Denkt man an Sibelius und den Namen Järvi, so galt dies lange Zeit primär für Neeme Järvi, den Patriarchen der Dirigentendynastie, der zwei komplette Zyklen der sieben Sinfonien (in den 1980er Jahren für BIS, in den 1990ern und frühen 2000ern für DG) sowie etliche weitere Werke des finnischen Komponisten vorgelegt hat. Sein ältester Sohn Paavo Järvi spielte bis dato lediglich die zweite Sinfonie (für Telarc) und daneben Kullervo, einige Tondichtungen und Kantaten (für Erato und Virgin) ein. Schon bei diesen Aufnahmen merkte man, dass auch der Sohnemann in Sachen Sibelius etwas Nachhaltiges zu sagen hat. So war eine Gesamteinspielung der Sinfonien für den geneigten Beobachter eigentlich nur eine Frage der Zeit. Dass es gleichwohl bis zum Jahre 2019 dauerte, bis dieser Zyklus bei RCA (19075924512) endlich vorgelegt wird, hätte man vielleicht nicht gedacht. Gut Ding will bekanntlich Weile haben.
Was bei diesem gefühlt hundertsten Sibelius-Zyklus auf den ersten Blick ins Auge sticht und auf dem Cover der drei CDs umfassenden Box durch den Eifelturm auch besonders betont wird, ist die Wahl des Orchesters. Es handelt sich hierbei nämlich um das Orchestre de Paris, Frankreichs führenden Klangkörper – und zugleich um die Weltersteinspielung der sieben Sinfonien von Sibelius durch ein französisches Orchester. Tatsächlich schien es dieser Komponist gerade in Frankreich lange Zeit schwer gehabt zu haben, Fuß zu fassen. Zwar beschäftigten sich auch französische Dirigenten, darunter so prominente wie Pierre Monteux, Paul Paray und Georges Prêtre, mit Sibelius, doch wählten auch sie ausländische, konkret britische und amerikanische Orchester. In Großbritannien und in den USA nämlich war der Finne schon früh weithin respektiert und wanderte ins Standardrepertoire. Es ist von daher durchaus ein Verdienst Paavo Järvis, Sibelius während seiner sechsjährigen Amtszeit in Paris auf die Agenda gesetzt zu haben. Bereits bei seinem offiziellen Einstand als Chefdirigent des Orchestre de Paris im Jahre 2010 stand Sibelius‘ Zweite auf dem Programm.
Die nun vorgelegten Aufnahmen entstanden zwischen 2012 und 2016 und genügen – soviel schon jetzt – klangtechnisch den höchsten Ansprüchen. Man sollte meinen, dass gerade bei einem Komponisten wie Sibelius, der neben Mahler wohl der große Aufsteiger in den Konzertprogrammen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu nennen ist, mittlerweile wirklich jeder erdenkliche Interpretationsansatz dokumentiert ist. Tatsächlich gibt es Sibelius-Gesamtaufnahmen in Hülle und Fülle, die meisten gut gelungen, aber nur einige wenige wirklich in ihrer Gesamtheit herausragend, denn zumeist gibt es hie und da eben doch gewisse Durchhänger. Dass sich Paavo Järvis Einspielungen selbst neben so wichtigen Vorgängern wie Sir John Barbirolli, Sir Colin Davis, Leonard Bernstein, Paavo Berglund und Leif Segerstam außerordentlich gut behaupten können, hätte man so gar nicht zwingend erwartet. Bei Järvis gewaltigem Output in den letzten zehn, fünfzehn Jahren waren mitunter auch allenfalls überdurchschnittliche Aufnahmen dabei. Getrost darf im vorliegenden Falle indes konstatiert werden, dass ihm in Sachen Sibelius ein echter Coup gelungen ist.
Wie nun klingt Paavo Järvis Ansatz? Mit einem Wort: idiomatisch. Das ist das wirklich Erstaunliche hier, denn die Pariser schaffen es vorzüglich, in die nordischen Klangwelten einzutauchen und geradezu so zu tun, als spielten sie dieses Repertoire seit Jahrzehnten. Womöglich ist gerade die tatsächliche Erstbeschäftigung mit vielen der Werke ein Grund für das überzeugende Ergebnis. Järvi versteht es offenkundig, den Franzosen den von der Grande Nation oft übersehenen Finnen schmackhaft zu machen. Järvis Sibelius ist zupackend, zuweilen regelrecht überbordend vor Emotionalität, nie verschleppt und doch auch keinesfalls verhetzt. Er weiß die lyrischen Momente, die bei diesem Komponisten so zahlreich sind, in einem Klangbad auszukosten, hat aber jederzeit die notwendige Energie, um unvermittelt vorwärts zu preschen. Dabei nutzt er die gesamte dynamische Bandbreite, die ihm das famose Orchester und die nicht minder großartige Tontechnik zur Verfügung stellen. Gerade die Forte-Stellen sind hie und da markerschütternd. So muss man sich ernsthaft fragen, ob man den Paukendonner etwa in der Coda der ersten Sinfonie jemals Ehrfurcht heischender gehört hat. Überhaupt sind die Pauken sehr prominent und keineswegs einfach in den Gesamtklang eingebettet, was selbst zu Tode gehörte Momente wie den sogenannten Schwanenruf im Finale der fünften Sinfonie auch für den Fortgeschrittenen zum unerhörten Ereignis macht. Fast meint man stellenweise, den berühmten altfranzösischen Orchesterklang vor sich zu haben, was bei der illustren Historie des Pariser Orchesters, das 1967 aus dem legendären Orchestre de la Société des Concerts du Conservatoire hervorgegangen ist, nicht wundernimmt.
Es ist schwierig, einzelne Sinfonien besonders hervorzuheben, da sie durch die Bank exzellent gelungen sind. Da erwies sich Järvis eher gemächliches Vorgehen, dem Projekt vier Jahre Zeit einzuräumen, als absolut richtig. Vielleicht sollten indes gerade die weniger bekannten unter den Werken hervorgehoben werden. Denn die klassizistische Dritte, die unheimliche Vierte, die oft unverstandene Sechste und die altersweise Siebente sind doch besondere Highlights. Bei der Ersten, der Fünften und insbesondere der Zweiten liegt die Messlatte freilich noch einmal ein gutes Stück höher, doch auch hier rangieren Paavo Järvis Darbietungen durchaus in der Spitzengruppe. Interessanterweise entschied er sich diesmal gegen die (vom Komponisten übrigens abgesegnete) sogenannte Kussewizki-Coda am Ende der zweiten Sinfonie, in der dem Paukisten eine besondere Rolle zukommt und die Järvi in seiner älteren Telarc-Aufnahme berücksichtigte. Und doch klingt das Resultat in seinem triumphalen Gestus noch überzeugender als in der früheren Einspielung. Überhaupt kommt der großsinfonische, bassstarke Klang, den das Orchestre de Paris erzeugt und den die Tontechniker adäquat einfangen konnten, den Erfordernissen in Sachen Sibelius entgegen. Somit hat Neeme Järvi im eigenen Sohn seinen Meister gefunden, der die beiden Zyklen des Vaters sogar überstrahlt und die womöglich überzeugendste Gesamtaufnahme dieses Jahrtausends vorgelegt hat. Unbedingt und ohne Einschränkungen empfehlenswert. Daniel Hauser