit die notwendige Energie, um unvermittelt vorwärts zu preschen. Dabei nutzt er die gesamte dynamische Bandbreite, die ihm das famose Orchester und die nicht minder großartige Tontechnik zur Verfügung stellen. Gerade die Forte-Stellen sind hie und da markerschütternd. So muss man sich ernsthaft fragen, ob man den Paukendonner etwa in der Coda der ersten Sinfonie jemals Ehrfurcht heischender gehört hat. Überhaupt sind die Pauken sehr prominent und keineswegs einfach in den Gesamtklang eingebettet, was selbst zu Tode gehörte Momente wie den sogenannten Schwanenruf im Finale der fünften Sinfonie auch für den Fortgeschrittenen zum unerhörten Ereignis macht. Fast meint man stellenweise, den berühmten altfranzösischen Orchesterklang vor sich zu haben, was bei der illustren Historie des Pariser Orchesters, das 1967 aus dem legendären Orchestre de la Société des Concerts du Conservatoire hervorgegangen ist, nicht wundernimmt.

Es ist schwierig, einzelne Sinfonien besonders hervorzuheben, da sie durch die Bank exzellent gelungen sind. Da erwies sich Järvis eher gemächliches Vorgehen, dem Projekt vier Jahre Zeit einzuräumen, als absolut richtig. Vielleicht sollten indes gerade die weniger bekannten unter den Werken hervorgehoben werden. Denn die klassizistische Dritte, die unheimliche Vierte, die oft unverstandene Sechste und die altersweise Siebente sind doch besondere Highlights. Bei der Ersten, der Fünften und insbesondere der Zweiten liegt die Messlatte freilich noch einmal ein gutes Stück höher, doch auch hier rangieren Paavo Järvis Darbietungen durchaus in der Spitzengruppe. Interessanterweise entschied er sich diesmal gegen die (vom Komponisten übrigens abgesegnete) sogenannte Kussewizki-Coda am Ende der zweiten Sinfonie, in der dem Paukisten eine besondere Rolle zukommt und die Järvi in seiner älteren Telarc-Aufnahme berücksichtigte. Und doch klingt das Resultat in seinem triumphalen Gestus noch überzeugender als in der früheren Einspielung. Überhaupt kommt der großsinfonische, bassstarke Klang, den das Orchestre de Paris erzeugt und den die Tontechniker adäquat einfangen konnten, den Erfordernissen in Sachen Sibelius entgegen. Somit hat Neeme Järvi im eigenen Sohn seinen Meister gefunden, der die beiden Zyklen des Vaters sogar überstrahlt und die womöglich überzeugendste Gesamtaufnahme dieses Jahrtausends vorgelegt hat. Unbedingt und ohne Einschränkungen empfehlenswert. Daniel Hauser