Samiel*innen

 

Noch ein Freischütz. Für Marek Janowski ist es nicht die erste Aufnahme. Er und das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin spielten die Oper 1994 im Studio für die RCA ein. Mit seiner Euryanthe hatte er zwanzig Jahre zuvor seinen Ruf als ein Sachwalter deutscher Romantik begründet. Diese in Dresden entstandene Einspielung behauptete sich auch deshalb dauerhaft am Markt, weil sie eine der ersten großen Schallplatteneinspielungen der kürzlich verstorbenen Jessye Norman ist. Sie wurde aber nie auf diese Sängerin reduziert, zumal sie keine Idealbesetzung war. Den Stempel hatte der Dirigent der Platteneinspielung aufgedrückt.

Nun ging Janowski abermals vor die Mikrophone. Diesmal im Sendesaal des Hessischen Rundfunks. Er dirigiert die Frankfurter Radio Symphony. Erschienen ist die Aufnahme bei Pentatone (PTC 5186 788; VÖ Ende Oktober 2019). Selbst übertroffen hat er sich nicht. Seine erste Einspielung ist bis heute hörenswert geblieben, nicht zuletzt wegen Peter Seiffert als Max. Sie entstand auf der Grundlage des Originals, also auch mit den Dialogen. Es wird sogar noch etwas mehr gesprochen als bei der Mutter aller Freischütz-Aufnahmen von 1958, die Joseph Keilberth für die EMI betreut hatte. Der immer wieder als zu biedermeierlich bekrittelte Text von Friedrich Kind hat heutzutage keinen guten Stand. Regisseure misstrauen ihm. Es gab viele Versuche, als besonders peinlich empfundene Stellen zu tilgen, wenigstens aber abzumildern. Dabei erwächst das gesungene Wort über weite Strecken doch sehr anschaulich und nicht unwirksam aus dem gesprochenen Text des 1821 uraufgeführten Werkes. Im Team der aktuellen Produktion wirkte der niederländischen Schauspieler Kasper van Kooten mit. In seiner Freischütz-Analyse im Booklet kommt er zu dem Schluss, dass Weber „das Singspiel als Gattung auf eine neue Ebene der Kultiviertheit“ gehoben habe. Gleichzeitig plädiert auch er dafür, die gesprochenen Dialoge zu reduzieren „ohne die Geschichte dabei unverständlich zu machen“.

Die vorliegende Version „soll es dem modernen Hörer erleichtern, die unvergängliche Frische und Kraft dieser außergewöhnlichen Oper uneingeschränkt zu erleben“. Janowski geht mit der Zeit und lässt sich auf diese Bearbeitung ein, mit der die Dialoge nach einer Vorlage von Katarina Wagner und Daniel Weber, die auch die Einstudierung übernahmen, neu erzählt werden. Als Sprecher treten Samiel (Corinna Kirchoff) und der Eremit (Peter Simonischek) in Aktion. Das Verständnis dieser Fassung, die im Booklet mitgelesen werden kann, setzt allerdings eine gewisse Kenntnis des Originals voraus, sonst kann ihr Nutzen auch vom „modernen Hörer“ gar nicht erfasst werden. In der melodramatischen Wolfsschlucht kommt die unkonventionelle Lösung vernehmlich an Grenzen. Denn dort müssen die Sänger schließlich auch sprechen. Alan Held, der amerikanische Bariton, macht dabei mit seinen Ausspracheschwierigkeiten nicht die glücklichste Figur und die viel beschworene Gleichberechtigung geht dann doch etwas zu weit, indem das nicht nur erzählende, sondern auch handelnde böse Prinzip in Gestalt des schwarzen Jägers Samiel weiblich ist. Also Samiel*innen! Dadurch fällt die Wolfsschlucht aus der Dramaturgie des Konzeptes heraus, mit dem die Probleme des Originals nicht gelöst werden. Sie wirkt wie isoliert und büßt an Dämonie ein. Auch die Szenen im Forsthaus gewinnen nicht durch die Bearbeitung. Jetzt tritt der Eremit mit milder Stimme als Erzähler auf. Gegen Ende wird er von Franz-Josef Selig sehr würdig, machtvoll und grüblerisch zugleich gesungen.

Musikalisch ist dieser Freischütz kein besonders großer Wurf. Janowski ist um Klarheit, Durchsichtigkeit und deutliche Strukturen bemüht, setzt immer wieder überraschende Akzente. Vom Holz sind betörende Klänge zu vernehmen, die Bässe werden effektvoll bemüht. Seine erste Aufnahme fand ich romantischer, stimmungsvoller und versonnener. Lise Davidsen aus Norwegen, die in diesem Jahr in Bayreuth als Elisabeth debütierte und für 2020 als Sieglinde angekündigt ist, singt die Agathe. Es scheint, als sei die 32jährige der Rolle, die ihr schwer in der Kehle liegt, bereits entwachsen. Sie klingt reif, sehr reif, singt zu groß und zu wenig lyrisch. Sie produziert einzelne schöne Töne, aber keine überzeugendes Rollenporträt. In den Szenen im Forsthaus will keine rechte Stimmung aufkommen, weil besonders hier der Erzähler mehr stört, als dass er den Fluss der Handlung erhellend befördert. Jetzt fängt auch Ännchen, die mit gebrochenem Deutsch wie eine junge Verwandte von sehr weit her wirkt, plötzlich zu sprechen an, indem sie nach dem Original von Friedrich Kind vorgeben muss, ein „grausenerregendes Beispiel“ zu kennen, das sie dann in ihrer berühmten Basen-Arie ausführt. Nach dieser unfreiwilligen Parodie macht die Russin Sofia Fomina eher zu viel als zu wenig. Sie überinterpretiert diese aus der Tradition des Singspiels kommende Arie und wird der Agathe nicht unähnlich. Max ist der meist als Heldentenor engagierte Andreas Schager. Der viele Wagner scheint nicht ganz spurlos an ihm vorübergegangen zu sein. Besonders bei herausgestellten Vokalen wie zu Beginn im Terzett „Oh, diese Sonne, furchtbar steigt sie empor!“ ist mir die Stimme zu unruhig. Schager läuft aber in seiner von einem Rezitativ raffiniert unterbrochenen Arie, die er sehr mächtig vorträgt, zu großer Form auf. Singend überzeugt der Kaspar Alan Held mehr als sprechend. Dann verliert sich sein Akzent, und er ist auch gut zu verstehen. Positiv fällt auf, dass Kaspar und Max stimmlich als etwa gleichaltrig zu erkennen sind, was für die Geschichte nicht unwichtig ist, denn schließlich kämpfen in ihnen auch zwei Rivalen um Agathe miteinander. Einen stimmgewaltigen Kuno steuert Andreas Bauer bei. Marcus Eiche ist ein energischer Ottokar, der junge begabte Christoph Filler singt den Kilian mit Biss. Mit dabei ist auch der Rundfunkchor des MDR aus Leipzig. Rüdiger Winter