Archiv des Autors: Rüdiger Winter

Theo Adam

Theo Adam ist tot. Der in Dresden geborene Bassbariton starb am 10. Januar 2019 im Alter von 92 Jahren in seiner Heimatstadt. Die letzten Jahre seines Lebens hatte er in einem Pflegeheim verbracht. Still war es nie geworden um ihn. Seine Platten sind immer wieder neu aufgelegt worden und gelten immer noch als Referenz, vor allem bei Wagner. Zuletzt hatte Profil Edition Günter Hänssler Ende vergangenen Jahres mit dem Mitschnitt einer Daphne von 1950 aus Dresden überrascht. Der erst vierundzwanzigjährige Adam, der in der folgenden Spielzeit schon selbst zum Peneios aufsteigen sollte, ist einer von vier Schäfern. Unverkennbar in der winzigen Rolle, die meist nur im Quartett zum Einsatz kommt. Seinem Talent, gründlicher Ausbildung und seiner musikalischen Begabung hatte er es zu verdanken, dass er sich nicht sehr lange bei den kleinen Rollen des Anfängers aufhalten musste. Schon gleich zu Beginn seiner langen und glanzvollen Karriere, die ihn um die ganze Welt führte, finden sich Auftritte als Eremit (Freischütz), Don Ferrando (Fidelio) oder Komtur (Don Giovanni). Seine erste im Studio entstandene Aufnahme war 1954 das von Georg Solti geleitete Deutsche Requiem von Brahms mit Lore Wissmann in Frankfurt. Danach nahm ihn die DDR-Schallplattenfirma Eterna unter Vertrag und produzierte sofort Arien aus Mozarts Figaro, den Messias von Händel und Haydns Jahreszeiten. Die erste Liedplatte waren Balladen von Carl Loewe, die bis heute nie aus den Katalogen verschwunden sind, weil sie einen ganz neuen und frischen Ansatz im Umgang mit diesem Komponisten markieren.

Zum 90. Geburtstag von Theo Adam brachte Berlin Classics eine Edition mit einem Querschnitt seiner Plattenaufnahmen heraus. Das Foto oben ist ein Ausschnitt des Covers.

Lieder und Oratorien blieben ein fester Bestandteil seines Wirkens, bei dem sich schon frühzeitig die besondere Eignung für Richard Wagner abzeichnete. Sein Einstieg in das Werk dieses Komponisten war der Seifensieder Hermann Ortel in den Meistersingern von Nürnberg. Noch bevor die im Krieg zerstörte DDR-Staatsoper Berlin 1955 Unter den Linden wieder aufgebaut war, gehörte er zu deren Ensemble. Bei der festlichen Eröffnung des Hauses an alter Stelle mit den Meistersingern machte Adam als Veit Pogner Eindruck. 1968 war er dann erstmals selbst der Hans Sachs. In dieser Rolle ist er mir unvergessen. Er hatte sich Zeit gelassen für die wortreiche Rolle, die er nach intensivem Studium aus dem Effeff beherrschte. War er mit der Schlussansprache zu Ende, hätte die ganze Vorstellung noch einmal von vorn beginnen können. Seine stimmlichen Reserven schienen grenzenlos. Als jung gebliebener Sachs war er eine durchaus ernstzunehmende Konkurrenz für den um Eva werbenden Walther von Stolzing. Diesen Aspekt der Handlung gestaltete er sehr bewegend und überzeugend. Er gab nicht den alten und weisen Schuster, er war vor allem Poet und Träumer. Den Sachs empfand ich auch deshalb immer als seine beste Leistung, weil sie seine Ressourcen genau abbildete. Er musste nie so forcieren wie beispielsweise in den dramatischen Ausbrüchen Wotans in der Walküre, als Holländer oder als Pizarro/Fidelio und Scarpia/Tosca. Beim Sachs floss die Stimme mit dem unverkennbaren goldenen Schimmer, den er sich bis zu einem Abschied erhielt.

Im Studio blieb er nach meinem Eindruck hinter seinem Vermögen auf der Opernbühne etwas zurück. Mir kommt es so vor, als strengte er sich in dem Bestreben an, ja alles richtig und vollkommen zu machen. Dafür zahlte er mit Spontaneität. Eine Eigenschaft, der er mit vielen Kollegen teilt. Für mich war Theo Adam vor allem ein „Bühnentier“. Trotz des Schwerpunktes auf Wagner, der ihn auch nach oft nach Bayreuth führte (Böhms Ring bei Philips), bewahrte sich Adam, der auch selbst inszenierte, ein waches Interesse an zeitgenössischen Werken. In der Uraufführung der Oper Einstein von Paul Dessau gestaltete er 1974 die Titelpartie. Die hundertste Rolle – so auch der Titel eines seiner lesenswerten Bücher – war der Baal in der gleichnamigen Oper von Friedrich Cerha, die erstmals bei den Salzburger Festspielen 1981 gezeigt wurde. Seine Fans werden sich auch gern an den Conférencier erinnern, der bei seiner auch im DDR-Fernsehen ausgestrahlten Unterhaltungsshow „Theo Adam lädt ein“ mit viele internationale Opernstars aufwarten konnte, die wohl auch ihm zuliebe angereist waren. Rüdiger Winter

Boughtons „Queen of Cornwall“

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Über Rutland Boughton gibt es im deutschen Sprachraum wenig Information (am ehesten noch über seine Oper The Immortal Hour (es gibt eine Aufnahme vom 1999 bei Hyperion und einen älteren BBC-Mitschnitt), der englische Komponist und Schriftsteller (1878-1960) mit der Neigung zum Mythisch-Mystischen musste Zeit seines Lebens um Anerkennung kämpfen und galt als Champion einer künstlerisch-folkloristischen Bewegung, die ihren Sitz im Glastonbury Festival im Norden Englands hatte.

Rutland Boughton/ Dutton/ Boughton Trust

Er war aber auch politisch außerordentlich engagiert, stand der Kommunistischen Partei nahe und engagierte sich für die Rechte der Arbeiter, namentlich der Grubenarbeiter, was seine gesellschaftliche Position im postviktorianischen England nicht leichter machte, zumal sein stürmisches Privatleben seinem Ansehen nicht eben dienlich war. Boughtons Musik steht in der Wagnerfolge, was der große Wagnerianer George Bernhard Shaw anerkannte und förderte. Boughtons Festival-Idee griff die auch auf dem Kontinent, namentlich in Deutschland, herrschende Strömung auf, Musik und Kunst für alle zugänglich machen zu wollen, wie das Strömungen auch in Darmstadt, Berlin, Leipzig oder Worpswede propagierten. Mit den Künstler Kollegen Reginald Buckley und Christina Walshe bemühte er sich um eine solche Spielstätte um den ersten Weltkrieg herum, eben Glastonbury (das in Marion Zimmer Bradleys Kultroman The Mists of Avalon so eindringlich als Überschneidungort der alten und neuen Religion zitiert wird) . Bis 1927 gab es hier neben Gluck, Purcell, Blow und anderen eben vor allem die Werke Boughtons, so die Immortal Hour, die zur Säule des Festivalangebotes wurde.

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Und noch einmal eine Szene aus der Aufführung von 1924/Boughton Trust/Dutton

Szene aus der Aufführung von 1924/Boughton Trust/Dutton

Boughtons schlichte, verbal einfache Wiedergabe keltischer Mythen und seine leicht fassliche Wiedergabe der ewigen Geschichte von Liebe und Tod als Parabel des Universellen erreichte viele Menschen. Neben dem Krippenspiel Bethlehem gilt aber unter Kennern die Queen of Cornwall von 1924 (Glastonbury) als das zentrale Werk, das in einer Erstaufnahme bei Dutton herausgekommen ist. Grundlage ist ein Stück von Thomas Hardy von 1923. Wie Michael Hurd (in Pipers Opernenzyklopädie, Band 1) schreibt, ist diese Musik leidenschaftlich und hochromantisch (vielleicht eher spätromantisch), wenngleich der Einfluss des Volksliedes nicht zu überhören ist. Der Chor, ein wichtiges Stilmittel in mythisch angehauchten Werken dieser Art, bleibt nicht  handlungsarm-kommentierend wie ein Chor bei Gluck (oder auch Wagner) zum Beispiel, sondern nimmt am Geschehen teil und unterstützt das Orchester. Ouvertürelos bei Beginn, stellte Boughton später eine Einleitung voran. Spätere Aufführungen gab es in Liverpool und London (1963). Die BBC gab eigene Konzertaufführungen davon 1935 und 1950.

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Szene aus der historischen Aufführung von 1924/Boughton Trst/Dutton

Die Queen of Cornwall handelt von dem Schicksal der leidenschaftlichen Iseult, die nach vergeblicher Suche nach dem verwundeten Tristram in Britannien (das Ganze spielt in mythisch-keltischer Zeit in Cornwall) in ihr Reich zurückkehrt. Ihr Mann König Marke denkt sich sein Teil, glaubt aber ihrer Versicherung, Tristram sei tot, wie es Tristrams Frau, Iseult Weisshand, berichtet hat (Die Story folgt hier der keltischen Sage und nicht Wagners Verbiegung der Überlieferung – Tristram heiratete Iseult Weisshand als Ersatz für Isolde, die er wegen ihrer Heirat mit Marke, seinem Lehnsherrn, nicht bekommen konnte.). Verzweifelt trauert Iseult (die von Cornwall, zweimal Iseult ist wirklich verwirrend), da ertönt das Lied eines Harfners unter dem Fenster – Tristram! Im zweiten Akt beschwört die dem Tristram nachgereiste Ehefrau Iseult Weisshand ihren Mann, wieder mit nach Hause zu kommen, da ersticht der eifersüchtige Marke seinen Rivalen. Iseult (Markes Frau) dolcht nun ihrerseits ihren Mann und stürzt sich vom hohen Schloss aus in die tobende cornische See. Iseult Weisshand wirft sich klagend über die Toten, während ein Chor hinter der Bühne die ewige Liebe des zum Himmel aufsteigenden Paares besingt – (fast) alles tot!

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Dieses nicht nur für Großbritannien wichtige spätromantische Werk ist in einer Studio-Produktion von 2010 bei Dutton  erschienen. Unter Richard Corp am Pult des New London Orchestra und der Mitglieder des London Chorus singt eine wirklich beachtliche Equipe englischsprachiger Sänger – Heather Shipp ist die Titelheldin, Joan Rogers ihre Rivalin, Jacques Imbrallo der stimmstark- leidende Tristram und Neal Davies der betrogene Marke. Das Libretto liegt bei, ebenfalls ein sehr kluger Aufsatz zu Werk und Entstehung von Paul Adrian Rooke (alles English only und sehr insular!).

Boughtons „Queen of Cornwall“ bei Dutton

Besonders wertvoll wird diese Ausgabe durch die beigefügten Fotos vom Premierendurchlauf in Glastonbury, die der Rutland Boughton Music Trust herausgerückt hat und die über die Zeit hinweg die Würde der Aufführung und das immanente Pathos des Werkes evozieren. Zur Kenntnis der spätromantischen Musik in Großbritannien ist dies eine unverzichtbare CD-Ausgabe, die aber auch sehr spät den bedeutenden englischen Komponisten würdigt. Geerd Heinsen

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Rutland Boughton: The Queen of Cornwall – A music-drama based on the play by Thomas Hardy mit Heather Shipp (Queen Iseult), Joan Rodgers (Iseult of Brittany, the Whitehanded), Jacques Imbrailo (Sir Tristram), Patricia Orr (Brangwain), Neal Davies (King Mark), Peter Wilman (Sir Andret), Elizabeth Weisberg (Damsel); New London Orchestra, Members of The London Chorus, Ronald Corp; Dutton 2CDLX 7256/ Foto oben: Edmund Leighton „The end of the song“, 1902/ Wikipedia

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Schroffe Kontraste

 

Der Concentus Musicus Wien ist untrennbar mit dem Namen Nikolaus Harnoncourt verbunden. 1953 von diesem als Ensemble für Alte Musik gegründet, stand er diesem bis Ende 2015, kurz vor seinem Tode, als künstlerischer Leiter vor. Das Schicksal des Orchesters war danach alles andere als gewiss. Glücklicherweise erwies sich die Kür von Harnoncourts langjährigem Assistenten Stefan Gottfried als geschickte Entscheidung. Nun legt der Concentus Musicus Wien also seine erste offizielle Einspielung nach dem Ableben Harnoncourts beim Label Aparté vor (AP189). Mit Schubert setzt man auf eine sichere Bank. Zwar beschäftigte sich auch Harnoncourt im Laufe seines Lebens ausführlich mit diesem Komponisten, doch entstanden diese Aufnahmen mit dem Königlichen Concertgebouw-Orchester Amsterdam und mit den Berliner Philharmonikern, so dass hier gleichsam eine Premiere erfolgt. Das geschmackvolle Cover verrät bereits, die vollendete Unvollendete im Mittelpunkt steht.

Zwar unternahm schon Brian Newbould vor vielen Jahrzehnten den Versuch einer Vervollständigung dieser berühmten Sinfonie (wovon die vorzüglichen Einspielungen von Charles Mackerras und Neville Marriner zeugen), doch liegt der vorliegenden Einspielung erstmals die von Nicola Samale und Benjamin-Gunnar Cohrs betreute Neuausgabe des Werkes von 2015 zugrunde. Beide machten sich bereits durch ihre verdienstvolle Mitarbeit an der Komplettierung von Bruckners Neunter einen Namen. Konkret wurde der Scherzo-Satz der Schubert’schen h-Moll-Sinfonie D 759 vervollständigt. Es wurden lediglich wenige Takte im Trio dieses Satzes ergänzt, alles andere stammt tatsächlich aus Schuberts eigener Feder, so dass man nun so nahe an den Intentionen des Komponisten ist wie nie zuvor. Wie bereits Newbould, bediente man sich für den Finalsatz beim Entr’acte Nr. 1 aus der Schauspielmusik zu Rosamunde, Fürstin von Zypern, D 797.

Wie klingt nun Gottfrieds Interpretation? Zumindest in den bekannten ersten beiden Sätzen tun sich mannigfaltige Vergleichsmöglichkeiten auf, wobei besonders die Nebeneinanderstellung mit Harnoncourt reizt. Den charakteristischen, über Jahrzehnte geformten, transparenten und schlanken Klang des Concentus Musicus gibt es tatsächlich auch unter dem neuen Dirigenten noch. Gottfried geht es dramatisch, aber niemals verhetzt, an, mit einer gekonnten Agogik angereichert, und ist in beiden Sätzen jeweils etwa eine Minute schneller als sein Lehrmeister seinerzeit mit den Amsterdamern (Teldec/Warner). Natürlich ist dies ein krasser Gegenentwurf zum Bewahrer des wienerischen Schubert-Stiles, Karl Böhm, insbesondere in dessen vorzüglichen späten Aufnahmen  mit den Wiener Philharmonikern (DG). Anders als Böhm schreckt Gottfried vor schroffen Kontrasten keineswegs zurück. Das Andante nimmt er schreitend, beinahe tänzerisch leicht, sehr diesseitig also und ohne einen Anflug von pathosgeladener Schwere. Dies womöglich schon in Hinblick darauf, dass das Werk eben nicht mit diesem (hier gar nicht so) langsamen Satz beschlossen werden soll. Soviel zum Konventionellen.

Im Scherzo ist der Direktvergleich mit der Newbould-Fassung vonnöten. Mackerras (Erato) und vor allem Marriner (Philips) klingen gemäßigter, man könnte auch sagen: harmloser. Inwieweit dies an der Fassung liegt, sei dahingestellt. Kurios, welch homogenes Gesamtbild die vier Sätze in Kombination abgeben. Von abrupten Brüchen keine Spur. Der Rosamunde-Auszug funktioniert zwar auch für sich allein genommen, doch ergibt er als Abschluss der (Un-)Vollendeten Sinn und fällt qualitativ auch nicht ab, wenn er so interpretiert wird wie hier. Die wild herausfahrenden Blechbläser und die donnernden Pauken erteilen dem überkommenen Schubert-Bild eine Abfuhr. Durch zurückgenommene Tempi erzielt Gottfried eine glänzende Wirkung.

Den Rest der CD machen Schubert-Lieder in Orchesterfassungen von Johannes Brahms („Memnon“, „Geheimes“, „Gruppe aus dem Tartarus“) und Anton Webern („Tränenregen“, „Der Wegweiser“, „Ihr Bild“, „Du bist die Ruh“) aus. Als Solist fungiert der Bassbariton Florian Boesch, der Gottfrieds eher schroffen Zugang durch seine etwas ungeschliffene, dafür aber markante Stimme passend ergänzt. Insofern eine völlig andere Art der Herangehensweise als weiland bei Hermann Prey (RCA). Beides sehr hörenswert. Das Tonbild dieser am 27. und 28. April 2018 im Großen Musikvereinssaal in Wien entstandenen Aufnahme lässt vielmehr an eine „echte“ Studioaufnahme denn an Konzertmitschnitte denken. Es gibt keine Störgeräusche, die Akustik ist tadellos. Eine gelungene Neuerscheinung also, die eindrucksvoll unter Beweis stellt, dass mit dem Concentus Musicus Wien auch in Zukunft auf hohem Niveau gerechnet werden darf. Harnoncourt wäre beruhigt. Daniel Hauser

Mehr „Gebeth“ statt „Ständchen“

 

Bei den Dresdener Sammlungen von Profil Edition Günter Hänssler gleichen manche Booklets kleinen handlichen Büchern, die man am liebsten gesondert ins Regal stellen würde, weil sie zum Nachschlagen taugen. Nach manchen Informationen, die mehrsprachig auf feines Papier gedruckt sind, müsste man lange suchen. Ein Beispiel. Wo kann man denn nur so schnell den Brief nachlesen, in dem der Dirigent Hans von Bülow dem Verleger Eugen Spitzweg mit feiner Ironie den auch geschäftlichen Erfolg von Richard Strauss prophezeit? Im Textbeitrag von Stephan Kohler über das frühe „Concert für das Waldhorn“ das jener Spitzweg, dem der Münchner Aibl-Verlag gehörte, nach anfänglichem Zögern schließlich doch in Druck gab. Das Werk gehört längst zu den populärsten Hornkonzerten. Im Rahmen der Edition Staatskapelle Dresden vol. 44 (PH15016) wird es von Robert Langbein in einem Konzertmitschnitt von 2014 effektvoll und äußerst virtuos gespielt. Langbein ist der Solo-Hornist des Orchesters, das von seinem Chef Christian Thielemann geleitet wird. In seinem zweiten Teil spannt das neue Album einen weiten Bogen im Schaffen von Strauss. Am Beginn steht die Serenade Es-Dur op. 7 für zwei Flöten, zwei Oboen, zwei Klarinetten, vier Hörner, zwei Fagotte und Kontrafagott. Sie ist sein erstes 1882 in Dresden uraufgeführtes Werk.  Nicht etwa die Salome, sondern ein sehr intimes kammermusikalisches Stück des erst 17-jährigen Gymnasiasten begründete die lebenslange Beziehung von Strauss zu Dresden. Die Uraufführung besorgte der ehrwürdige Tonkünstler-Verein, der – so die Angaben im Booklet – in der heutigen „Kammermusik der Sächsischen Staatskapelle“ fortlebt. Auf die Serenade folgt ein Bläserstück des späten Strauss. Autor Torsten Blaich in seinen Textheft-Erläuterungen: „62 Jahre trennen beide Kompositionen, doch wieder ist es eine, die im Dresdner Tonkünstler-Verein uraufgeführt wurde: die 1943 in Wien und Garmisch zu Papier gebrachte erste Bläsersonatine ,Aus der Werkstatt eines Invaliden.'“ Mit diesem Untertitel habe Strauss nicht nur selbstironisch auf Alter und vorausgegangene Krankheit angespielt, „er verstand das Stück buchstäblich“ als „Handgelenksübung“, damit das – wie er sich ausdrückte – „vom Taktstock befreite rechte Handgelenk nicht vorzeitig einschläft“. Unüberhörbar klingt seine Oper Daphne an, die er thematisch mit feiner Nadel in das musikalische Gewebe dieses Sonatine hineinwebt. Den Abschluss bilden die am 12. April 1945 vollendeten Metamorphosen, jenes Streicherstück, in dem Strauss seine Erschütterung über die Kriegszerstörungen Ausdruck gibt. „Mein schönes Dresden – Weimar – München, alles dahin!“ R.W.

 

Nun also die „Romantische“. Christian Thielemanns Bruckner-Zyklus mit der Staatskapelle Dresden schreitet unaufhaltsam voran. Die vierte Sinfonie (Fassung 1878/1880) in seiner Deutung erschien bereits im November 2016 auf DVD/Blu-ray (Unitel). Hierbei handelte es sich um einen Konzertmitschnitt vom 23. Mai 2015 aus dem Festspielhaus Baden-Baden. Jetzt legt Profil/Hänssler in seiner Edition Staatskapelle Dresden mit Vol. 42 (LC 13287) eben dieses Werk auch auf CD vor. Der Mitschnitt entstand beim neunten Sinfoniekonzert während der Spielzeit 2014/15 am 17. Mai 2015 in der Semperoper, also kaum eine Woche vor der Videoaufnahme. Die Frage, die sich nun stellt, ist, ob es dieser parallelen Veröffentlichung wirklich bedarf. Neben diesen beiden Aufnahmen mit den Sachsen gibt es nämlich sogar noch eine dritte mit den Münchner Philharmonikern von 2008 (ebenfalls Unitel).

Rein von den Spielzeiten her gibt es kaum Unterschiede bei allen dreien. Lobte Christian Hoskins im „Grammophone“ noch die im Vergleich zu den Münchnern bessere Spielkultur der Dresdner Staatskapelle, kann man sich beim Abhören der neuen CD-Ausgabe nicht des Eindrucks erwehren, dass es besser gewesen wäre, wenn an zwei Abenden (oder bei den Proben) mitgeschnitten worden wäre. Bereits im Kopfsatz (19:41) mit Tempoanweisung Bewegt, doch nicht zu schnell gibt es einige Unsauberkeiten im Orchesterspiel. Rein temporal bewegt sich Thielemann hier auf der langsameren Seite. Eugen Jochum etwa ist über zwei Minuten flotter (DG, 1965), Otto Klemperer sogar mehr als dreieinhalb (EMI, 1963). Trotzdem geht es tatsächlich auch noch getragener, wie Stanislaw Skrowaczewski mit 21 Minuten beweist (Oehms, 1998). Interessanterweise ist letzterer dafür im langsamen zweiten Satz fast eine Minute flotter. Thielemann benötigt hier 17:19, Klemperer irrwitzig erscheinende 13:55. Womöglich ist dieser trauermarschartige Satz der Höhepunkt der vorliegenden Neueinspielung. Thielemann betont mehr das „Gebeth“ denn das „Ständchen“ (um mit den Worten Bruckners selbst zu sprechen). Tatsächlich liegt der „Wunderharfe“ aus Elbflorenz das unbestreitbar lyrische Moment dieses Satzes ungemein. Hier ist sie voll auf der Höhe und weiß zu bezaubern.

Im bewegten Scherzo ist Thielemann tempomäßig nicht weiter auffällig (11:21). Die berühmte Jagdmusikpassage mit den Horn- und Trompetensignalen beherrscht die Staatskapelle freilich formidabel. Das Trio ist mit „Nicht zu schnell“ keinesfalls schleppend bezeichnet und hat Züge eines Ländlers. Hier profitieren die Dresdner einmal mehr von ihrer lyrischen Versiertheit. Bereits im „Grammophone“ wurde zur Baden-Badener Aufnahme angemerkt, dass die äußeren Sätze insgesamt abfallen würden. Insofern scheint Thielemanns Konzeption einige Tage zuvor (leider) dieselbe zu sein. Im Finalsatz (Bewegt, doch nicht zu schnell) treten beim Blech einige grenzwertige Stellen zu Tage, welche den Gesamteindruck stören. Die sehr gemächlichen Tempi (24:41) sind hier nicht das Hauptproblem (Jochum ist knapp fünf Minuten schneller, Klemperer gar fast sechs, und auch Skrowaczewski kommt mit 22 Minuten aus), denn Sergiu Celibidache bewies in seiner Letztdeutung (Karna, 1993) mit über einer halben Stunde das Gegenteil. Eine solche getragene Spielzeit freilich mit Innenspannung zu füllen, ist eine andere Sache. An Celis Intensität reicht Thielemann diesbezüglich nicht heran. Die Coda am Ende entbehrt der ganz großen Wirkung, ist mit etwa drei Minuten eigentlich ziemlich langsam, ohne dem Extrem Celibidaches (fünfeinhalb Minuten!) freilich auch nur annähernd nachzueifern. Ich muss bekennen, dass mich diese Interpretation für alle Zeiten „verdorben“ hat. So und nicht anders.

Nüchtern betrachtet, liefert Thielemann insgesamt durchaus Qualitätsarbeit ab. Unbedingt besitzenswert ist diese neue Einspielung allerdings nicht. Die Klangqualität ist soweit sehr gut, leidet aber ein wenig an der schwierigen Akustik innerhalb der Semperoper; ab und an sind Publikumsgeräusche zu vernehmen. Daniel Hauser

 

 

Der Duft von frischem Brot

 

Die Edition der Lieder von Hanns Eisler bei MDG macht schon durch ihre Aufmachung etwas her. Für Vol. 3 (613 2084-2) wurde ein Gemälde von Edward Hopper gewählt. Es ist unter dem Titel „Sonntag“ bekannt geworden. Nach Angaben des Schriftstellers John Updike habe der ursprüngliche Titel „Seventh Avenue Shops“ gelautet. In einem Beitrag für „ZEIT online“ anlässlich einer Hopper-Ausstellung 2004 in London zitiert er den Maler mit den Worten, dass auf dem Bild „nicht unbedingt Sonntag“ sei. „Dieses Wort wurde ihm später von jemand anderem aufgedrückt.“ Der Amerikaner Hopper war ein Zeitgenosse des Komponisten. Sie hätten sich sogar begegnen können. Eisler, der von den Nationalsozialisten wegen seiner jüdischen Herkunft und seiner kommunistischen Einstellung verfolgt wurde, war in die USA emigriert und lebte wie Hopper zeitweise in New York bevor er sich 1942 in Hollywood niederließ, wo er sich bessere Chancen für Filmmusikaufträge versprach und auf seinen Freund Bertolt Brecht traf. Dort entstanden auch zahlreiche Lieder, die Eisler eher als Nebentätigkeit verstand, von der Forschung im Nachhinein aber als ganz zentraler Teil seines Schaffens erkannt wurden.

Im Booklet hat der Pianist der Edition Steffen Schleiermacher, der selbst ein erfolgreicher Komponist ist, spannende Fakten zusammengetragen. Eisler schrieb täglich mindestens ein Lied – und damit ein Hollywooder Liederbuch. Diesen Titel ließ er später aber wieder fallen, tilgte die meisten Hinweise auf Hollywood und verteilte die einzelnen Lieder auf mehrer Bände der gedruckten Werke. Schleiermacher: „Erst 1982 … fand in Leipzig die Uraufführung als Zyklus statt, Interpreten waren Roswitha Trexler und Josef Christof. Für Aufführungen wird in der Regel eine mehr oder weniger chronologische Reihenfolge der Lieder gewählt, so auch für die vorliegende Einspielung.“ Textvorlagen fand Eisler meist bei Brecht. In den „Erinnerungen an Schumann und Eichendorff“ greift er den ersten Vers des Gedichts „In der Fremde“ von Eichendorff auf, den Robert Schumann an den Beginn seines berühmten Liederkreises op. 39 stellte. Der Verlust der Heimat wird zu einem zentralen Thema der Sammlung. Eisler verliert sich aber nicht in romantischen Perspektiven. Wie Hopper, der Schöpfer des Coverbildes, sieht er den realistischen Tatsachen ins Auge und empfindet sein Exil vor allem als Ausdruck von Einsamkeit.

Mit 49 Liedern ist der Zyklus zwar umfangreich, hält sich zeitlich aber mit rund 70 Minuten in Grenzen. Eisler pflegte die knappe Form, kommt immer rasch auf den Punkt. Einzig Goethes „Schatzgräber“ fällt mit gut vier Minuten aus dem Rahmen. Der Bariton Holger Falk ist ein idealer Interpret. Er betont nicht nur die Härten und Brüche mancher Kompositionen, sondern spürt auch deren Schönheiten auf, die sich mitunter ganz unvermittelt einstellen, wenn nämlich der „Speisekammer“ (Brecht 1942) der Duft von frischem Brot, süßer Milch und Räucherspeck entströmt, sich mit der schattigen Kühle „einer dunklen Tanne“ mischt und an jene denken lässt, „die überm Meere der Krieg der leeren Mägen hält“.

Auf der ersten CD der Edition ist ein Gemälde zu sehen, das 1929 entstand. Gemalt hat es Otto Griebel und nicht Giebel – wie es im Copyright-Hinweis im Innern des Booklets schwarz auf weiß heißt. So ein Fehler, gewiss nicht mehr als ein harmloser Vertipper, macht stutzig. Wird denn alles andere stimmen? „Internationale“ hat Griebel sein Gemälde genannt, das zum Bestand des Deutschen Historischen Museums Berlin gehört. Der Maler wurde 1895 im sächsischen Meerane geboren und starb 1972 in Dresden. Stilistisch wird er der Neuen Sachlichkeit zugerechnet. Einerseits gibt das Bild eine Vorstellung von Arbeitern als Masse. Andererseits löst sich diese Masse in individuellen Figuren auf. Masse erscheint nicht als gesichtslose Ansammlung von Personen einer bestimmten sozialen Gruppierung, sondern bildet die Summe von einzelnen Menschen mit hochindividuellen Gesichtern. Im Original ist das Bild fast zwei Meter breit und lässt eine ungleich stärkere Wirkung zu als in dieser geschrumpften Form. Was Griebel gemalt hat, setzte Hanns Eisler in Töne. Wenigstens auf dieser CD, dem Vol. 1 (613 2001-2). Eisler, so ist im ebenfalls sehr lesenswerten Booklet-Text von Schleiermacher zu lesen, dürfte an die fünfhundert Lieder komponiert haben, die einschlägigen Nummer aus Bühnen- und Filmmusiken mit eingerechnet. „Bei dieser auf vier CDs konzipierten Sammlung kann es also nicht um das gesamte Liedschaffen des Komponisten gehen, sondern um eine möglichst repräsentative Auswahl der klavierbegleiteten Lieder“, heißt es. Die meisten Kompositionen folgen auch hier Brecht-Texten. Eine Ausnahme bildet gleich als Auftakt das „Bankenlied“ von Jean Baptiste Clement (1836-1903), einem französischen Sänger, der sich sozialistischen Idee verschrieben hatte. Walter Mehring hat den Text ins Deutsche übertragen. Komponiert wurde es für Ernst Busch, der es schneidend und anklagend vorgetragen hat in diversen Einspielungen. Schleiermacher verweist auf den aktuellen Bezug, der sich derzeit allerdings am ehesten in Parteitagsreden der Linken findet.

Falk, der auch diese Lieder singt, arbeitet in seinem Vortrag gemeinsam mit seinem Pianisten die rasanten musikalischen Strukturen, den Einfallsreichtum und nicht die klassenkämpferische Absicht heraus. Das ist so auch bei den anderen Liedern zu beobachten, mit denen es politisch heftig zur Sache geht. Damit setzt sich der Bariton von althergebrachten Interpretationen deutlich ab. Es ist, als würden diese Gesänge salonfähig und ihre Duftmarke aus Arbeiterschweiß abschütteln. Das Publikum hört hin und lässt sich einen guten Wein dazu einschenken. Anders sind diese historischen Gesänge so kompakt wohl kaum zu ertragen. Rüdiger Winter

Ernst Gruber

 

15. Oktober 1966, ein Sonnabend. In der Berliner Staatsoper Unter den Linden steht Wagners Götterdämmerung auf dem Spielplan, und ich erinnere mich ganz genau. Doch macht sich die Erinnerung an diesen Abend, wie zu erwarten wäre, nicht so sehr an Ludmila Dvorakova als Brünnhilde oder Gottlob Frick als Hagen fest. Es ist der Siegfried von Ernst Gruber, der mir seither nicht aus dem Sinn geht. Hat er sich deshalb so verewigt in meinem Gedächtnis, weil ich im Gegensatz zur Dvorakova oder zu Frick die Eindrücke von damals nicht mit einer Schallplatte auffrischen und hörend nachempfinden kann? Es sind inzwischen einige Dokumente mit ihm auf den Markt gelangt – sein Siegfried ist nicht dabei. Ich muss mich also immer wieder selbst befragen, wenn ich Gruber in der Rolle hören will. Enormes Volumen, die starke Mittellage nach oben und unten kaum begrenzt. Strahlend in der Höhe, dunkel in der Tiefe. Aufs Wort textverständlich, mit einer von alter Schule geprägten Neigung zum Deklamieren. Groß und schön als Erscheinung. Ein klassischer Heldentenor wie aus dem Bilderbuch. Nach Max Lorenz, dem er stimmlich nahe steht, vielleicht der letzte des alten Schlages überhaupt. Am 20. Dezember 2018 wäre Ernst Gruber 100 Jahre alt geworden. Er ist früh gestorben. 1979, am 24. August, an den Folgen einer eigentlich banalen Operation. Und doch hatte sich ein künstlerisches Leben vollendet, das viele Höhepunkte sah.

In diesem Mitschnitt aus Philadelphia, der bei Ponto erschienen ist, singt Ernst Gruber den Tristan.

In Wien geboren, wo er auch studierte, debütierte Gruber 1947 als Max in Graz. Alsbald wurde der Dirigent Hermann Abendroth auf den begabten Sänger aufmerksam und holte ihn 1949 ans Nationaltheater Weimar, wo er sich als Heldentenor etablierte und eine rege Gastspieltätigkeit entfaltete. Stationen auf dem Weg an die Berliner Staatsoper, die seine eigentliche künstlerische Heimat werden sollte, waren Dresden und Leipzig, wo bis heute vor allem sein Rienzi unvergessen geblieben ist. Und doch trug er sein Leben lang Österreich im Herzen. Er sprach den Dialekt seiner Heimatstadt. Befragt nach seiner Lieblingspartie, hat Gruber immer den Tristan genannt, den er 88 Mal gesungen hat, 1967 auch bei einem offenbar von der Wagnerenkelin Friedelind Wagner eingefädelten Gastspiel in Philadelphia. Davon hatte sich im Nachlass von Hanne-Lore Kuhse, die wie so oft auch damals seine lsolde war, ein Mitschnitt erhalten, der bei Ponto auf CD erschien (zwar ist die Firma eingestellt, aber die CDs sind noch immer zu haben). Zu der in Ostberlin geplanten Studioeinspielung mit der Kuhse war es wegen des plötzlichen Todes des Dirigenten Franz Konwitschny nicht mehr gekommen. Das Dokument aus den USA ist auch deshalb einzigartig, weil dem hier auffallend dunkel gefärbten Gruber mit Ramon Vinay ein Kurwenal zur Seite ist, der selbst einmal ein berühmter Tristan war, indessen aber zurück ins Baritonfach gewechselt hatte. Das macht vornehmlich den dritten Aufzug so spannend, weil zwei gleichberechtigte Giganten aufeinander treffen. Kurwenal – Gruber macht ihm nichts streitig – wertet sich in einer nie gekannten Weise selbst auf, er stirbt quasi mit Tristan, als Teil seiner selbst. Es ist dann, also müsste das Drama in diesen Szenen „Tristan und Kurwenal“ heißen. (Foto oben: Ernst Gruber als Otello/ Foto privat). Rüdiger Winter

Sylvia Geszty

 

In meinen Erinnerungen geht es oft zu wie auf der aktuellen Opernbühne. Die Ereignisse neigen zur Unübersichtlichkeit, Handlungsstränge und Ereignisse schieben sich über- und ineinander. Figuren verschwinden im Nebel des Vergessens, fahren wie Erda im Rheingold hinab in die Tiefe, andere treten nach Jahrzehnten plötzlich ganz deutlich aus der Versenkung hervor. Oder fallen vom Himmel gleich Ero dem Schelm. Die Opernsängerin Sylvia Geszty spielt in der musikalischen Abteilung meines Gedächtnisses stets eine tragende Rolle. Sie steht immer im Licht. Und wenn sie in meiner Phantasie zu singen beginnt, dann mit dem unverwechselbaren Charme ihres hellen Soprans. In meinen Ohren hat sie die erotischste Stimme, die sich denken lässt.

Das hat Gründe. 1968 erlebte ich sie als Rosina in der bezaubernden Inszenierung von Rossinis Barbier von Sevilla an der Ostberliner Staatsoper. Regisseurin Ruth Berghaus hatte die italienische Stehgreifkomödie, die Commedia dell’Arte nach allen Regeln dieser Kunstform belebt. In dieses rasante Spiel, das keinen Stillstand duldete, passte die Geszty hinein, als hätte ihr Rossini die Rolle auf den verführerischen Leib geschrieben. Nicht zufällig hielt sich dieses Inszenierung über Jahrzehnte im Spielplan und überdauerte sogar den Zusammenbruch der DDR. Bei den endlosen Wiederholungen offenbarte es sich aber jenen, die einst in der Premiere saßen, wie sehr die Geszty fehlte. Es gab viele gute Besetzungen. Niemand konnte es mit der Geszty aufnehmen, die allerdings nur relativ wenige Vorstellungen in der langen Geschichte dieses Opernereignisses sang. 1970 verließ sie die DDR und trat fortan im Westen auf. Ihre Ost-Fans hatten das Nachsehen, mussten sich auch mit Ersatz für ihre pompöse Kleopatra in Händels Julius Cäsar begnügen und wurden auch um die Lucia von Donizetti gebracht, die ebenfalls von der Berghaus in Szene gesetzt werden sollte.

Entgegen sonstigen Gepflogenheiten wurde das Coverbild auf der Plattenneuerscheinung der von Rudolf Kempe dirigierten Ariadne auf Naxos, das sie als neckische Zerbinetta zeigte, bei einer hektisch veranlassten neuen Pressung durch einen profanen Schriftzug ersetzt. Die Geszty sollte aus dem kollektiven Gedächtnis verschwinden, was aber nicht gelang. Sie hatte sich nämlich in den Herzen ihres Publikums festgesetzt, wo sie vor Repressionen sicher gewesen ist, wo der lange Arm des Staates und der Stasi nicht hinreichte. Das hatten ihre Feinde nicht bedacht.

Im Osten war sie einzigartig, im Westen eine unter anderen. Dennoch eilte sie auch fürderhin von Erfolg zu Erfolg. Sie sang an den großen Opernbühnen der Welt, eroberte sich im Unterhaltungsmedium Fernsehen eine feste Position und glänzte auch in der Operette. Als Lehrerin war sie gesucht. 2004 erschienen ihre Erinnerungen „Königin der Koloraturen“ im Parthas Verlag. Ich las das Buch mit Begeisterung – als würde mir aus den Seiten eine alte Freundin entgegenkommen, als stünde sie wieder auf der Bühne und würde einem nochmals als Königin der Nacht die hohen Töne um die Ohren schleudern oder sich als Gilda, die ihr die liebste Rolle war, Tränen des Mitleids einfordern. Als ich in einem Magazin eine Kritik über das Buch schrieb, erwähnte ich auch Ungenauigkeiten und Schreibfehler, die sich eingeschlichen hatten. Postwendet bekam ich einen langen Brief von ihr mit der freundlichen Bitte, sie doch bei Gelegenheit anzurufen. Ganz und gar Dame, ließ sie im Gespräch den Anlass unerwähnt, und wir plauderten über Gott und die Welt – und über Oper und Musik. Am 15. Dezember 2018 ist Sylvia Geszty im Alter von 84 Jahren gestorben. Sie wird mir fehlen. Rüdiger Winter

Ohne Happy End

 

Unbestritten: Schwanensee ist das Ballett der Ballette. Auch unter den drei großen Gattungsvertretern, die Pjotr Iljitsch Tschaikowski komponiert hat, überragt es die beiden anderen, Dornröschen und den Nussknacker, zumindest in seiner Ballettfassung (bei den berühmten Suiten wäre Der Nussknacker wohl indes der Sieger). An bedeutenden Einspielungen besteht wahrlich kein Mangel, sowohl bei genuin russischen als auch bei westlichen Produktionen. Zuvörderst muss hier ganz gewiss und in diesem Falle ganz besonders die 1988 noch in der Sowjetunion entstandene Aufnahme des Balletts unter Jewgeni Swetlanow genannt werden. Dies bereits aus dem einfachen Grunde, weil sich nun, drei Jahrzehnte später, dasselbe Orchester, das mittlerweile sogar nach seinem bedeutendsten Leiter benannt ist, abermals an dieses Werk heranwagt.

Es lohnt sich, zumindest einen kurzen Blick auf die Orchestergeschichte zu werfen. 1936 gegründet, erlangte der ursprünglich Staatliches Sinfonieorchester der UdSSR genannte Klangkörper in der langen Amtszeit unter Swetlanow (1965-2000) Weltruhm. Die Einspielungen für das offizielle Staatslabel Melodija sind Legion. Swetlanows Genius überstrahlte letztlich auch seinen unschönen Abgang (er wurde vom damaligen russischen Kultusminister gefeuert, weil er angeblich zu viel Zeit mit ausländischen Orchestern verbrachte), denn 2005 ehrte man den mittlerweile Verstorbenen, indem man das offiziell machte, was davor schon in aller Munde war: Es wurde nun auch ganz formell zum Swetlanow-Orchester. Diese kurze Vorgeschichte ist nötig, stellt sich Vladimir Jurowski, seit 2011 Chefdirigent, doch damit in eine Reihe mit dem großen Vorgänger. Übrigens geht Jurowski im informativen Begleittext durchaus auf dessen Einspielung ein, bescheinigt ihr allerdings „schwierige Studio-Bedingungen der Sowjetunion“ und begründet somit seine Präferenz eines Mitschnitts von Live-Konzerten (entstanden im Rachmaninow-Saal von Philharmonia 2 in Moskau im Februar 2017 und im Februar 2018). Pentatone folgte ihm hierin, und es darf bereits jetzt vorangestellt werden: Das Ergebnis gibt ihnen Recht (PTC 5186 640).

Was unterscheidet diese Neueinspielung nun aber so fundamental von ihren Vorläufern? Neben dem wirklich ausgezeichneten, ungemein detailreichen und insofern neue Maßstäbe setzenden Klang ist es vor allen Dingen die Wahl der Urfassung von 1877, die seinerzeit als katastrophaler Flop für den Komponisten in einem Fiasko endete. Üblicherweise wurde von der Tonträgerindustrie dann auch die erst 1895, also nach Tschaikowskis Tod, neu arrangierte Fassung von Marius Petipa und Lew Iwanow eingespielt. Dabei kam es nicht nur zu Tempoanpassungen, die sich der Choreographie unterordnen mussten, sondern auch zu Verschiebungen, Kürzungen und gar Strichen. Der in der Erstfassung sehr ausgeprägt vorhandene sinfonische Charakter des Werkes wurde gleichsam relativiert. Tatsächlich mag diese Urversion als musikalische Untermalung eines szenisch aufgeführten Balletts zwar Schwächen gehabt haben, doch ist dies zugleich isoliert betrachtet andererseits ihre Stärke, erscheint sie doch dem Zuhörer nun eher wie eine lange Sinfonie, wie Jurowski feststellt. Als reine (SA)CD-Einspielung erweist sich dies jedenfalls wirklich als ein Segen, ist der musikalische Fluss doch nicht choreographischen Erwägungen unterworfen.

Ein Happy End gibt es in dieser Fassung mitnichten, wodurch sie vermutlich auch gar nicht erst ins sowjetische Bild gepasst hätte, wäre sie denn je gespielt worden. Dort liebte man das triumphale Finale mit der überhöhenden Schlussapotheose, wie man es in der mittlerweile legendären Inszenierung des Bolschoi-Theaters anhand eines bereits in Farbe gedrehten Filmes aus dem Jahre 1957 noch heute bestaunen kann. Das Ballett wurde seinerzeit freilich gnadenlos zusammengestrichen, wenn auch die damals noch blutjunge und für sich einnehmende Maja Plissezkaja über diese Einschränkung hinwegtrösten mag. Am Pult stand übrigens Juri Fajer, der zwischen 1923 und 1963 Chefdirigent der Ballettaufführungen des Bolschoi-Theaters war und dessen pathosgetränkte, vollblutige Interpretation Maßstäbe gesetzt hat. So kurios es anmuten mag, aber in gewisser Weise tritt Jurowski in seine Fußstapfen, denn ich muss bekennen, den Schwanensee orchestral selten derart überzeugend gehört zu haben, Fassungsfrage hin oder her. Das spieltechnische Niveau des Swetlanow-Orchesters ist schlechterdings phänomenal. Jurowski erzielt einen schon verloren geglaubten sowjetisch anmutenden Klang mit zuweilen markerschütterndem Blech und besonderer Betonung der Bässe, und das, ohne dass es jemals vordergründig oder gar vulgär herüberkäme. Seine Tempi sind in sich schlüssig und zeugen von dem von ihm postulierten betont sinfonischen Werkzugang.

Die Gesamtspielzeit der beiden CDs beträgt knapp 152 Minuten, wobei direkte Vergleiche mit anderen Aufnahmen aufgrund der unterschiedlichen Fassungen schwierig bis unmöglich sind. Es fällt schwer, hier einzelne Passagen besonders zu würdigen, doch gelingt gerade „der wohl magischste Moment des Werkes“ (wie Jörg Peter Urbach im Beiheft schreibt), womit selbstredend das Finale gemeint ist, in Jurowskis Lesart dermaßen bezwingend, dass man geneigt ist, diese Einspielung sogar jener von Swetlanow selbst vorzuziehen. Womit selbst der legendäre Namensgeber des Orchesters nunmehr seinen Meister gefunden hätte. Daniel Hauser

Zagend, rauschhaft, ungestüm

 

Wiewohl Franz Schreker (1878-1934), der in Monaco geborene österreichische Komponist, der zeitweise populärer gewesen sein soll als Richard Strauss, den NS-Terror nur mehr in seinen Anfängen erleben musste, litt sein Werk doch nachhaltig darunter. Denkt man heute an Schreker, so wohl hauptsächlich an seine Oper Die Gezeichneten, vielleicht noch an Der ferne Klang und Der Schmied von Gent. Wenig bekannt geblieben sind seine Orchesterwerke, von daher ist es nur zu begrüßen, dass sich Capriccio diesen nunmehr annimmt (C5348). Zwei Ouvertüren aus seiner Frühphase bilden den Ausgangspunkt. Die als Ekkehard bezeichnete Symphonische Ouvertüre für großes Orchester und Orgel op. 12 von 1902/03 leitet die knapp 69-minütige CD ein. Es handelt sich im Grunde genommen um eine Sinfonische Dichtung nach Victor von Scheffels Romanvorlage, welche auf der Vita des im 10. Jahrhundert lebenden Sankt Gallener Mönches und Sequenzendichters Ekkehard II. beruht. Schreker erzielt gekonnt eine (pseudo-)mittelalterliche Atmosphäre. Deutliche Anklänge an Wagner und Liszt scheinen auf. Bereits im Jahr darauf entstand die Phantastische Ouvertüre op. 15, deren Uraufführung sich indes bis 1912 verzögerte. Sie entspricht viel eher dem Typus einer klassischen Konzertouvertüre und zeugt bereits von einer künstlerischen Weiterentwicklung des Komponisten und deutet zumindest zaghaft schon auf seine spätere expressionistische Phase hin. Das vielleicht außergewöhnlichste hier inkludierte Stück ist Vom ewigen Leben. Zwei lyrische Gesänge für Sopran und Orchester. Den Text steuerte Hans Reisiger nach Walt Whitman bei. Während die Klavierfassung bereits 1923 entstand, geht die hier berücksichtigte Orchesterfassung auf das Jahr 1927 zurück. Den Vokalpart übernimmt die Australierin Valda Wilson mit ihrem schönen, zu Herzen gehenden Sopran. Bei den beiden Liedern handelt es sich um „Wurzeln und Halme sind dies nur“ sowie um „Das Gras“. Eine gewisse Vorbildwirkung wird wohl Das Lied von der Erde von Gustav Mahler gehabt haben.

Die kaum zehnminütigen Vier kleinen Stücke für großes Orchester mit dem Untertitel Vier Skizzen für den Film aus dem Jahre 1930 stehen bereits für das Spätwerk Schrekers. Sie haben intermezzohaften Charakter. Sie waren nicht zur Untermalung eines konkreten Filmes gedacht, sondern beschäftigten sich mit archetypischen Situationen und Grundmustern dieses Mediums.  Dabei orientiert sich Schrekers Werk deutlich mehr am damals bereits aussterbenden Stummfilm denn am erste Erfolge feiernden Tonfilm. Die vier Stücke sind mit „1. Zagend“, „2. Heftig, ungestüm“, „3. Eindringlich“ und „4. Gefällig“ umschrieben. Den Abschluss bildet das Vorspiel zu einer großen Oper aus dem Sommer 1933. Es sollte sein letztes Werk werden und war eigentlich als Einleitung für die unvollendet gebliebene Oper Memnon gedacht gewesen, einen ägyptischen Feldherrn und Halbgott. Schrekers Gattin umschrieb es als „ein großes, rauschendes Stück, in dem alle Register des Orchesters gezogen werden“. Tatsächlich bildet dieses mit 22 Minuten erstaunlich ausgedehnte Werk den krönenden Schlusspunkt des Œuvre von Franz Schreker, der am 21. März 1934, zwei Tage vor seinem 56. Geburtstag, einer Herzattacke erlag, kurz nachdem ihn der sich dem Nazi-Regime andienende Präsident der Preußischen Akademie der Künste Max von Schillings in den Zwangsruhestand versetzt hatte. Auf seine Uraufführung musste dieses Werk tatsächlich bis 1958 warten.

Die Präsentation dieser erst im Februar 2018 in der Ludwigshafener Philharmonie in Zusammenarbeit mit dem Deutschlandfunk Kultur und dem SWR entstandenen Einspielungen ist tadellos. Der ausgezeichnete Klang unterstreicht das hohe künstlerische Niveau der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz unter Leitung des jungen britischen Dirigenten Christopher Ward, seit kurzem Generalmusikdirektor des Theaters Aachen. Insofern eine gute Ergänzung zu den mit exzellenten Kritiken bedachten Einspielungen der Schreker’schen Orchesterwerke des BBC Philharmonic unter Vassily Sinaisky (Chandos). Daniel Hauser

Und wer ist die Daphne?

 

In Sammlerkreisen werden die dramaturgischen Blätter der Dresdner Theater geschätzt, die in den frühen Jahren der DDR mit dem Titel „Gestaltung und Gestalten“ erschienen sind. Mal broschiert, mal gebunden – je nachdem, ob Papier gerade knapp war oder nicht. In der fünften Folge von 1950 finden sich Besetzung und große Fotos der – wie es hieß – Neuaufführung der Daphne von Richard Strauss vom 11. Juni desselben Jahres. Und es stellte sich die Frage: Wie wird wohl gesungen worden sein? Optisch lehnte sich die Szene offenkundig an die legendäre Uraufführung an, die gut dokumentiert ist. Würden auch die Sänger mithalten können? Und wer ist eigentlich die Daphne? Gudrun Wuestemann? Niemand kannte Platten mit ihr. Die Oper war 1938 in Dresden mit Margarete Teschemacher in der Titelrolle uraufgeführt worden und zwar in einer Doppelvorstellung mit dem ebenfalls einaktigen Friedenstag, der wenige Monate zuvor in München erstmals über die Bühne ging. Nun musste sich also Gudrun Wuestemann als Daphne mit einem übermächtigen Vorbild vergleichen lassen. Die Entscheidung, die Rolle mit einer hoffnungsvollen Sopranistin zu besetzten, erscheint auch heute noch klug. Jugend und gutes Aussehen sind ein Bonus für sich. Und wenn es dann noch gesanglich und darstellerisch stimmt, ist der Erfolg sicher. „Gudrun Wuestemann, schon durch den Liebreiz ihrer Erscheinung wie geschaffen zur Verkörperung der Daphne, sang die umfangreiche bald koloraturhaft flüchtige, bald mit großem Arioso schwelgende Partie wohl ganz im Sinne des Komponisten“, hieß es im „Sächsischen Tageblatt“.

Gudrun Wuestemann als Daphne in der Dresdner Inszenierung von 1950. Foto: Historisches Archiv der Sächsischen Staatstheaters/Jutta Landgraf – Dank an Steffen Lieberwith

Nachzulesen sind die durchweg positiven Kritiken im Booklet der CD-Ausgabe des Mitschnitts der Rundfunkübertragung der Premiere vom 11. Juni 1950, der jetzt als Vol. 4 der Semperoper-Dresden-Reihe bei Profil Edition Günter Hänssler erschienen ist (PH07038). Das Urteil des zitierten Kritikers hat über die zeitliche Distanz gehalten. Wer sich über die historisch bedingten klanglichen Einschränkungen der ansonsten hervorragend restaurierten Aufnahme hinwegsetzen kann, hört im silbrigen Ton der Wuestemann tatsächlich eine ideale Daphne. Im berühmten Schlussgesang rühren die Angst und die Furcht vor dem an, was da mit Macht und unentrinnbar über sie kommt – nämlich die Verwandlung. Gottlob Frick gibt einen feierlich und pathetisch aufgelegten Peneios, Helena Rott ist eine erdverbundene Gaea, die stimmlich in mythische Tiefen hinabsteigt. Werner Liebing als Leukippos und Helmut Schindler als Apollo verkörpern als die damaligen sehr vielseitigen Tenorstars der Semperoper besten Dresdner Standard. Der erst vierundzwanzigjährige Theo Adam, der in der folgenden Spielzeit schon selbst zum Peneios aufsteigen sollte, ist einer von vier Schäfern. Unverkennbar in der winzigen Rolle, die meist nur im Quartett zum Einsatz kommt. Adam dürfte mit seinen inzwischen zweiundneunzig Jahren der einzige Mitwirkende sein, der noch lebt.

Die Herausgeber haben es sich nicht leicht gemacht. Steffen Lieberwirth, der Project Director der Edition im Booklet: „Ursprünglich hielten wir den überlieferten … Livemitschnitt aus aufnahme- und klartechnischer Sicht nicht für veröffentlichungswürdig, entsprach er doch so ganz und gar nicht unseren Vorstellungen eines vertretbaren und bislang von uns angestrebten Klangbildes.“  Und weiter: „Trotz mancher – selbst durch akribischste Restaurierungsleistungen nicht korrigierbare – Qualitätsmängel wie Übersteuerungsverzerrungen ist der Livemitschnitt unserer Meinung nach ein so einzigartiges historisches Zeitdokument, sowie künstlerisch als auch politisch, dass wir diesen Mitschnitt nun in die SEMPEROPER EDITION den Opernfreunden offerieren möchten.“

Bei Drucklegung des wie immer reich ausgestatteten Booklets, das allein schon die Anschaffung lohnt, waren die Lebensdaten von Gudrun Wuestemann nicht zu ermitteln. Inzwischen aber hat sie uns der Sohn der Sängerin, Dr. Alexander Greguletz, dessen Vater Alfons Greguletz auch Sänger gewesen ist, zur Verfügung gestellt. Sie wurde am 10. November 1921 geboren und ist am 22. Juni 1996 gestorben. Nach dem Studium in Berlin debütierte sie am Stadttheater Plauen. Rudolf Kempe, der faszinierende Dirigent der Aufnahme, hatte sie bei einem Gastspiel an der Komischen Oper in Berlin gehört und daraufhin nach Dresden geholt. Von dort wechselte sie an die Berliner Staatsoper. Eine Station ihres Wirkens war auch das Nationaltheater Weimar. Mit der Neuerscheinung wird ihr ein klingendes Denkmal auf Tonträgern gesetzt. Nachzuweisen war bisher lediglich ihre Mitwirkung an einem Querschnitt durch Benatzkys Im Weißen Rössl und auf einer Schelllackplatte mit Weihnachtsliedern – beide bei Polydor. Ergänzt wird das CD-Album mit Szenen, die von der Teschemacher und Torsten Ralf, dem Apollo der Uraufführung bestritten werden. Ganz zum Schluss erklingt ein instrumentales Arrangement von Daphnes Verwandlung mit der vom Kempe geleiteten Sächsischen Staatskapelle. Rüdiger Winter

Kehraus mit Prokofjew

 

Alter Wein in neuen Schläuchen. So mutet die nunmehr neu erschienene Mammutbox Sergiu Celibidache: The Munich Years an, die Warner präsentiert (0190295581541). Nicht weniger als 51 Stunden Musik auf 49 CDs verteilt – die gesamte, einst bei EMI erschienene Hinterlassenschaft der siebzehnjährigen Münchner Chefdirigentenzeit des rumänischen Dirigenten Sergiu Celibidache (1912-1996) auf Tonträger. Mit einer Ausnahme, könnte man jetzt beckmesserisch hinzufügen, denn neben den zwischen 1979 und 1996 entstandenen Aufnahmen mit den Münchner Philharmonikern wurde als Bonus-CD eine bereits 1948 angefertigte Studioaufnahme (sic) der ersten Sinfonie von Sergei Prokofjew mit den Berliner Philharmonikern beigegeben. Dies wird für den Celi-Kenner indes kaum ein Kaufgrund sein, legte Audite das Werk (wenn auch live) doch bereits vor Jahren in seiner exzellenten Kassette Celibidache: The Berlin Recordings 1945-1957 vor, die in operalounge.de besprochen und gelobt wurde.

Überhaupt scheint sich diese Neuveröffentlichung, die im Grunde nichts Neues beinhaltet, an Neulinge, nicht an Fortgeschrittene in Sachen Celibidache zu wenden. So widmet sich der von David Patmore verfasste Begleittext recht ausführlich der Hinwendung des Dirigenten zum Zen-Buddhismus und seiner damit verbundenen Philosophie, dass Musik nur im gegenwärtigen Moment, also Jetzt, existiere. Dies bedingte die lebenslange Abneigung Celibidaches gegen Tonaufnahmen, sieht man einmal von den ganz frühen Jahren ab. Tatsächlich wird im Booklet auch das bereits auf den EMI-Veröffentlichungen imprägnierte chinesische Zeichen Shou als Symbol für Langlebigkeit erläutert und soll „den Fortbestand von Celibidaches musikalischem und geistigem Erbe symbolisieren“.

Rote Schrift auf dunklem Grund: Warner hat die Aufnahmen des Dirigenten Sergiu Celibidache aus München neu aufgelegt. 

 

Was ist nun konkret enthalten? Die relativ chronologisch aufgebaute Box beginnt bei den Wiener Klassikern. Mit Haydns späten Sinfonien Nr. 92, 103 und 104 sind drei besonders beliebte aus dem umfangreichen Œuvre des Meisters aus Rohrau enthalten. Mozart ist hingegen instrumental allein durch seine große g-Moll-Sinfonie (Nr. 40) und die Ouvertüre zu Don Giovanni vertreten. Ihnen gemein ist der aus heutiger Sicht sehr unzeitgemäße Zugang mit enorm gedehnten Tempi, was insbesondere in den schnellen Sätzen auffällt. Anhänger der historischen Aufführungspraxis werden diese Aufnahmen meiden wie der Teufel das Weihwasser, obschon man aufgrund der ihnen hier zuteil werdenden erhabenen Größe Details heraushören kann, die sonst untergehen. Beethoven war einer derjenigen Sinfoniker, welche Celibidache am meisten beschäftigten. Es liegt hier ein beinahe vollständiger Zyklus vor, ausgenommen die erste Sinfonie, die lediglich in einem In-House-Mitschnitt überliefert ist und in diesem Zusammenhang nicht berücksichtigt wurde. Dafür gibt es die Vierte doppelt, einmal von 1987 und einmal von 1995, wobei sich bereits anhand dieses Werkes die immer weiter ins Extreme gehende Verlangsamung der Tempovorstellung des Dirigenten in seinem letzten Lebensjahrzehnt nachvollziehen lässt. Celibidache lässt einen wuchtigen, titanenhaften Beethoven spielen, wie man ihn in den 1990er Jahren sonst allenfalls noch bei Carlo Maria Giulini und Takashi Asahina erleben konnte. Die Solisten in der hier außergewöhnlich zelebrierten, gut 77-minütigen neunten Sinfonie sind Helen Donath, Doris Soffel, Siegfried Jerusalem und Peter Lika; es singt zudem der Philharmonische Chor München.

In Sachen Schubert ist in der Kassette einzig die Große Sinfonie C-Dur enthalten, daher sei auf die Veröffentlichung des Eigenlabels der Münchner Philharmoniker verwiesen, das vor einiger Zeit dankenswerterweise auch die „Unvollendete“ zur Diskographie Celibidaches beisteuerte (neben einer großartigen Interpretation von Dvoráks Sinfonie „Aus der Neuen Welt“, die hier ebenfalls fehlt). Überhaupt scheint es Celibidache nicht unbedingt um Vollständigkeit gegangen zu sein, fehlen in seiner Münchner Diskographie doch Schumanns Erste (die anderen drei sind enthalten) und die Sinfonien Nr. 1 und 2 von Bruckner (von der „Nullten“ ganz zu schweigen). Dass sein Konzept von der Langsamkeit auch an seine Grenzen stoßen konnte, wird in den Schumann-Sinfonien teilweise deutlich. Die noch immer unterschätzte Zweite etwa, welche die Zerrissenheit des Komponisten beispielhaft widerspiegelt, mutet durch das gleichmäßig langsame Tempo ein wenig leblos an. Dafür gelingt der spannungsgeladene Übergang vom dritten zum finalen Satz in der Vierten umso beeindruckender – ein Gänsehautmoment. Auch bei den vier Sinfonien von Brahms setzt Celibidache auf Langsamkeit, hier freilich nicht als einziger (man denke neben Giulini etwa auch an Charles Munchs späte Darbietung der ersten Sinfonie aus Paris).

Der Dirigent fühlte sich dem Zen-Buddhismus und seiner damit verbundenen Philosophie, dass Musik nur im gegenwärtigen Moment existiere, verbunden. Auf der Box und auf den einzelnen CDs findet sich – wie bereits auf den EMI-Veröffentlichungen – das chinesische Zeichen Shou als Symbol für Langlebigkeit.

Dass die Münchner Philharmoniker beim Amtsantritt des Rumänen kein genuines Spitzenorchester waren, können sie hie und da nicht ganz verleugnen, auch wenn sich die Orchesterqualität doch nachhaltig gesteigert zu haben scheint, was dann durchaus als Verdienst Celibidaches zu erwähnen wäre. Bruckners Sinfonik stellte fraglos einen Mittelpunkt im Schaffen des Dirigenten dar, wobei es sich bei den hier enthaltenen Münchner Mitschnitten, wie gesagt, um späte Tondokumente von Celibidaches Bruckner-Bild handelt. Wieviel flotter er selbst um 1980 herum noch sein konnte, kann man anhand der bei der Deutschen Grammophon vorgelegten Aufnahme der Sinfonien Nr. 3-5 und 7-9 mit den Orchestern aus Stuttgart und Stockholm erfahren. Von daher vermitteln diese Münchner Aufnahmen womöglich ein etwas einseitiges Bild des ganz späten Celibidache, welches das landläufige Klischee von der Entdeckung der Langsamkeit unterstreicht. Beigegeben sind zudem nicht weniger monumentale Lesarten des Te Deum und der Messe Nr. 3. So großartig einige der Bruckner-Aufnahmen in der Box auch sind (hervorzuheben die Sinfonien Nr. 3, 6, 8 und 9), so sind nicht in jedem Falle Celibidaches beste Aufnahmen der jeweiligen Werke inkludiert. Gerade im Falle der „Romantischen“ muss auf einen Mitschnitt aus Japan von 1993 erinnert werden, der die in der Box berücksichtigte Aufnahme von 1988 klar auf die Ränge verweist. Auch die kathedralartige Fünfte (hier von 1993) hat er in Japan 1986 wohl noch ein wenig überzeugender interpretiert (erschienen bei Altus). Bei der Siebenten darf der Hinweis auf das legendäre Versöhnungskonzert mit den Berliner Philharmonikern von 1992, zustande gekommen durch das Engagement des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, nicht fehlen. Auch dieses übertrifft die hier berücksichtigte Aufnahme. Dafür gelingt die apokalyptische Achte umso majestätischer. Noch zelebrierter geht eigentlich nicht.

Obwohl er keine kompletten Opern dirigierte, konnte auch Celibidache am Werk des Bayreuther Meisters Richard Wagner nicht einfach vorbeigehen. Auszüge aus den Opern Tannhäuser, Tristan, Die Meistersinger, Götterdämmerung und Parsifal sind enthalten; ferner das Siegfried-Idyll. Die größten Highlights hieraus sind womöglich die Ouvertüre zu Tannhäuser und das Vorspiel zum ersten Aufzug der Meistersinger, beide in ihren Dimensionen fast grotesk gedehnt, doch aufgrund der Meisterschaft des Dirigenten doch gänzlich überzeugend. Selten hat man etwa den schlussendlichen Triumph der christlichen Moral über die heidnisch konnotierte Lust am Ende der Tannhäuser-Ouvertüre so markerschütternd vernommen wie hier, wo letztere geradezu niederkartätscht wird. Es ist schade, dass sich Celibidache letzten Endes doch nur bruchstückhaft diesem Komponisten gewidmet hat. Auffällig vor allem das Fehlen des Vorspiels zum ersten Aufzug des Parsifal (es ist nur der Karfreitagszauber enthalten), das doch eigentlich so sehr seiner Philosophie entgegenkommen hätte müssen.

Mit Anton Bruckner hat sich Celibidache ein Leben lang beschäftigt. Die Mitschnitte der Sinfonien Nr. 3 bis 9 bilden den zentralen Block der Edition. Sie sind auch in einer gesonderten Box bei Warner erschienen.

Ein weiteres Feld, das der Dirigent abdeckte, waren die drei letzten Sinfonien von Tschaikowski; besonders die Fünfte scheint Celibidache am Herzen gelegen zu sein, sind doch neben der hier enthaltenen Aufnahme noch mindestens zwei weitere Darbietungen mit den Münchner Philharmonikern überliefert. Man möchte sagen: Wider Erwarten gelingt ihm das Eintauchen in die hochemotionale Gefühlswelt des zu Lebzeiten etwas verkannten Russen vorzüglich. Diese Musik verträgt auch die exzentrischen Tempomaße, die wiederum angeschlagen werden. Gleichsam als Zugabe ist noch eine nicht minder überzeugende Aufnahme der Nussknacker-Suite dabei. Celibidaches Horizont endete im Hinblick auf Russland aber keinesfalls mit Tschaikowski. Davon zeugen jeweils zwei Sinfonien von Prokofjew sowie Schostakowitsch. Ist die Auswahl bei Prokofjew nicht sonderlich überraschend – die klassizistische Erste und die berühmte Fünfte -, so kann man sich indes schon die Frage stellen, was den Dirigenten wohl dazu bewogen hat, ausgerechnet Schostakowitschs sinfonischen Erstling und die in ihren Dimensionen ebenfalls eher verhaltene Neunte in sein Repertoire aufzunehmen. Gerne hätte man auch die „Leningrader“, die Zehnte oder die Elfte unter seinem Dirigat vernommen. Ferner enthalten ist die Psalmensinfonie von Strawinski, auch nicht unbedingt naheliegend. Das Interesse des rumänischen Maestros für die französische Musik sollte hingegen nicht verwundern, war er doch einige Jahre lang ständiger Gastdirigent des Orchestre National de France und lebte (und starb) bekanntlich auch in La Neuville-sur-Essonne nahe Paris. Berlioz, Debussy, Roussel, Milhaud, Ravel und Fauré repräsentieren in dieser Box Frankreich. Besonders wird man in diesem Zusammenhang wohl La Mer und den Boléro hervorheben müssen. Ersteres ist definitiv kein bloßer See (Klemperers Ausspruch „Szell am See“ eingedenk), letzterer ein besonderes Bravourstück des Dirigenten, das sich diskographisch in seinen Darbietungen über Jahrzehnte nachvollziehen lässt. Die hier enthaltene, ein Mitschnitt von 1994, ragt mit ihren über 18 Minuten schon rein zeitlich heraus und stellt die Letztdeutung dar. Wie essentiell es gerade bei diesem zu Tode gespielten Werk ist, das Tempo bloß nicht zu sehr anzuziehen, hier wird’s eindrucksvoll ersichtlich.

Diverse Ouvertüren und Orchesterwerke runden den rein instrumentalen Teil der Box, der klar überwiegt, ab. Darunter findet man Webers Oberon, Rossinis Guillaume TellSemiramide, La scala di seta, La gazza ladra und Verdis La forza del destino, Schuberts Rosamunde, Berlioz‘ La Carnaval romain, Mendelssohns Hebriden (formidabel!) und Sommernachtstraum, Smetanas Moldau und Johann Strauss‘ Fledermaus. Zumindest die Italiener hätte man wohl nicht unbedingt mit Celibidache in Verbindung gebracht. Beschlossen wird die Edition von Vokalwerken, die sich auf die letzten CDs verteilen. Neben nicht weniger als vier Requien von Mozart, Verdi, Brahms und Fauré ist dort auch die h-Moll-Messe von Bach berücksichtigt, chronologisch somit der einzige Berührungspunkt Celibidaches mit der Barockmusik. Freilich ist sein Zugang auch hier ganz von Romantik herkommend, damit allerdings im zeitlichen Kontext nicht unbedingt aus dem Rahmen fallend. Gleichwohl gilt vermutlich keine der genannten Aufnahmen heute noch als Referenz, sofern sie das überhaupt jemals tat. Vielleicht war es daher ganz folgerichtig, dass sich Sergiu Celibidache in seinem Leben primär rein instrumentalen Werken widmete. Als Fazit bleibt festzuhalten, dass diese Box vornehmlich für den Einsteiger gedacht ist. Langjährige Kenner Celibidaches können getrost bei ihren älteren CD-Ausgaben bleiben, hat Warner doch kein neues Remastering vorgenommen. Die Klangqualität der Stereoaufnahmen (Ausnahme ist besagter Prokofjew aus Berlin) ist trotz der Live-Situation gut, wenngleich man nicht den heutigen Standard hinsichtlich Brillanz und detailgetreuer Abbildung des Orchesters erwarten darf. Dies ist eben der Preis für die Philosophie dieses Dirigenten, die in diesen Live-Mitschnitten mit all ihren Makeln und ihrer gar nicht erst angestrebten Perfektion zumindest ansatzweise auch heute noch nachvollzogen werden kann. Daniel Hauser

 

Das Foto oben zeigt im Ausschnitt Sergiu Celibidache bei einer Probe mit seinem Münchner Philharmonikern und ist  dem Cover der neuen Box bei Warner Classics  entnommen/ Roger & Violet/ Warner Classics

„Karajan – Glücksfall meines Lebens“

 

Die Karriere des Tenors Reiner Goldberg, Jahrgang 1938 und lange Jahre Startenor der Berliner Staatsoper, begann 1967 in Dresden. Seine Markenzeichen waren das leuchtende Timbre, die glänzende Tonhöhe und die intensiver Gestaltungskraft. International bekannt wurde er schlagartig als Parsifal. Die Erato-Aufnahme von 1981 war der Soundtrack zum Film, den Hans-Jürgen Syberberg nach dem letzten Werk Wagners drehte. Danach folten viele internationale Gastspiele und Opernaufnahmen. Selbst heute ist er noch in kleineren Partien zu bewjundern. Mit Rainer Goldberg Goldberg sprach Michael Stange. R. W.

 

Ein paar Worte zum Beginn ihrer Laufbahn. Ich bin im Oberlausitzer Bergland in Crostau in der Nähe von Bautzen geboren worden. In unserer Gegend waren die Menschen sehr arm. Musik hat mich schon als Kind begeistert. In unserer Kirche haben wir eine Orgel, die im 16. Jahrhundert von dem berühmten Orgelbauer Gottfried Silbermann gebaut wurde. So lange ich mich erinnern kann, habe ich Stunden in der Kirche zugebracht und der Orgel zugehört. Mein Vater spielte neben seiner Arbeit Trompete. Seine Brüder waren auch sehr musikalisch, sein Bruder Otto spielte Posaune am Stadttheater Bautzen und der Bruder Rudolf Klavier. Ich war auch sehr früh Mitglied in einem Posaunenchor, wo ich zuerst Waldhorn und dann Trompete spielte. Mein erstes Opernerlebnis war der Don Giovanni in Dresden 1955. Musik und Aufführung haben auf mich einen unglaublichen Eindruck gemacht. Don Giovanni war Arno Schellenberg und Leporello sang Theo Adam. Mit unserem Posaunenchor haben wir zu einem Geburtstag gespielt. Einer der Gäste sagte: „Mensch Reiner, sing doch was.“ Ich sang „O sole mio“ auf Deutsch, und die Gäste waren aus dem Häuschen. Damit waren die Würfel für mich gefallen.

Arno Schellenberg war Ihr Lehrer in der Musikhochschule. Meine stimmliche Ausbildung hat aber sehr lange gedauert. Große Schwierigkeiten machte die Atemtechnik. Die ersten Jahre ging es überhaupt nicht voran. Ich wollte aufhören. Mit einem Mal sah ich im Fernsehen einen Meisterkurs Gesang mit dem berühmten Kavaliersbariton der dreißiger Jahre Willy Domgraf-Fassbaender. Er erklärte seinen Schülern: „Ihr müsst locker sein, bis in die Zehenspitzen. Ruhe in den Körper und in den Atem bringen.“ Ich hatte das so noch nie gehört. Es klang einfach, den Mund locker und unverkrampft lassen, und die Stimme mit dem Atem führen. Nach einigem Probieren zu Hause gelang es mir, und plötzlich ging die Stimme wie eine Rakete in die Höhe.

 

In dieser New Yorker Produktion der Deutschen Grammophon sang Reiner Goldberg den Siegfried. Der erste Anlauf auf die Rolle war 1983 in Bayreuth nicht zustande gekommen/ daraus oben ein Ausschnitt/ Foto Met Opera Archive/ DG.

Sie schätzen Aufnahmen von Sängern der Vergangenheit. Gerade für das Erlernen der Atemtechnik ist das Hören alter Schallplatten unglaublich wichtig, weil diese Sänger davon viel mehr verstanden als wir heute. Ich spiele meinen Schülerinnen zum Beispiel Platten von Elisabeth Rethberg vor. Bei Ihrer Aufnahme der Arie „L’amerò saro costante“ aus Il re pastore hört man, wo sie den Atem setzt. Sie macht das so geschickt, dass sie dadurch die Schwierigkeiten der Arie viel besser meistert und sich nicht überanstrengt. Das ist für eine wortdeutliche und technisch gute Interpretation wichtig.

 

Was waren Ihre ersten Rollen in Radebeul und Dresden? Im Jahr 1965 neigte sich meine Ausbildung dem Ende entgegen, und ich wollte mich in Radebeul vorstellen. Ich wurde engagiert und debütierte als 1. Geharnischter in der Zauberflöte. Nun war ich ganz kurz im Ensemble als der Erste Tenor kündigte. Daher wurde ich gefragt, ob ich im Sommer auf der Felsenbühne Rathen den Simon im Bettelstudent singen kann. Das habe ich natürlich gemacht. Nach der ersten Vorstellung habe ich mich wie Caruso gefühlt. Das ging dann so weiter mit Puccinis Mantel bis zum Max im Freischütz. So kam es zum Gastspiel als Max in Dresden, wo ich seit 1969 gastweise und seit 1972 fest engagiert wurde. Hinzu kam im gleichen Jahr (Ost-)Berlin.

 

An der Spitze der Staatsoper stand Hans Pischner. Der war ein Theatermann der alten Schule. Er kannte jedes seiner Ensemblemitglieder ganz genau, gab ihnen Tipps für die weitere Entwicklung, wusste wo er sie einsetzen und wie er sie fördern konnte und schuf eine familiäre gute Atmosphäre. Er hielt zu Regisseurinnen wie Ruth Berghaus, von denen er überzeugt war, und zu seinen Sängerinnen und Sängern. Er hatte sehr konkrete und praktische Ideen, was er machen wollte und wie er seine Ziele umsetzen konnte, ohne sich den Staat zum Feind zu machen. Pischner liebte Webers Oberon. Bald nachdem ich in Berlin anfing, sagte er mir, dass er mich als Hüon wolle. Kurz nach seinem hundertsten Geburtstag habe ich Pischner noch einmal getroffen, und er hat mich sofort erkannt, mich umarmt und gerufen: „Ach mein Hüon.“ Im Wagnerfach hat er mich auch gesehen, aber er hat mir geraten, mir viel Zeit zu lassen und mich in Ruhe darauf vorzubereiten.

 

„Mit dem Aaron habe ich vielleicht einen Weltrekord erreicht. Diese Rolle habe ich mindestens 59mal gesungen“, so Goldberg. Moses und Aron wurde noch in der DDR unter Herbert Kegel eingespielt.

Den Siegmund sangen Sie um 1972 in Dresden. Haben Sie sich mit Rollenvorgängern wie Ernst Gruber oder anderen ausgetauscht? Das war ein Zufall, weil ein Kollege ausgefallen war. Damals lag mir die Rolle ein wenig zu tief, und ich fand sie auch zu dramatisch. Aber die Vorstellungen mussten ja stattfinden, und so habe ich das dreimal gemacht. Komischerweise war das nach dem Freischütz auf Anstellung in Dresden meine zweite Rolle. Dazu muss ich eine Geschichte erzählen, weil Sie Ernst Gruber ansprechen. Ich habe die Walküre das erste Mal in Dresden 1959 gehört. Mein Onkel hatte Karten besorgt, Ernst Gruber – den ich noch heute sehr bewundere – sang den Siegmund und es war das zweite oder dritte Mal, dass ich eine ganze Oper hörte. Es war auch mein erster Wagner. Nun wurde ich im ersten Akt ein wenig unruhig, weil es mir zu lange dauerte und im zweiten Akt bin ich eingeschlafen. Meine Einstellung hat sich natürlich später gewandelt, aber denken muss ich an dieses erste Wagner-Erlebnis sehr oft. Seltsamerweise bin ich Ernst Gruber nur einmal Mitte der siebziger Jahre begegnet. Wir stellten uns mit großem Brimborium und gegenseitigen Respektbezeugungen einander in der Kantine der Staatsoper vor. Dann erzählte ich ihm aber die Geschichte meiner ersten Walküre mit ihm, wir haben Tränen gelacht.

 

Der große Schritt ins Wagnerfach war 1978 der Tannhäuser in Dresden mit Harry Kupfer. Diese Rolle hatten Sie länger als die berühmten Tenöre der dreißiger Jahre Max Lorenz und Lauritz Melchior im Repertoire. Da muss man sich doch nur die Noten ansehen, wieviel Piano und Pianissimo dort drin steht. Natürlich kommen auch Stellen, wo es richtig losgeht. Davon lebt ja die Musik, von den Kontrasten. Den Tannhäuser kann man stimmlich als Fortsetzung des Max oder Stolzing anlegen. Man darf keinesfalls brüllen, sondern muss in der Gesangslinie bleiben und die dramatischen Ausbrüche entsprechend gestalten. Dann erschließt sich auch das Spannungsfeld der Rolle und das Leiden des Tannhäuser an seiner Zerrissenheit. Letztlich habe ich meine ursprüngliche Gesangslinie im Tannhäuser nie verlassen, aber auch von meinem Metall und der Durchschlagskraft in der Höhe profitiert. Die Stimme muss mitmachen. Ich brauchte viel Zeit, um die Rolle zu verinnerlichen und sie weiter zu entwickeln. Insofern ist das erste Mal nur ein Versuch. Man steht am Fuße des Berges und braucht lange zum Gipfel. Man braucht aber auch gute Partner, um eine stimmige Gesamtleistung zu erreichen. Meine Stimme wurde über die Jahre runder und dunkler. Trotzdem habe ich weiter lyrische Rollen auf der Bühne und im Rundfunk gesungen und bin auch den Oratorien treu geblieben. Mit dem Tannhäuser bin ich um die Welt gereist. Die Rolle habe ich in Ungarn, Italien, Spanien, Frankreich, Deutschland Russland, den USA und anderswo unzählige Male gesungen. Diese Partie war sicher eine der Rollen meines Lebens.

 

Partien von Wagner, Beethoven und Weber versammelt diese Schallplatte, die noch von der DDR-Firma Eterna produziert wurde und auch im Westen erschien.

In den achtziger Jahren begann die große internationale Karriere. Mein erstes Auslandsgastspiel war im Frühling 1973 mit Bergs Wozzeck in Paris. Ich hatte den Tambourmajor erst in einigen Vorstellungen gesungen, aber die Rolle lag mir sehr gut. Das war natürlich eine riesige Sache. Als DDR- Bürger drei Wochen in Paris, das hätte ich nie zu träumen gewagt. Ich habe dort viermal den Tambourmajor gesungen. Als ich das erste Mal in Berlin die Rolle singen sollte, mussten wir für mich im Fundus ein Kostüm suchen. Zunächst fanden und fanden wir nichts. Auf einmal kam die Kostümbildnerin mit einer Jacke. Oben drin fand sich ein Name. Max Lorenz, der hatte das Tambourkostüm auch schon getragen. Nun erbte der kleine Goldberg von Lorenz Rolle und Kostüm, und das habe ich als sehr gutes Omen angesehen, das sich auch bewahrheitete. Den Tambourmajor habe ich noch 34 Jahre später in Barcelona gesungen. Für meine weitere Karriere waren zwei Gastspiele in Italien und England besonders wichtig. In Perugia habe ich 1980 Rienzi gesungen. Im Jahr davor sang ich mit Edda Moser dort in Beethovens Leonore. Wir kannten uns, weil ich auch in der drei Jahre zuvor entstandenen einer Plattenproduktion mitgewirkt habe. Als ich dort also den Florestan sang, hat ihr das so gut gefallen, dass sie mir sagte: „Sie haben so eine schöne Stimme. Ich muss das dem Karajan erzählen, der soll Sie mal anhören.“ Etwas ähnliches passierte mir in London. Ich sang in Covent Garden den Stolzing in den Meistersingern 1982 gemeinsam mit Lucia Popp. Wir haben so gut harmoniert, dass sie mich Bernhard Haitink empfahl und wir gemeinsam in München die Daphne aufnahmen.

 

In Salzburg wirkten Sie 1982 unter Karajan im Fliegenden Holländer als Erik mit. Herbert von Karajan war einer der Glücksfälle meines Lebens. Wir kamen sehr gut zu recht. Wenn ich mit ihm allein war, war er wie ein alter gütiger Vater. Ich bin wirklich froh und dankbar, dass ich das erleben durfte. Ich wurde eingeladen in die Philharmonie nach Berlin, weil Karajan sich wohl auf den Rat von Edda Moser selbst ein Bild von meiner Stimme machen wollte. Ich sang ihm also einiges aus dem Holländer vor und Christian Thielemann, der damals sein Assistent war, begleitete. Irgendwann wurde Karajan unruhig und kam auf die Bühne. „Singen Sie mir doch einmal die Romerzählung.“ Thielemann kannte das natürlich alles auswendig und begleitete bis mich Karajan bei der Stelle: “ … ein Engel hatte ach den übermütigen“ unterbrach: „Herr Goldberg, stellen Sie sich mal vor, ein Eeengel.“ Das wiederholte ich, und er kam dann zu mir, legte seine Hand auf meinen Arm und sagte: „Na Herr Goldberg, wollen wir es miteinander versuchen?“ Seine gütige Art hat mich fast erschlagen. Ich konnte kaum sprechen vor Freude.

 

„Lucia Popp hatte die Seele in der Stimme und ist für mich eine der schönsten deutschen Stimmen.“ Reiner Goldberg erinnert sich gern an die Zusammenarbeit mit der Sängerin bei dieser Produktion.

Sie wurden ja früh für Bayreuth engagiert. Meine ersten Kontakte mit Bayreuth waren 1981 das Vorsingen bei Georg Solti für den Siegfried im 1983 geplanten Ring. Auch Wolfgang Wagner war anwesend und Solti kam auf die Bühne und fragte: „Wollen Sie mein Siegfried sein?“ Er liebte meine Stimme und hat auch später noch gesagt: „Der Goldberg hat mir Proben gesungen, da ist mir das Herz aufgegangen.“ Die Rolle funktionierte musikalisch sehr gut. Schwierig war es mit Peter Hall, dessen Regieanweisungen ich wegen der Sprachbarriere oft nicht so schnell umsetzen konnte, wie er sich das wünschte. Hinzu kam, dass das Bühnenbild für den Siegfried durch einen Wasserteich sehr ungünstig war und ich darin während der Proben öfter ausgerutscht bin. Stimmlich war bis zur Hauptprobe alles in Ordnung. Den Siegfried hatte ich mir auch mit Soltis Hilfe so gut erarbeitet, dass ich fest überzeugt war, der Herausforderung des Rollendebuts in Bayreuth gewachsen zu sein. Leider bekam ich aber, wie auch in anderen wichtigen Momenten meiner Karriere, eine Halsentzündung und wurde in der Generalprobe heiser. So musste ich den dritten und vierten Akt der Generalprobe heiser durchsingen. Das hat bei Wolfgang Wagner und Solti zu so großer Nervosität geführt, dass sie mich hinauswarfen, obwohl ich bis zur Premiere wieder fit gewesen wäre und ihnen das auch gesagt habe. Über diesem Bayreuther Ring 1983 lag nun in vielerlei Hinsicht ein Fluch. Die Effekte, die sich Peter Hall ausgedacht hatte, funktionierten oder wirkten nicht. Solti ist erheblich mit den Musikern bei den Proben aneinander geraten.

 

Mit Wolfgang Wagner und Bayreuth ging es aber weiter? Nur zwei Jahre später inszenierte er in Dresden die Meistersinger, und wir trafen uns wieder. Natürlich war ich immer noch wütend, aber die Zusammenarbeit klappte gut, und ich war gut bei Stimme. Wolfgang Wagner war ein sehr herzlicher Mensch und ein wandelndes Lexikon. In Dresden setzte er sich nach den Proben in der Kantine oft zu uns, und er konnte auf jede Frage spannende Antworten geben. Nach dem Bayreuth-Debakel habe ich zwei Jahre später im Frühjahr 1985 Gelegenheit gehabt, als Siegfried in Barcelona zu debütieren. Das ging sehr gut, und das habe ich ihm natürlich erzählt. Da wurde er hellhörig. Wenig später erhielt ich eine Einladung nach West-Berlin, um ihm und Daniel Barenboim im Theater des Westens für den Bayreuther Ring 1988 vorzusingen. In seiner grantigen Art sagte er: „Keine Zugaben. Können Sie mir den Tannhäuser und den Stolzing 1986 covern?“ Natürlich war ich noch sehr böse, aber mich reizte auch die Herausforderung. Also habe ich zugesagt. In den ersten zwei Wochen war ich in Bayreuth. Ich hatte meine Eltern mitgenommen. Ein Einspringen in Bayreuth war nicht nötig, und wir fuhren zurück in die DDR. Plötzlich kam dann aber der Anruf: „Kommen Sie schnell, Sie müssen morgen den Tannhäuser singen.“ Ich fuhr rasch nach Bayreuth, hatte aber noch keine Probe mit Giuseppe Sinopoli gehabt. Der hatte am Abend meines Eintreffens auch keine Zeit, so dass wir uns erst 90 Minuten vor der Vorstellung zur ersten Probe trafen. Sinopoli war ein wunderbarer Musiker, aber er hatte eigene Vorstellungen. Wir haben also vor jedem Akt die Rolle des Tannhäuser in der Pause durchgenommen. An jenem Abend habe ich den Tannhäuser also zweimal gesungen, aber dafür einen Riesenapplaus erhalten. Nach der Vorstellung kam Wolfgang Wagner mit einem riesigen Blumenstrauß auf die Bühne und sagte zu mir: „Reiner, wir betrachten das jetzt mal als reinigendes Gewitter.“ Damit beerdigten wir unseren alten Krach. 1987 habe ich dann in Bayreuth den Stolzing in den Meistersingern gesungen. Im Jahr 1988 folgten Stolzing und Siegfried in Götterdämmerung und 1989 beide Siegfriede und Tannhäuser.

 

Leidenschaftlicher Streiter für die Oper: Reiner Goldberg in einer Diskussionsrunde. Foto Youtube

Kommen wir zu Richard Strauss. Die zentralen Partien waren für mich der Bacchus in Adriane, der Kaiser in Frau ohne Schatten und später der Herodes. Begonnen hatte es Ende der siebziger Jahre in Berlin mit der Frau ohne Schatten. Ziemlich bald kam 1983 die Bitte, in einer konzertanten Aufführung des Guntram unter Eve Queler in New York mitzuwirken. Sie war eine der ersten sehr berühmten Dirigentinnen in den USA und brachte mit ihrem Orchester immer konzertant seltene Opernwerke heraus. Wir haben noch 1992 gemeinsam Rienzi gemacht. Eine weitere wichtige Partie war der Apollo in Daphne mit Lucia Popp, die wir unter Bernhard Haitink in München aufgenommen haben. Lucia Popp hatte die Seele in der Stimme und ist für mich eine der schönsten deutschen Stimmen. Eine der Strauss-Opern, die mich musikalisch stark begeistert haben, ist Die Liebe der Danae. Die haben wir 1984 in Paris gemacht. Der Herodes ist eine Partie, die mich besonders lange begleitet hat und die ich auch auf CD eingesungen habe. Musikalisch sind die Rauschhaftigkeit und der Glanz der Musik von Richard Strauss für mich immer ein Erlebnis gewesen. Mit seinen Werken bin ich in unbekannteren Partien und in Glanzrollen um die Welt gereist, und die Aufführungen sind mit einer Vielzahl glücklicher Erinnerungen verbunden.

 

Sie beherrschen ein Repertoire von mehr als 70 großen Rollen in Oper, Operette und Konzert. Partien wie Lohengrin 1997 haben Sie vom Blatt, in Italienisch oder Englisch gesungen. Woher kommt diese Fähigkeiten zur Aneignung eines so vielfältigen Repertoires? Mir ist es schon ganz früh leicht gefallen, mir Musik vom Gehör, von den Noten und vom Wort anzueignen. Viele Rollen wie Guntram, Apollo oder Rienzi habe ich gelernt, weil ich die Musik geliebt habe. Oft war klar, dass es sich um ein einmaliges Konzert handelt. Auch dort ist das Lernen der Partie aber ein wichtiger Teil des Übens des Umgangs und des Verinnerlichens von Musik. Die Möglichkeit, die Noten während der Vorstellung vom Blatt zu singen macht es leichter, ein Stück zu singen. Eine Auseinandersetzung mit der Rolle ist aber trotzdem nötig. Opern auf der Bühne zu singen wie Moses und Aaron, erfordert natürlich viel mehr Vorbereitung. Allein der schwierige Text und dann der Ausdruck. Besonders im Schlussdialog von Moses und Aaron. Das ist so schwer. Mit dem Aaron habe ich vielleicht einen Weltrekord erreicht. Diese Rolle habe ich mindestens 59mal gesungen. Das Werk wurde in Japan mit Siegfried Vogel und mir 1994 erstmals halbszenisch aufgeführt. Das war unglaublich. Der japanische Dirigent Kazuyoshi Akiyama dirigierte das, als ob es „Hänschen klein“ sei. Die japanischen Sänger und der Chor haben das mit unglaublicher Hingabe und Schönheit gemacht. Den Lohengrin hatte ich bereits Anfang der achtziger Jahre studiert. Ich konnte die Rolle vollständig vom Blatt singen und bin aber nie gefragt worden, die Partie auf der Bühne zu singen. Dann ergab es sich 1997, dass der Lohengrin der Premiere in Berlin krank geworden war und ich vier Tage vorher gebeten wurde, die Rolle von der Seite zu singen. Dazu war ich gern bereit und das hat gut funktioniert. Den Lohengrin habe ich dann auch 2002 auf der Bühne in Turin gesungen. Bei Peter Grimes haben mich einfach die Rolle und das Schicksal interessiert. Ich spreche ja kein Englisch und musste alles phonetisch lernen, aber es hat gut geklappt und viel Arbeit erfordert. Es war aber auch eine tolle Produktion mit Philippe Jordan in Graz. Am schwersten erschien mir das Studium des Siegfried. Nach dem Rienzi in Perugia 1980 und dem Vorsingen bei Herbert von Karajan war mir klar – und meine Agentin hat mich auch darauf hingewiesen -, dass bald dicke Brocken kommen könnten. Also habe ich mir nach dem Parsifal und dem Vorsingen bei Solti auch die Noten vom Siegfried angesehen und mit meinem Korrepetitor hineingerochen. Nach dem ersten Schreck über die Flut der Noten, die Länge der Rolle und die Schwierigkeiten der Partie habe ich sie wieder weggelegt. Dann hat mich die Rolle aber nicht mehr los gelassen. Sie ist musikalisch so vielfältig. Ich habe sie dann bald darauf intensiv studiert. Diese Dramatik des ersten Akts, die Poesie des Waldwebens und auch Siegfrieds Lernen der Furcht im dritten Akt ließen mich nicht mehr los und haben mich emotional unglaublich stark berührt. Später habe ich den Siegfried unter James Levine 1988 bis 89 in New York eingespielt und auf der Bühne häufig gesungen.

 

Entspannt und gelassen: Reiner Goldberg privat. Foto: Wikipedia

Ihnen gelingt es, Emotionen im Tonfall widerzuspiegeln. In den zerrissenen Partien wie Tannhäuser, Pedro, Max und Herodes wirken Sie am stärksten. Ich kann das nicht genau erklären. Bei vielen Rollen habe ich mich natürlich sehr intensiv mit dem Text auseinander gesetzt. Beim Moses sind mir bei den Proben viele Lichter aufgegangen, und wir haben das mit Harry Kupfer intensivst erarbeitet. Ähnlich war es mit dem Tannhäuser. Das haben wir lange daran gefeilt und über die Perspektiven der Rolle diskutiert. Im Tannhäuser war ich so tief drin, dass ich nicht mehr gemerkt habe, was Realität und was Bühne ist und während vieler Aufführungen unglaublich gelitten. In vielen Situationen des Zweifelns oder der Unsicherheit habe ich mich an eigene Erlebnisse erinnert. Das gilt auch für den Pedro im Tiefland. Als er Martha sieht und sich fragt, ob er ihr wohl gefallen wird, ist das wie im dem richtigen Leben. Das hatte ich dann auch im Kopf. Der Herodes ist ja nur vordergründig ein geiler alter Mann. Er ist aber auch in seiner Todesfurcht Opfer seiner Angst und seiner Krankheit. Harry Kupfer war für mich ein Segen, weil wir eigentlich alle wichtigen Rollen einmal oder mehrfach intensiv in langen Proben und Gesprächen erarbeitet haben. Er ist unglaublich sensibel und kann die Dinge, die ihn bei seiner jeweiligen Deutung bewegen, phantastisch darstellen. Das hat mir bei meinen Interpretationen sehr geholfen, weil die Darstellung auf der Bühne aus dem inneren des Künstlers kommen muss, um gut zu wirken. Gleichzeitig konnte ich, obwohl ich ja Tenor bin, mit eigenen Ideen kommen und die wurden, wenn sie uns beiden plausibel erschienen, umgesetzt. Der Text ist von zentraler Bedeutung. Der Sänger muss verstanden werden. Schon in der Hochschule, aber später auch bei Harry Kupfer hieß es: „Erzähle den Leuten das Stück.“ Das geht natürlich nur über den Text und die Musik. An der Wortdeutlichkeit zu arbeiten, ist ein entscheidender Punkt. Nur dann können sich Wort und Musik verbinden und die nötige dramatische Wirkung vermitteln. Auch für das Publikum ist das doch von entscheidender Bedeutung. Je mehr es den Text versteht und je überzeugender die Darstellung ist, desto mehr kleben die Zuschauer an den Lippen des Sängers. Michael Stange (Das im Original wesentlich längere Interview erschien zuerst im April 2018 auf der Website des Kulturmagazins Ioco und wurde für operalounge.de stark gekürzt. Red. Rüdiger Winter; wir danken Michael Stange für den Abdruck.)

 

Das große Foto oben zeigt Reiner Goldberg als Siegfried in einem Ausschnitt des Covers der Plattenproduktion der Deutschen Grammophon. Sie erregte damals großes Aufsehen bei Publikum und Kritik und ist noch immer im Handel. Für die Fans des Heldentenors gilt sie als eine seiner zentralen Aufnahmen.  

Karl Terkal

 

Wenn es die Kategorie sympathische Sänger gäbe, Karl Terkal gehörte mit Sicherheit da hinein. Besser ist er für mich nicht zu charakterisieren. Selbst dem Herzog aus Verdis Rigoletto, diesem gemeinen und verschlagenen Kerl, der über Leichen geht, gewinnt er darstellerisch noch gute Seiten ab. Diese Worte sollen keine Kritik sein sondern der Versuch, einen Tenor von außerordentlicher Begabung zu beschreiben. Das in der Schweiz ansässige Label Relief, bei dem schon viele von den großen Plattenfirmen vernachlässigte Künstler späte Gerechtigkeit erfahren haben, hatte einst zum 90. Geburtstags von Terkal die – wie Gottfried Cervenka im Textheft zu Recht heraus stellt – erste Solo-CD des Sängers mit einem reinen Opernprogramm auf den Markt gebracht (CR 3007). Nun steht bald der 100. Geburtstag an. Terkal, 1919 Wien geboren und dort 1996 auch gestorben, ist Sammlern allerdings kein Unbekannter. Er taucht auf etlichen Gesamtaufnahmen von Rundfunkstationen auf, auch auf kleinen Single-Platten, oft in Operetten und in kleineren Rollen. So hat er im Rosenkavalier den italienischen Sänger, den Tierhändler und auch den Wirt gegeben. An der Wiener Staatsoper war er nicht nur der Kalaf, sondern über mehr als dreißig Jahre hindurch einer der beiden Gefangenen im Fidelio. Seine ihm eigene Professionalität kannte offenbar keinen Unterschied zwischen den tragenden und den Nebenrollen.

Die CD von Relief ist noch immer im Angebot von Onlinehändlern (CR 3007).

.Terkal, der Tischler gelernt hatte, begann seine Ausbildung als Sänger nach dem Zweiten Weltkrieg. Sein erstes Engagement führte ihn an die Oper in Graz, wo er sich sein umfängliches Rüstzeug erarbeitete. 1951 kam er an die Wiener Staatsoper. Cervenka, der 2015 gestorbene legendäre Moderator des österreichischen Rundfunks, kannte Terkal und die Wiener Opernszene gut: „Vier Jahrzehnte blieb die Staatsoper dann seine eigentliche künstlerische Heimat, auch wenn seine Entwicklung dort nach dem Tod seines großen Förderers Clemens Krauss leider etwas stagnierte und man nach Übernahme der Direktion durch Herbert von Karajan mehr Wert auf Internationalität als auf Individualität legte.“ Die Zusammenfassung von Arien und Szenen aus seinem großen Repertoire, das er mit einer Leichtigkeit und Natürlichkeit absolviert, sucht bis heute ihresgleichen auf CD. Dieser Tenor hat stimmlich nicht das geringste Problem. Das gilt für sein Gebet des Rienzi „Allmächt’ger Vater“ ebenso wie für Kalafs „Keiner Schlafe“, von „Selig sind, die Verfolgung leiden“ aus dem Evangelimann von Kienzl gar nicht erst zu reden. Alle Aufnahmen, darunter auch La Bohéme, Manon Lescaut, Die Hugenotten, Hoffmanns Erzählungen – alle in deutscher Sprache – sind äußerst selten, wenn nicht gar bisher unveröffentlicht gewesen. Man könnte einwenden, manche Szene gerät zu glatt, zu schlicht, inhaltlich unter den Möglichkeiten bleibend. Doch schon hat Karl Terkal selbst den strengsten Hörer mit seinem Charme und mit seiner Herzlichkeit wieder für sich eingenommen. R.W.

Überraschende Hommage

 

Nach siebenunddreißig Jahren ist der Münchener Tristan unter der Leitung von Leonard Bernstein endlich bei CMajor/Unitel auf DVD erschienen – in herkömmlichem Format, das mir vorliegt (746208), und als Blu-ray. Anlass war der 100. Geburtstag des Dirigenten. Die große Firmen, bei denen er unter Vertrag stand, haben ihre Archive durchforstet und alles, was von und mit Bernstein produziert wurde, neu aufgelegt. Da kommt vieles zusammen. In den wenigen Fachgeschäften brechen die Tische unter der Last dieses reichen Erbes. Neue Bücher sind erschienen, und im Deutschen Fernsehen gab die Filmdokumentation „Das zerrissene Genie“ tiefe Einblicke in die Schaffensnöte und in das bewegte Privatleben von Bernstein, der am 25. August 1918 in Lawrence (Massachusetts) geboren wurde und am 14. Oktober 1990 in New York starb.

Aus der Fülle ragt Wagners Musikdrama Tristan und Isolde auch deshalb heraus, weil es sich um eine echte Ausgrabung handelt und weil sich noch viele Zuschauer an die Fernsehübertragung durch den Bayrischen Rundfunk erinnern können. Zudem ist dieses Dokument die einzige Auseinandersetzung Bernsteins mit einem kompletten Werk Wagners. Deshalb scheint es überraschend, dass sich keine der beiden großen Exklusivfirmen Bernsteins diese Erstveröffentlichung erstritten hat. Ansonsten sind nur Szenen und Orchesterstücke aus Opern dieses Komponisten überliefert. Einen großen konzertanten Querschnitt durch den Tristan hatte Bernstein 1969 mit seinen New Yorker Philharmonikern dirigiert. Die Isolde war Eileen Farrell, der Tristan Jess Thomas, die Brangäne Joanna Simon, damals noch keine dreißig. Der Radiomitschnitt ist bei Gala erschienen, gekoppelt mit weiteren Live-Szenen aus Walküre und Götterdämmerung. Bisher nicht offiziell auf DVD gebracht haben es das ebenfalls im Fernsehen übertragene Finale der Walküre und der dritte Aufzug des Siegfried aus dem Wiener Konzerthaus von 1985 mit Ute Vinzing (Brünnhilde), Christa Ludwig (Erda), James King (Siegfried) und Thomas Stewart (Wotan/Wanderer).

Auch die Bayreuther Festspiele hatten sich ernsthaft für Bernstein interessiert. Er sollte dort den Tristan dirigieren. Wie Wolfgang Wagner in seiner Autobiographie „Lebensakte“ (Albrecht Knaus Verlag 1994) berichtet, wurden unverbindliche Kontakte noch von seinem Bruder Wieland 1965 in Wien geknüpft. „Leonard Bernstein wünschte in Begleitung seiner eigentlichen Erarbeitung des Werkes zur Bayreuther Aufführung Schallplatten- und Fernsehaufnahmen sowie Aufzeichnungen aus der Arbeit selbst.“ Dergleichen sei aber im ersten Jahr einer Neuinszenierung, die aufwändige und konzentrierte Proben benötige und „im Hinblick auf die Erfordernisse der anderen auf dem Spielplan stehenden Werke allein zeitlich undurchführbar“, so Wolfgang Wagner. „Bernsteins und meine Standpunkte konnten daher nicht miteinander vereinbart werden, und so endete der Kontakt am 19. November 1970.“ Es sollte also noch ein Jahrzehnt vergehen, bis er in München fand, was Bayreuth ihm nicht bieten konnte.

 

Zustande gekommen ist eine halbszenische Aufführung mit Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks im Herkulessaal der Münchner Residenz. Der Geiger Bernd Heber erinnert sich in einer Dokumentation des Bayerischen Rundfunks über die Aufnahme.  Bernstein habe ein Orchester gewollt, das den Tristan noch nie gespielt habe, um seine eigenen Vorstellungen zu verwirklichen. Die Sänger agierten auf einem Podest hinter dem Orchester vor einem großen Segel, das farblich den jeweiligen Situationen der Handlung angepasst wurde. Nur wenige Requisiten hatten Platz, etwa eine antike Bank für das Paar beim Liebesduett im zweiten, eine Sitzgelegenheit für Tristan im dritten Aufzug. Durch geschickte Kameraführung gewannen zumindest die Zuschauer an den Bildschirmen die Illusion einer Bühnenaufführung. Für die Menschen im Saal dürfte die Optik wesentlich prosaischer gewesen sein. Dafür waren sie dabei. Ihr tosender Beifall ist nachvollziehbar.

Aufgeführt wurde jeweils nur ein Aufzug, der erste am 13. Januar, der zweite am 27. April und der dritte am 10. November. So lange dürfte sich kein anderer Tristan hingezogen haben. Nutznießer waren vor allem die Solisten, die sich nicht völlig verausgaben mussten und ihre Kräfte einteilen konnten, zumal das Werk völlig ohne Striche gegeben wurde. Und dennoch: Dem Tristan Peter Hofmann stand der Schweiß sichtbar auf der Stirn. Er gab, was er zu geben vermochte. Lyrische Passagen gelangen durchaus anrührend. Dieser Stärken schien er sich durchaus bewusst gewesen zu sein und kostete sie aus. Hingegen verloren sich dramatische Ausbrüche oft im Ungenauen. Der Mitschnitt offenbart mir erneut, dass Hofmann letztlich kein Heldentenor gewesen ist. Er verkörperte allenfalls die Vorstellung von diesem so begehrten wie seltenen Typ der Oper und bemühte sich, den Erwartungen zu entsprechen. Die räumliche Enge auf dem Podium ließ ihm keine Möglichkeit, der Interpretation durch körperlichen Einsatz oder Bewegungen zusätzliche Wirkung zu verleihen. Er war dazu verurteilt, über weite Strecken auf einem Fleck zu stehen. In so einer Position haben selbst die versiertesten Sänger bei Liederabenden ihre Schwierigkeiten. Dass sich der attraktive Hofmann gewinnbringend in Szene setzten konnte, lässt sich an seinem Siegmund in der Bayreuther Walküre-Inszenierung von Patrice Chéreau ablesen. Infolge dieses aufsehenerregenden Debüts war er als Wagnersänger an alle führenden Opernhäuser katapultiert worden.

Hildegard Behrens, die in München als Isolde besetzt war, hatte einen ähnlich spektakulären Start in die internationale Karriere wie der sieben Jahre jüngere Hofmann. Sie galt 1977 nach der Salome unter Herbert von Karajan bei den Salzburger Festspielen als die Entdeckung des Jahres und wurde von der Kritik mit Lobenshymnen überschüttet. Fortan sang sie fast nur noch großes Fach. So gab es für Bernstein offenkundig gar keine andere Wahl, als sich der beiden neuen Sterne am Opernhimmel zu versichern. Für mich war auch die Behrens keine ideale Isolde. Nach Mödl, Varnay oder Nilsson punktete sie mit ihrer vergleichsweise lyrischen Stimme. Das kam gut an – auch als Gegenentwurf zum stimmlich übermächtigen Dreigestirn aus der ihr vorangegangenen Generation. Und im Vergleich mit der Konkurrenz, die heutzutage mit Wagner unterwegs ist, schneidet sie immer noch gut ab. „O sink’ hernieder, Nacht der Liebe.“ Das will erst einmal so schwebend und leicht gesungen sein wie von Behrens und Hofmann, die für mich mit dieser Szene ziemlich genau auf der Mitte des Werkes den Höhepunkt der Produktion markieren. Es ist, als würde darauf alles zugeschnitten sein – vom Titelpaar genauso wie von Bernstein. Nicht immer waren diese drei so eins. Oft musste der Dirigent die emotionalen Lücken füllen, die von den Sängern hinterlassen wurden. Das „furchtbare Sehnen“, das „schmachtende Brennen“ – Tristans Leiden und seine Qual sind deutlicher aus dem Orchester zu hören denn aus der Kehle des Tenors, der im letzten Akt für alle Fälle die Noten bei sich hatte. Dafür durfte er wenigstens das unvorteilhafte Lurex-Wams aus den vorangegangenen Abenden gegen ein locker sitzendes Hemd tauschen.

Insgesamt brachte die Behrens mit ihren gelegentlich brustigen Tiefen deutlich mehr gestalterische Elemente ein als Hofmann und die anderen Solisten und führte das Mammutprojekt mit dem Liebestod zu einem würdigen Abschluss. Yvonne Minton (Brangäne), Bernd Weikl (Kurwenal) und Hans Sotin (Marke) fielen durch ihre stimmlichen Qualitäten und die Wortdeutlichkeit mehr auf als durch schauspielerische Attitüden in der spärlichen Kulisse. Thomas Moser, als junger Seemann bestens bei Stimme, legte sein schlichtes Lied zu Beginn als eine Arie an. Das mag von Wagner so nicht gewollt gewesen sein, machte aber viel her, so dass ich versucht war zurückzuspulen, um es noch einmal zu hören. Wie ein Da capo. Bekanntlich folgte auf die Konzerte in München die Veröffentlichung des Audiomitschnitts bei Philips. Jetzt weiß ich einmal mehr, warum mich diese Aufnahme nie wirklich erreichte, warum ich sie fast nie auflege. Sie verlangt nach der Optik, auch wenn die schon damals nicht optimal gewesen und mit den Jahren nicht glamouröser geworden ist. Optik schließt in diesem Falle auch die Wirkung des Zusammenspiels zwischen Sängern und Dirigenten ein. Bernstein wird an den richtigen Stellen wirkungsmächtig in den Fokus gerückt. Immer, wenn er ins Zentrum des Betrachters gerät, spielt sich das Drama auf seinem Gesicht und in seinen Bewegungen ab. In Bayreuth wäre er nicht zu sehen gewesen.

 

 

Ein Dokument für Hardcore-Fans von Leonard Bernstein, die unbedingt alles haben wollen, was er hinterlassen hat, ist eine DVD von Major/Unitel, die mit dem Segen von Radio France auf den Markt gekommen ist – als Blu-ray und im herkömmlichen Format (746808). Mit dem Orchestre National de France führt er Werke französischer Komponisten auf. Die Symphonie Fantastique von Hector Berlioz erklingt in einer – wie von diesem Dirigenten nicht anders zu erwarten – emotional hoch aufgeladenen Interpretation. Der Mitschnitt aus dem Théatre des Champs-Elysée in Paris stammt von 1976, was ihm auch anzusehen ist. In etwas besseren Bildern vollzieht sich die Aufführung von Albert Roussels 3. Sinfonie in selben Haus. Im Booklet wird zu Recht darauf verwiesen, dass es sich bei diesem Werk mit seinem drängenden Beginn um eine Auftragskomposition des Bernstein-Lehrers Serge Koussevitzky anlässlich des 50. Bestehens des Boston Symphony Orchestra handelt. Auf dem Programm des Konzerts von 1981 standen noch das populäre sinfonische Poem Le Rouet d’Omphale von Camille Saint-Seans und die schmissige Ouvertüre zur Oper Raymond von Ambroise Thomas.

Das Eigenlabel des London Symphony Orchestra LSO hat Leonard Bernsteins Musial Wonderful Town auf den Markt gebracht (LSO0813). Es ist bereits die dritte Einspielung unter Simon Rattle. Das Stück hat Konjunktur und ist auch auf deutschen Spielplänen zu finden. Die Staatsoperette Dresden brachte 2017 sogar eine deutschsprachige Aufführung zustande, die auch auf CD gelangte. Der jüngsten Rattle-Aufnahme waren eine Studioproduktion mit der Birmingham Contemporary Music Group und dem Chorensemble London Voices von 1998, die jetzt bei Warner neu vorgelegt wurde sowie der Konzertmitschnitt auf DVD mit den Berliner Philharmonikern aus dem Jahr 2002 mit der identischen Besetzung der Hauptrollen – nämlich Kim Criswell (Ruth Sherwood), Audra McDonald (Eileen Sherwood) und Thomas Hampson (Bob Baker). Nun singen die besonders in Barockopern erfolgreiche Daniela de Niese und die ehr dem Musical verpflichtete Alysha Umphress die beiden Schwestern, die in den dreißiger Jahren nach New York kommen, um dort ihr Glück als Autorin und Schauspielerin zu versuchen, dabei in allerlei Turbulenzen geraten. Ruth trifft schließlich auf Bob, den Redakteur einer Zeitung, der sich zunächst lustig über sie macht, mit dem sie aber am Schluss ein Paar wird während ihre Schwester Eileen einer erfolgreichen Bühnenkarriere entgegensieht Diese Rolle ist mit dem Bariton Nathan Gunn besetzt, der vornehmlich auf Opernbühnen anzutreffen ist. Bernstein komponierte das Stück 1953 als Fünfunddreißigjähriger. Es beschwört den legendären Big Appel, und Rattle und seinen Sängern gelingt es, den typischen Sound der Stadt, der seinen Ausdruck in zig Filmen Songs und Musicals gefunden hat, noch einmal heraufzubeschwören. Rüdiger Winter

Poetischer Herz-Tod

 

Herz-Tod. Auf die Idee, eine CD so zu titeln, muss man erst mal kommen. Decca ist darauf gekommen – und zwar bei einer Liedauswahl mit Günther Groissböck (481 6957). Herztod ist zunächst einmal ein medizinischer Befund. Der Sänger wandelt ihn durch Kunst in Poesie. Auf dem Cover sieht Groissböck aus, als wollte er auf eine Beerdigung gehen. Das ist durchaus beabsichtigt, wie aus dem Booklet zu erfahren ist. Dort findet sich ein ausführliches Interview mit Ines Steiner. Beide sind per Du. Da spricht es sich offenbar leichter über letzte Dinge. Der Sänger schildert auch eigene Erfahrungen aus dem familiären Umfeld mit dem Tod. „Es ging mir zugegebenermaßen auch darum, die Hörer mithilfe dieses schroffen, harten Titels … und natürlich vor allem über diese wunderbare, teilweise auch sehr sinnliche, abgründige Musik etwas tiefer zu erreichen; sie vielleicht sogar etwas anders, bewusster, dabei aber auch vertikaler oder gar dreidimensionaler empfinden zu lassen.“

Was steht auf dem Programm? Vier ernste Gesänge von Johannes Brahms, Richard Wagners Wesendonck-Lieder, die Michelangelo-Lieder von Hugo Wolf und Gustav Mahlers Rückert-Lieder. Da wird gestorben, gelitten, getrauert, Abschied genommen: „Es ist alles von Staub gemacht, und wird wieder zu Staub“, heißt es beim Prediger Salomo, den sich Brahms als Textvorlage wählte. Groissböck spricht in Bezug auf die Programmauswahl von „Endlichkeit und Mühsal der menschlichen Existenz“. Keine Stücke also, mit denen man einen erfüllten Tag entspannt ausklingen lässt. Der Sänger und sein Pianist Gerold Huber bohren tief und muten ihrem Publikum einiges zu. Wer sich darauf einlässt, muss sich aber nicht fürchten. Im Gegenteil. Das Künstlerduo, das schon für die Decca bei der Winterreise und beim Schwanengesang von Schubert zusammenarbeitete, gewinnt dem Thema auch jene elementaren Kräfte ab, die sich gegen den Tod stellen. In ihrer Interpretation trägt der Tod nicht den Sieg davon. Die CD wirkt auf mich außerordentlich tröstlich und versöhnlich. Ich habe sie mehrfach gehört. Auch zu sehr später Stunde.

Beide Künstler bringen eine große Ruhe und Gelassenheit in den Vortrag ein. Sie meiden Extreme. Groissböck wirkt stimmlich mächtig und unerschütterlich wie ein Fels. Manchmal hätte ich mir ein wenig mehr Farbe gewünscht, auch wenn das Thema zum Schwarzweißen neigt. Wenn ich mich für einen Zyklus entscheiden müsste, meine Wahl fiele auf die Wesendonck-Lieder, obwohl ich meine Schwierigkeiten damit habe, wenn ein gestandener Mann wie Groissböck danach greift. Nicht nur wegen der realen biographischen Bezüge der Lieder, die Zeugnis ablegen von der leidenschaftlichen und schwärmerischen Beziehung zwischen Wagner und der reichen Kaufmannsgattin Mathilde Wesendonck. Für mich sind sie in weiblichen Gefühlswelten, Empfindungen und Sichten angesiedelt. Nicht alles lässt sich nivellieren, was beide Geschlechter unterscheidet. Groissböck sieht das anders und damit wohl auch moderner und nicht so traditionell tradiert. Er habe „im Text keine verbindliche Geschlechtszugehörigkeit entdeckt“, sagt er im Interview. Und er habe sich gefragt, warum denn nicht mal diese „gender-neutralen“ Lieder als Mann singen, weil es ja auch Titel wie „Schmerzen“ oder „Stehe still“ gebe, zu „denen etwas draufgängerisches Testosteron sehr gut passt“.

Er ist nicht der erste Sänger, der sich diesem Zyklus zuwendet und damit in eine bislang traditionelle Sängerinnendomäne einbricht. Zuvor hatten sich bereits René Kollo und Jonas Kaufmann – um zwei prominente Beispiele zu nennen – damit versucht. Groissböck will also nicht in fremden Territorien wildern oder gar den Kolleginnen die Lieder wegnehmen. Er dringt mit seiner fesselnden Darbietung in jene Bereiche vor, wo sich die Gefühle von Frau und Mann treffen und ineinander gehen. Am Ende hatte auch ich vergessen, dass ich diesen Liederzyklus bisher am liebsten von Frauen gesungen höre. Rüdiger Winter